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296 Lise Meitner an Otto Hahn Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924 Sabine Ernst Zum fiinfundzwanzigsten Todestag der bedeutenden Physikerin ange wurde die Phy- sikerin Lise Meitner lediglich als Jangjahrige Mitarbeiterin" oder gar als ,,Assistentin" Otto Hahns angesehen. Erst in jungster Zeit werden ihre wissen- 5chaftlichen Lcistungen, die von ihrcn Zeitgenossen durchaus anerkannt waren, er- neut gewurdigt, wobei das Hauptinteresse ihrer Rolle bei der Entdeckung der Kernspal- tung gilt. Vor gut mhn Jahren sind Briefe Lise Meitners an Otto Hahn aus den Jahren 1912 bis 1924 wieder aufgefunden worden [I], die nun auch die Betrachtung ihrer Anfangszeit im Kaiser-Wil- helm-Institut fur Chemie in Berlin ermoglichen [2]. In diese Zeit fallt in beruflicher Hinsicht die groflte Ent- wicklung Lise Meitners, so dafl die Briefe einen guteii Einblick in ihren wissenschaftlichen Werdegang gcben, der wegen der Kriegsumstande und der herrschenden Vorurteile L L rinnen, Osterreicher una juueri UIILCI CI- Chemie in unseuw Zeit / 27. Jahrg. 1993 /Nu. 6 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1993 0009-28J1/93/0612-0296 $ j.00 + .2j/O

Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924

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Lise Meitner an Otto Hahn Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924

Sabine Ernst

Zum fiinfundzwanzigsten Todestag der bedeutenden Physikerin

ange wurde die Phy- sikerin Lise Meitner

lediglich als Jangjahrige Mitarbeiterin" oder gar als ,,Assistentin" Otto Hahns angesehen. Erst in jungster Zeit werden ihre wissen- 5chaftlichen Lcistungen, die von ihrcn Zeitgenossen durchaus anerkannt waren, er- neut gewurdigt, wobei das Hauptinteresse ihrer Rolle bei der Entdeckung der Kernspal- tung gilt. Vor gut mhn Jahren sind Briefe Lise Meitners an Otto Hahn aus den Jahren 1912 bis 1924 wieder aufgefunden worden [I], die nun auch die Betrachtung ihrer Anfangszeit im Kaiser-Wil- helm-Institut fur Chemie in Berlin ermoglichen [2]. In diese Zeit fallt in beruflicher Hinsicht die groflte Ent- wicklung Lise Meitners, so dafl die Briefe einen guteii Einblick in ihren wissenschaftlichen Werdegang gcben, der wegen der Kriegsumstande und der herrschenden Vorurteile

L

L rinnen, Osterreicher una juueri UIILCI C I -

Chemie in unseuw Zeit / 27. Jahrg. 1993 /Nu. 6 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 69469 Weinheim, 1993 0009-28J1/93/0612-0296 $ j.00 + .2j/O

Meitner-Hahn-Briefe 297

In Berlin vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Als Lise Meitner im Herbst 1907 nach Berlin kam, waren Frauen in Preui3en noch nicht zum Universitatsstudium zugelassen, und obwohl Max Planck mit seiner konservativen Haltung das Frauenstudium nicht unbedingt unterstiitzte, liei3 er Lise Meitner doch an sei- nen Lehrveranstaltungen teilnehmen. Funf Jahre spater machte er sie sogar zu seiner As- sistentin; damit war sie der erste weibliche Universitatsassistent in Preui3en.

Weil sie - wie zuvor in Wien - auch experi- mentell arbeiten wollte, erkundigte sie sich bei dem Leiter des Berliner Instituts fur Experi- mentalphysik, Heinrich Rubens (1 865-1 922), nach einem Laborplatz in dessen Institut. Dieser vermittelte ihr die Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Hahn. Hahn arbei- tete seinerzeit am Chemischen Institut der Berliner Universitat an radiochemischen Pro- blemen und hatte sich an Rubens gewandt, weil er zur Unterstutzung seiner Arbeiten ei- nen Physiker suchte, der Erfahrung auf dem Gebiet der Radioaktivitatsforschung besitzen sollte. So begann am 28. September 1907 die mehr als dreii3igjahrige Zusammenarbeit von Lise Meitner und Otto Hahn.

