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Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten Darstellung des Phänomens und der Situation in Entwicklungs- und westlichen Ländern Matura-Arbeit von Sarah Zaugg,1985 Betreuer: René Ulmer Korreferent: Karl Klenk Gymnasium Thun Seefeld, Kt. Bern Erstellungsjahr: 2003

Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten Kiefer-, Gaumenspalten Darstellung des Phänomens und der Situation in Entwicklungs- und westlichen Ländern Matura-Arbeit von Sarah Zaugg,1985

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Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten

Darstellung des Phänomens und der Situation in Entwicklungs- und westlichen Ländern

Matura-Arbeit von Sarah Zaugg,1985

Betreuer: René Ulmer

Korreferent: Karl Klenk

Gymnasium Thun Seefeld, Kt. Bern Erstellungsjahr: 2003

Sarah Zaugg, Matura-Arbeit 2003 Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten (LKG) _____________________________________________________________________________________________________

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort 2. Einleitung

3. Medizinische Aspekte und Historisches

3.1. Begriffe und Darstellung von LKG 3.2. Geschichte der LKG 3.3. Ursachen

3.3.1. Vererbung 3.3.2. andere Ursachen

3.4. Entwicklung von LKG in der Schwangerschaft 3.5. Formen 3.6. Häufigkeit

4. Folgen von LKG 4.1. Vorbemerkung 4.2. Physische Folgen

4.2.1. Sprachstörungen 4.2.2. Hörstörungen

5. Entwicklung von LKG-Betroffenen

5.1. in westlichen Ländern 5.1.1. Schilderung eines Falles: Sarah Zaugg

5.2. in Entwicklungsländern 5.2.1. Die Organisation „Operation Smile“ 5.2.2. Schilderung von Fällen : Huynh Thi Dep und Brigid Nanjala

6. Zusammenfassung 7. Nachwort

8. Quellenverweis und Abbildungsverzeichnis

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Abb.1, Titelseite: Sarah Zaugg, unoperierte breite Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte links, jedoch mit Gaumenplatte

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1. Vorwort Als ich ganz am Anfang dieser Arbeit nach einem geeigneten Thema suchte, wollte ich unbedingt ein Thema wählen, das mich interessiert und bei dem ich auch Möglichkeiten habe, zu gutem Material zu kommen. Ich entschloss mich, den Geburtsfehler Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten in meiner Arbeit zu untersuchen. Über dieses Thema war ich schon vorher ziemlich gut informiert, weil ich mit diesem Geburtsfehler geboren wurde. Er beschäftigt mich seit meiner Geburt. Ich interessierte mich bereits im Kindergarten dafür, was im Spital oder bei den verschiedenen Zahnärzten mit mir geschah (an die Behandlungen, die vor dem Kindergarten durchgeführt wurden, kann ich mich nicht mehr erinnern). Dieses Interesse blieb bis heute stark, und deshalb beschloss ich, mich im Rahmen der Matura-Arbeit damit genauer auseinander-zusetzen. Bisher kannte ich dieses Thema nur wegen meinen persönlichen Erlebnissen wie den Spitalaufenthalten, Zahnarzt- und Logopädiebesuchen. Ich wusste aber zum Beispiel noch nicht, wie viele Formen dieses Gesichtsfehlers es gibt, wie er entsteht und ob er in allen Menschenrassen gleich häufig ist. Aufgrund einer Dokumentation, die ich im Fernsehen gesehen hatte, interessierte ich mich auch für die Situation bezüglich dieses Geburtsfehlers in Entwicklungsländern. Die Dokumentation stellte die Organisation „Operation Smile“ vor, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, solche Geburtsfehler in Entwicklungsländern zu operieren. Ich dachte darüber nach, ob ich meine persönliche Geschichte auch in die Arbeit einbe-ziehen soll oder ob mir das zu nahe gehen würde. Ich kam zum Schluss, dass es die Arbeit bereichert, da ich dem/der Leser/-in so einen Einblick ins Thema verschaffen kann, den ich sonst nicht vermitteln könnte. An dieser Stelle möchte ich noch einigen Menschen danken, die mir bei dieser Arbeit behilflich waren oder die durch ihre Arbeit mein Interesse geweckt haben: Meinem Betreuer René Ulmer, meinem Kieferorthopäden Dr. U. Thüer, dem Kieferchirurgen Dr. K. Lädrach und allen anderen Ärzten, Pflegern und Pflegerinnen, die mir ermöglichten, gut mit meinem Geburtsfehler leben zu können. Ich möchte auch meiner Familie dafür danken, dass sie mich nie spüren liess, dass ich ein wenig anders bin als sie und dass sie mich immer unterstützt hat. Besonderen Dank geht an meine Mutter, denn sie hat seit meiner Geburt wichtige Ereignisse in einem Buch festgehalten. Durch dieses Buch kann ich heute noch nachlesen, wie zum Beispiel mein erster Spitalaufenthalt ablief. Es sind auch viele wichtige Dokumente wie Briefe, Zeichnungen oder ärztliche Berichte darin aufbewahrt, die mich an vieles zurückerinnern lassen. Nun hoffe ich, dass Ihr Interesse geweckt ist und wünsche Ihnen viel Spass beim lesen.

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2. Einleitung Ich schreibe meine Matura-Arbeit über den relativ häufigen und dennoch ziemlich unbe-kannten Geburtsfehler: Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte (LKG). Meine Leitfrage lautet: Wie sieht das Phänomen der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten aus und wie verschieden ist diesbezüglich die Situation in Entwicklungs- und westlichen Ländern? Dieses Thema ist ziemlich umfangreich, deshalb habe ich einige für mich interessante und wichtige Aspekte davon ausgewählt, mit denen ich mich in meiner Arbeit beschäftige. Ich untersuche die Entwicklungen von einigen Betroffenen. Das heisst, ich versuche, die physische Entwicklung in Bezug auf LKG (Folgen, deren Behandlung) im Lebensabschnitt von der Geburt bis ca. 20 jährig (ungefährer Abschluss der Behandlung) darzustellen. Dazu will ich auch einen Vergleich zwischen Betroffenen in Entwicklungsländern und Betroffenen in westlichen Ländern anstellen. Ich versuche herauszufinden, ob die Unterschiede zwischen den (Behandlungs-) Möglich-keiten hier und den Möglichkeiten in Entwicklungsländern wirklich so gross sind, wie ich das bisher erfahren habe. Es ist mir ein Anliegen, dass meine Arbeit das Interesse von Menschen weckt, die vielleicht noch nie von diesem Geburtsfehler gehört haben, oder die sich nicht bewusst sind, welche Auswirkungen dieser eigentlich kleine Geburtsfehler hat oder haben kann. Um die Grundlage für das Verständnis zu schaffen, stelle ich einige grundsätzliche Fakten an den Anfang meiner Arbeit. Zum Beispiel schaue ich die Geschichte dieses Geburtsfehlers an und stelle mögliche Ursachen oder auch verschiedene Formen von Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten dar. Ich wende verschiedene Methoden an, um zu meinem Ziel zu kommen. Durch Fachliteratur und durch Gespräche mit Fachleuten komme ich zu den grundsätzlichen Fakten über LKG und der Entwicklung von Betroffenen in westlichen Ländern. Ich lege vor allem mit Ge-sprächen und E-Mail-Kontakten mit Fachleuten der Organisation „Operation Smile“ einiges über die Lage der Betroffenen in Entwicklungsländern dar. Die Entwicklung in westlichen Ländern stelle ich an meinem Beispiel dar, da ich selbst ja auch eine Betroffene bin. Das bedeutet wiederum, dass die Arbeit auch subjektive, emotionale Teile beinhalten wird. 4

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3. Medizinische Aspekte und Historisches 3.1. Begriffe und Darstellung von LKG Der Begriff Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte ist gut verständlich, denn er beinhaltet ja bereits die hauptsächlichen Ausdrücke, die diesen Geburtsfehler ausmachen. Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten treten aber in verschiedenen Formen auf, wie zum Beispiel eine Lippen-, Kieferspalte oder eine Gaumenspalte. Es treten mindestens 30 verschiedene Formen auf, die von den Mikrosymptomen (z.B. Lippenkerbe oder gespaltenes Halszäpfchen) bis zur totalen doppelseitigen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte auch noch nach Schweregrad variieren (siehe Kap.3.5: Formen). Der von aussen gut sichtbare Teil des angeborenen Geburtsfehlers Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten ist die Lippen(-Kiefer)-Spalte: Das Lippenrot und je nach Form und Schweregrad auch das Lippenweiss weisen links, rechts oder auf beiden Seiten einen Defekt, eine Spalte auf. Diesen Defekt nennt man Lippenspalte (Abb.2). Oft besteht auch im darunter liegenden Oberkieferkamm eine Spalte oder eine Kerbe im Knochen. Dies ist die Kieferspalte. Durch den ‚fehlenden Teil’ der Lippe wird der Nasenflügel auf der betroffenen Seite ein wenig abgeplattet und verzogen.

Abb.2: Partielle Lippenspalte Abb.3: Isolierte Gaumenspalte

Die Gaumenspalte ist auch gut sichtbar, jedoch nur, wenn man dem Kind in den Mund schaut. Sie beginnt beim Halszäpfchen und reicht je nach Form unterschiedlich weit nach vorne. Sie verläuft auf der Mittellinie des Gaumens. Das Halszäpfchen ist deshalb gespalten. Wenn auch der knöcherne Gaumen (harter Gaumen) betroffen ist, so kann man in die Nasenhöhlen hinein sehen. Auch die Nasenscheidewand, die beide Nasenhöhlen von-einander trennt, ist gut sichtbar (Abb.3). Bei einer totalen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte verläuft die Gaumenspalte jeweils schräg nach vorne zum Oberkieferkamm (ein- oder beidseitig).

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3.2. Geschichte der Lippen-, Kiefer, Gaumenspalten Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten kamen schon immer vor. Diese Tatsache ist unter anderem bekannt, weil der Gesichtsdefekt in der bildenden und darstellenden Kunst behandelt wurde. Erhaltene Keramik- und Steinplastiken aus altamerikanischen Kulturen beweisen dies. Die wissenschaftliche Beurteilung dieser Plastiken ist jedoch unterschiedlich. Doch bei der Mochica-Kultur (klassische Bodenbaukultur von Moche, 1.Jahrhundert) ist es sicher, dass es eine Reihe von Plastiken gibt, die Gesichtsspaltbildungen abbilden. Diese Plastiken wurden in Gräbern in der nordperuanischen Küstenwüste gefunden. Die Portrait-köpfe sind realistisch dargestellt, man kann Gesichtszüge erkennen. Das gibt den Plastiken auch einen hohen Wert in künstlerischer Hinsicht (Abb.4). In Schönwerda, Deutschland wurde ein Menschenschädel aus der Bronzezeit gefunden, der einen Defekt am Oberkieferkamm aufweist. Sehr wahrscheinlich ist dies als (Lippen-) Kiefer-spalte zu deuten (Abb.5).

