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Insel Verlag Leseprobe Dammel, Gesine Lektüre zwischen den Jahren 2018 Leseglück Herausgegeben von Gesine Dammel © Insel Verlag insel taschenbuch 4660 978-3-458-36360-6

Leseglück Dammel, Gesine · INHALT Joachim Ringelnatz, Der Bücherfreund ..... Reise ins Bücherland Carlos Ruiz Zafón, Der Friedhof der vergessenen Bücher ..... Selma Lagerlöf,

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Insel VerlagLeseprobe

Dammel, GesineLektüre zwischen den Jahren 2018

LeseglückHerausgegeben von Gesine Dammel

© Insel Verlaginsel taschenbuch 4660

978-3-458-36360-6

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insel taschenbuch

Lektüre zwischen den Jahren

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Bücher begleiten uns durchs Leben und »sind keingeringer Teil des Glücks« (Friedrich der Große). »Dasgrenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das wardas Leseabenteuer« (Astrid Lindgren), später »hel-fen sie freundschaftlich, sich im stürmischen Wirr-warr der Gedanken, Gefühle und Ereignisse zurecht-zufinden« (Maxim Gorki) und »ein Universum zuerforschen« (Marguerite Duras).Von Leseabenteuern und glücklichen Stunden, ver-sunken in ein spannendes Buch, von Büchern, dieein Leben verändern, und Buchhändlern, die wahreHelden sind, erzählen Marcel Proust, Carlos RuizZafón,Wilhelm Schmid, Hanns-Josef Ortheil, ErlingKagge, Helene Hanff, Penelope Fitzgerald u.v.a.

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Lektüre zwischenden Jahren

LESEGLÜCK

Ausgewählt von Gesine Dammel

Insel Verlag

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Erste Auflage insel taschenbuch

Originalausgabe© Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Quellennachweise am Schluss des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlagabbildung: Tom Schamp,WemmelSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: Druckerei Pustet, RegensburgPrinted in Germany

ISBN ----

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INHALT

Joachim Ringelnatz, Der Bücherfreund . . . . . . .

Reise ins Bücherland

Carlos Ruiz Zafón, Der Friedhof dervergessenen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selma Lagerlöf, Oceola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcel Proust, Gute-Nacht-Geschichte . . . . . . . Aude Le Corff, Manons Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Penzoldt, Die Reise ins Bücherland . . . . .

In Büchern zu Hause sein

Wilhelm Schmid, In Büchern zu Hause sein . . Erling Kagge, Leseglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hanns-Josef Ortheil, Die Wahrheit imMorgenlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustave Flaubert, Bibliomanie . . . . . . . . . . . . . . . . Tim Krohn, Der Geruch eines Buchs . . . . . . . . .

Beim Lesen

Max Frisch, Beim Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Maria Rilke, In der BibliothèqueNationale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dan Kieran, Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tom Hodgkinson, Gedichte lesen . . . . . . . . . . . . .

Besuch in der Buchhandlung

Adrienne Monnier, Die Gründung des Ladens Sylvia Beach, Ein Buchladen in Paris . . . . . . . . . Penelope Fitzgerald, Die Buchhandlung derFlorence Green . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helene Hanff, , Charing Cross Road . . . . . . . . Marco Lodoli, Der Buchhändler . . . . . . . . . . . . . . Robert Walser, Besuch in der Buchhandlung . .