Frauen wurden in Preui3en erst im Jahre 1909 zum Universitatsstudium zugelassen; im ubrigen Deutschland konnten sie bereits seit 1896 Abitur machen und seit 1900 studieren. Aus diesem Grunde durfte Lise Meitner bis 1909 das eigentliche Chemische Institut nicht betreten. Emil Fischer (1852-1919), der Insti- tutsleiter, hatte Hahn fur seine Arbeiten einen ehemals als Holzwerkstatt geplanten Raum zur Verfugung gestellt. Da dieser Raum im Souterrain uber einen separaten Eingang vom Innenhof aus zu erreichen war, gestattete Fi- scher, dai3 Lise Meitner dort mit Hahn zu- sammenarbeitete. Erst als 1909 den Frauen auch in Preui3en das Universitatsstudium er- laubt wurde, durfte sich Lise Meitner schliei3- lich im gesamten Institut aufhalten. Abgese- hen von diesen Beschrankungen, die Lise Meitner zunachst erdulden mufite, wurden Hahn und Meitner von Emil Fischer sehr ge- fordert. Seinem EinfluB ist auch zu verdan- ken, dai3 in dem 1912 in Berlin-Dahlem eroff- neten Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) fur Chemie eine kleine Abteilung fur Radioakti- vitat fur Otto Hahn eingerichtet wurde, und auch nach dem Weggang Hahns und Meitners an das KWI blieb ihnen die Forderung durch Emil Fischer erhalten.

Lise Meitner und Otto Hahn im Chemi- schen Institut der Universitat Berlin (ca. 1912).

In den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges etablierte sich Lise Meitner auf dem Gebiet der Radioaktivitat. Gemeinsam mit Otto Hahn befaate sie sich mit der Ab- sorption von P-Strahlen verschiedener Radio- elemente. Diesen Arbeiten lag die Hypothese zugrunde, dai3 einheitliche Substanzen eine homogene P-Strahlung besaflen und die Ab- sorption ihrer Strahlung nach einem Expo- nentialgesetz erfolgte. Zwar erwies sich diese Annahme spater als falsch, doch fuhrte die Arbeit zur Entdeckung einiger neuer Radio- elemente und zur Entwicklung neuer Herstel- lungsmethoden fur radioaktive Substanzen. Schon im Jahre 1909 wurden die Namen Hahn und Meitner durch die Entdeckung von Actinium C (spater Actinium C", heute Thallium 207) und durch die von ihnen ent- wickelte Methode des radioaktiven Ruck- stoi3es zu einem Begriff fur die Fachwelt.

Ab 1910 widmeten sich Hahn und Meitner gemeinsam mit dem Physiker Otto von Baeyer (1877-1946) der magnetischen Ablen- kung der P-Strahlen. Die Ablenkung wurde auf photographischen Platten ausgemessen und aus dem Kriimmungsradius der P-Strah- lenbahn und der Starke des verwendeten Ma- gnetfeldes die relative Geschwindigkeit der p- Strahlen festgestellt. Bis zum Jahre 1915 hat- ten sie auf diese Weise die Geschwindigkeiten der P-Strahlen fast aller Radioelemente be- stimmt. Ernest Rutherford (1871-1937), da- mals der fuhrende Radioaktivitatsforscher, wurdigte schon im Jahre 1913 in einem seiner Lehrbucher die Arbeiten von Baeyer, Hahn und Meitner.

Lise Meitner konnte in dieser Zeit ihre Stel- lung unter den Naturwissenschaftlern festi- gen und ausbauen. Schon im Dezember 1907 wurde sie auf Vorschlag von Erich Ladenburg (1878-1908) in die Deutsche Physikalische Gesellschaft aufgenommen. In den ersten Jah- ren ihrer Mitgliedschaft in der Gesellschaft wurde sie im Mitgliederverzeichnis allerdings ohne Titel als ,,FrI. Lise Meitner" aufgefuhrt, da sie erst am 18. November 1912 vom Preui3ischen Minister der geistlichen und Un- terrichtsangelegenheiten die Erlaubnis erhielt, ihren an der Universitat Wien erworbenen Doktortitel ausnahmsweise auch in Preui3en zu fuhren.

