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Leseprobe Ostermaier, Albert Die Liebende © Suhrkamp Verlag 978-3-518-42327-1 Suhrkamp Verlag

Leseprobe...die Flüsse des Hades verzweigen, hinab zu deinem Her-zen?Warumschlägtessoschnell,wennmeineHanddei-ne Schenkel berührt?« Sie setzte sich wieder auf den unbequemen, störrischen

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Leseprobe

Ostermaier, Albert

Die Liebende

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-42327-1

Suhrkamp Verlag

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SV

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Albert OstermaierDie Liebende

Erzählung

Suhrkamp Verlag

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Erste Auflage 2012Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlagesreproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-42327-1

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Die Liebende

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in memoriam Michael Althen

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Alle die Jahre, und du: meine Liebe, all diese Jahrehindurch.

All das Warten, und du: mein Schwindligwerden davor:Es ist nichts, das da altern, nichts, das erkalten kann,Nichts, was da wartete, dass unser Tod kam,Nichts, was uns kunstreich befehdete, langsam,Nichts, was uns fremd bleibt, nichtMein Fortsein, nicht mein Wiederkommen.

René Char

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I

éclipseFinsternis

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»Was sitzt du da, als wärst du ein Stummer?« Sie schlugdas Buch zu, senkte den Blick. Die Lampe blendete sie.Sie hob die Hand, aber die Helligkeit drang durch ihrezitternden, vom Alter gekrümmten Finger. Der Armschmerzte. »Als könntest du die Freuden in meinem Hausnicht mehr bezahlen«, redete sie mit geschlossenen Au-gen weiter, die Fingerspitzen strichen über die Münzenauf dem weißen, reflektierenden Tisch, sie lachte auf, »mitdem Kleingeld deiner Geschichten.« Sie zerknüllte denPlastikbecher, Kaffee schwappte auf ihren Handrücken,floss über die Knöchel auf das zerkratzte Resopal, ver-teilte sich in Flussarme, bevor er sich in einer Mulde ander Tischkante sammelte. Sie öffnete die Augen für einenvorwurfsvollen Blick ins Leere: »Und überweist mir dieSchuld an der Armut deiner Gedanken.«Das Schinkensandwich hatte sie noch nicht aus der Vaku-umverpackung geholt, die Salatblätter hingen saftlos überdas blasse Brot. »Was zehrst du am eigenen Gemüt, stattnach Essen und Trinken zu greifen? Es ist alles, wie du esbestellt hast, aus dem Katalog des Himmels.« Sie stand aufund ging langsam, mit dem Rücken voran, auf den brei-ten Spiegel zu.»Breite ich nicht die Wolken aus, unter deinem müdenHaupt? Habe ich dir nicht den Vogel geschlachtet, dessenFlug du mit Schrecken verfolgtest – und Sehnsucht zu-gleich, wie er in die Lüfte zu steigen? Ich habe seine Ein-geweide mit Koriander gewürzt und lasse sie schwimmen

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für dich in einer Schale von Wein.« Der Raum schluckteihre Stimme, nahm sie, zeichnete sie auf. »Wein«, schriesie, »Wein. Rotwein!« Ein Stich im linken Sprunggelenkließ sie zusammenfahren, unterbrach ihren Versuch, sichdem Spiegel zu nähern. »Meinst du vielleicht, ich stelleeine andere Falle und flechte mein Haar in deins, um dei-nen schönen Hals, unter dessen Haut sich die Adern wiedie Flüsse des Hades verzweigen, hinab zu deinem Her-zen? Warum schlägt es so schnell, wenn meine Hand dei-ne Schenkel berührt?«Sie setzte sich wieder auf den unbequemen, störrischenStuhl, dessen rechtes Bein ein wenig kürzer war. »Hastdu Angst, mein Kuss wäre ein Pilz und Krusten wür-den deine Lippen überziehen, bis sie den Algen gleichan meiner Felsenküste aus der Brandung wachsen? In ih-ren Armen das Treibgut der Gestrandeten. Du stinkstnoch immer wie sie.« Sie beugte sich über die silberneTonbandspule, deren Knöpfe sich weiter drehten. »Hörauf, mich so anzuschauen und mir den Kopf zu verdre-hen statt mich zu verstehen!« Der Zeigefinger betastetedas Gehäuse. »Warum sollte ich dich in ein Schwein ver-wandeln und dich mit Gerten schlagen, dass du kommst?Kaum legst du an, so sinnst du schon wieder zu fliehenund dein Schiff zu suchen, das dich hinausträgt, neuenAbenteuern zu, bis du der Nächsten mit deinen geflügel-ten Worten die Sonne versprichst und ihr die Lippen ver-brennst. Aber wieder bist du nur einem Zauber verfal-len, und die Götter in ihrer holden Gnade gaben dir dasGegenkraut, das du schluckst, bevor du sie fickst, Odys-seus, und sie deinem trojanischen Hengst arglos jubelnddie Tore öffnen. Bis die Nacht kommt. Ich dachte, gegen