Abb.4: Portraitkopf mit Lippenspalte Abb.5: Menschenschädel mit Kieferspalte

Die operative Behandlung wurde schon früh auf verschiedene Arten versucht. Die wahrscheinlich älteste Überlieferung einer solchen Operation stammt aus dem China der Chin-Dynastie (4.Jahrhundert). Es wird berichtet, dass der 18-jährige Bauernjunge Wei-Yang-Chi um 390 vom Leibarzt des Gouverneurs Yin so erfolgreich operiert wurde, dass dem Patienten eine steile Karriere offen stand. Wei-Yang-Chi schaffte es bis zum Generalgouverneur über sechs chinesische Pro-vinzen. Der Ausdruck Hasenscharte (Bec-de liève, harelip, labio leporino), der leider in vielen Völkern im Sprachgebrauch vorkommt, wurde angeblich um 1575 von Ambroise Paré („Vater der modernen Chirurgie“) geprägt. Abb.6: Chinese mit Lippenspalte

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Gaumenspalten wurden eher seltener abgebildet, da sie nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Auf der Abbildung von 1770 ist erstmals eine totale Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte aufgezeichnet worden (Abb.7). Die Zeichnung stammt von Lorenz Heister, der im 18. Jahrhundert eine hervorragende Persönlichkeit in der Spaltchirurgie war.

Abb.7: Aufzeichnung einer beidseitigen totalen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte Seit etwa dem ersten Drittel des 19.Jahrhunderts kann man von modernen Gaumenverschluss-Operationen sprechen. Die Versuche davor bewertet man eher als tastende Versuche und nicht als Lösungen. Es gibt heute sehr viele verschiedene Arten, wie man Lippen-(Kiefer-) oder Gaumenspalten verschliessen kann. Die Resultate sind unterschiedlich, doch es haben sich einige Vorgehens-weisen hervorgehoben, die jetzt meistens angewendet werden. Man kann also nicht genau voraussagen, welche Operationstechnik die besten Resultate erzielt, denn durch die Entwicklung eines Kindes kann sich das Operations-resultat unterschiedlich verändern.

Die Entstehungsursachen, die noch heute nicht ganz geklärt sind, waren zu früheren Zeiten noch überhaupt nicht bekannt. Es gab jedoch verschiedene Vorstellungen davon: Nach mexikanischen Glauben entstanden „Hasenscharten“ dann, wenn Kinder bei einer Mond-finsternis zur Welt kam. In Medizinbüchern der Azteken aus dem 16.Jahrhundert wurden auch schon Massnahmen zum Schutz der Schwangeren angegeben: ♦ „Sie (die Schwangeren) nahmen ein Steinmesser in den Mund oder an ihren Bauch, damit auf diese Art ihre Kinder nicht angefressene Lippen, angefressenen Mund bekämen, oder schiefmäulig würden, mit verbogenem Mund, schielend, mit verdrehten Augen, oder als Missgeburt, nicht als richtige Menschen zur Welt kämen.“ (Andrä/Neumann 1996: 19) An einer anderen Stelle steht: ♦ „Ebensowenig durfte sie in Angst oder Wut geraten. Wenn sie während einer Sonnenfinsternis zum Himmel blickte, befürchtete man, dass das Kind mit einer Hasenscharte auf die Welt kommen werde ... Gegen die Entstehung einer Hasenscharte trug man ein Messer aus Obsidian bei sich ... “ (Andrä/Neumann 1996: 19) In einem deutschen Kirchenbuch aus dem 17.Jahrhundert steht geschrieben: ♦ „2. Den 19 April ist Hanss Heinrich Völcker ein töchterlein begraben worden, so den Tag vorher zwar lebendig, aber sehr schwach gebohren word, darna es auch bald gestorben, ehe es die H. taufe empfangen. N 3 War ein Missgeburth (Monstrum, durchgestrichen), indem es kein Obermaul hatte, und keine Nasenlöcher, sondern, die Nase war unter g anfange wachsen, und unten an der linken seiten der Nase war ein knötlein von fleissch wie eine Zwiebel Kugel; und war sehr fest, einem Hasen gleich. Die Mutter wusste keine andere Ursache alss diese: es waren ahnlengst leüte in Ihrem Haus gewesen und hatten von Missgeburthen geredet, worüber sie sich ess verwundert und es nicht wieder vergessen Kennen.“ (Andrä/Neumann 1996: 19) Auch hier kann man wieder eine andere Vorstellung über die Entstehungsursachen feststellen. Es gab um 1971 eine Umfrage unter Spaltträgerfamilien in Mexiko über die Entstehungs-ursachen. Sie ergab, dass die mystischen Vorstellungen davon immer noch sehr verbreitet sind: 62,9% der Befragten machten den Einfluss der Mondfinsternis, 3,7% den der Sonnenfinsternis verantwortlich und 18,5% sahen darin eine göttliche Fügung (Andrä/ Neumann 1996: 20). Es ist bemerkenswert, dass sich diese Vorstellungen bis heute gehalten haben, trotz allen wissenschaftlichen Forschungen.

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3.3. Ursachen Es ist bis heute nicht vollständig geklärt, weshalb manche Kinder mit einer solchen Spalte geboren werden. Doch es gibt verschiedene Annahmen. 3.3.1. Vererbung Man hat aufgrund von Stammbaumuntersuchungen herausgefunden, dass der Geburtsfehler in manchen Familien vererbt wird. Oft wird in einer Familie auch ein ähnlicher Fehl-bildungstyp, also ähnliche Formen der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten vererbt. Von den auftretenden Spalten sind insgesamt etwa 20-30%1 erblich bedingt. 3.3.2. Andere Ursachen Es wird anhand von Versuchen mit Tieren wie Ratten, Kaninchen und Mäusen nach äusseren Einflüssen gesucht, die den Geburtsfehler hervorrufen könnten. Jedoch konnte man bisher fast keine überzeugende Resultate feststellen. Es ist aber nachgewiesen, dass die Folgen von Röteln und Thalidomid2 am meisten Schäden (also nicht nur LKG) verursachen können. Erkrankungen in der Schwangerschaft können also verantwortlich sein für LKG: Der gesamte Anteil ist zwar gering, doch zum Beispiel Virusinfektionen sind gefährlich für das heran-wachsende Kind. Das klassische Beispiel dafür sind die Röteln: im ersten Entwicklungs-monat beträgt die Wahrscheinlichkeit der Keimschädigung etwa 50%. Medikamente (wie Thalidomid) können auch Entwicklungsschäden hervorrufen. Bei einer Befragung gaben nur 20% der Schwangeren an, dass sie während der Schwangerschaft keine Arzneimittel eingenommen hätten. 40% sagten, dass sie nur in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten Medikamente genommen hätten (dies ist der entscheidende Zeitpunkt für solche Missbildungen!). Umweltfaktoren allein sind insgesamt nur etwa für 10% aller Entwicklungsstörungen ver-antwortlich. 1) alle Prozentangaben aus Andrä/Neumann 1996 2) Thalidomid: im Medikament Contergan enthaltene Substanz, kann bei Einnahme während der Schwangerschaft schwere Missbildungen beim ungeborenen Kind hervorrufen („Contergan-Affäre“). Contergan, ein Schlafmittel, wurde in den fünfziger und sechziger Jahren oft eingesetzt, als man über die schlimme Nebenwirkung noch nicht Bescheid wusste.

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3.4. Entwicklung von LKG in der Schwangerschaft Lippen-, Kieferspalten entstehen in der 5.–6. Embryonalwoche, wenn entweder die Ver-schmelzung der Nasen- und Oberkieferwülste ausbleibt oder wenn diese Verschmelzungs-naht wieder aufreisst. Die Gaumenspalte entsteht etwa in der 10.-12. Embryonalwoche, also auch ziemlich früh. In der Zeit sollten die Oberkieferwülste mit der Nasenscheidewand zusammenwachsen und dann den Gaumen bilden. In der folgenden Darstellung ist der normale Verlauf der Entwicklung (also eines Kindes ohne LKG) zu sehen:

Abb.8: 6 ½ Wochen alter Embryo. Die Zunge liegt zwischen den Gaumenplatten.

Abb.9: 7 ½ Wochen alter Embryo. Die Zunge hat sich nach unten verlagert, die

Gaumenplatten beginnen sich horizontal einzustellen.

Abb.10: 10 Wochen alter Embryo. Die Gaumenplatten sind miteinander und mit der

Nasenscheidewand verschmolzen. Uvula = Halszäpfchen.

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Hier eine Darstellung, die nun die Entstehung von LKG in der Schwangerschaft genauer beschreibt. Links ist noch einmal die normale Entstehung der Lippen, Kiefer und des Gaumens zu sehen, und rechts sieht man die Spaltenentstehung (je weiter rechts, desto breiter die Spalte). Die Darstellung zeigt nur die Entstehung von einseitigen Spalten.

Abb. 11: Entstehung von LKG in der Schwangerschaft, verschiedene Schweregrade (mit Doppelanlage, Einzelanlage, Fehlanlage sind die Zahnanlagen gemeint)

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3.5. Formen Allgemein gibt es diese vier verschiedene „Grundformen“:

• Lippenspalte • Lippen-, Kieferspalte • Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte • isolierte Gaumenspalte

Jedoch werden über 30 verschiedene Formen der LKG unterschieden. Auf diese 30 Formen kommt man, wenn von den Mikrosymptomen über partielle Spalten bis zu den totalen doppelseitigen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten alles mitgezählt wird. Auch beinhaltet dies die Variationen. Um zu bestimmen, um welche Form es sich bei einer Spalte handelt, unterscheidet man zuerst, ob es eine doppelseitige oder eine einseitige (links/rechts) ist, und ob sie partiell oder total ist. Die folgende Darstellung zeigt die wichtigsten Formen:

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Partielle Lippenspalten sind Kerben im Lippenrot und Lippenweiss. Je nach Schweregrad kann dadurch der betroffene Nasenflügel seitlich verzogen sein. Der Kieferkamm kann wie die Lippe auch verschieden stark betroffen sein. Wenn nur der Kieferrand eine Kerbe aufweist, so spricht man von einem Mikrosymptom. Das Mikrosymptom einer Lippenspalte ist eine winzige Kerbe in der Lippe und das Mikrosymptom einer Gaumenspalte ist beispiels-weise ein gespaltenes Halszäpfchen (Uvula bifida).

Abb.13: Partielle Lippenspalte Abb.14: Partielle doppelseitige Lippenspalte Bei einseitigen totalen Lippenspalten ist die Lippe bis in den jeweiligen Naseneingang ganz getrennt. Der Nasenflügel ist deshalb immer seitlich verzogen. Der Naseneingang bleibt offen, weil der Nasenflügelansatz nicht mit dem Nasenseptum1 verwachsen ist. Manchmal kommt es vor, dass über die totale Lippenspalte unter der Nase eine Hautbrücke gewachsen ist, so dass man nur eine partielle Lippenspalte vermuten könnte. Doppelseitige partielle oder totale Lippenspalten weisen die selben Merkmale auf wie die einseitigen Spalten, doch bei den beidseitigen sind die Nasenflügel nur wenig verzogen (die Nase ist meist fast symmetrisch, da eine doppelte Spalte vorhanden ist). Totale Lippen-, Kieferspalten, ob ein- oder beidseitig, sind selten.

