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Theaterpädagogisches Begleitmaterial 1
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 2
Julius Ferstl
Theaterpädagoge
Telefon: 07251.72728
E-Mail: ferstl(at)dieblb.de
Julia Gundersdorff
Theaterpädagogin
Telefon: 07251.72737
E-Mail: gundersdorff(at)dieblb.de
Liebe Pädagoginnen und Pädagogen,
Der Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß und der Natur-
forscher Alexander von Humboldt haben sich die Vermessung der
Welt im beginnenden 19. Jahrhundert zur Lebensaufgabe gemacht.
Beide Wissenschaftler befolgten ihr Ziel jedoch auf sehr unterschied-
liche Art. Humboldt reiste durch Südamerika und Asien, kartogra-
phierte die Landschaft, sammelte Daten und machte Selbstversuche.
Gauß hingegen verließ Deutschland nie und entdeckte an seinem
Schreibtisch bahnbrechende mathematische Gesetze. Ihre Erkennt-
nisse trugen wesentlich zu unserem rationalen Weltverständnis bei,
aber sie legten damit auch den Grundstein für den (vermessenen)
Vermessungswahn unserer Tage. Lassen sich alle Phänomene bis ins
Letzte erfassen? Ist das überhaupt erstrebenswert? Was haben wir
davon, alles zu quantifizieren? Und wie hängt alles mit allem zusam-
men?
Daniel Kehlmann erzählt in seinem humorvollen Abenteuerroman
nicht nur die (fiktive) Doppelbiographie zweier deutscher Genies,
sondern greift darin auch große, philosophische Fragen auf, die heu-
tige Jugendliche und Erwachsene beschäftigen. Arne Retzlaffs Insze-
nierung ist ein sinnliches Theaterfeuerwerk! Feines Schauspiel ver-
schmilzt mit witzigem Puppenspiel und überraschenden Elementen
des Schwarzen Theaters.
Mit unserem Begleitmaterial wollen wir Ihnen eine zusätzliche Hilfe-
stellung geben, um sich mit Ihrer Klasse oder Gruppe differenzierter
mit der Inszenierung und ihren Hintergründen auseinanderzusetzen.
Bei weiteren Fragen können Sie uns gerne auch direkt kontaktieren
oder eine kostenlose Vor- oder Nachbereitung durch die Theaterpä-
dagogik für Ihre Klasse oder Gruppe buchen.
„Meine Damen und Herren, die Vermessung der Welt geht weiter.
Aber das Ende des Weges ist in Sicht. Und wenn alle Lücken geschlos-
sen, alle Irrtümer beseitigt, alle Fehler korrigiert, alle Ahnungen er-
klärt, alle Träume geträumt, alle Unzulänglichkeiten ausgemerzt,
alle Krankheiten geheilt, alle Wege begangen, alle Ideen gedacht, alle
Visionen realisiert und alle Lieben dokumentiert sind, dann, ja dann
… ist die Vermessung der Welt abgeschlossen.“
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 3
Das Stück 04
Der Autor 05
Das Team 06
Der Regisseur 08
Interview mit dem Regisseur 09
Vor- und Nachbereitung 11
Fragen für die Vor-/Nachbereitung 11
Anhang 14
Auszüge aus der Textfassung 14
Weitere Angebote 22
Quellen und Impressum 23
Inhalt
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 4
Das Stück
Der Naturforscher Alexander von Humboldt und der Mathematiker
Carl Friedrich Gauß sind zwei der bedeutendsten deutschen Gelehr-
ten im beginnenden 19. Jahrhundert. Zwei Wissenschaftler, wie sie
unterschiedlicher nicht sein könnten; und doch vereinte sie ein Le-
ben lang ein und dasselbe Ziel: die Vermessung der Welt. Während
sich der Empiriker Humboldt zusammen mit Aimé Bonpland durch
Urwald und Steppe kämpfte, den Orinoko befuhr, in Erdlöcher kroch,
die höchsten Berge bestieg und unzählige Selbstversuche machte,
bewies der Analytiker Gauß die Krümmung des Raumes von seinem
Schreibtisch aus.
