LFI 200306 - Henri Cartier-Bresson

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95 JAHRE HENRI CRTIER-BRESSON

Ich habe mich nie fr Fotografie interessiert." So oder hnlich uerte er sich oft in den letzten Jahren: Henri Cartier-Bresson, dessen fotografisches Werk nicht nur unzhlige Nachahmer animiert hat, sondern der die Welt des 20. Jahrhunderts auch in einem Umfang und in einer Weise fotografisch dokumentiert und interpretiert hat, die einzigartig ist. Ich hatte immer ein leidenschaftliches Interesse fr die Malerei", schrieb er 1952 in seinem Buch Images la Sauvette". Malerei war der Ursprung

seines kreativen Schaffens in den 20er Jahren, zurMalerei kehrte er zurck, als er 1974 seine Leica, seit 1932 die Kamera seiner Wahl, beiseite legte und sie fortan nur gelegentlich wieder zur Hand nahm. Seitdem spielt Cartier-Bresson permanent den Stellenwert der Fotografie fr sein Leben herunter, als sei sie ein Irrweg gewesen, dem er ber 40 Jahre gefolgt sei, bis er zu seiner eigentlichen Bestimmung zurckgefunden habe. Nicht zuletzt ist dies auch die Reaktion eines auf seine Autonomie als Knstler pochenden eigenwilligen Geistes, dem nichts so zuwider ist, wie fixiert zu werden auf eine Rolle, in eins gesetzt zu Werden mit seinem Werk, schon zu Lebzeiten eingereiht zu werden in den Olymp der Fotografen-Gtter. In einem Interview uerte er krzlich auf die Frage, welche Fotografen er als legitime Nachfolger ansehen wrde: Das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist es, meine Sensibilitt wach zu halten." Auch sein 1966 erfolgter Rckzug aus der Fotoagentur Magnum, die er 1947 mit Robert Capa und David Seymour gegrndet hatte, folgte einem Impuls der Selbstbehauptung: Die zunehmende kommerzielle Nutzung seiner Bilder bedrohe die Integritt seiner Arbeit. Seine Arbeit mit der Leica, das ist Kunst mit den Mitteln des Fotojournalismus. Es ist zum einen die Anwendung der strengen Prinzipien der Bildkomposition, die der junge Cartier-Bresson whrend seiner Lehrzeit im Atelier des Pariser Kubisten Andre Lhote verinnerlichte. Es ist zum anderen ein intuitives Gespr fr das unerwartete Detail, fr flchtige Koinzidenzen im bewusstlosen Strom der Ereignisse, die in ihrer fotografischen Bewahrung zu Momenten wundersamer Bedeutung gerinnen. Das Vorwort zu Images la Sauvette" ist betitelt l'istant decisif" - hier formulierte Cartier-Bresson die Essenz seiner fotografischen sthetik: das im Bruchteil einer Sekunde stattfindende Erkennen

Calle Cuauhtemocztin, Mexico City, 1934

Mexico City, 1934 (oben),

Madrid, 1933 (unten)

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New York, USA, 1935 (oben), 1947 (unten)

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der Bedeutung eines Geschehens und die gleichzeitige exakte Anordnung seiner Formen". The decisive Moment" hie das Buch in der englischen

bersetzung, und der entscheidende Augenblick"wurde zum Motto schlechthin, um Cartier-Bres-

sons Methode zu umschreiben. Das zeitlich prziseBettigen des Auslsers auf dem Kulminationspunkt eines Ereignisses ist das eine; ebenso wichtig aber ist die rumliche Dimension dieses Moments: die Komposition des Bildinhalts nach strengen geometrischen Regeln, damit das Bild nicht leblos wirkt. Dieser Akt des gleichzeitigen Sehens, Anordnens und Auslesens ist fr Cartier-Bresson das eigentlich Bedeutsame an der Fotografie: Ist das Bild gemacht, ist fr mich auch die Freude daran vorbei". Es war ein aufreibendes Leben, das CartierBresson fr derlei flchtige Freuden fhrte. Als er, der sich frh wie so viele Knstler und Intellektuelle zwischen den Weltkriegen der politischen Linken angeschlossen hatte, nach einem Afrika-Auf enthalt beschloss, mit einem schnelleren Instrument als dem Pinsel von den Wunden dieser Welt Zeug-

Arthur Miller, Schriftsteller, Roxbury, Connecticut, USA, 1961 (oben), Henri Matisse, Maler, Vence, Frankreich, 1944 (unten)

nis abzulegen", bereiste er in den 30ern Osteuropa,Spanien und Mexiko, anschlieend arbeitete er fr die kommunistische Zeitung Ce Soir", im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Gefangenschaft, aus der er 1943 fliehen konnte. Mit der Grndung von Magnum setzte ab 1947 eine intensive fotojournalistische Phase ein, in der Cartier-Bresson im Auftrag groer Magazine wie Life" bei zahlreichen epochalen Ereignissen prsent war, etwa dem Begrbnis Gandhis oder den Anfngen des Mao-Regimes. Er besuchte die USA und die Sowjetunion, wo 1954 eine seiner bedeutendsten Reportagen entstand, und lebte einige Jahre in Asien. Vor allem in den 60er Jahren machte er viele Portrts berhmter Persnlichkeiten seiner Zeit - ein nicht unwesentlicher Teil eines Werks, dessen schpferischer Realismus Momente von betrender, berzeitlicher Vertrautheit schuf und das hohe formale Standards setzte, ohne je formalistisch zu werden, osEnde April wurde in Paris die Fondation Henri Cartier-Bresson gegrndet, die sich der Pflege und Erschlieung des Werks dieses einzigartigen Knstlers widmen soll (www.henricartierbresson.org). Aus Anlass einer groen Retrospektive, die bis Ende Juli in Paris in der Ribliotheque National zu sehen war, entstand ein umfangreiches Buch mit Fotografien und Zeichnungen, darunter viel unverffentlichtes Material mglicherweise die letzte von HCB autorisierte Monografie: Fondation Henri Cartier-Bresson (Hg.), Wer sind Sie, Henri Cartier-Bresson? Das Lebenswerk in 602 Bildern. Schirmer/Mosel, Mnchen 2003, 78 Euro

Truman Capote, Schriftsteller, New Orleans, Louisiana, USA, 1947

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