Abb.15: Totale doppelseitige Lippen-, Kieferspalte – links mit Hautbrücke

Am häufigsten jedoch kommen die einseitigen totalen Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten vor, bei denen Lippe, Kiefer und Gaumen gespalten sind (siehe Kap. 3.1. Begriffe und Darstellung von LKG). Je nach Spaltbreite ist der Nasenflügel unterschiedlich abgeflacht, was ein asymmetrisches Mittelgesicht zur Folge hat. Die doppelseitige totale Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte wird zu den schwersten Gesichts-fehlbildungen gezählt. Die Nasenspitze ist oft stark abgeflacht, weil der Nasensteg kaum vorhanden ist. Der isolierte Zwischenkiefer (mittlerer Teil der Lippe und des Kiefers, unter dem Nasenseptum) kann je nach vorhandener Anzahl Zahnanlagen in seiner Grösse variieren. Er wird nur vom Vomer2 und dem Nasenseptum getragen. Es ist nicht selten, dass partielle und totale Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten kombiniert vorkommen. Isolierte Gaumenspalten beginnen beim Halszäpfchen und reichen unterschiedlich weit auf der Mittellinie des Gaumens nach vorne (siehe Kap. 3.1. Begriffe und Darstellung von LKG). 1)Nasenseptum: Septum nasi = Nasenscheidewand, trennt rechte und linke Nasenhöhle, z.T. knöchern 2)Vomer: Pflugscharbein = knöcherner Teil des Septum nasi

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3.6. Häufigkeit Im Moment sagt man, dass in Mitteleuropa und den skandinavischen Ländern von 500 Neugeborenen eines eine Spalte hat. Das heisst die Spaltfrequenz liegt bei 1:500. Hier einige Beispiele von verschiedenen Spaltfrequenzen: Land oder Ort Spaltfrequenz im Jahre Russland 1:1525 1867 England 1:1742 1908 USA 1: 915 1924 Deutschland 1:1000 1931 Berlin 1: 435 1963 Dänemark 1: 523 1962 Ungarn 1: 454 1963 (Andrä/Neumann 1996: 62) Die Reihenfolge in der Tabelle richtet sich nach dem jeweiligen Jahr, in dem die Spaltfrequenz erfasst wurde. Wenn man die Spaltfrequenzen betrachtet, ist ersichtlich, dass sich die Frequenzen mit den zunehmenden Jahrzahlen steigerten. Früher waren die Spalten also seltener: In den Statistiken der letzten hundert Jahren ist festzustellen, dass sich der Anteil fast verdreifacht hat! Die Ursachen für diese erschreckende Zunahme sind ein wenig beruhigend. Die Senkung der Säuglingssterblichkeit trug sicher dazu bei, denn unter Spaltträgern war die Sterblichkeit hoch; noch um 1900 überlebten nur etwa 30-50% aller Kinder mit angeborenen Spalten das zweite Lebensjahr. Ausserdem werden heute weitaus mehr Mikroformen und partielle Gaumensegelspalten in den Statistiken erfasst als früher. Da leider aber noch nicht bekannt ist, wie man LKG wirklich effizient verhindern kann, darf nicht mit einem Rückgang der Spaltenhäufigkeit gerechnet werden. Häufiger wurden die Spalten auch aus genetischen Gründen. Zudem sind Spaltträger (in „fortschrittlichen“ Ländern) heute keine Aussenseiter mehr. Sie sind eher bereit, eine Familie zu gründen und so ihre Erbanlagen weiterzugeben. Das ist natürlich auch eine Folge des medizinischen Fortschritts, der die fast komplette Rehabilitation des Geburtsfehlers ermöglicht hat. Auch die Umweltverhältnisse spielen eine Rolle bei der Häufigkeit der Spalten: Sie haben sich schlecht darauf ausgewirkt, denn sie haben sich dafür ungünstig gewandelt (Industriali-sierung). Sogenannte Wohlstandserscheinungen in Industrieländern führten dazu, dass bestimmte Krankheiten häufiger vorkamen, die dann auch zum vermehrten Vorkommen von Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten führten. Sehr interessant sind auch die rassischen Unterschiede bezüglich der Häufigkeit, doch weil sie von der Wissenschaft noch nicht erklärt werden konnten, gehe ich hier nicht gross darauf ein. Bei der mongoliden Grossrasse (Chinesen, Japaner) waren und sind die Spalten am Häufigsten, an zweiter Stelle stehen die Europiden (Europäer, „Weisse“) und am seltensten sind die Spalten bei der negriden Grossrasse (Afroamerikaner, „Schwarze“) aufzufinden. Auf den ersten Blick erscheint die Tatsache erstaunlich, dass unter nordamerikanischen Indianervölkern die Spalten sehr stark verbreitet sind, doch das hat einen ziemlich einfachen Grund: Ursprünglich gehören diese Völker zur mongoliden Grossrasse (sie wanderten vor vielen Jahren nach Amerika aus).

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4. Folgen von LKG 4.1. Vorbemerkung LKG können viele Folgen für die Betroffenen haben, wie zum Beispiel Ohrenprobleme und Sprachschwierigkeiten. Zudem müssen oder dürfen Betroffene oft zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen. Als Folgen schaue ich also alle auftretenden Probleme an, die sich aus dem beschriebenen Geburtsfehler ergeben. Ich habe mich entschlossen, die psychischen Folgen dieses Geburtsfehlers in meiner Arbeit nicht zu berücksichtigen, denn die Thematik wäre zu umfangreich. Ausserdem bin ich der Meinung, dass man selten genau sagen kann, woher ein psychisches Problem kommt – ob nun der Geburtsfehler der Auslöser dafür war oder irgend eine andere Belastung. 4.2. Physische Folgen Die physischen Folgen von LKG äussern sich meist deutlich: Ein Kind mit LKG in der Sprachentwicklung spricht fast immer nasal und oft treten Ohrenprobleme auf. Diese zwei Hauptprobleme1 stelle ich hier dar. 4.2.1. Sprachstörungen LKG kann durch die vorhandenen Defekte Sprachstörungen hervorrufen. Die häufigsten sprachlichen Auffälligkeiten bei Spaltkindern sind beim Klang der Stimme, der Aussprache und beim Spracherwerb zu bemerken. Der Stimmklang tönt bei den meisten Spaltkindern in der Sprachentwicklung verändert. Die Sprache ist nasal. Das offene Näseln (Rhinophonia aperta) äussert sich in häufig verwaschenen und verhauchten Ausdrücken, manchmal ertönen beim Sprechen durch die ungenügende Gaumensegelfunktion „Schnarchgeräusche“. Das Gaumensegel mit dem Halszäpfchen schnellt beim Sprechen nach oben und trennt, wenn es eben nötig ist, die Nasenhöhle vom Mundraum ab. Funktioniert aber das Gaumen-segel wie bei vielen Spaltkindern nicht richtig, so wird der die Nasenhöhle nicht gut abgeschlossen und es entweicht zu viel Luft durch die Nase. Dadurch entsteht der nasale Stimmklang („Näseln“). Es gibt im Gegensatz zum offenen Näseln auch das geschlossene Näseln (Rhinophonia clausa), es ist jedoch seltener. Hierbei entweicht zu wenig Luft durch die Nase, und dadurch tönt die Stimme dann wie bei einer stark erkälteten Person mit verstopfter Nase. Die Ursachen für dieses Näseln sind entweder organisch (grosse Rachenmandeln, verstopfte Nasengänge usw.) oder funktionell (falsche Sprechgewohnheiten, Verkrampfungen usw.). Die dritte Form der nasalen Sprache ist logischerweise das gemischte Näseln (Rhinophonia mixta), die durch das Zusammentreffen von Ursachen der beiden ersten Formen entsteht. Grundlage für eine „normale“ Aussprache ist das Zusammenspiel von Lippen-, Zungen- und Gaumensegelmuskulatur. Wenn diese Muskeln aber nicht gut funktionieren, wie es bei vielen Spaltkindern der Fall ist, kann eine unsaubere Aussprache entstehen und manche Laute können gar nicht gebildet werden. Die Ursache dafür kann zum Beispiel eine falsche Kiefer-stellung, Operationen oder eine Schonhaltung sein, durch die die Muskeln nicht richtig betätigt werden können. Störungen des Spracherwerbs machen sich bemerkbar, wenn ein Kind mit der Sprachentwicklung nicht so gut vorankommt, wie es für sein Alter entsprechend sein sollte. Es sind oft mehrere Bereiche der Sprache betroffen wie die Artikulation, den Wortschatz, den Satzbau oder auch das Sprachverständnis. 1) Bei Spaltträgern können zahlreiche weitere Störungen auftreten (z.B. der Nasenatmung)

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Die Sprache ist eine sehr komplexe Thematik, und es gibt durch die vielen zusammen-spielenden Faktoren ein weites Feld von verschiedenen spezifischen Sprachstörungen. 4.2.2. Hörstörungen Die Ursache für Hörstörungen bei Spaltkindern liegt bei der ungenügenden Funktion der Eustachischen Röhre1. Sie wird bei jedem Schlucken geöffnet, und dadurch gelangt Luft in die Röhre. Die Luft bewirkt, dass das Trommelfell sich immer wieder entspannen kann, damit es gut schwingt, wenn die Schallwellen auftreffen. Dieser Mechanismus ist sehr wichtig für die Funktion des Mittelohres. Bei einer vorhandenen Gaumenspalte ist die Anatomie in dieser Gegend oft anders als normal. Deshalb kann bei vielen Gaumenspaltkindern die Eustachische Röhre nicht genügend geöffnet werden. Wenn das Mittelohr nicht ausreichend belüftet wird, kann sich im Mittelohr aus der Ergussflüssigkeit eine zähe Masse bilden, die das Trommelfell fixiert und somit die Hörfähigkeit einschränkt (sog. glue ear; „Leim-Ohr“). Aber auch ohne Erguss kann die Belüftungsstörung das Gehör beeinträchtigen: Es kann sich eine Art Vakuum bilden, die das Trommelfell stark auf die Gehörknöchelchen zieht, so dass die Schwingungen sehr eingeschränkt sind. Das Gehör eines Gaumenspaltkindes muss regelmässig überprüft werden, um schwere Schäden zu vermeiden. Bei einer Mittelohr-Schwerhörigkeit (durch die Belüftungsstörung hervorgerufen) kann die Belüftung verbessert werden, indem man in einer mikro-chirurgischen ohrenärztlichen Operation Röhrchen in die Trommelfelle einsetzt.

Abb.16: Darstellung des Gehörs 1) Eustachische Röhre = Ohrtrompete, beginnt im Mittelohr und endet im Nasenrachen, der obersten Etage des Rachens

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5. Entwicklung von LKG-Betroffenen Die Entwicklung von LKG-Betroffenen kann sehr unterschiedlich sein. Es kommen verschiedene Faktoren zusammen, die die Entwicklung beeinflussen, wie die Familien-verhältnisse oder die medizinischen Möglichkeiten. Deshalb werden hier zwei gegensätzliche Entwicklungen dargestellt: Zum Einen die Entwicklung von Kindern/ Jugendlichen in west-lichen Ländern und zum Anderen von Kindern/ Jugendlichen in Entwicklungs-Ländern. Mit der Entwicklung von LKG-Betroffenen meine ich die physische „Entwicklung“ eines LKG-Betroffenen in der Zeitspanne von der Geburt bis ca. zum 20. Lebensjahr1. Die psychische Entwicklung wäre sehr schwierig festzuhalten, da sie doch bei jedem Menschen verschieden verläuft, und man ausserdem nicht genau sagen kann, was LKG dabei für einen Einfluss hat. Wenn jemand zum Beispiel nicht selbstbewusst ist, so kann das ja auch einen anderen Grund als den des Geburtsfehlers haben – und der Betroffene kann wahrscheinlich auch nicht genau definieren, woher das mangelnde Selbstwertgefühl kommt. Man müsste eine grössere „Umfrage“ machen darüber, um etwas Allgemeines sagen zu können, doch das ist sehr schwierig, da man meistens zuwenig Betroffene findet. Mit Entwicklung meine ich also zum Beispiel die Operationstermine und den Verlauf der Behandlungen, die durch LKG nötig sind. Dass ich die Entwicklungen in Entwicklungsländern und die in westlichen Ländern beschreibe, hat den Grund, dass ich aufzeigen will, dass Unterschiede vorhanden sind.