1828 lädt Humboldt den Mathematiker zum Naturforscherkongress
nach Berlin ein. Gauß, ein mürrischer Eigenbrötler und Misanthrop,
hat jedoch keine große Lust, seine Heimatstadt zu verlassen. Da
Humboldt aber hartnäckig bleibt, steigt er schließlich doch, wenn
auch höchst widerwillig, in die Kutsche. Begleitet wird er von seinem
Sohn Eugen, den Gauß für einen völlig beschränkten Nichtsnutz hält.
Und so kommt es, dass sich die beiden mittlerweile gealterten Geis-
tesgrößen zum ersten Mal begegnen. Während sie darüber debattie-
ren, wer von beiden seinem Lebensziel nähergekommen sei und was
wahre Wissenschaft ausmache, verteilt Eugen Flugblätter in der gro-
ßen Stadt. Er träumt von einem freien Deutschland und wird prompt
verhaftet.
Mit hintergründigem Humor zeichnet Kehlmann in Die Vermessung
der Welt das Bild zweier bedeutender Männer mitsamt ihren Sehn-
süchten und Schwächen – und schildert phantasievoll ihre Gratwan-
derung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg.
Wir zeigen den philosophischen Abenteuerroman und Weltbestseller
anlässlich des 250. Geburtstags des herausragenden Universalge-
nies Alexander von Humboldt (1769-1859).
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 5
Der Autor
Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmann wurde 1975 in München als Sohn des Fernseh- und
Theaterregisseurs Michael Kehlmann und der Schauspielerin und Ma-
lerin Dagmar Mettler geboren. 1981 kam er mit seiner Familie nach
Wien, wo er das Kollegium Kalksburg, eine Jesuitenschule, besuchte
und danach an der Universität Wien Philosophie und Germanistik stu-
dierte. 1997 erschien mit Beerholms Vorstellung sein erster Roman,
gefolgt von Mahlers Zeit und Ich und Kaminski sowie mehreren Er-
zählungen. Seit 2001 arbeitet Kehlmann als Poetikdozent an ver-
schiedenen Universitäten, u. a. in Mainz, Wiesbaden und Göttingen.
Mit Die Vermessung der Welt gelang ihm 2005 der internationale li-
terarische Durchbruch. Der Roman wurde bisher in 46 Sprachen
übersetzt, die Auflage liegt weltweit bei über 6 Millionen. Er ist somit
einer der erfolgreichsten Romane der Nachkriegszeit. Das Buch sei
„ein genialer Experimentalroman über Größe und Komik deutscher
Kultur“, lautete etwa die Begründung für den WELT-Literaturpreis.
