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Leseprobe "Das Mädchen, das mit dem Wind tanzt"

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von Katarzyna Zychla Paperback · 74 Seiten ISBN: 9783940158055 http://www.amazon.de/dp/3940158054/&tag=lv0b-21

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VorwortDie Geschichte Das Mädchen, das mit dem Wind

tanzt berührt mich besonders, wenn ich an Kinder den-ke, die in den vier Wänden der Ohnmacht gefangen sind, die ihre Behinderung um sie herum aufbaut. Wenn sie aufwachsen, werden aus diesen Wänden oftmals dik-ke Mauern, die – so scheint es – undurchdringlich sind. Dabei genügt, wie es die Autorin so schön beschreibt, ein warmer, herzlicher Hauch von Freundschaft, der jenseits der Ängste und Beschränkungen Freude bringt, und schon beginnt er aufzublühen – der geheimnis-volle Garten des Abenteuers, das Leben heißt. Dieser besondere Zauber, dieses Geschenk, das nur dem Menschen gegeben ist, entsteht immer dann, wenn je-mand Herzensnahes erscheint – ein zweiter Mensch: ein Freund, eine Freundin, ein freiwilliger Helfer, ein Mitbürger. Unabhängig davon, wie alt wir sind, nehmen wir uns einen Augenblick, um uns in eine der Figuren der Erzählung hineinzuversetzen, nehmen wir uns ei-nen Augenblick, um in uns Gutes zu finden, das einem anderen Menschen zu schenken sich lohnt, nehmen wir uns einen Augenblick, um davon unseren Kindern zu erzählen und um ... sie zu lehren, selbstlos zu lieben.

Krystyna BochenekSenatorin der Republik Polen

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Es war ein ungewöhnlicher Ort ... er sah ver-zaubert aus. Wie aus einem Bild. Der Duft der Wasserlilien und der hohen Gräser, die

um den See wuchsen, war so intensiv, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Fantastische Schmetterlinge mit un-glaublich großen, blauen Flügeln streiften furchtlos ihre Hände. Blumen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, blühten vor ihren Augen auf. Wie in Zeitlupe beob-achtete sie, wie sich die schneeweißen Blüten öffneten. Wunderliche Insekten schwirrten über den Grashalmen. Ihre Flügel und Panzer schimmerten regenbogenfarben in der Sonne. Das Summen, das sie von sich gaben, er-innerte mehr an Musik als an Geräusche, die Insekten sonst von sich geben. Die Bäume waren so niedrig, dass sie wie Sträucher aussahen. Ihre Blätter erinnerten an grünen Samt. Wenn sie sie berührte, fühlten sie sich zart an wie Federn. Sich selbst erkannte sie auch kaum wieder. Sie hatte ein Kleid an, das sie noch nie zuvor getragen hatte. Der feine Stoff in Sonnenblumenfarben glich fast einem Nebel ... Gleich neben ihren Füßen lag ein Ruder. Sie schaute sich um, aber sie konnte das Boot nicht entdecken. Wie gern würde sie hineinsteigen und losfahren!

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Sie wollte ihre Angst besiegen. Der Wind begleitete sie auf Schritt und Tritt. Er flüsterte in den Blättern und Grashalmen. Er umwehte ihr Gesicht und zerrte leicht an ihren Haaren, dann zog er sich wieder zurück, wurde stiller und brach erneut los. Er tänzelte auf der schim-mernden, kühlen Seeoberfläche und kehrte wieder zu-rück. Die Bäume wiegten sich im Wind und die Blätter zitterten in seinem warmen Hauch.

Alexandra hielt aufmerksam Ausschau nach dem Boot. Sie konnte fast das Holz riechen, vollgesogen mit Wasser aus dem See. Das Ruder war leicht. Es machte den Eindruck, als sei es aus Schilfrohr gemacht wor-den. Der Wind hörte nicht auf, zu flüstern ... Doch sie verstand dieses Flüstern nicht. Er brachte Gerüche mit sich, die sie gut kannte, doch jetzt konnte sie sich nicht erinnern, woher. Auf einmal überkam sie eine große Müdigkeit. Sie setzte sich direkt ans Wasser, auf den von der Sonne erwärmten Sand. Libellen flogen über der krausen Wasseroberfläche um die Wette ... Das Mädchen schloss die Augen. Sie musste es verstehen! Sie wollte alles begreifen, was passiert war. Wieso war es passiert? Hatte es passieren müssen?

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* * *Mit Mühe hob sie die Augenlider. Jemand sollte ei-

nen Arzt rufen. Schnell!Woher kommen die ganzen Gesichter über ihr? Lauter

Gesichter! Wo ist der Himmel? Wo der Wind? Wieso fällt es so schwer, die Gedanken zu sammeln? Wer sind diese Leute? Was für eine Lähmung? Rehabilitation? Wovon reden sie? Wieso flüstern sie? Sie muss aufstehen. Wieso hat der Wecker nicht geklingelt? Sie kommt zu spät zur Schule! Sie kommt zu spät zum Wettkampf! Sie muss Magda anrufen. Muss sie erinnern an ... Sie versuchte, die Bettdecke zurückzuschlagen. Die Decke war schwer, als wäre sie aus Blei. Die Wirklichkeit drang von sehr weit zu ihr herüber.