„Vorher – Nachher“

Abb.17: Jose Lima - Ecuador

Abb.18: Maria das Santos das Gracas – Brazil

1 Es ist im Moment so, dass die Invalidenversicherung bis zum 20. Lebensjahr die Behandlungskosten übernimmt.

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5.1. in westlichen Ländern Die Entwicklung verläuft bei allen Betroffenen individuell, doch mit der Zeit haben sich für die Medizin Operationstermine ergeben, die bei allen in etwa übereinstimmen. Jedoch sind bei manchen Betroffenen einige Operationen mehr oder weniger nötig als bei anderen. Man unterscheidet zwischen den Primäroperationen (jene, die den Geburtsfehler fürs Erste korrigieren) und den Sekundäroperationen (jene, die zur Verbesserung der vorherge-gangenen Operationen führen sollen). Hier die Termine einiger Primär- und Sekundäroperationen (Andrä/Neumann 1996:98): Primäroperationen Massnahmen 4. – 6. Monat • Verschluss der Lippenspalten

• Kieferspalten (ohne Osteoplastik1) 15. – 16. Monat • Verschluss der Velumspalte2 5. – 6. Lebensjahr • Verschluss der Restspalte im harten Gaumen Sekundäroperationen Massnahmen 5. – 6. Lebensjahr (vor Schuleintritt)

• Sprachverbessernde Operationen • Verschluss von Restperforationen, Reoperationen • Nasenstegverlängerungen • Kleine Weichteilkorrekturen an Lippe, Nasenflügeln

Ab 7. Lebensjahr • Sekundäre Osteoplastiken Ab 10. Lebensjahr • Lippenreoperationen

• Totaler Lippenrotersatz • Nasenseptumplastiken • Ausgleich gestörter Relationen zwischen Ober- und

Unterlippe Ab 15. Lebensjahr • Korrekturen am knorpeligen und knöchernen Nasengerüst

• Transplantationen von Stützgewebe Ab 18. Lebensjahr • Kombinierte Lippen-Nasenkorrekturen

• Kieferorthopädische Operationen • Präprothetische3-chirurgische Operationen • Tertiäre Osteoplastiken

Mit Operationen alleine ist die Behandlung natürlich noch lange nicht komplett. Sehr prägend ist die Kieferorthopädische Behandlung. Sie beginnt eigentlich schon in den ersten Lebens-tagen des Spaltkindes und dauert meist bis zum Schluss der Behandlung (je nach Fall ca. 18.-20. Lebensjahr). Die Zähne im Spaltbereich sind oft atypisch angelegt, es gibt auch Doppelanlagen oder nicht vorhandene Zahnanlagen (Abb.28, Seite 27). Der Oberkiefer ist zudem meist kleiner als normal. Dadurch haben die vorhandenen Zähne zu wenig Platz, um normal wachsen zu können. Die meisten Spaltkinder tragen während der Behandlung eine Reihe von verschiedenen Zahnspangen (Abb.27,Seite 27). Gaumenplatten dienen, wenn die Gaumenspalte noch offen ist, zur Abdeckung des Defekts und verhindern, dass z.B. Speisresten in die Nasenhöhlen gelangen. Wenn die Zähne dann kommen, muss man sie oft mit einer fixierten Zahnspange („Plättlispange“) in die richtige Position schieben. Der Ober-kiefer muss, um mehr Platz zu schaffen, auch in vielen Fällen in die Breite gedehnt werden. Dies geschieht mittels einer fixierten Apparatur im Gaumen, welche täglich ein Bisschen mehr auseinander geschraubt wird (Abb.27, 3) & 4),Seite 27). 1) Osteoplastik: Os = lat. Knochen; plastische Operation am Skelett, in diesem Fall am Kieferknochen. Kiefer- spaltosteoplastik = Überbrückung der Kieferspalte mit einem Knochentransplantat 2) Velumspalte: Velum = lat. Segel, Hülle; Velum palatinum = Gaumensegel Velumspalte = Gaumenspalte 3) präprothetisch: prä = lat. „vor“; Prothese = künstlicher Körperteilersatz präprothetische Operation = „vor- prothetische“ Operation, z.B. einsetzen von Metallstiften in den Kiefer für eine spätere Befestigung der Gebissprothese

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Falsche Kieferstellungen sind bei Spaltkindern nicht selten: Da der Oberkiefer zu klein ist, passt er nicht auf den normal gewachsenen Unterkiefer. Dies führt zu einem umgekehrten Überbiss, das heisst, die Frontzähne unten befinden sich vor denen des Oberkiefers. Falls diese Fehlstellung nicht mit einer Spange (z.B. Nachtspange) korrigiert werden kann, so ist eine chirurgische Bisskorrektur notwendig. Die Sprachentwicklung bei Spaltkindern ist auch gestört. Deshalb muss man Spaltkinder in ihrer Sprachentwicklung begleiten. Dies geschieht in der Logopädie. Dort werden die „Sprechwerkzeuge“ wie die Zunge, die Lippen und das Gaumensegel trainiert. Die Logo-pädie ist spielerisch aufgebaut, damit die Kinder auch mitmachen. So kann es für das Kind Spass machen, wenn es Wattebällchen mit einem Röhrchen ansaugen oder wegblasen muss. Die logopädische Therapie dauert je nach Fall unterschiedlich lange. Es gibt viele Fälle, in denen eine sprachverbessernde Operation nötig ist. Die logopädische Behandlung bereitet einerseits darauf vor und andererseits werden nach der Operation die veränderten „Sprechwerkzeuge“ trainiert, damit sich für das Kind auch eine sprachliche Verbesserung ergibt. Die Muskeln im Spaltbereich verhalten sich oft auch nicht normal. Sie sind entweder zu stark oder zu schwach. Beides ist eine Behinderung für das Sprechen und zum Beispiel auch das Schlucken. Die Muskeln können in der myofunktionellen Therapie (Muskelfunktionstherapie) trainiert werden. Auch das Gehör sollte regelmässig kontrolliert werden, damit allfällige Schwerhörigkeiten vermieden werden können. Es sind also viele verschiedene Faktoren, die in der Behandlung von Spaltkindern zusammenkommen. Es sind verschiedene Ärzte im Einsatz und deshalb kann eine optimale Behandlung nur dann erreicht werden, wenn die verschiedenen Fachärzte zusammen-arbeiten und sich absprechen. Zu dem Zweck ist die Spaltensprechstunde da. Dort werden Spaltkinder an einem Nachmittag von allen relevanten Ärzten untersucht. Diese besprechen sich am Schluss der Sitzung und schlagen den Eltern einen weiteren Behandlungsplan vor. Hier der Text einer Informationsschrift über die Spaltensprechstunde (Lindenhofspital Bern, ca. 1990): ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ELTERN-INFORMATION ZUR LIPPEN – KIEFER – GAUMENSPALTEN – SPRECHSTUNDE Die Sprechstunde dauert einen ganzen Nachmittag. Ihr Kind wird untersucht:

1. Durch eine Logopädin 2. Durch einen Kieferorthopäden 3. Zwischen 16.00 und 17.00 Uhr durch einen Hals-Nasen-Ohrenarzt und Prof. Kaiser 4. Ab ca. 17.15 Uhr gemeinsame Besprechung der Spezialisten und anschliessend

Orientierung der Eltern über den weiteren Behandlungsplan. 5. Schluss der Besprechung ca. 18.00 Uhr

Diese Sprechstunde ist eine aussergewöhnliche Gelegenheit, an einem Nachmittag von verschiedenen Spezialisten kontrolliert zu werden, die nach gemeinsamer Absprache das Procedere vorschlagen. Aus diesem Grunde können längere Wartezeiten entstehen. Wir bitten sie um Verständnis. ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ In westlichen Ländern ist es also möglich, die Entwicklung des Spaltkindes auf optimale Art zu betreuen, so dass eine nahezu komplette Rehabilitation des Geburtsfehlers erreicht werden kann.

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5.1.1. Schilderung eines Falles: Sarah Zaugg Es ist wohl naheliegend, dass ich den Fall als Beispiel nehme, den ich am Besten kenne, und das ist meiner. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich das wirklich in meine Arbeit nehmen soll, aber ich denke, dass meine Geschichte einen Einblick ins Thema verschaffen kann, den ich sonst vielleicht nicht vermitteln könnte. Ich schildere den Verlauf mit wichtigen Ereignissen oder manchmal auch kleineren Begeben-heiten, damit das Ganze ein wenig lebendiger wird. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter während den Operationen und auch sonst manchmal aufgeschrieben hat, was sich so ereignete bezüglich der Spalt-Geschichte – und deshalb kann ich jetzt noch nachlesen, was zum Beispiel geschah, als ich meine ersten Spital-aufenthalte hatte. Ich stelle zuerst alle wichtigen Termine nach Datum zusammen, um so einen Überblick zu verschaffen: Termin Ereignis 2. 4.1985 Geburtsdatum 8.11.1985 Verschluss der Lippenspalte nach Le Mesurier/Delaire, operiert von Prof.

Bettex 4. 8. 1986 Verschluss der Gaumenspalte nach Grob, operiert von Prof. Bettex 26. 4.1990 Erste Spaltensprechstunde im Lindenhofspital Bern 20. 9.1990 Teflonröhrchen (Paukenröhrchen) beidseitig in die Trommelfelle, Spital Thun,

operiert von Dr. Lütolf 29.5.1992 Velopharyngoplastik1im Lindenhof Bern (zur Behebung des offenen Näselns) +

Tonsillektomie (Mandelentfernung), operiert von Prof. Bettex 28. 4.1994 Zweite Spaltensprechstunde im Lindenhofspital Bern 1. 2. 1996 Dritte Spaltensprechstunde im Lindenhofspital Bern 20. 8.1998 Kieferspaltosteoplastik (Knochenspanung) im Lindenhofspital Bern, operiert

von Winkler 6. 4.2000 Vierte Spaltensprechstunde im Lindenhofspital Bern 22. 2.2001 Zahnextraktion (ambulant): Weisheitszähne unten + Anschlingen eines

Spaltzahnes im Inselspital Bern 31. 7.2002 bimaxilläre Osteotomie im Inselspital Bern, operiert von Dr. Lädrach Jetzt stelle ich die Daten und Ereignisse so dar, damit man vergleichen kann, wie die Operationstermine mit den medizinischen Berechnungen übereinstimmen (vgl. Tab. Primär- und Sekundäroperationen, s. 19 )Ereignis Durchführungsalter Durchführungsalter nach

med. Berechnungen Verschluss Lippenspalte 7 Monate 4.-6. Monat Verschluss Gaumenspalte 15 Monate 15.-16. Monat Velopharyngoplastik 7 Jahre 5.-6. Lebensjahr (Sprachverb.