Weitere Romane Kehlmanns sind u. a. Ruhm - Ein Roman in neun
Geschichten, F und Tyll. Kehlmann wurde mit zahlreichen Preisen,
etwa dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Nestroy-
Theaterpreis 2012 ausgezeichnet. Jüngst wurden ihm der Friedrich-
Hölderlin-Preis und der Frank-Schirrmacher-Preis verliehen. Kehl-
mann schreibt immer wieder Literaturkritiken und Essays für den
Spiegel, The Guardian, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die
Süddeutsche Zeitung. Kehlmann lebt und arbeitet als freier Schrift-
steller in New York und Berlin.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 6
Das Team
David Meyer
Alexander von Humboldt
Martin Behlert
Carl Friedrich Gauß
Elena Weber
Erzählerin / Eugen Gauß /
Aimé Bonpland
Sina Weiß
Daguerre / Georg Forster /
spanische Tänzerin / nackte
Frau / Johanna Gauß / Kant
Bonpland 2
Stefan Holm
Goethe / Büttner / Wahrsager /
Graf von der Ohe zur Ohe /
Lama
Hannes Höchsmann
Herzog von Braunschweig /
Lampe / Diener / Vogt
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 7
Inszenierung Arne Retzlaff
Ausstattung Ella Späte
Puppenspiel Detlef Heinichen
Lichtgestaltung Tilo Schwarz
Dramaturgie Petra Jenni
Regieassistenz Anna Utech
Theaterpädagogik Julius Ferstl
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 8
Der Regisseur
Arne Retzlaff absolvierte von 1981-1985 ein Schauspielstudium an
der Theaterhochschule Leipzig und dem Studio Dresden. Er arbeitete
zunächst drei Jahre als Schauspieler, Regieassistent und Regisseur
am Theater Bautzen, dann in denselben Funktionen am Staatsschau-
spiel Dresden. Von 1991-1996 war er Oberspielleiter am theater jun-
ge generation in Dresden, von 1996-1999 Schauspieldirektor am
Theater Zwickau und von 2000-2013 Schauspieldirektor an den Lan-
desbühnen Sachsen. Seit 2013 arbeitet Arne Retzlaff als freiberufli-
cher Regisseur und Autor an verschiedenen Theatern in Deutsch-
land, darunter auch immer wieder an der Badischen Landesbühne.
2015 nahm er am 16. Internationalen Theaterfestival Havanna in Ku-
ba teil. Im selben Jahr sowie im Jahr 2018 organisierte und leitete er
deutsch-kubanische Theaterkooperationen. An der Badischen Lan-
desbühne inszenierte er jüngst die Komödien Don Camillo und
Peppone und Der nackte Wahnsinn. In dieser Spielzeit bringt er hier
neben Die Vermessung der Welt auch die Sommerkomödie Das Spar-
schwein auf die Bühne.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 9
Interview mit dem Regisseur
Lieber Arne, deine Inszenierung von „Die Vermessung der Welt“ verspricht ein
wahres Theaterfeuerwerk zu werden. Mit welchen Theatermitteln arbeitest du und
warum gerade mit diesen?
Das Stück ist eine Art Kosmos, eine Reise durch Raum und Zeit. Es
spielt in Deutschland und im Urwald von Südamerika, wir begegnen
den Hauptfiguren als Kindern und als älteren Männern. Sie werden
von Martin Behlert und David Meyer gespielt, alle anderen Schauspie-
lerinnen und Schauspieler müssen in unterschiedliche Rollen schlüp-
fen. Es wird in unserer Inszenierung verschiedene Mittel geben von
Projektionen über unterschiedliche Puppen bis zum Schwarzen Thea-
ter. Am wichtigsten ist aber immer die Arbeit mit den Schauspielerin-
nen und Schauspielern, denn sie sind das Zentrum aller Theaterar-
beit.
Die Hauptfiguren Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß sind zwei völ-
lig konträre Charaktere. Wie zeigt sich das in deiner Inszenierung?
Humboldt war von Adel und schon als junger Mann mit den Geistes-
größen der Zeit bekannt. Er hatte Geld, aber keine Familie. Gauß hin-
gegen kam aus ärmlichen Verhältnissen; und nur ein Stipendium er-
möglichte ihm das Studium. Seine erste Frau und große Liebe Johan-
na starb bei der Geburt des dritten Kindes. Dies alles prägt die Cha-
raktere und musste in den Proben ausgelotet werden.
Daniel Kehlmann bezeichnet seinen Roman als einen „Gegenwartsroman, der in
der Vergangenheit“ spielt. Es ist ein raffiniertes literarisches Spiel aus histori-
schen Fakten und Fiktion. Was ist denn nun dran an der Begegnung der beiden
Geistesgrößen?
Humboldt hat Gauß 1828 tatsächlich zu einem Wissenschaftskon-
gress in Berlin eingeladen und ihn ein paar Wochen beherbergt. Au-
ßerdem standen beide Männer viele Jahre in Briefkontakt.