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mich wäre kein Kraut gewachsen. Schwarz war die Wur-zel und weiß wie Milch die Blüte, und tief in der Erdemuss man danach graben.« Sie redete zu sich: »Tief inder Erde hätte ich sie vergraben sollen.« Sie bohrte dieFaust in den Unterleib, schluchzte und blickte im nächs-ten Augenblick trotzig auf: »Muss das Licht sein?« Siehielt das Buch vor die Lampe. »Nah sind und schwer zufassen deine Götter.« Sie tauchte die Finger in die Kaf-feelache und fuhr damit ihre Lippen nach: »Bin ich dirnicht göttlich genug? Ich bot mich dir an, und du bootetstmich aus. Zwischen uns ist eine Wand aus Wellen. Washast du nicht für Schätze gesammelt, auf den Irrfahrtendurch meine Kanäle? Ich weiß, Krieg, Handel und Pira-terie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen. Aber du trenn-test dich von deinen Gefährten, als seien sie der einzigePreis, den du zu zahlen hast – für das Gold in deinenHänden, das Silber deiner Zunge, wenn du die Wahrheitwechseltest gegen den Schein. Ohne alles wirst du nachHause kehren, und doch reich an Lügen.«Sie erhob sich, als wolle sie sich wie Wasser bewegen,löste den Knoten im Haar, das in Wellen über die Schul-ter zur Hüfte floss. Es glitzerte von den goldenen Ster-nen. Sie spannte die Muskeln an, drückte den Rückendurch, atmete in den Beckenboden. »Ich bin eine schöneFrau. Ich werde immer jung sein. Das Alter ist eine bloßeLaune, zufällig und vergänglich.« Sie drehte den Kopf ge-gen den Spiegel, und für einen Augenblick, einen Licht-einfall, glätteten sich die Falten, die Haut, straffte sie sichwie ein erschöpftes Segel, in das der Wind fährt. Siestreifte mit der Hand übers Haar. »Eine Laune«, hauchtesie und blies einen Handkuss zum Spiegel. »Zeus schuf

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den Menschen, weil er ihn träumte. Und jetzt träumt ihrmich hinter euren Scheiben, werft Münzen. Der Menschvergaß Zeus und baute sich Schiffe, deren Ruder mecha-nisch schlagen, die Meere zu queren. Aber die Schiffewerden dich vergessen. Sie werden euch vergessen. Wo-von werden sie träumen, allein auf See?« Sie tauchte denFinger in den Kaffee und zeichnete einen Körperumrissauf die Tischplatte.»Welches Ungeheuer wird aus den Fluten wachsen, wäh-rend du schläfst, in meinen Armen? Die Boten, die dusandtest, kamen zu spät. Oder sie kriechen wie Tiere amBoden. Alles ist zu nah, als dass es die Ferne beschreibenkönnte. Sie wollen ein Haar, Monsieur? Sie wollen Haaregefunden haben, von mir? Meine Haare? Glauben Sie, ichverliere Haare, als wäre ein Krebs mit seinen Scheren inmeinem Kopf? Ich bin es gewohnt, alleine zu sprechen.Ihr hört mir doch zu. Wie einsam ihr seid, wie einsamdu bist. Gib mir dein Haar und ich vervielfältige dich.Und du wirst dir zwischen den Klippen begegnen. Undes wird zu eng für zwei von deinem Maß, und die Ein-äugigen werden zwei Augen haben und sehen, wie du sieblenden willst. Wie du mich geblendet hast und blendest,meine Augen, die ich nur für dich hatte und mit denenüberall und in allem ich nur dich sah.« Sie streckte dieArme, um die Lampe zu drehen, verbrannte sich fast dieFinger, aber sie schaffte es. Der Raum verlor seine Schär-fe, der Lichtkegel erfasste nun auch die Stuhllehne gegen-über. »Siehst du dieses Glas? Dieses Glas, mit dem du zu-rückkommen wirst? Jedes seiner Fasern erzählt dir eineGeschichte und spiegelt dein Verlangen. Aber es erzähltdir nichts von dem, was zählt: dem Gift.«