Im Fruhjahr 1913 zogen Hahn und Meitner in das neu errichtete Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie. Welchen Status Lise Meitner an- fanglich am Institut besai3, ist nicht mehr ein- deutig festzustellen. Wahrscheinlich arbeitete sie dort zunachst wie bei 0. Hahn am Che- mischen Institut als unbezahlter Gast. Durch ihre Assistentenstelle bei Max Planck war sie finanziell abgesichert. Kurze Zeit spater er- hielt Lise Meitner von Anton Lampa (1868- 1938), dem damaligen Vorstand des Physika- lischen Instituts der Deutschen Universitat Prag, das Angebot einer Dozentur mit der Aussicht auf eine spatere Professur. Im Okto- ber 1913 wurde von Emil Fischer, dem Vor- standsmitglied des ,,Vereins zur Forderung chemischer Forschung" (Tragerverein des KWI fur Chemie), moglicherweise als Reak- tion auf das Angebot der Prager Universitat, beantragt, ,,dai3 aui3erhalb des Etats ein Jah- resgehdt auf 4 Jahre ab 1.10.1913 bewilligt werde fur Frl. Dr. L. Meitner, die in der Ab- teilung des Herrn Professor Hahn selbstandig uber radioaktive Substanzen arbeitet". Etwa ein halbes Jahr spater genehmigte der Verwal- tungsausschui3 des Kaiser-Wilhelm-Instituts Lise Meitner, den Titel ,,Derzeitiges Mitglied" zu fuhren. Damit war sie die erste Frau im wissenschaftlichen Dienst der Kaiser-Wil- helm-Gesellschaft.

Erster Weltkrieg

Otto Hahn wurde sofort mit Kriegsbeginn einberufen und konnte sich zunachst nur wahrend kurzer Urlaube mit wissenschaftli- chen Arbeiten befassen, so dai3 Lise Meitner die gemeinsamen Untersuchungen am Kaiser- Wilhelm-Institut fur Chemie uberwiegend al- lein fortsetzen muflte. Auch offizielle Angele- genheiten der Abteilung fur Radioaktivitat wie Personal-, Etat- und andere organisatori- sche Fragen regelte sie in dieser Zeit in Ab-

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sprachc mit Hahn und hatte dabei cinige Jlankelcicn zu bestehen" [4].

Lazarettatigkeit

Nach Absolvierung eines Rontgenlehrganges und cines Anatomiekurses meldete sich Lise Meitner im Sommer 1915 in Wien als freiwil- lige Kontgenschwester. Sie wurde ab August 1915 im k. u. k. Rescrvespital Nr. 1 im Po- lytcchnikum von Lemberg (damals Haupt- stadt des osterreichischcn Reichsteils Gali- zien) eingesetzt und richtete hier im ersten Monat ein Rontgenlaboratorium ein, das sic ctwa ein halbes Jahr lang selbstandig leitete. Wenn nur wenig Rontgenaufnahmen zu ina- chen waren, half sie im Operationssaal und arbeitete zeitweise sogar als Narkoseschwe- ster. Dank ihrcr radiologischen Vorkenntnisse war es Lise Meitner moglich, sich schnell in die medizinische Materic einzuarbeiten. Bei ihrem Ausscheiden wurde ihr vom dortigen Oberstabsarzt und Chefchirurgen Prof. Dr. Otto Zuckerkandl (1861-1921) bestatigt, dai3 sic radiologische Aufnahmen, Durchleuch- tungcn und Fremdkorperbestimmungen, so- wcit sie kriegschirurgische Falle betreffen, in ausgezeichneter Weise beherrsche. Sie war im Spital anstelle eines Mediziners eingestellt und in den Papieren des Kriegsministeriums als ,,Radiologin" gefuhrt worden.