Was hat dich inhaltlich gereizt, Kehlmanns Roman auf die Bühne zu bringen?
Geschichten von Menschen, die Erfolg haben, sind immer interessant.
Natürlich auch das Scheitern. Hier hat mich vor allem aber die Dimen-
sion der Forschung, der Energie, des Strebens begeistert. Außerdem
die unterschiedlichen Lebenswege und Forschungsmethoden. Hum-
boldt reiste für sein Ziel um die halbe Welt, Gauß blieb immer zu
Hause in Deutschland. „Alles hängt mit allem zusammen“, sagte
Humboldt.
Makrokosmos und Mikrokosmos.
Er war ein Vorreiter der Ökologie.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 10
Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen dir als Regisseur und den Schauspiele-
rinnen und Schauspielern aus?
Respektvoll, hoffe ich. Die Schauspieler stehen in den Vorstellungen
auf der Bühne, nicht der Regisseur.
Was war ein besonders witziger Moment auf den Proben, über den du noch jetzt
lachen kannst?
In einer Szene besteigen Humboldt und Bonpland den Chimborazo.
Eisige Kälte und Schneesturm. Real hatten wir aber fast 40 Grad und
die Schauspielerin und der Schauspieler schwitzten schon nach kur-
zer Zeit. Das war vielleicht nicht witzig, aber sehr skurril.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 11
Zum Inhalt:
Wie würdest du die Handlung des Stückes in wenigen Worten zusam-
menfassen?
Was sind für dich die wichtigsten Themen und Aussagen des Stü-
ckes? Welche Themen werden noch behandelt?
Wie würdest du die Hauptcharaktere Carl Friedrich Gauß und Alexan-
der von Humboldt charakterisieren?
Welcher der beiden ist dir sympathischer und warum?
Was glaubst du, entspricht den historischen Biographien und was ist
vom Autor wohl erfunden?
Glaubst du, die Welt ist mittlerweile endgültig „vermessen“?
Zur Inszenierung:
Welche Theaterformen kannst du in der Inszenierung entdecken?
Welche Elemente haben dich fasziniert, irritiert oder besonders inte-
ressiert?
In der Inszenierung wechseln einige der Schauspielerinnen und
Schauspieler die Rollen. Wie finden diese Rollenwechsel statt?
Welche Assoziationen hattest du zum Bühnenbild? An welchen Orten
hat die Handlung des Stückes überall gespielt?
Warum sehen Humboldt und Bonpland auf dem Gipfel des Chimbo-
razo Dinge, die nicht wirklich existieren?
Gibt es in dem Stück Zeitsprünge, wenn ja, an welchen Stellen?
Thema: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß
Wer war Carl Friedrich Gauß?
Wer war Alexander von Humboldt?
Fragen für die Vor-/Nachbereitung
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 12
Mit welchen Wissenschaften beschäftigte sich Gauß?
Kennst du eine Entdeckung von Gauß?
In welchen wissenschaftlichen Disziplinen hat Humboldt geforscht?
Aus welchen familiären Verhältnissen stammt Humboldt?
Aus welchen familiären Verhältnissen stammt Gauß?
Nachdem Humboldt Gauß’ konstruiertes Siebzehneck lobt, antwor-
tet dieser: „Seltsam ist es und ungerecht, ein Beispiel für die er-
bärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten
Zeit geboren und ihr verhaftet ist, ob man will oder nicht. Es ver-
schafft einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und
macht einen vor der Zukunft zum Clown.“
Was könnte Gauß damit meinen?
Thema: Vollkommene Erkenntnis
Kannst du den Drang der beiden Protagonisten nach vollkommener
Erkenntnis nachvollziehen?
Steht ihnen der Wissensdrang manchmal auch im Weg? Wenn ja, in-
wiefern?
Wie reagiert das soziale Umfeld auf die beiden Genies?
Kannst du den Forschungsdrang der beiden Figuren nachvollziehen?
Wenn ja, warum?