Mascha Kaléko, Ansprache einesBücherwurms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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JOACHIM RINGELNATZ

Der Bücherfreund

Ob ich Biblio- was bin?Phile? »Freund von Büchern« meinen Sie?Na, und ob ich das bin!Ha! und wie!Mir sind Bücher, was den andern LeutenWeiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,Turnsport,Wein, und weiß ich was, bedeuten.Meine Bücher – – – wie beliebt? Wieviel?Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.Bitte, doch mich auszureden lassen.Jedenfalls: Viel mehr, als mein RegalHalb imstande ist zu fassen.Unterhaltung? Ja, bei Gott, das gebenSie mir reichlich. Morgens zwölfmal nurNüchtern zwanzig Brockhausbände heben – – –Hei! das gibt den Muskeln die Latur.Oh, ich mußte meine Bücherei,Wenn ich je verreiste, stets vermissen.Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.Ja natürlich auch vom künstlerischenStandpunkt. Denn ich weiß die RückenSo nach Gold und Lederton zu mischen,Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

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Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessenMeine ungeheure Leidenschaft,Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.Bücher lasten, Bücher haben Kraft.Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,Und Sie fragen etwas reichlich frei.Auch bei andern Menschen als BarbarenGehen schließlich Bücher mal entzwei.Wie? – ich jemals auch in Büchern lese??Oh, Sie unerhörter Ese – – –Nein, pardon! – Doch positus, ich säßeAuf dem Lokus und Sie harrtenDraußen meiner Rückkehr, ach dann nurJa nicht länger auf mich warten.Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,Den man abseits ohne Zeit und UhrDüngt und erntet dann Literatur.Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändigHandsigniert sind, soll man hoch verehren.Bücher werden, wenn man will, lebendig.Über Bücher kann man ganz befehlen.Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,Und die Seelen können sich nicht wehren.

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REISE INS BÜCHERLAND

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CARLOS RUIZ ZAFÓN

Der Friedhof der vergessenen Bücher

Ich erinnere mich noch genau an den Morgen, andemmichmein Vater zum erstenMal zum Friedhofder vergessenen Bücher mitnahm. Die ersten Som-mertage des Jahres rieselten dahin, undwir gin-gen durch die Straßen eines Barcelonas, auf dem einaschenerHimmel lastete und dunstiges Sonnenlichtauf die Rambla de Santa Mónica filterte.»Daniel,was du heute sehen wirst, darfst du nieman-dem erzählen«, sagte mein Vater. »Nicht einmal dei-nem Freund Tomás. Niemandem.«»Auch nicht Mama?« fragte ich mit gedämpfter Stim-me.Mein Vater seufzte hinter seinem traurigen Lächeln,das ihn wie ein Schatten durchs Leben verfolgte.»Aber natürlich«, antwortete er gedrückt. »Vor ihrhaben wir keine Geheimnisse. Ihr darfst du alles er-zählen.«Kurz nach dem Bürgerkrieg hatte eine aufkeimendeCholera meine Mutter dahingerafft. An meinem vier-ten Geburtstag beerdigten wir sie auf dem FriedhofdesMontjuïc. Ich weiß nur noch, daß es den ganzenTag und die ganze Nacht regnete und daß meinemVater, als ich ihn fragte, ob der Himmel weine, beider Antwort die Stimme versagte. Sechs Jahre später

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war das FehlenmeinerMutter für mich noch immereine Sinnestäuschung, eine schreiende Stille, die ichnoch nicht mit Worten zum Verstummen zu brin-gen gelernt hatte. Mein Vater und ich lebten in ei-ner kleinen Wohnung in der Calle Santa Ana beimKirchplatz. Die Wohnung lag direkt über der vonmeinem Großvater geerbten, auf Liebhaberausgabenund antiquarische Bücher spezialisierten Buchhand-lung, einem verwunschenen Basar, der, wie meinVater hoffte, eines Tages in meine Hände überge-hen würde. Ich wuchs inmitten von Büchern aufund gewann auf zerbröselnden Seiten, deren Geruchmir noch immer an denHänden haftet, unsichtbareFreunde. Als Kind lernte ich damit einzuschlafen,daß ich meiner Mutter im dämmrigen Zimmer dieEreignisse zwischenMorgen undAbend,meineAben-teuer in der Schule erklärte und was ich an diesemTag gelernt hatte. Ich konnte ihre Stimme nicht hö-ren und ihre Berührung nicht fühlen, aber ihr Lichtund ihre Wärme glühten in jedemWinkel der Woh-nung, und mit der Zuversicht dessen, der seine Jah-re noch an den Fingern abzählen kann, dachte ich,wenn ich nur die Augen schlösse und mit ihr sprä-che, könnte siemich vernehmen,wo immer sie auchsein mochte. Manchmal hörte mir mein Vater imEßzimmer zu und weinte verstohlen.Ich erinneremich, daß ich in jener Junimorgendäm-merung schreiend erwachte. Das Herz hämmertemir