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Ein junger Mann betrat den Raum mit zwei Gläsernund einer Flasche Rotwein. Er war groß, blond, ausgewa-schene Jeans mit Löchern, die nicht bereits beim Kau-fen vorhanden waren, schwarzes T-Shirt, schwarze Biker-jacke, die an seinem Oberkörper saß, als wäre sie aus derHaut herausgewachsen, als hätten die Muskeln keinenPlatz mehr gehabt, als hätte das Leder die schwarzen,Nacht für Nacht quälenden Träume aufgesaugt und erkönnte sie jetzt als Schutzhaut tragen gegen all die Ver-wünschungen und Flüche, die sie ihm entgegenspuckte.Früher hatte er sich vorgenommen, die blonden Haareabzurasieren oder zu färben; er war es leid gewesen, alsder Engel mit den blauen Augen daherzukommen. Ermochte seine Hände nicht, kam ihm wieder in den Sinn,als er sie betrachtete, wie sie die Gläser und die Flaschetrugen. Sie waren zu weiblich, zu filigran. Sie gefielenihm nur zu Fäusten geballt oder eingewickelt vor demBoxen. Die Alte beobachtete ihn. Immer bekam er dieVerrückten, die Totschlägersänger, die Schauspieler, rä-kelte er sich in Selbstmitleid, als läge er noch im Bettund müsste sich nur auf die andere Seite drehen unddas Kissen gegen den Hinterkopf drücken, die Lippenauf das Laken pressen. Jeden Morgen war es übersät vonseinen Albtraumküssen, für die er sich schämte wie da-mals als Junge für die ersten Samenspuren, wenn er imTraum nicht an sich halten konnte, wie er später die Frau-en nicht halten konnte, von denen er träumte. Es warennur Träume, denn er sah sie kaum, und natürlich schliefer schlecht, schlief mit ihnen, aber nicht neben ihnen,er lag neben ihnen wach. Vor einer Woche hatte er begon-nen, Tabletten zu nehmen. Er war gar nicht mehr wach

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geworden. Aber wollte er überhaupt aufwachen in seinLeben, die wechselnden, leeren Wohnungen, die Verspre-chen, zu den Kühlschränken, in denen jedes Datum ab-gelaufen war? Er wäre lieber unterwegs gewesen, aufeinem Motorrad durch Südamerika gereist oder auf ir-gendeinem Boot allein um die Welt gesegelt, um an einerInsel anzulegen, wo eine atemberaubende Frau ihn emp-fing. Er träumte schon wieder, selbst während der paarSchritte von der Tür zum Stuhl. Die Tagträume warenübernächtigt, aber sie waren schön; für einen Augenblickkonnte er weg sein, einfach weg.Er stellte die Gläser und die Flasche auf den Tisch. Wasfür eine Sauerei hatte sie da angerichtet, die Alte. Sie fi-xierte ihn. Konnte er ihr überhaupt ein Glas geben? Erzögerte, überprüfte das Glas. Ja, es war aus Plastik. Wa-rum hatte sie die Lampe gedreht? Er goss ihr ein. Erstjetzt merkte er, dass er das Wasser vergessen hatte. Erdurfte ihr keinen Wein geben. Es interessierte ihn nicht.Sie war eh nicht zurechnungsfähig, es wäre sowieso allesumsonst, verlorene Liebesmüh. Sie könnte seine Groß-mutter sein, aber sie erinnerte ihn an seine erste Liebe,ihre Augen waren so jung. Zuerst zögerte er, dann gosser sich auch ein. Fast hätte er mit ihr angestoßen, aus ei-nem Reflex heraus, man saß an einem Tisch. Er erschraküber sich, stellte das Glas zurück, ohne getrunken zu ha-ben. Sie lachte. »Du denkst, du hast es in der Hand. DerDruck deines Fingers auf die Brust der Götter erfülltdir jeden Wunsch. Denkst, du könntest dich selbst wäh-len und würdest nicht einmal drauf verpflichtet, bei demzu bleiben, was du von dir selbst hältst? Wenn es ernstwird, dann schweigt des Sängers Höflichkeit. Wie du dich