Glaubst du, dass eines Tages die ganze Welt bis ins letzte Detail er-
forscht sein wird?
Humboldt begab sich auf abenteuerliche Forschungsreisen, Gauß
hingegen arbeitete von seinem Schreibtisch aus.
Für welche Arbeitsweise würdest du dich entscheiden und warum?
Warum kann der Wahrsager in der Hand von Humboldt nichts lesen?
Thema: Die Rolle der Frau
Welche Rollen spielen Frauenfiguren in dem Stück?
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 13
Wie würdest du Johanna Gauß charakterisieren?
Was für ein Verhältnis haben Carl Friedrich Gauß und seine Frau Jo-
hanna?
Welche Rollen spielen Frauen im Leben von Humboldt, welche im
Leben von Gauß?
Thema: Altern
Wie gehen Humboldt und Gauß mit dem Älterwerden um?
Beängstigt dich der Gedanke, älter zu werden?
Wenn du 75 Jahre alt wärst, in einem Lehnstuhl sitzen und an dein
Leben zurückdenken würdest, was dürfte bei deinem gedanklichen
Rückblick nicht fehlen?
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 14
Auszüge aus der Textfassung
Anbei finden Sie einige Auszüge aus der Proben-Textfassung vom Juli
2019 [Änderungen vorbehalten].
IV. CLOWNS VOR DER ZUKUNFT
HUMBOLDT Was ist das?
GAUß Ein Siebzehneck. Ich habe es konstruiert. Das ist
noch nie jemanden gelungen.
HUMBOLDT Bemerkenswert.
Gauß steht auf, geht zu einem Koffer und holt eine Zange heraus. Er
hält sie Humboldt hin.
GAUß Seltsam ist es und ungerecht, ein Beispiel für die
erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man
in einer bestimmten Zeit geboren und ihr
verhaftet ist, ob man will oder nicht.
Es verschafft einem einen unziemlichen Vorteil vor
der Vergangenheit und macht einen vor der
Zukunft zum Clown. Hier!
HUMBOLDT Sie wünschen?
GAUß Mein Zahn.
HUMBOLDT Das ist nicht Ihr Ernst.
GAUß Doch.
HUMBOLDT Schon in einigen Jahren wird es Ärzte für das
Gebiss geben. Dann wird man die Schmerzen
heilen können und muss nicht jeden entzündeten
Zahn herausreißen. Bald wird die Welt nicht mehr
voller Zahnloser sein.
GAUß Bitte, mein Zahn.
Anhang
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 15
HUMBOLDT Nein. Gehen Sie zum Barbier.
GAUß Da war ich schon, er hat den falschen
gezogen.
HUMBOLDT Das tut mir leid.
GAUß Ich würde meine Seele dafür geben, in hundert
Jahren zu leben. Dann wird es Ärzte geben, die
diesen Namen verdienen. Man muss doch nur
die Nerven am richtigen Ort betäuben. Mit
kleinen Dosen.
HUMBOLDT Das Curare muss besser erforscht werden.
GAUß Jetzt machen sie schon. Nehmen sie die Zange
und raus damit.
HUMBOLDT Die Natur ist klug. Der Mensch hat Zähne in
Mengen.
GAUß Das hat der Barbier auch gesagt. Machen Sie
schon.
HUMBOLDT Bald wird all das eine Kleinigkeit sein. Wir
werden in Ballons schweben und die
Entfernungen auf magnetischen Skalen
ablesen. Wir werden galvanische Signale von
einem Messpunkt zum anderen schicken und
die Distanz am Abfallen der elektrischen
Intensität erkennen.
GAUß Reden sie doch nicht so viel. Ziehen sie den
Zahn.
HUMBOLDT Also gut. Er tut es. Humboldt betrachtet den
Zahn. Mit Wurzel!
GAUß Ich habe mich entschieden.
HUMBOLDT Wofür?