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in der Brust, als wollte sich die Seele einenWeg bah-nen und treppab stürmen. Erschrocken stürzte meinVater ins Zimmer und nahm mich in die Arme, ummich zu trösten.»Ich kann mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern.Ich kann mich nicht mehr an Mamas Gesicht erin-nern«, keuchte ich.Mein Vater umarmte mich fest.»Hab keine Angst, Daniel. Ich werde mich für unsbeide erinnern.«Wir schauten uns im Halbdunkel an und suchtennach Worten, die es nicht gab. Das war das ersteMal, daß ich merkte, daß mein Vater alterte und sei-ne Augen, Augen aus Nebel und Verlust, immer indie Vergangenheit blickten. Er stand auf und zog dieVorhänge zurück, um das laue Frühlicht hereinzu-lassen.»Los, Daniel, zieh dich an. Ich möchte dir etwas zei-gen.«»Jetzt? Um fünf Uhr früh?«»Es gibt Dinge, die man nur im Dunkeln sehenkann«, gab mein Vater mit einem rätselhaften Lä-cheln zu verstehen, das er vermutlich einem Romanvon Alexandre Dumas entliehen hatte.Noch dämmerten die Straßen matt in Dunst undNachttau dahin, als wir aus dem Haus traten. Flim-mernd zeichneten die Straßenlaternen der Ramblaseine diesige Allee,während die Stadt sich reckte und

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streckte und ihr blasses Nachtgewand ablegte. Beider Calle Arco del Teatro angekommen, wagten wiruns unter dem sich in blauemDunst abzeichnendensteinernen Bogen ins Raval-Viertel hinein. Ich folg-te meinem Vater auf diesem engenWeg, eher Schar-te als Straße, bis sich der Abglanz der Rambla hinteruns verlor. In schrägenQuentchen sickerte das helleMorgenlicht von Balkonen und Gesimsen bis knappüber den Boden. Endlich blieb mein Vater vor ei-nem von Zeit und Feuchtigkeit schwarz gewordenenPortal stehen.Vor uns ragte etwas auf, was mir wiedie verlassenen Überreste eines Palastes oder einesMuseums aus Echos und Schatten vorkam.»Daniel,was du heute sehen wirst, darfst du nieman-dem erzählen. Nicht einmal deinem Freund Tomás.Niemandem.«Ein Männchen mit dem Gesicht eines Raubvogelsund silbernem Haar öffnete uns die Tür. Uner-gründlich heftete sich sein durchdringender Blickauf mich.»Guten Morgen, Isaac. Das ist mein Junge, Daniel«,verkündete mein Vater. »Er wird bald elf, und ir-gendwann übernimmt er das Geschäft. Er ist alt ge-nug, um diesen Ort kennenzulernen.«Mit einem leichtenNicken bat uns Isaac herein. Bläu-liches Halbdunkel hüllte alles ein, so daß die Kontu-ren einer breiten Marmortreppe und eine Galeriemit Fresken voller Engels- und Fabelfiguren gerade