Operationen vor Schuleintritt) Kieferspaltosteoplastik 13 Jahre ab 7. Lebensjahr Bimaxilläre Osteotomie 17 Jahre ab 18. Lebensjahr (Kiefer-

orthopädische Operation) Die Operationstermine wurden bei mir also ziemlich genau eingehalten. 1) Velopharyngoplastik: Velum siehe Seite 19, Velumspalte); Pharynx = „Rachen oder „Schlund“ Velo-pharyngoplastik = plastische Operation im Mundhöhlenraum, dient der Sprachverbesserung 2) bimaxilläre Osteotomie: maxillär = lat. den Oberkiefer betreffend bimaxillär = beide Kiefer betreffend bimax. Osteotomie = plastische Operation an Ober- und Unterkiefer; in meinem Fall: Oberkiefer nach vorne, Unterkiefer nach hinten versetzen)

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Nun beschreibe ich meine Geschichte in einem Text, mit ein paar Details und Erläuterungen. Ich wurde am 2. April 1985 kurz vor Mitternacht mit einer breiten Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte geboren. Für meine Eltern war das zunächst sicher ein grosser Schock, denn niemand hatte den Geburtsfehler schon vorher auf einem Ultraschallbild erkennen können. Ich kann natürlich nicht genau sagen, wie meine Eltern damals reagierten, ich war ja gerade erst geboren. Meine Mutter hatte jedoch schon eine gewisse Ahnung von dem, was auf mich und uns alles zukommen würde. Sie war nämlich während eines Spitalaufenthaltes vor meiner Geburt durch Zufall mit einer Mutter und ihrem LKG-Kind im selben Zimmer und hatte von dieser Frau schon einiges über LKG erfahren. Sie gab mich nicht, wie es bei Neugeborenen üblich war, ins Säuglingszimmer, sondern bewirkte bei den Ärzten, dass sie mich mit in unser Zimmer nehmen durfte. Ich war mit 2360 Gramm und 47cm Länge das kleinste Neugeborene im Spital.

Abb.19: 3 Monate alt, mit Gaumenplatte Abb.20: 3 Monate alt

An meinem ersten Lebenstag musste ich einen Abdruck für meine erste Gaumenplatte über mich ergehen lassen. Diese trug ich ab meinem 3. Lebenstag. Sie verdeckte die Gaumenspalte, um mir so das Trinken zu ermöglichen (Abb.27, Seite 27). Mit der Gaumenplatte konnte ich den Spezialaufsatz an der Trinkflasche zusammendrücken und so trinken. Anfänglich brauchte ich für 20ml Nahrungsaufnahme 2 ½ Stunden, daich kein Vakuum herstellen und somit nicht saugen konnte. Nach ca. 2 Monaten brauchte ich pro Mahlzeit nur noch eine Stunde. Jedoch kam schon bald die Weisung vom Spital, wir sollten mit der Operationsvorbereitung beginnen. Das bedeutete, dass meine Mutter mir nun alle Flüssigkeit nur noch mit dem Löffel geben durfte. Dies war natürlich wiederum eine sehr mühsame Angelegenheit – der Löffel musste auf die Unterlippe gesetzt und die Flüssigkeit darin nachher in den Mund gekippt werden. Im Juli 1985 erhielt ich ein Gummiband über die Lippenspalte, um damit den Kiefer in die richtige Position zu drücken. Das geschah auch zur Vorbereitung auf meine erste Operation, bei der die Lippe verschlossen wurde. Ich durfte nie einen „Nuggi“ haben und eigentlich war

Abb.21: mit Gummiband, vor Abb.22: kurz nach Lippenverschluss, mit Lippenverschluss Manschetten

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es für mich auch verboten, den Daumen in den Mund zu nehmen. Doch ich habe das trotzdem gemacht. Deshalb musste ich nach der Operation für einen Monat Manschetten (Stulpen aus Metall) tragen, damit ich die frische Operationsnaht nicht mit den Fingern aufreissen konnte. Ich schaffte es einmal, mich von den Metallstulpen zu befreien, um den Daumen in den Mund zu nehmen – doch zum Glück hat dies das Operationsergebnis nicht beeinträchtigt. Meine Mutter blieb die meiste Zeit über bei mir und manchmal löste mein Vater sie ab. Nach 14 Tagen im Spital durften wir nach Hause zu meinem Bruder und zu meinem Vater zurückkehren. An die lästigen Manschetten hatte ich mich gut gewöhnt – sie hinderten mich beim Spielen nicht. Im August 1986 wurde die Gaumenspalte verschlossen. Damit die Naht im Gaumen gut verheilen konnte, durfte ich nur auf dem Bauch liegen. An meiner Zunge war ein Faden mit einer Metallklemme befestigt, weil die Zunge geschwollen war und deshalb Erstickungs-gefahr bestand. Wenn die Zunge also nach hinten gefallen wäre, hätte man sie an der Klemme wieder nach vorne ziehen können. Ich durfte nach dem dreiwöchigen Spitalaufent-halt für zwei bis drei Monate nur püriertes Essen zu mir nehmen. Auch „Röhrli-Trinken“ war für drei Monate verboten: Doch als mein Bruder Matthias und ich dann im November in einem Restaurant ein Röhrli erhielten, durfte ich damit trinken, und es funktionierte! Das heisst, die Operation war gelungen, ich konnte mit dem Gaumen ein Vakuum machen. Mit 2 ½ jährig begann die Logopädie, denn um Sprachfehler zu vermeiden, muss man so früh wie möglich damit beginnen. Auch bei der Kieferorthopädin hatte ich regelmässige Termine. Durch den Geburtsfehler hatte ich einen zu kleinen Oberkiefer, und damit auch viel zu wenig Platz für die Zähne, die dort wachsen sollten. Doch mit den Operationsergebnissen waren alle zufrieden. Der Professor Bettex, der beide Operationen durchgeführt hatte und Spezialist auf diesem Gebiet war, sagte einmal: „Sie hat die schönste Lippe, die ich je operiert habe.“ Das war für mich und auch für meine Eltern ein riesiges Kompliment, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Lippenspalten dieser Prof. Bettex in seinem Leben schon verschlossen hatte!

Abb.23: ca. 2 Jahre alt, Lippe gut verschlossen

Auf den folgenden Seiten ist das Protokoll meiner ersten Spaltensprechstunde zu sehen. Ich habe sie nur zur Veranschaulichung des Systems eingefügt, die Medizinersprache ist auch mir noch ziemlich unverständlich.

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Abb.24: Untersuchungsprotokoll, 1. Seite

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Abb.25: Untersuchungsprotokoll, 2. Seite

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Im November 1989 begann ich mit der myofunktionellen Therapie (Muskelfunktionstherapie) bei Frau Campiche. Da musste ich verschiedene Übungen mit der Zunge machen und das Schlucken trainieren. Meine Mutter trainierte drei mal täglich 10 Minuten mit mir. Ich machte das anscheinend so gut, dass ich einmal sogar für den Initianten der Muskelfunktions-therapie als Vorführmodell in einem Vortrag mitmachen durfte. Im April 1990 erlebte ich meine erste Spaltensprechstunde. Ich befand mich einen ganzen Nachmittag mit meinen Eltern im Lindenhofspital Bern und liess mich von verschiedenen Ärzten untersuchen. Die Spaltensprechstunde hat das Ziel, eine optimale Behandlung durch gutes Zusammenarbeiten der verschiedenen Ärzten auf ihrem jeweiligen Gebiet zu erreichen. Die Ärzte untersuchten mich, und besprachen das weitere Vorgehen in meinem Falle zusammen. Bei einer Gehörkontrolle beim HNO-Spezialisten Dr. Lütolf in Thun stellte man fest, dass ich auf dem linken Ohr weniger höre. Meine Ohren waren zu wenig belüftet. Deshalb setzte man mir im September 1990 Teflonröhrchen beidseitig in die Trommelfelle, um die Gehörgänge besser zu belüften und so eine Mittelohrschwerhörigkeit zu verhindern. Die Röhrchen fielen nach etwa einem halben Jahr wie geplant von selber aus den Trommelfellen. Als ich im Kindergarten war, stellten die Ärzte fest, dass meine Sprachentwicklung nicht die Beste war und dass die Sprachfehler nicht mehr allein durch Logopädie behoben werden konnten: Ich musste mich einer weiteren Operation unterziehen. Die Velopharyngoplastik sollte das offene Näseln beheben, damit ich besser sprechen konnte. Leider bemerkten die Chirurgen erst während der Operation, dass sie wegen meinen Mandeln zu wenig Platz hatten, um zu operieren. Sie waren gezwungen, mir die Mandeln in der gleichen Operation zu entfernen (Tonsillektomie). Durch das Entfernen beider Mandelpaare hatte sich die Wund-fläche erheblich vergrössert. Ich hatte ziemlich grosse Schmerzen, und es bildete sich übermässig viel blutiger Schleim im Hals, der mir das Atmen erschwerte und die Schmerzen vergrösserte. Ausserdem durfte ich für 10 Tage nicht Sprechen (wieder, um das Operationsresultat nicht zu verschlechtern). Wir hatten uns darauf vorbereitet: Meine Mutter hat vor dem Spitaleintritt auf Kartonkärtchen einige wichtige Ausdrücke gezeichnet und geschrieben (Abb.25/26, Seiten 25/26). So konnte ich mich melden, wenn ich zu kalt oder zu warm hatte, wenn ich trinken wollte und so weiter. Ich hatte auch Schreibzeug bei mir, denn ein wenig schreiben konnte ich damals schon. Meine Mutter war wie bei allen Operationen bei mir und umsorgte mich. Wir entwickelten eine Zeichensprache und hatten Spass daran, uns mit Händen und Füssen zu verständigen! Während diesem Spitalaufenthalt riss ich mir einmal die Infusion aus der Hand – es war ein Schock für mich, als ich aufwachte und die riesigen Blutflecken auf der weissen Spitalbettwäsche sah! Ansonsten hatte ich nicht viele Probleme im Spital, ich hatte mich an die Aufenthalte dort gewöhnt und genoss es sogar, von meiner Mutter und den Pflegern umsorgt zu werden. Nach dieser Operation hatte ich wieder zahlreiche Termine bei der Kieferorthopädin Dr. B. Graf und ausserdem erhielt ich eine Nachtspange, die das Wachstum des Oberkiefers fördern und das des Unterkiefers hemmen sollte (Abb.28: 5) Nachtspange, Seite 27). Zusätzlich musste ich, anschliessend an die Termine, mit dieser Spange in ein Magnetfeld sitzen, um die oben genannten Ziele schneller zu erreichen. Ich besuchte auch wöchentlich die Logopädin Frau Müller und musste fast täglich üben. Die anfänglichen Zweifel, ob die Operation etwas gebracht hätte oder nicht, verschwanden allmählich. Die Sprache wurde weniger nasal und ich konnte plötzlich sogar den R sagen! Es folgte die 2. Spaltensprechstunde in Bern im Jahre 1994. Meine Mutter begleitete mich. Wir verbrachten wieder den ganzen Nachmittag dort. Ich wurde von den Spezialisten untersucht und zwischendurch mussten wir warten. Bei der Logopädin Frau Campiche hörten wir Aufnahmen von mir als ich 5 jährig war – die Unterschiede zu meiner jetzigen Sprache (mit 9 jährig) waren phänomenal! Am Abend kehrten wir sehr müde nach Hause zurück. Die Zähne wuchsen mittlerweile krumm wie erwartet und deshalb bekam ich bald eine fixe „Plättlispange“, um die Zähne zu richten.

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Abb.26: Kärtchen, gezeichnet von meiner Mutter, damit ich mich auch ohne zu sprechen verständigen konnte

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Abb.27: weitere Kärtchen zur Verständigung ohne Sprechen

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Abb.28: Spangen. 1) erste Gaumenplatten im noch zahnlosen Mund; 2) Gaumenplatten mit Kieferdehnungsapparatur (Zähne vorhanden); 3) „Schraubenzieher“ zum Dehnen; 4) spezielle Kieferdehnungsapparatur (die Ringe links und rechts sind an den hintersten Zähnen im Mund befestigt, in der Mitte etwas wie ein Schraubstock, der auseinander-geschraubt wird); 5) Nachtspange

Abb.29: Abdrücke meines Gaumens/Gebisses. Alles Oberkieferabdrücke, Spaltbereich sicht-bar. Unten rechts mit Unterkiefer, als ich 10 jährig war.