GAUß Für die Mathematik. Bisher habe ich mich ja
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 16
auf die klassische Philologie verlegen wollen.
Aber dafür ist ja noch Zeit, ich bin schließlich
erst neunzehn. Zunächst kann ich in der
Mathematik mehr leisten. Zum Beispiel die
Lösung der Frage, was eine Zahl ist. Die
Grundlegung der Arithmetik.
HUMBOLDT Ein Lebenswerk.
GAUß Mit etwas Glück werde ich in fünf Jahren fertig
sein. Gauß fällt in Ohnmacht.
HUMBOLDT Und ich werde weltberühmt.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 17
XI. – LEBEN UND TOD
GAUß zum Publikum, während Johanna in den Wehen
liegt, was er nicht mitbekommt
Von allen Menschen, die ich je getroffen habe,
sind meine Göttinger Studenten die dümmsten.
Ich spreche so langsam, dass ich den Beginn
des Satzes vergessen habe, bevor ich am
Schluss bin.
JOHANNA Carl?
GAUß dreht sich um, die Geburt ist vorbei
Was ist denn passiert?
JOHANNA Wohl wieder den Kopf in den Sternen gehabt!
GAUß Ich habe ja nicht mal ein anständiges Teleskop.
JOHANNA Ein Junge.
GAUß Was denn für ein Junge?
Sie drückt ihm das Kind in die Hand. Er betrachtet es ängstlich und
hält es ungeschickt.
JOHANNA etwas besorgt. Bist du glücklich?
GAUß Aber natürlich. Sie geht weg. Er geht zu seinem
Teleskop. Ich spare alles Schwierige aus und
belasse es bei den Anfangsgründen. Sie verste-
hen nicht. Mir ist zum Weinen zumute. Manch-
mal frage ich mich, ob die Beschränkten ein
spezielles Idiom haben, das man lernen kann
wie eine Fremdsprache. Und jetzt bittet mich
der Dekan, bei den Prüfungen nicht zu streng
zu sein.
Johanna liegt in den Wehen. Dann kommt sie zu Gauß, sie ist
bleich.
JOHANNA Carl.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 18
GAUß Blickt auf, ohne sie anzusehen. Was ist denn …
Merkt seinen möglichen Fehler. Ah, Johanna,
wie schön. Was ist es denn diesmal geworden?
Ein Junge oder ein Mädchen?
Er dreht sich fröhlich um und nimmt sie in
seine Arme, ohne ihren Zustand zu bemerken.
JOHANNA Ein Junge, Carl. Aber er liegt im Sterben.
GAUß Was? Was sagst du? Er sieht sie an. Nein.
JOHANNA Doch, Carl. Und ich sterbe auch.
GAUß Nein. Johanna. Das geht nicht, wie soll ich denn
ohne dich ...
JOHANNA Carl, nicht traurig sein, man lebt, dann stirbt
man, so ist es nun einmal.
GAUß Aber Johanna, die Kinder, wie soll ich sie ohne
dich großbekommen?
JOHANNA Carl, du wirst jemanden finden. Du musst
jemanden finden.
GAUß Ich werde immer an dich denken.
JOHANNA lacht Mit dem Kopf in den Sternen. Ach Carl.
ERZÄHLERIN Das, dachte er, ist es. Leben müssen, obgleich
alles vorbei ist. Er versuchte sich an den
Gedanken zu gewöhnen, dass er wieder
heiraten musste. Er hatte Kinder. Er wusste
nicht, wie man die aufzog. Einen Haushalt
führen konnte er nicht. Dienstboten waren
teuer.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 19
XVI. – VOGT UND DIE ZUKUNFT
LAMA Entschuldigen Sie bitte. Baron von
Humboldt?
HUMBOLDT Ja. Sie wünschen?
LAMA Ich habe gehört, dass Baron von Humboldt ein
Mann ist, der alles weiß.