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befreit hast von der Zumutung, etwas zu sagen zu ha-ben.«Hatte er vergessen, das Band einzuschalten? Nein, es liefnoch. Er hatte es laufen lassen. Und die Kameras? Eswurde doch automatisch aufgezeichnet, oder? Niemandwar hinter der Scheibe. Er war hinter der Scheibe ge-standen. Wenn er in seinem Badezimmer vor dem Spie-gel stand oder von seinem Bett zum Feuermelder starr-te, fühlte er den Zwang zur Lüge. Mit der Wahrheit zulügen. Mit einem Lächeln die Wahrheit zu sagen und sieals Lüge zu verpacken. Er schweifte schon wieder ab,als zöge ihn eine Hand weg. »Warum rührst du den Weinnicht an?«, schreckte sie ihn auf, »er schmeckt nach Ho-nig. Aber wahrscheinlich gelüstet dich danach, ein Biermit den Zähnen zu öffnen und auf offener See deinenGefährten von den Wellen meines Körpers zu erzäh-len, die dich umfluteten, als du standst wie ein Mann ge-gen den Sirenengesang.« Entweder, ärgerte er sich, musstdu ihnen jedes Wort mit der Geburtszange aus dem Schä-del ziehen, oder sie reden ohne Punkt und Komma undlocken dich in ihre Erzähllabyrinthe und Höllenschlei-fen, und dir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen atem-los zu folgen und dir alles anzuschauen, was sie dir zei-gen, und um alles anzuhören, was sie dazu sagen. Dante,nannte er das. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht,die Fälle und Verdächtigen vor den Verhören nach Auto-ren zu kategorisieren. Dante, Kafka, Pasolini, Pilcher, Ca-mus, Beauvoir. Er ließ seine Bildung gerne raushängen,wenn die anderen ihre Wetten abschlossen, als würdenhier Kampfhähne gegeneinandergeschmissen. Er hatteLiteratur studiert, aber bei seiner ersten Probeunterrichts-

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stunde als Lehrer kein Wort rausbekommen und war ge-gangen. Die Alte schob ihm ihr Buch zu, zeigte mit demFinger auf eine unterstrichene Stelle und forderte ihn aufvorzulesen. Er hatte seine Lesebrille im Büro vergessen.Er brauchte sie nicht wirklich, redete er sich ein. Wenner sich konzentrierte, sich zusammennahm. Die Buch-staben verschwammen zunächst, aber dann standen siedeutlich vor ihm. Er ging durch einen Wald aus Buch-staben. Er begann zu lesen. War das seine Stimme? »Alsich mein Schwert vom Schenkel zog, droht’ ich, sie zumorden. Und der Schrecken fuhr in sie, bis sie mich aufihr Lager lud und ich sie schwören ließ, wenn ich waffen-los liege, mich nicht zum schlappen Schelm zu machen.Ich schlürfte ihr Gift und war doch nicht verzaubert.«Die Alte sprang auf: »Und dachtest, ich sei verzaubertvon deinen Augen, dem Strömen deiner Muskeln im Flussunserer Körper. Dachtest, du hättest meinen Zauber ge-brochen und ich würde zerbrechen an deinem.« WennFrauen ihn beschimpften, verabschiedeten sich seine Ge-danken, er checkte ein in eine Reise in die Südsee odercruiste mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt.Er war immer nett zu Frauen, doch wenn sie ihn be-schimpfen würde, hatte er wieder dieses Problem. Washatte sie gesagt? »Und keine Schuld trifft dein Verlangen,denn es war geführt von den Händen der Götter auf mei-ne Haut. Doch mein Verlangen war nicht von Götter-hand – was weißt du schon von meiner Lust? –, sonderngeschürt von deinen Händen, der Hitze deines Atemsin meinem Nacken und dem zügellosen Rühren deinerZunge in meinem Ohr. Der Speer nur heilt die Wunde,die er schlug.« Er konnte es nicht fassen: Während sie