Uber ihre ersten Monate in Lcmberg berich- tctc Lise Meitner sehr eindrucksvoll in den Briefen an Otto Hahn: Das Spital ware zeit- weise mit 6000 bis 7000 Verwundeten belegt, denn Lemberg lage noch im engeren Kriegs- gebiet. Sie ware den ganzen Tag iiber einge- spmnt und hatte nur wenig Zeit, sich Gedan- ken iiber ihre wissenschaftliche Arbeit zu machen [51:

,, Ob ich Herrn Prot Berliner das verlangte Referat schicken werde, we$ ich noch nicht. Ich habe so total an die Physik vergessen, dajl ich mich recht lange besinnen miifire, um zu nissen, was in meiner Arbeit steht - und viel Zeit zum Besinnen hat man bier wirklich nicht. Sie konnten mir aber doch gelegentlich erzahlen, ob und was es Neues in der Physik gibt, ich bin bier so ziemlich auJ3erhalb aller Welt.

Mein Rontgenzimmer ist jetzt endlich be- triebsfahig, aber ich babe da nicht allzu viel zu tun und heye daher noch weiter im Ope- rationssaal. Wir behalten ja bier nur Verwun- dete, die nicht transportfabig sind. Das sind zumeist solche mit schweren Frakturen,

Rrust- und Kopfchiissen, und es werden natiirlich nur Steckschiisse oder zweqelhafte interne Falle rontgenisiert. Frakturen lassen sich mit absoluter Sicherheit auch ohne Ront- gen bild feststellen. Unser Spitalskommandant ist ein glanzender Chirurg und vergij3t auch iiber dem ,interessantesten Fall' nicht das rein Menschliche. Aber rnan kriegt auch Dinge zu sehen, die man wohl sein Lebtag nicht wieder verggt. ''

,,Von meiner Art Leben konnen Sie sich schwer eine Vorstellung machen. Dab es eine Physik gibt, daj3 ich selbst einmalphysikalisch gearbeitet babe oder wieder arbeiten werde, liegt mir so ferne, als ob es nie war und nie- mals wieder sein konnte. Abends wenn ich im Bett liege und nicht gleich schlafen kann, dann kriege ich wohl manchmal so leise physi- kalische Heimwehgedanken, tagsiiber aber denke ich nur an meine Kranken. Ich babe schon iiber 200 Rontgenaufnahmen gemacht, aber ich babe daneben doch ma1 Zeit, die ich beniitze, um im Operationssaal zu helfen. Der Dienst ist jetzt gar nicht anstrengend, wir hatten in der letzten Zeit sehr wenig Trans- porte, und das angenehme an meiner Art von Beschaftigung ist, dajl sie nicht so rein mecha- nisch ist, daj3 rnan dariiber das personliche Moment den Verwundeten gegeniiber verges- sen mu&. Man hat so immer die Moglich- keit, kleine Wiinsche zu erfiillen oder sich des einen oder andern, der besonders schwer krank ist, auch besonders anzunehmen. Die Dankbarkeit, die die Leute dafur empfinden und zeigen, hat f u r mich immer etwas Be- schamendes. Die armen Menschen leiden oft so schrecklich, und man kann ihnen nicht hel- fen. ''

Wahrend der Zeit ihrer Tatigkeit in Lemberg taucht in den Briefen Lise Meitners zwar hin und wieder der Gedanke an ihre wissen- schaftlichen Arbeiten auf, jedoch ubenvog fur sie zunachst die Spitalsarbeit, so da13 ,,physikalische Heimwehgedanken" sie nur selten uberfielcn. Doch als es wegen der Verla- gerung der Front nicht mehr viel Arbeit fur sie gab, fuhlte sich Lise Meitner durch ihre Tatigkeit in Lemberg nicht mehr ausgelastet. Sic hatte oft das Gefuhl, ihre Zeit zu ver- schwenden, so dafl ihre Liebe zur wissen- schaftlichen Arbeit bald wieder durchbrach und sie den starken Wunsch verspurte, diese wieder aufzunehmen. Ende Februar verliefl sie das Spital, zunachst aber, um sich an die Sudfront versetzen zu lassen, weil sie vermu- tete, dai3 es dort mehr Arbeit fur sie gabe. Ihr Gesuch hatte jedoch erst im Juni 1916 Erfolg,