HUMBOLDT Es tut mir sehr leid, aber ich weiß nichts. Ich
habe zwar mein Leben damit verbracht, diesen
Umstand zu ändern und die Welt bereist, aber
das ist schon alles.
LAMA lächelt und klopft mit der Faust an seinen Kopf.
Immer das hier!
HUMBOLDT Wie bitte?
LAMA Hier drinnen stark und groß.
HUMBOLDT Genau.
LAMA berührt seine Brust. Aber da ist nichts. Wer das
nicht versteht, wird rastlos und läuft durch die
Welt wie der Sturm, alles erschütternd und
nichts bewirkend.
HUMBOLDT Ich glaube nicht ans Nichts. Ich glaube an Fülle
und Reichtum der Natur. An Wissen und Wis-
senschaft.
LAMA Können Sie meinen Hund wecken?
HUMBOLDT Bedauere, aber ich verstehe diese Metapher
nicht.
LAMA Das ist keine Metapher, mein Lieblingshünd-
chen ist gestorben und ich bitte Sie, den ich für
sehr kenntnisreich halte, das Tier zurückzuru-
fen.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 20
HUMBOLDT Das kann ich nicht.
LAMA Ich weiß, dass ein Eingeweihter das nur selten
darf, aber ich erbitte diese Gunst, der Hund
liegt mir sehr am Herzen.
HUMBOLDT Ich kann das wirklich nicht. Ich kann nichts und
niemanden aus dem Tod erwecken!
LAMA Ich verstehe, was der kluge Mann mir damit sa-
gen will. Ich verstehe die Metapher.
HUMBOLDT Das ist keine Metapher. Ich kann es einfach
nicht!
LAMA Darf ich dem klugen Mann wenigstens eine Tas-
se Tee anbieten?
HUMBOLDT Herzlichen Dank, aber ich vertrage keinen Tee.
LAMA Ich verstehe auch diese Metapher.
HUMBOLDT Es gibt keine Metapher!
LAMA Wenn ich in die Hände klatsche, er tut es,
welches Geräusch macht meine linke Hand?
HUMBOLDT Ich verstehe nicht.
LAMA Ich verstehe. Der Lama verschwindet.
GAUß Vielleicht ist doch noch dies und das möglich.
Magnetismus. Geometrie des Raumes. Mein
Kopf ist zwar nicht mehr wie früher, aber doch
noch nicht unbrauchbar.
HUMBOLDT Tatsachen. Tatsachen. Tatsachen. So ordnet
sich Wirrnis zum Begreifen. Ein ungeheures
Werk voller Tatsachen, jede einzelne Tatsache
der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle
Tatsachen und nur Tatsachen, der ganze Kos-
mos entkleidet von Irrtum, Phantasie, Traum
und Nebel; Fakten und Zahlen, die können uns
vielleicht retten.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 21
GAUß Wenigstens hat kein Kannibale Sie gegessen,
kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht
etwas Beschämendes, wie leicht uns alles fiel?
HUMBOLDT Wissen Sie, Gauß, manchmal weiß ich nicht,
wer von uns weiter herumgekommen und wer
immer zu Hause geblieben ist. Pause. Ich bin
nie in Asien gewesen. Das ist doch kein Zu-
stand. Vielleicht ist es ein Fehler, die Einladung
nach Russland auszuschlagen.
GAUß Experimentalphysik. Das ist etwas Neues. Dar-
über muss ich nachdenken.
HUMBOLDT Mit etwas Glück kann ich bis nach China kom-
men.
ERZÄHLERIN Meine Damen und Herren. Die Vermessung der
Welt geht weiter. Alle Figuren tanzen einzeln
und für sich. Aber das Ende des Weges ist in
Sicht. Und wenn alle Lücken geschlossen, alle
Irrtümer beseitigt, alle Fehler korrigiert, alle
Ahnungen erklärt, alle Träume geträumt, alle
Unzulänglichkeiten ausgemerzt, alle Krankhei-
ten geheilt, alle Wege begangen, alle Ideen ge-
dacht, alle Visionen realisiert, alle Lieben doku-
mentiert sind, dann, ja dann …ist die Vermes-
sung der Welt abgeschlossen. Und alle werden
glücklich sein. Glücklich und …Was, meine
Damen und Herren, ist der Tod?