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eben angedeutet wurden.Wir folgten dem Aufseherdurch einen prächtigen Gang und gelangten in ei-nen riesigen, kreisförmigen Saal, wo sich eine re-gelrechte Kathedrale aus Dunkelheit zu einer vonLichtgarben erfüllten Kuppel öffnete. Ein Gewirraus Gängen und von Büchern überquellenden Re-galen erstreckte sich von der Basis zur Spitze undformte einen Bienenstock aus Tunneln, Treppen,Plattformen und Brücken, die eine gigantische Bi-bliothek von undurchschaubarer Geometrie erah-nen ließen. Mit offenem Mund schaute ich meinenVater an. Er lächelte und blinzelte mir zu.»Willkommen im Friedhof der vergessenen Bücher,Daniel.«In den Gängen und Lichtungen der Bibliothek ver-streut, zeichneten sich ein Dutzend Gestalten ab. Ei-nige von ihnen wandten sich um und grüßten ausder Ferne, und ich erkannte die Gesichter mehrererKollegen meines Vaters aus der Gilde der Antiquare.Wie merkwürdig, wie verschwörerisch sahen diesewohlvertrautenMänner auf einmal aus! Mein Vaterkauerte sich neben mir nieder, schaute mir fest indie Augen und sprach leise auf mich ein.»Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, einMysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. DieSeele dessen, der es geschrieben hat, und die Seelederer, die es gelesen und erlebt und von ihm ge-träumt haben. Jedesmal, wenn ein Buch in andere

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Hände gelangt, jedesmal, wenn jemand den Blicküber die Seiten gleiten läßt, wächst sein Geist undwird stark. Schon vor so vielen Jahren, als mein ei-gener Vater zum ersten Mal mit mir hierherkam,war dieser Ort uralt. Vielleicht so alt wie die Stadtselbst. Niemand weiß mit Bestimmtheit, seit wannes ihn gibt oder wer ihn geschaffen hat. Ich erzähledir jetzt,wasmir schonmeinVater erzählt hat.Wenneine Bibliothek verschwindet,wenn eine Buchhand-lung ihre Türen schließt, wenn ein Buch dem Ver-gessen anheimfällt, dann versichern wir uns, die wirdiesen Ort kennen, also die Aufseher, daß es hier-hergelangt. Hier leben für immer die Bücher, andie sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sichin der Zeit verloren haben und hoffen, eines Tageseinem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einerBuchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft,aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch,das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewe-sen. Jetzt haben sie nur noch uns, Daniel. Glaubstdu, du wirst dieses Geheimnis für dich behalten kön-nen?«Ich schautemeinen Vater fragend an und nickte dann.Er lächelte.»Und weißt du das Beste?« fragte er.Ich schüttelte den Kopf.»Der Brauch will es, daß jemand, der diesen Ortzum ersten Mal besucht, sich ein Buch aussuchen

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muß, dasjenige, das ihm am meisten zusagt, und ermuß es adoptieren und dafür sorgen, daß es nie ver-schwindet, daß es immer weiterlebt. Das ist ein ganzwichtiges Versprechen. Auf Lebenszeit. Heute bistdu dran.«Fast eine halbe Stunde spazierte ich durch diesesLabyrinth, das nach altem Papier, Staub undMagieroch. Sachte fuhr ich mit der Hand über die Rückender ausgestellten Bücher, während ich meine Wahlprüfte. Auf den verwaschenen Bänden las ich Titelin Sprachen, die ich erkannte, und viele andere, dieich nicht einzuordnen vermochte. Ich lief durch ge-wundene Gänge und Galerien mit Hunderten, Tau-senden von Bänden, die mehr über mich zu wissenschienen als ich über sie. Bald befiel mich der Ge-danke, hinter dem Einband jedes einzelnen dieserBücher tue sich ein unendliches, noch zu erforschen-des Universum auf und jenseits dieser Mauern ver-schwendeten die Menschen ihr Leben an Fußball-nachmittage und Radioserien, zufrieden damit, kaumüber ihren Nabel hinauszusehen. Vielleicht war esdieser Gedanke, vielleicht der Zufall oder sein stol-zer Verwandter, das Schicksal – jedenfalls war mirgenau in diesemMoment klar, daß ich das Buch be-reits gewählt hatte, das ich adoptieren würde. Odervielleicht müßte ich sagen, das Buch, das mich adop-tierenwürde. Inweinrotes Leder gebunden, stand esschüchtern am Ende eines Bords und raunte seinen