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Ein Zahn wuchs besonders fies: Er wuchs mitten im Spaltbereich, in der vernarbten Gaumenspalte (Abb.29, Seite 27). Dieser Zahn wurde natürlich, wie auch so einige andere, gezogen. Dafür wurde mir ein Termin bei meinem Schulzahnarzt gegeben. Dieser schaffte es jedoch nicht, mich im Spaltbereich zu betäuben. Deshalb wurde dieser Zahnarztbesuch ein richtiges Horrorerlebnis für mich: Der Zahnarzt nahm seine grosse schwarze Spritze, und spritzte das Betäubungsmittel in den Spalten-Narbenbereich. Dann folgten etwa 10 Minuten Wartezeit, damit das Mittel auch wirkte. Als sie um waren, nahm der Zahnarzt seine Zange und begann, am Spaltzahn herumzuziehen und zu reissen. Doch die Betäubung war völlig daneben gegangen, das Mittel wirkte jedenfalls überhaupt nicht und ich hatte Schmerzen, weil er meinen Zahn ohne Betäubung fast ausriss! Dem ersten fehlgeschlagen Versuch folgten ein paar weitere – bis meine Mutter nach 5/4 Stunden den Versuch abbrach und wir erschöpft nach Hause zurückkehrten. Bei meinem nächsten Besuch bei der Kieferorthopädin war Frau Dr. Graf natürlich erstaunt, dass der Spaltzahn noch immer da war. Sie wollte ihn deshalb gleich selber ziehen. Ich geriet sofort wieder in Panik und fing an zu weinen. Doch die Kieferorthopädin nahm eine Spritze (sie sah ganz anders aus als die beim Schulzahnarzt und sie war nicht schwarz!), betäubte für mich schmerzlos den Spaltbereich und zog den Zahn. Alles ohne Probleme und ohne grosse Schmerzen! Damals fiel mir ein ziemlich grosser Stein vom Herzen. Im August 1998, als ich 13 war, war es wieder einmal soweit: Ein nächster Spitalaufenthalt stand bevor! Diesmal musste ich mich einer Knochenspanung unterziehen. Die Chirurgin Frau Dr. Winkler transplantierte ein Stück meiner Hüftknochen in den Oberkiefer, um so die noch vorhandene Kieferspalte aufzufüllen. Mit meinen 13 Jahren wollte ich nun erstmals nicht mehr, dass immer jemand bei mir ist (meine Mutter). Meine Mutter besuchte mich jedoch, so oft sie konnte. Ich erholte mich ziemlich schnell von dem Eingriff: Als die Infusion weg war, durfte ich in einem Rollstuhl umherfahren – oder umhergefahren werden. Zuerst schaffte ich nur die Strecke vom Bett zum WC, doch mit der Zeit machte ich Ausflüge im ganzen Spital und besuchte zum Beispiel die Station der Neugeborenen. Nach der Operation musste ich weiterhin eine fixierte Schiene aus hartem Plastik über dem Oberkiefer tragen, weil die neuen Knochenteile sonst nicht genug Halt gehabt hätten. Dies allein war für mich ja nicht tragisch, jedoch reiste ich einige Zeit nach der Operation mit meinem Vater und meinem Bruder für drei Wochen in den Niger (Sahara, Nordafrika). Ich wurde dort dann doppelt komisch angeschaut, weil ich eine Touristin war und weil ich auch noch so ein komisches Ding über meinen Zähnen hatte! In der Zeit nach dieser Operation folgten die üblichen zahlreichen Besuche bei der Kieferorthopädie, um die Zahnspange (ich hatte seit einiger Zeit eine fixierte „Plättlispange“) nachzuziehen und zu kontrollieren, ob alles nach Plan verlief. Meine linke Schaufel im Oberkiefer befand sich, wie man auf Röntgenbildern sah, um etwa 180° verdreht, aber schon „ausgewachsen“ im Kiefer und konnte deshalb nicht herunter-wachsen. Also musste ich zu einem weiteren Zahnarzt, um diese Schaufel freizulegen (Zahnfleisch abtragen) und sie dann durch die Zahnspange herunterzuziehen. Meine Mutter begleitete mich damals zum Termin und blieb bei mir, während der Zahnarzt das Zahnfleisch wegmeisselte, um so an den Zahn zu kommen. Ich selber spürte nicht viel, denn ich war ja betäubt. Doch plötzlich sank meine Mutter neben dem Zahnarztstuhl hinunter – ihr war von dem Anblick schwarz vor Augen geworden. 2001, ich war jetzt 16 Jahre alt, stand ein nächster Termin im Spital an. Es war eine ambulante Operation, also nichts wirklich Grosses. Ich musste einen weiteren Zahn im Spaltbereich anschlingen lassen, um ihn dann in die richtige Position zu ziehen. Ausserdem wurden mir im Unterkiefer beide Weisheitszähne gezogen, obwohl sie sich noch im Kiefer befanden. Kurz vor der Operation, nach langer Wartezeit und einer Schnelluntersuchung in einer Schuhkammer (es war gerade kein anderer Raum für eine Untersuchung frei), besprachen wir mit der Ärztin noch einmal den Ablauf der Operation. Dabei stellte sich heraus, dass wir ganz unterschiedliche Vorstellungen hatten: Die Ärztin wollte mir etwa vier Zähne ziehen, doch wir waren ganz anders informiert! Nach einigem Herumtelefonieren mit der Kieferorthopädin hatten wir dann Klarheit, welche Zähne nun alle raus kamen und

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welche nicht. Nach dieser Operation musste ich für eine Nacht im Spital blieben, doch dann konnte ich wieder nach Hause gehen. Mein Gesicht war wegen der gezogenen Weisheitszähne ziemlich angeschwollen. Die Ärzte sagten mir damals, das sei bloss ein kleiner Vorgeschmack auf die geplante Kieferoperation, denn da werde mein Gesicht sicher noch viel mehr anschwellen! Ich hatte für etwa eine Woche ein Zeugnis, das besagte, dass ich 100% arbeitsunfähig war, doch nachdem die Schwellung zurückgegangen war, war ich wieder einigermassen fit. Jedoch hatte ich die Narkose unterschätzt: Jedes Treppenlaufen erschöpfte mich sehr, und mein Kurzzeitgedächtnis hatte auch unter der Narkose gelitten. Nach einiger Zeit normali-sierte sich das aber wieder (man sagte mir im Spital, dass es bis zu einem Jahr dauert, bis sich das Gehirn von einer Vollnarkose erholt hat). Im nächsten Jahr stand eine grosse Operation bevor: Die falsche Kieferstellung (starker umgekehrter Überbiss) sollte korrigiert werden. Dr. Lädrach führte die bimaxilläre Osteotomie durch. Bei dieser Operation wurde der Unterkiefer saggital gespalten: Der wichtige Nerv, der sich im Unterkieferknochen befindet und für das „Gefühl“ in der Unterlippe zuständig ist, wird mit dieser Methode nicht verletzt. Früher sägte man einfach durch den Nerv hindurch, doch die Folgen davon waren natürlich verheerend. Der Unterkiefer wurde also beweglich gemacht und dann um 8mm nach hinten verschoben. Der Oberkiefer, der ja mit dem ganzen Schädel verbunden ist, war komplizierter abzutrennen: Man sägte den ganzen Oberkiefer vom Schädel ab, um ihn um 2mm nach vorne verschieben zu können. Das Ganze wurde mit vier Platten und 23 Schrauben aus Titan fixiert. Das Metall befindet sich heute noch im Knochen. Die sieben Schrauben im Unterkiefer bleiben mein Leben lang dort, wenn sie keine Probleme machen. Die vier Platten und 16 Schrauben, die den Oberkiefer fixierten, werden eventuell bei der noch bevorstehenden Nasenoperation entfernt. Ich befand mich also wieder einmal im Spital. Die Operation war auf den 31. Juli 2002 angesetzt, so dass der 1. August mein erster Tag nach der Operation war. Die Operation dauerte 8 Stunden und für 10 Stunden war ich in einer Vollnarkose. Eigentlich dauert diese Operation normalerweise „nur“ etwa 5 bis 6 Stunden, doch weil bei mir ein kleiner Vorbereitungsfehler passiert war, komplizierte sich bei mir die Angelegenheit. Die beiden Kiefer wurden nämlich, um die neue Kieferstellung gut zu fixieren, aneinandergebunden. Dies geschieht heute normalerweise durch Gummibänder, die die untere Zahnspange mit der oberen fixiert. Dazu werden vor der Operation spezielle Plättchen mit Haken auf die Zähne geklebt, so dass der Chirurge während der Operation nur noch die Gummibänder dranhängen muss. Bei mir wurden aber keine solchen Spezialplättchen auf die Zähne geklebt, und deshalb musste Dr. Lädrach meine Kiefer mit Draht aufeinander fixieren. Als ich erwachte, befand ich mich im Aufwachraum, wo die Frischoperierten für eine Weile speziell überwacht werden. Es war schon Abend. Ich staunte ziemlich, als ich erwachte: Um meine Kiefer ging ein riesiger Druckverband, der gleich am Kopfkissen festgemacht war. Ausserdem befanden sich überall Schläuche in meinem Körper, jedenfalls kam mir das damals so vor. Ich hatte wie üblich eine Infusion in der Hand, aber dazu kam noch ein Schlauch für die Sauerstoffversorgung im einen Nasenloch und eine Magensonde im anderen. Die Magensonde war besonders lästig, denn ich spürte sie im Hals und sie erschwerte mir das Atmen. Es hingen mir auch noch zwei „Handorgeln“ unter dem Kinn (siehe Abb.30, Seite 30). Diese „Handorgeln“ waren sogenannte Redons, die verhinderten, dass sich ein Bluterguss bildete. Ich hatte vom Morphium einen sehr ausgetrockneten Mund und konnte ihn wegen der Fixierung nicht aufmachen. Doch ich hatte Durst, und deshalb bat ich um ein wenig Wasser. Mir wurde mit einer Spritze ein paar Tropfen Wasser durch die Drähte getropft, was sehr wohltuend war, doch kurze Zeit später hatte ich schon einen Hustenanfall, und die Schwestern sogen mir durch die Magensonde das Blut und was sonst noch im Magen war ab. Meine Mutter und fast meine ganze Familie war da, und versorgten mich mit frischen Eis und so weiter. Als es dann 22.00 Uhr war, kam plötzlich eine Schwester und verkündete: „So, eigentlich solltest Du ja noch hier bleiben über die Nacht, zur Überwachung, aber morgen ist

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1. August, also ein Feiertag, und deshalb wirst Du bereits jetzt nach oben ins Zimmer verlegt.“ Diese Verkündung war nicht gerade erfreulich, vor allem weil sie noch gesagt hatte, dass ich noch überwacht werden sollte. Wie dem auch sei, die Überwachungspflaster und Schläuche wurden mir abgenommen und ich kam in mein Zimmer. Meine Zimmernachbarin war eine ältere Frau, die extrem stark schnarchte. Sie schnarchte so laut, dass wir (meine Mutter blieb bei mir) die erste Nacht in einem anderen Zimmer verbrachten. Mir war schlecht, ich war immer noch benommen von der Narkose und ausserdem kriegte ich zweimal den Schluckauf, was bei der Wundfläche im Mund nicht gerade angenehm war. Die Übelkeit wurde vom Blut im Magen verursacht, erklärten mir die Pfleger. Deshalb wurde der Magen ab und zu per Magensonde abgesaugt. Die grösste Gefahr im Moment war, dass ich erbrechen müsste: Die Erstickungsgefahr wäre mit dem verdrahteten geschlossenen Mund ziemlich hoch. Für diesen Fall hing oben an meinem Bett eine Drahtzange, mit der meine Mutter oder sonst wer die Drähte kappen müssten. Zum Glück musste ich mich nie übergeben. Am ersten post-operativen Tag, eben am 1. August, durfte ich versuchen, aufzustehen, um mich zu waschen. Ich schaffte es bis zum Waschbecken und konnte dort zwar sitzen – doch es ging nicht lange und ich fiel in Ohnmacht. Ich erwachte wieder in meinem Zimmer. Ich tastete mein Gesicht ab und bemerkte einen harten „Buckel“ unter dem linken Auge. Ich erschrak und konnte mir nicht erklären, was das sei. Als Dr. Lädrach dann zur Visite kam, fragte ich ihn. Er antwortete: „Ach das? Das wird wohl eine Schraube sein!“ Ich staunte nicht schlecht, als ich mein Röntgenbild betrachtete: Tatsächlich befanden sich eine Reihe von Schrauben und Platten in meinem Schädel. Ich erkannte auch die Schraube, die ich unter dem Auge spüre.