und sie wurde in das Sanitatsfelddepot Nr. 11 in Trient abgesandt. Ende Juni wurdc sie dann nach Prag abkomniandiert, wo sie eini- ge Wochen in dcr tschechischen Klinik Karo- linenthal arbeitetc, doch abcrmals ihre Ver- setzung verlangte, weil in ihrer Gegenwart alle Kollegen tschechisch gesprochen hatten, obgleich die offiziclle Sprache deutsch gewe- sen sei und die Kollegen die dcutsche Sprache bcherrschtcn. Anweisungen, die ihr galten, wurden dem Rontgendiener auf tschechisch mitgcteilt. Als Grund fur diese Bchandlung vcrmutete sie, dafl die Arztc ihre Konkurrenz furchteten. Da ihre Situation durch dieses Konkurrenzdenken sehr erschwert wurde und sie sich zudem immer unnutzer vorkam, reifte ihr Entschlufl, nach Berlin zuruckzu- kehren. Sie war zunachst noch kurze Zeit im Reservespital Nr. 7 in Lublin tatig, nahm aber ini Oktober 1916 die Arbeit im Kaiser-Wil- helm-Institut fur Chemie wieder auf.

Zuriick in Berlin

Im Institut fand sie sehr veranderte Arbeits- bedingungen vor. Zunaclist bereitete es ihr Schwierigkeiten, sich von der Spitalstatigkeit wiedcr auf die Forschungsarbeit umzustellen; sie sei ,,am jedem physikalischen Denken heraus" [6]. Auflerdem befand sich das Insti- tut wegen personeller Veranderungen und we- gen Neubelegung der Raumlichkeiten gerade in einer Umbruchphase. Im Marz 1916 war Richard Willstatter (1 872-1 942), der Leiter der Abteilung fur Organische Chemie des In- stituts, einem Ruf nach Munchen gefolgt, und seit Mai 1916 benutzte die Versuchsabteilung des Luftbildkommandos der Fliegcr- und Luftbildtruppen seine Kaume. Schliefllich wurden die Raume auch vom Institut fur Physikalische Chemie und Elcktrochemie (unter Fritz Haber [1868-1934]), das sich mit militarischer Forschung beschaftigte, bean- sprucht. Aus den Briefen Lise Mcitners spricht im Oktober 1916 noch eine grofle Wertschatzung fur Fritz Haber und seine Ar- beiten. Sie schatzte Habers Leistungen so hoch ein, dafl sic ein Angebot, in seinem In- stitut zu arbeiten, ablehnte, weil sie sich dafur nicht fur qualifizicrt genug hielt. Obgleich sie durch einen Mitarbeiter des Haberschen In- stituts erfahren hatte, um welche Art von Ar- beit es sich handeln sollte, erklarte sie diese in ihrem Brief nicht naher; offensichtlich fuhrte jedoch nicht deren militarischer Charakter zu ihrer Ablehnung [6]:

. .

,, Ubrigens bat sich dar Haber'sche Institut auch bereits an mich herangemacht. Vor ein

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paar Tagen erschien Dr. Metzener, um, wie er sagte, im Auftrage von Kerschbaum anzufra- gen, ob ich nicht bei ihnen arbeiten mochte. Er sagte mir auch, um welche Art Arbeit es szch handeln wiirde, und teilte mir als beson- dere Verlockung rnit, daj3 ich fur meine Arbeit Gehalt bekame. Er dachte namlich, dab ich bier - sagen wir - von meinen Renten lebe. Sie werden sich wohl nicht besonders wun- dern, wenn ich Ihnen erzahle, daJ3 ich abge- lehnt babe. Das Haber'sche Institut ist so hoch erhaben iiber meine Wenigkeit, daJ3 ich, von diesem Bewuptsein erdriickt, selbst mein bisl Konnen ihnen nicht nutzbar machen konnte. Ich hoffe, dab der Lowe nicht seine Tatze auch auf unsere bescheidene Abteilung legen wird, besonders, da duper unserm Pri- vatlabor ja nur physikalisch eingerichtete Zimmer ohne Abzug, also zu den in Frage kommenden chemischen Arbeiten kaum brauchbar, vorhanden sind. Wenn man mich also nicht hindert, werde ich zu arbeiten ver- suchen. ''