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Titel in Goldlettern, die im Licht der Kuppel leuch-teten. Ich trat hinzu, strich mit den Fingerspitzenüber die Wörter und las lautlos:

Julián CaraxDer Schatten des Windes

Noch nie hatte ich diesen Titel oder den Namen sei-nes Autors gehört, doch das war mir egal. Der Ent-schluß war gefaßt. Von beiden Seiten. Äußerst be-hutsam ergriff ich das Buch und blätterte es durch.Aus der Gefangenschaft des Regals befreit,verström-te es eine goldene Staubwolke. Ichwar zufriedenmitmeiner Wahl und ging mit dem Buch unter demArm durch das Labyrinth zurück. Vielleicht hattemich die Zauberstimmung diesesOrts bezwungen –jedenfalls hatte ich die Gewißheit, daß das Buch seitJahren, wahrscheinlich seit der Zeit vor meiner Ge-burt, hier auf mich gewartet hatte.

Wieder zu Hause in der Calle Santa Ana, zog ichmich an diesem Nachmittag in mein Zimmer zu-rück und beschloß, die ersten Zeilen meines neuenFreundes zu lesen. Bevor ich es recht merkte, warich schon rettungslos hineingestürzt. Der Roman er-zählte die Geschichte eines Mannes auf der Suchenach seinem richtigen Vater, den er nie kennenge-

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lernt hatte und von dem er nur dank der letztenWorte erfuhr, die seine Mutter auf dem Totenbettsprach. Die Geschichte dieser Suche wurde zu einerrastlosen Odyssee, auf der der Protagonist darumkämpfte, eine verlorene Kindheit und Jugend wie-derzufinden, und auf der man langsam den Schat-ten einer verfluchten Liebe entdeckte, deren Erinne-rung ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen sollte. Jeweiter ich in der Lektüre kam, desto mehr erinnertemich die Erzählweise an eine dieser russischen Pup-pen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrerselbst in sich bergen. Die Minuten und Stunden ver-flogen imNu. Gefangen in der Geschichte,vernahmich Stunden später kaumdiemitternächtlichenGlok-kenschläge der Kathedrale in der Ferne. Unter demgelben Licht der Tischlampe tauchte ich in eine Weltvon Bildern und Gefühlen,wie ich sie nie zuvor ken-nengelernt hatte. Figuren, die mir so wirklich erschie-nen wie meine Umwelt, saugten mich in einen Tun-nel von Abenteuern undGeheimnissen hinein, demich nicht mehr entrinnen mochte. Seite um Seiteließ ich mich vom Zauber der Geschichte und ihrerWelt einhüllen, bis der Morgenhauch über mein Fen-ster strich und meine erschöpften Augen über dieletzte Seite glitten. Im bläulichen Halbdunkel derDämmerung legte ich mich mit dem Buch auf derBrust hin und lauschte demGemurmel der schlafen-den Stadt. Traum und Müdigkeit klopften an, aber

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ich mochte mich nicht ergeben. Ich wollte den Zau-ber der Geschichte nicht verlieren und mich nochnicht von ihren Figuren verabschieden.Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buch-handlung meines Vaters sagen, wenige Dinge präg-ten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sichwirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Dieseersten Seiten, das Echo dieserWorte, die wir zurück-gelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang undmeißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu demwir früher oder später zurückkehren werden, egal,wie viele Bücher wir lesen,wie viele Welten wir ent-decken,wieviel wir lernen oder vergessen. Für michwerden diese verzauberten Seiten immer diejenigensein, die ich auf den Gängen des Friedhofs der ver-gessenen Bücher fand.