Abb.30: 17 Jahre alt, Kieferoperation. Freude nach dem ersten erfolgreichen Trinkversuch Die ersten paar Tage im Spital waren schlimm für mich. Meine Zunge fühlte sich sehr schlecht an, da ich ja den Mund nicht aufmachen konnte! Als ich bereit war, Medikamente nicht mehr bloss intravenös zu nehmen, kam eine Schwester mit einem Tablett, auf dem sich viele verschiedene Kapseln und Pillen befanden. Ich fragte sie dann (reden konnte ich

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einigermassen), wie sie es sich vorstelle, diese Tabletten durch die Drähte zu stopfen?! Das hatte sie vergessen, doch sie holte sofort einen Mörser und pulverisierte die Tabletten. Diese dann so durch die Drähte zu bringen, war sehr mühsam. Das Tablettenpulver schmeckte so widerlich bitter, dass mir jedes Mal schlecht wurde und die Hälfte des Pulvers blieb meist in den Drähten hängen. Ich kam mir vor wie ein extrem unfähiges Kleinkind, denn wegen den geschwollenen Lippen konnte ich kaum trinken, und ich sabberte und nervte mich ab allem. In den ersten schlimmen Tagen spielte ich ein paar mal mit dem Gedanken, mir alle lästigen Schläuche vom Leib zu reissen und aus dem Fenster zu springen. Doch auch diese Zeit ging vorüber, und der Tag kam, wo ich in eine andere Station gehen durfte, um mir dort die Drähte wegschneiden zu lassen. Im Nachhinein war ich froh, dass ich nie erbrechen musste, denn sogar die Fachleute brauchten etwa 10 Minuten, um die Drähte zu öffnen. Wenn es also schnell hätte gehen müssen, hätte es kritisch werden können. In dem Moment, als ich meinen Unterkiefer nach den langen 5 Tagen zum ersten Mal wieder bewegen konnte, und es nicht einmal weh tat, fühlte ich mich so frei und glücklich wie noch fast nie zuvor. Ich wäre Dr. Lädrach dort fast um den Hals gefallen, so erleichtert war ich. Mein Zustand verbesserte sich und als ich nach einer Woche im Spital nach Hause fahren durfte, war ich nicht einmal mehr auf Schmerzmittel angewiesen. Das Ergebnis war gut und über die Schwellung staunten die Pfleger, denn sie war Dank des Druckverbandes nach der Operation nicht so stark. Ich hatte also ein neues Gesicht und ein normales Profil. Daran musste ich mich eine Zeit lang gewöhnen. Ich hatte manchmal Probleme damit, weil ich nicht wusste, ob und von welchen Leuten ich jetzt anders behandelt wurde und so weiter. Dieser kleine Identitäts-komplex ging nach etwa einem halben Jahr vorbei. Mittlerweilen fühle ich mich gut und habe mich sehr gut an das neue Profil und die neue Bissqualität gewöhnt. Sogar die Zahnspange bin ich nach endlosen Jahren losgeworden! Jetzt steht nur noch die Nasenkorrektur an, doch davor fürchte ich mich nicht, denn sie wird bestimmt einen kleineren Umfang haben als die Kieferoperation. Ich bin froh, dass diese Korrekturen in der Schweiz möglich sind, auch wenn sie manche schlechte Erfahrung mit sich bringen. Auf die Dauer erkenne ich, dass mich diese Erfahrungen auch gestärkt haben.

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5.2. in Entwicklungsländern Die Situation der Spaltkinder in Entwicklungsländern sieht ganz anders aus als die in westlichen, sogenannt fortschrittlichen Ländern. In armen Ländern fehlt es an vielen verschiedenen Dingen wie an technischen Mitteln, modernen Kommunikationsmöglichkeiten und natürlich an Geld. Um einen Geburtsfehler zu behandeln, braucht es nicht nur ausgebildete Ärzte, sondern auch das Geld für die Maschinen, Werkzeuge und Apparate, die zur Behandlung gebraucht werden. Vielfach ist die Kommunikation schlecht: Manche Familien sind sich gar nicht bewusst, dass man Geburtsfehler wie Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten behandeln und operieren kann! Betroffene haben oft ein miserables Leben, denn auch das soziale Wissen der Bevölkerung fehlt. Viele meinen, solche Geburtsfehler seien eine Strafe und eine Schande für die Familie. Dadurch werden Spaltkinder oft ausgeschlossen oder sogar von der Familie versteckt gehalten. Viele Spaltkinder können wegen ihrem Geburtsfehler die Schule nicht besuchen, da sie dort nur ausgelacht werden. Diejenigen, die es doch können, haben es sicher nicht leicht. In Entwicklungsländern herrscht bei vielen Menschen noch der Glaube, dass diese Geburtsfehler selbstverschuldet seien. Es gibt auch viele abergläubische Ansichten, die besagen, dass zum Beispiel der Mond dafür verantwortlich war, wenn ein Kind mit einer LKG-Spalte zur Welt kam (siehe Kap.3.2. Geschichte der LKG). Spaltkinder kommen meist nicht in den Genuss einer Behandlung. So kommt es, dass es auch unoperierte Erwachsene gibt, die mit ihrer Fehlbildung zu leben gelernt haben. Hier eine kleine Geschichte, um dies darzustellen: Die Arztgehilfin meiner Kieferorthopädin, die täglich mit Spaltkindern zu tun hat, sass einst im Zug von Bern nach Thun. Da kam ein afrikanischer Mann und setzte sich ihr gegenüber. Er hatte eine Lippenspalte, die nicht operiert war, sie war also offen. Der Mann nahm seine Zigaretten aus der Tasche, steckte sich seelenruhig eine davon direkt in die Spalte und rauchte sie! Dieses Beispiel zeigt, dass sich Menschen sehr gut an ihre Fehlbildungen gewöhnen können. Wenn man es nie anders erlebt hat, kann man es sich gar nicht anders vorstellen. Es wäre aber noch viel besser, wenn dies gar nicht geschehen müsste, wenn alle die gleichen Chancen wie wir in den fortschrittlichen Ländern hätten. Einige Betroffene in Entwicklungsländern haben das Glück, sich einer Operation unterziehen zu dürfen. Doch das kann nur geschehen, wenn die Umstände es ermöglichen. Eine ursprünglich amerikanische Organisation hat es sich zum Ziel gemacht, diese Umstände in Entwicklungsländern zu verbessern. Sie schickt Ärzte-Teams in Entwicklungsländer. Dort richten sie mit mitgebrachten und lokalen Geräten und Werkzeugen eine Station in einem Spital ein, um während einiger Zeit Gesichtsfehlbildungen durch einen meist kurzen Eingriff zu korrigieren. Diese Organisation ist die „Operation Smile“.

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5.2.1. Die Organisation

„Operation Smile“ ist eine private, nicht-gewinnorientierte Organisation, die nur durch Spenden finanziert wird. Sie will Kindern und jungen Erwachsenen helfen, die medizinische Hilfe brauchen und sie aus meist finanziellen Gründen nicht erhalten. Die Organisation hat sich auf Gesichtsfehler spezialisiert, wie LKG einer ist. Daher kommt auch der Name „Operation Smile“. Das heisst auf Deutsch soviel wie „Operation Lachen“. Diese Organisation schickt Ärzte-Teams in Entwicklungsländer, um dort Spaltkindern eine Korrektur zu ermöglichen. Die Teams haben neben der Rekonstruktion von Gesichtsfehl-bildungen auch ein anderes wichtiges Ziel: Sie arbeiten mit lokalen Ärzten zusammen und bilden sie aus, damit diese später selbst helfen können, ohne ausländische Zusatzhilfe. „Operation Smile“ will den Kindern und auch ihren Familien einen besseren Lebensstandard verschaffen. Durch internationale Zusammenarbeit weckt die Organisation Vertrauen, verbindet Kulturen und sichert Menschenwürde. Die Organisation wurde 1982 von Dr. William P. Magee Jr., einem plastischen Chirurgen, und seiner Frau, Kathleen S. Magee, einer Krankenschwester und Sozialarbeiterin ge-gründet. Das Hauptquartier der „Operation Smile“ liegt in Norfolk, im US-Staat Virginia. Der erste Einsatz eines „Operation Smile“-Ärzte-Teams fand 1982 auf den Philippinen statt. Momentan unterstützt die „Operation Smile“ Einsätze in 21 Entwicklungsländern und es wurden schon zehntausende Kinder und Jugendliche operiert. Die Einsatz-Teams sind durch internationale Spendenfonds finanziert du werden von zahlreichen internationalen Program-men unterstützt. Für eine Korrekturoperation, die für ein Kind ein neues Leben bedeuten kann, braucht man etwa 45 Minuten und 750 US-Dollar. Das sogenannte „World Care Program“ der Organisation ermöglicht Patienten, die eine kompliziertere Operation brauchen, welche nicht vor Ort durchgeführt werden kann, eine Reise in die Vereinigten Staaten. Dort werden die Patienten dann operiert.

Detailliertere Infos über Die „Operation Smile“ und Daten für eine Spende findet man unter: http://www.operationsmile.org

Abb.31: Ein Kind schaut erstaunt in den Spiegel

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5.2.2. Schilderung von Fällen Die 18-jährige Vietnamesin Huynh Thi Dep (Text: Viet Nguyen, Mitglied „Operation Smile“, übersetzt von Sarah Zaugg)

Abb.32: Dep vor der Operation

Abb.33: Dep nach der Operation (Bild konnte nicht aufgestellt werden, da Qualität sich sofort extrem verschlechterte)

Ihr Name ist Huynh Thi Dep (Dep heisst auf vietnamesisch „schön“). Dep’s Mutter starb, als sie noch ein kleines Kind war. Nun lebt sie alleine mit ihrem Vater. Der Vater schlägt sie oft und belästigt sie verbal. Dep trägt jeden Tag und auch in der Nacht mit zwei Gefässen auf den Schultern Wasser zu Leuten in ihrem Dorf, um 20 Cents pro Tag zu verdienen. Nur so kann sie ihrem Vater und ihr selbst etwas zu Essen kaufen. Es ist schwierig für sie, auf diesem Weg Geld zu verdienen, denn sie hat eine breite Lippenspalte in ihrem schönen Gesicht. Sie kann nicht zur Schule gehen, da sie dort nur ausgelacht wird. Wenn Leute sie sehen, reagieren sie oft mit Angst. Dep merkt dies natürlich, deshalb vermeidet sie den meisten Kontakt zu anderen Menschen. Sie ging zum Spital, weil sie gehört hatte, dass dort Menschen waren, die ihr helfen konnten, die ihr Hoffnung und Würde geben und ihr Leben verändern könnten. Dies war die „Operation Smile Vietnam“. Das Team war zur Stelle, bereit um zu helfen. Dep ging mit viel Zuversicht ins Untersuchungsareal. Doch das änderte sich, als sie sah, dass viele andere kleine Kinder, die viel jünger waren als sie selbst, ähnliche Probleme hatten wie sie: Lippenspalten, Gaumenspalten und auch Verbrennungen. Sie waren dort, mit grossen, weit geöffneten schönen aber traurigen Augen, und manche waren von ihren Eltern oder Grosseltern begleitet. Einige hatten wegen dem grossen Andrang sogar die Nacht auf dem schmutzigen Grad vor dem Untersuchungsareal verbracht. Alle versuchten, in die vorderste Reihe zu gelangen. Dep zögerte kurz, doch dann stelle sie sich zu den anderen Kindern in die Schlange. Dr. Phuong untersuchte sie schlussendlich und wählte sie für die letzte Operation aus. Ihre Nummer war 189. Die Operation verlief sehr gut. Sie dauerte bloss 35 Minuten. Wir waren alle dort, die lokalen Ärzte und die der „Operation Smile“, still und voller Emotionen. Ihr frischoperiertes Gesicht war nun abgedeckt. Wir alle sahen neue, schöne und korrigierte Lippen, die die breite Spalte in ihrem Gesicht ersetzt hatten. Sie schlief, aber wir wussten, dass sie glücklich war.