„Liebes ...” Diese Stimme war ihr so bekannt! Sie versuchte, den Kopf in die Richtung zu drehen, aus der sie kam. Sie konnte es nicht.

Sie spürte einen stumpfen Schmerz in der Schläfe und Tränen, die ihre Wange hinabflossen. Einige Tränen blieben an ihrem Mundwinkel hängen und brannten sal-zig.

„Die kritische Phase ist überwunden”, eine andere Stimme ertönte nah an ihrem Ohr, härter, offizieller. „Sie wird leben. Das Schlimmste ist vorbei. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Kommen Sie später wieder ...”

Sie verstand kein Wort. Die Gesichter verschwan-den und an ihren Platz traten eine furchtbare Stille und ein allumfassendes Weiß. Monoton, schmerzlich, nicht auszuhalten! Sie machte die Augen zu. Der Wunsch, das Boot zu finden, kehrte zurück. Sie drückte die Hand fest zu, als hielte sie in ihr immer noch den Stiel des Paddels. Sie darf ihn nicht verlieren. Denn dann verliert sie ihre Hoffnung ... Sie fiel wieder in tiefen Schlaf. Der See kehrte zurück. Doch die Suche nach dem Boot war

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vergebens. Der Duft der Lilien vermischte sich mit dem Geflüster des Windes.

Früher hatte sie nicht darauf geachtet. Jetzt wurde ihr klar, dass sie sein Rascheln verstand. Sie verstand die Worte! Das war für sie eine unglaubliche Entdeckung! Der Wind tanzte um sie herum und flüsterte: „Jetzt wird alles anders. Du lernst eine neue Welt kennen. Du bist ein mutiges Mädchen. Du wirst nicht aufgeben. Du musst das Boot finden.” Er wusste also auch, dass sie nach dem Boot suchte? Wusste er auch, wo es war? Würde er sie zum Boot bringen?

„Aber ich …”, sie wollte ihn so vieles fragen! Plötzlich stolperte sie über einen großen orangefarbe-nen Stein. Sie hatte noch nie zuvor orangefarbene Steine gesehen. Erstaunt beugte sie sich hinunter und berühr-te ihn. Er war echt. „Wieso bin ich allein hier? Wieso gibt es keine anderen Kinder? Mama ist nicht da! Wo ist Papa?” Sie schaute sich um. Sie war wirklich allein.

„Das ist deine Einsamkeit”, flüsterte der Wind wie-der. „Am Anfang wirst du dich sehr einsam fühlen.”

Alexandra setzte sich neben den Stein. „Ich will nicht einsam sein!”, protestierte sie, doch

der Wind schwieg nun. Die hohen Gräser wogten jetzt nicht mehr. Jetzt war sie wirklich allein und die Stille machte ihr Angst. Sie durchdrang jeden ihrer Gedanken, bohrte sich aufdringlich in ihr Gehirn. Endlich hörte sie ein Geräusch. Sie drehte sich um und alles verschwand! Wie durch einen Schleier sah sie eine Frau in Weiß. Sie beugte sich zu ihr herunter und schaute ihr aufmerksam in die Augen.

„Wie fühlst du dich, Alexandra?”„Wo ist der See?”, fragte das Mädchen. Das Bild

wurde langsam schärfer. Noch wusste sie nicht, wo sie war.

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„Du hattest einen Traum … Du bist im Krankenhaus. Du hattest einen schweren Unfall.”

„Krankenhaus?” Sie versuchte, sich aufzusetzen. Die Frau, die mit ihr sprach, hob sie an und half ihr, sich ge-gen die Kissen zu lehnen. Sie trug einen weißen Kittel.

Alexandra war nun ganz wach. Es war kein Witz! Sie lag wirklich in einem Krankenhausbett. Sie konnte sich jedoch an keinen Unfall erinnern. Die Frau setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.

„Ich bin Ärztin. Mein Name ist Sofia Pogodnik. Du bist bei mir in Behandlung. Vor ein paar Tagen bist du ins Wasser gesprungen, Alexandra. Direkt unter der Oberfläche befanden sich alte, hölzerne Pfähle einer ehemaligen Brücke ... Du hattest sehr viel Glück. Deine Eltern sind die ganze Zeit über hier, bei dir. Sie haben sich große Sorgen gemacht, weil du lange bewusst-los warst. Als du die Augen geöffnet hast, waren wir alle sehr froh. Jetzt wissen wir, dass du wieder gesund wirst.”

„Ich bin krank?”„Das könnte man so sagen.”„Wann kann ich wieder nach Hause?”„Bald. Möchtest du deine Eltern sehen?”„Ja.”Als sie wieder allein war, fiel ihr Blick auf den

Nachttisch. Auf einem Teller lag eine Orange. Sie erin-nerte sie an den Stein aus ihrem Traum. Sie versuchte, sich an diesen unglücklichen Sprung zu erinnern. Doch sie konnte nicht. Sie wollte aus dem Bett steigen. Erst jetzt, nachdem sie die Decke zurückgeschlagen hatte, bemerkte sie, dass ihre Beine auf eine seltsame Art da-lagen. Sie konnte sie nicht bewegen.

9 783940 158055

ISBN 978-3-940158-05-5