Auf Anfrage kommen wir zu Ihnen in die Klasse oder in die Gruppe und führen eine 45- oder 90-minütige Vor- oder Nachbereitung durch. Bei einigen Stücken bieten wir alternativ auch ein Publikumsgespräch im An-schluss an die Vorstellung an.
Vor-/Nachbereitung
Newsletter Theaterpädagogik
Für den Newsletter Theaterpädagogik können Sie sich auf unserer Home-page unter „Service/Newsletter“ anmelden.
Anmeldung für Klassen und Gruppen
Gerne machen wir mit Ihnen individuelle Termine für Vorstellungen der jungen BLB aus.Anmeldung über das Anmeldeformular auf unserer Homepage, per E-Mail an [email protected] oder telefonisch unter 07251.72722.
Expertenklassen für die junge BLB
Für alle Stücke der jungen BLB suchen wir interessierte Klassen, die die Produktion von Anfang an kritisch begleiten.
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 22
QUELLEN:
Autorenfoto: Daniel Kehlmann. Online unter: https://
www.welt.de/kultur/literarischewelt/
article181420034/Daniel-Kehlmann-erhaelt-
Frank-Schirrmacher-Preis.html
[Stand: 19.06.2019]
Regiesseurenfoto: Arne Retzlaff. Online unter: https://www.arne-
retzlaff.de/ [Stand: 31.07.2019]
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linkten Seiten ist jedoch ohne konkrete Anhalts
punkte einer Rechtsverletzung nicht zumutbar.
Bei Bekanntwerden von Rechtsverletzungen
werden wir derartige Links umgehend entfer-
nen.
Textauszüge: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Generalprobenklasse für den Abendspielplan
Für einige Stücke des Abendspielplans bieten wir einzelnen Klassen an, die Generalprobe zu besuchen und im Anschluss mit dem künstlerischen Team über das Gesehene zu sprechen.
Generalprobenbesuch für Pädagoginnen und Pädagogen
Alle Pädagoginnen und Pädagogen haben die Möglichkeit, unsere Gene-ralproben kostenfrei zu besuchen. Die Termine finden Sie auf unserer Homepage.
Weitere Angebote der Theaterpädagogik
Praktikum/Hospitanz
Für Jugendliche und junge Erwachsene bieten wir in verschiedenen Berei-chen des Theaters Praktika und Hospitanzen an.
Kooperationsschulen
Kooperationsschulen erhalten ein individuelles Paket aus Vorstellungs-besuch und theaterpädagogischer Zeit, die völlig frei eingesetzt werden kann.
Nähere Informationen finden Sie im Internet unter www.dieblb.de
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 23
QUELLEN:
Autorenfoto: Daniel Kehlmann. Online unter: https://
www.welt.de/kultur/literarischewelt/
article181420034/Daniel-Kehlmann-erhaelt-
Frank-Schirrmacher-Preis.html
[Stand: 19.06.2019].
Foto des Regisseurs: Arne Retzlaff. Online unter: https://
www.arne-retzlaff.de/ [Stand: 31.07.2019].
Textauszüge: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Fassung BLB / Arne Retzlaff vom September
2019
Theaterpädagogisches Begleitmaterial 24
IMPRESSUM: Theaterpädagogisches Begleitmaterial zu Die Vermes-
sung der Welt von Daniel Kehlmann / Herausgeber: DIE BADISCHE
LANDESBÜHNE / Spielzeit 2019.2020 / Intendant Carsten Ramm /
Verwaltungsleiter: Norbert Kritzer / Redaktion: Julius Ferstl, Julia
Gundersdorff / Titelbild: Christine Ramm / Fotos: Peter Empl