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Am nächsten Morgen gingen wir ins Zimmer der Frischoperierten, um Dep zu besuchen. Sie sass am Bettrand und schaute in einen Spiegel. Wir fragten sie: „Was willst du jetzt tun?“ Sie antwortete mit überwältigter Stimme, während ihr Tränen über die Wangen liefen: „Ich will heiraten.“ In dem Moment wussten wir, dass wir ihr nicht bloss eine kosmetische Operation gegeben hatten, sondern auch Hoffnung auf ein neues Leben. Sie wird ein normales Leben mit Würde haben und einem schönen Gesicht, das ihrem Namen Ehre macht, den sie für die ersten schwierigen 18 Jahren ihres Lebens gehabt hatte. Brigid Nanjala’s Geschichte (Text: Wanjiku Njenga, Mitglied „Operation Smile“, übersetzt von Sarah Zaugg)

Abb.34: Brigid vor der Operation Abb.35: Brigid nach der Operation Brigid Nanjala wurde mit einer Lippenspalte in Kaptirit, einem kleinen Dorf im Westen Kenya’s geboren. Ihre Eltern wussten nicht, dass es möglich war, Brigid’s Lippe zu korri-gieren. Als sie 13 Jahre alt war, erzählte der Nachbar der Familie, Joseph Zewedi, dass sich im Moment „Operation Smile“-Ärzte in Nakuru befinden würden. Nakuru liegt aber gut 200km von ihrem Dorf entfernt. Wie auch immer – ihre Eltern hatten nicht genug Geld für die Busfahrt ins Spital. Joseph startete eine Sammelaktion im Dorf, um das Geld für eine Busfahrt nach Nakuru, welche umgerechnet ca. 3,5 US-Dollar kostete, zusammenzubringen. Drei Jahre später gab ihre Mutter zu, dass sie nie glaubte, dass Brigid’s Lippe durch diese Organisation repariert werden würde. Die Kinder in Brigid’s Dorf behandeln sie nun, als hätte sie etwas Magisches an sich. Sie hat mehr Freunde als je zuvor!

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6. Zusammenfassung Meine Leitfrage, die ich mir am Anfang stellte, um mein Ziel zu definieren, lautet: Wie sieht das Phänomen der Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten aus und wie verschieden ist diesbezüglich die Situation in Entwicklungs- und westlichen Ländern? Ich informierte mich mittels Fachbüchern über diesen Geburtsfehler, und eignete mir so einiges an neuem (medizinischen) Wissen an. Ich fand es interessant, zu erfahren, wie viele Gebiete der Medizin dieses Thema berührt. Für die Behandlung dieses Gesichtsfehlers ist nicht nur die Kieferorthopädie und die Chirurgie zuständig. Nötig sind für Betroffene auch Besuche beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, bei einer Logopädin und je nach Fall bei anderen Spezialisten. Die Korrektur dieses Geburtsfehlers mit allen nötigen Behandlungsschritten ist spannend. Es ist eigentlich ein Wunder, dass die Medizin es geschafft hat, Neugeborene mit auch noch so breiten LKG-Spalten nach der langen Behandlung „normal“ aussehen zu lassen. Es gibt noch mehrere unerforschte Dinge, die von der Wissenschaft bis heute unerklärt geblieben sind. Ein Beispiel dafür sind die Ursachen für diesen Geburtsfehler: Abgesehen von den erblich bedingten Fällen ist es ziemlich unklar, weshalb manche Kinder mit einer solchen Fehlbildung geboren werden und manche nicht. Der zweite Teil meiner Arbeit widmete ich einem anderen Thema: Ich untersuchte die Lage der Betroffenen in Entwicklungsländern, die meist nicht gerade die beste ist. Die Umstände dort sind meist katastrophal. Es fehlt vor allem am Geld, das für die Behandlung nötig wäre. Es gibt auch in Entwicklungsländern gute und ausgebildete Ärzte, doch wenn die technischen Mittel fehlen, nützt auch dies nichts. Ich knüpfte einige Kontakte mit Mitgliedern der Organisation „Operation Smile“, die das Ziel hat, den Betroffenen in Entwicklungsländern zu helfen, indem sie Ärzte-Teams in lokale Spitäler schicken, die dann dort Lippenspalten und andere Gesichtsfehlbildungen korrigieren. Gleichzeitig bilden sie dort auch lokale Ärzte aus, damit diese die Arbeit weiterführen können. In westlichen Ländern kann man sich solchen Geburtsfehlern sehr ausgiebig annehmen, doch Betroffene in Entwicklungsländern kommen meist zu kurz. Wenn sie Glück haben, dürfen sie sich einer Operation unterziehen, doch diese ist meist die einzige. Es gibt also keine Möglichkeit, schlecht operierte Lippen zu korrigieren oder Kieferfehlhaltungen richtigzustellen. Auch im sozialen Bereich bestehen immense Unterschiede. Während hier in den „fortschrittlichen“ Ländern die Spaltträger keine wirklichen Aussenseiter mehr sind, so werden Spaltträger in Entwicklungsländern sehr häufig ausgestossen. Die Ansichten, dass der Geburtsfehler eine Strafe sei, ist immer noch weit verbreitet. Wegen dieser Schande finden sich Spaltträger dort in der Gesellschaft nicht zurecht, sie haben viel schlechtere Arbeitschancen und sind sozial schlecht integriert. Wie aber den Geschichten von Brigid aus Kenya und Dep aus Vietnam (Kap.5.2.2. Schilderung von Fällen) zu entnehmen ist, kann eine einzige Operation ein komplett neues Leben bedeuten. Brigid wird seit der Lippenkorrektur fast wie eine Heilige behandelt, und Dep kann sich auch auf ein besseres Leben freuen. Es wäre sehr interessant, ein Ärzte-Team in ein Entwicklungsland zu begleiten, denn so würde man sicher noch viel mehr über die Situation dort erfahren. In Bezug auf dieses Thema sehe ich noch sehr viele Bereiche, die viel ausgiebiger behandelt werden sollten, doch ich denke, dazu finde ich vielleicht später die Zeit!

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7. Nachwort Am Schluss dieser Arbeit angelangt, möchte ich noch ein paar Dinge erwähnen. Ich bin froh, dass ich ein für mich sehr interessantes Thema ausgewählt habe, denn beim arbeiten wurde mir so nie langweilig. Es war auch gut, dass ich meine Geschichte in die Arbeit integriert habe, denn auf diese Weise habe ich nun die wichtigsten Ereignisse und Begebenheiten aus meinem Leben in Bezug auf den Geburtsfehler zusammengefasst und dargestellt. Der theoretische Teil meiner Arbeit ist schlussendlich grösser geworden, als ich gedacht hatte und deshalb nimmt er jetzt auch in der Arbeit viel Platz ein, was mich aber gar nicht stört! Mein medizinisches Wissen war am Anfang so gut wie nicht vorhanden, doch jetzt habe ich mir mit Hilfe eines medizinischen Lexikons einige neue Ausdrücke verständlich gemacht. Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten sind als Untersuchungsgegenstand sehr interessant. Die Thematik ist sehr vielfältig: Um darüber etwas zu erfahren, muss man sich in der Logopädie, Chirurgie, Kieferorthopädie und vielen anderen Bereichen Wissen aneignen. Auch der psychologisch-therapeutische Aspekt ist sehr wichtig und interessant, doch um den in meiner Arbeit zu berücksichtigen, hätte ich mehr Zeit und Platz gebraucht. Das Bearbeiten dieses Themas hat mir Spass gemacht und ich hoffe, dass das Lesen dieser Arbeit das Interesse einiger Menschen geweckt hat.

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8. Quellenverweis und Abbildungsverzeichnis Quellen:

• Andrä, Professor Dr. Dr. med. Dr. h.c. Armin/Neumann, Professor Dr. Dr. med. Hans-Joachim:

Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten. Entstehung . Klinik . Behandlungskonzepte. 1. Auflage. Reinbek: Einhorn-Presse Verlag, 1996 • Kaiser, Prof. Dr. med. G./Thüer, PD Dr. med. dent. Urs/Scheurer, Dr. med. dent. Ph.: Informationsschrift für Eltern: Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Von der Geburt bis zum 5. Lebensjahr. 3. rev. Auflage. Bern: Eigenverlag der Autoren, 2000 • Hoffmann-La-Roche AG/Urban & Schwarzenberg: Roche Lexikon: Medizin. 2., neubearbeitete Auflage. München, Wien: Verlag Urban & Schwarzenberg, 1984/1987 • Bettex, Professor Dr. med. Marcel/Kuffer, Privat-Dozent Dr. med. François/Schärli,

Privat-Dozent Dr. med. Alois: Wesentliches über Kinderchirurgie. 1. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber Bern, 1975 • Zaugg, Christa: handgeschriebenes „Erinnerungsbuch“, 1985 - 2002 • „Operation Smile“, http://www.operationsmile.org

Abbildungsverzeichnis:

• Abbildungen 1, 19, 20, 21, 22, 23, 30: Photos aus dem Photoalbum Sarah Zaugg

• Abbildungen 2, 3, 8, 9, 10, 12, 16 aus: Informationsschrift für Eltern: Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Autoren: Kaiser/Thüer/Scheurer (siehe oben)

• Abbildungen 4, 5, 6, 7, 11, 13, 14, 15 aus: Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten.

Entstehung . Klinik . Behandlungskonzepte. Autoren: Andrä/Neumann (siehe oben)

• Abbildungen 17, 18: Operation Smile, „Photo Gallery: Before and After Smiles“, http://www.operationsmile.org/photogallery/basmiles.html

• Abbildungen 24, 25: Protokollblatt einer Spaltensprechstunde von Sarah Zaugg

• Abbildungen 26, 27: Kärtchen, gezeichnet von Christa Zaugg

• Abbildungen 28, 29: Photos: Sarah Zaugg.

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• Abbildung 31: Operation Smile, „Mission Schedule“,

http://www.operationsmile.org/international/missionschedule.html

• Abbildungen 32, 33: aus einer E-Mail von Viet Nguyen („Operation Smile“ Vietnam)

• Abbildungen 34, 35: aus einer E-Mail von Wanjiku Njenga („Operation Smile“ Kenya)

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