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redete, hatte seine Hose sich gespannt. Wie das, sie könn-te doch seine Großmutter sein, was war in ihrer Stimme,in ihrer Stimme liegt etwas, beschwor er sich, etwas vonHypnose. Ihre Stimme ist die Stimme einer junge Frau,prügelte er auf seinen Verstand ein, ihre Stimme führtdeine Augen in die Irre, ihre Stimme läßt dein Herz indie Hose rutschen. Er bekam Angst, er sollte unterbre-chen, alles abbrechen, sagte er sich, sich krankschreibenlassen. »Du grunzt wie ein Schwein im Bett und sagstnoch immer nichts.« Sie taxierte ihn von Kopf bis Fuß.Er schwitzte, sie hatte ihn zum Schwitzen gebracht. Ermuss die Lederjacke ausziehen. Er wollte zur Toiletteam Ende des Gangs, sich kaltes Wasser ins Gesicht schüt-ten. »Aber übel riecht dein Schweiß, weil er vor dir flieht.«Er fühlte sich schmutzig, schuldig. Wie machte sie das?Die Jeans klebte an den Schenkeln, wie Inseln schim-merten die Löcher. Was war los mit der Klimaanlage,sie spielte verrückt, war in der falschen Jahreszeit undkämpfte gegen eine Kälte an, die seit einem halben Jahrverschwunden war, pumpte heiße Luft in den Raum,röchelte, ganz außer Atem. »Hab’ ich nicht das Wassererhitzt und dich in eine Wanne gesetzt, dich und deinMeer? Und wusch ich dich nicht an Kopf und Schultern,bis ich dir die Müdigkeit entzog, die dein Leben bedroh-te? Hab ich dich nicht gesalbt, mit glänzenden Ölen? Zueinem Stuhl geführt, voller Kissen, überzogen mit Lin-nen, und dir einen schönen Mantel umgelegt, einen Sche-mel zu deinen Füßen, und lud dich hier zu meinem Mahlein? Ich wusste, dass du gehen wirst und mir von deinerFrau erzählst. Wie du mit ihr verwoben bist und meineFäden das Muster zerstören. Du wirst zu Hause ankom-

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men, und sie werden dich empfangen wie einen Helden,denn alle, die von mir kommen, kommen zurück, schö-ner und größer, als sie je waren. Und alle saßen sie undschmausten hier Massen von Fleisch und vergaßen sichim Rausch des süßesten Tranks, bis die Jahreszeiten wie-der kreisten, die Monate schwanden, die langen Tage ver-gingen, und sie flehten wie du: Lass uns nach Haus. Aberbei all dem Gejammer entstand kein wirksames Handeln.Ich musste sie zum Gehen auffordern. Ich, die Nymphe,reizend und fein, um die Hüften den schönen goldnenGürtel, über dem Kopf einen Schleier.«Er war eingenickt, schreckte hoch. Wie lange war erweggetreten? Eine Sekunde? Das Band lief. Seine Uhrwar stehengeblieben. Er hatte sie vor sich auf den Tischgelegt gehabt. »Du hast gesprochen im Schlaf. ›Jetztwird nicht mehr geschnarcht und geschlafen in süßes-tem Schlummer. Gehen wir, Circe hat es mir so gera-ten.‹ Zumindest hast du meinen Namen nicht verges-sen.« »Circe«, sagte er sich. Ich habe eine neue Kategorie.Die Verführerin, lachte er in sich hinein, aber er konntedie Angst nicht überspielen. Er hatte, als er kurz wegge-treten war, von seiner Frau geträumt. Er wollte zu ihr zu-rück. Es war wie in einem billigen Roman gewesen. Erwar auf dem Weg, um Zigaretten zu holen, hatte die Türhinter sich zugezogen, um sich nicht mehr zu öffnen. Erwar gegangen und hatte nichts als einen vollen Aschen-becher zurückgelassen und den Schlaf, den er auch beiihr nicht gefunden hatte und der jetzt bei ihr schlief, bil-dete er sich ein. Er wollte einfach wieder von ihr umarmtwerden, ohne Worte, Warum. Sein Weggehen war wieeine Schusswunde gewesen. Er presste die Hand darauf,

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