Doch bald darauf hatte die Belegung der In- stitutsraume durch das Habersche Institut starke Auswirkungen auch auf Lise Meitners eigene Arbeit. Sie mufite befurchten, Haber und seine Mitarbeiter wurden sich so weit ausbreiten, dai3 sie auch die Raume der Abtei- lung fur Radioaktivitat beanspruchten. Hier befanden sich festinstallierte Mefiapparaturen fur seit Jahren laufende Versuche, und Lise Meitner furchtete um ihre Ergebnisse. Es kam zu harten, aber, wie sie betonte, immer rein sachlichen Auseinandersetzungen zwischen Fritz Haber, Ernst Beckmann (1853-1923), dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts fur Chemie, Beckmanns Oberassistenten Otto Liesche (1878-1931) und ihr. Sehr ein- gehend schilderte sie im November 1916 Otto Hahn die Atmosphare im Institut wahrend dieser Verhandlungszeit [7]:

,,Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daj3 Beckmann jeden Tag widerruft, was er den Tag vorher abgemacht hat und unser Institut in ein recht schiefes Licht bringt [...I. Ich bin manchmal recht verdriefilich iiber diese Din- ge. Die Haberleute behandeln uns natiirlich wie erobertes Gebiet; man nimmt nicht, was man braucht, sondern was Einem g&&. Ich war ja von vorneherein bereit, den linken Flugel herzugeben, obwohl ich nicht begreife, was das Haber'sche Institut mit photographi- schen und optischen Raumen, die keinerlei Einrichtung furs chemische Arbeiten, nicht einmal einen Abzug haben, anfangen wollen. Aber wer garantiert mir, daj3 sie nicht auch

heriiber wollen, und dann wurde wirklich al- les bier bin gemacht. Ich werde natiirlich alles tun, um das zu verhindern, wir haben doch jahrelange Messungen bier im Gang, und Beckmann versicherte mir auch, der rechte Flugel wiirde nicht angetastet werden. Das steht auch in dem vorlaufigen Vertragsent- wuri aber im Kriege gelten wohl Vertrage nicht viel. Ich begreife j a wohl, daj3 die Leute Platz brauchen und unbeniitzten Platz rnit Recht beanspruchen. Aber sie tun eben noch was driiber und haben recht viel Siegeriiber- muth. I;../ Man spricht so viel von der Grope der jetzigen Zeit, und ich sehe bier nichts wie Kleinlichkeiten. Mitten in den schrecklichsten Kriegsarbeiten finden die Menschen Zeit und Lust, ihre personlichen kleinen Eitelkeiten und Bosheiten zu befriedigen. ''

Ihre Arbeit sei ,,so eine Art Hindertlisren- nen" [7]. Wegen der endlosen, ihr sehr peinli- chen Debatten wunschte sie sich [7]: .Ich wollte, ich konnte mich verkriechen und brauchte nichts zu sehen und zu horen. "

Ein Jahr spater wurde sie dann mit der Ein- richtung und Leitung einer eigenen physika- lisch-radioaktiven Abteilung am Kaiser-Wil- helm-Institut fur Chemie betraut. Als Abtei- lungsleiterin konnte Lise Meitner nun die Ubernahme ihrer Raume durch die Mitarbei- ter des Kaiser-Wilhelm-Instituts fur Physika- lische Chemie und Elektrochemie verhindern und sich den Untersuchungen, die im Jahre 1917 zur Entdeckung des Protactiniums fiihrten, widmen.

Die Entdeckung der Protactiniums [8]

Die a d e r e n Arbeitsbedingungen fur Hahn und Meitner hatten sich mit ihrem Umzug vom Chemischen Institut der Universitat in das ini Oktober 1912 eingerichtete und 1913 von ihnen bezogene Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie entscheidend verbessert. Ihr altes Labor war bereits radioaktiv kontaminiert, so dafi Messungen an schwach radioaktiven Substanzen nicht mehr durchfuhrbar gewe- sen waren. Im neuen KWI waren jetzt sehr viel prazisere Messungen von schwachen Ak- tivitaten moglich. Eine Kontaminierung der neuen Raume wurde durch strenge Sicher- heitsmafinahmen, fur deren Einhaltung sich Lise Meitner besonders einsetzte, verhindert. Auflerdem konnten die improvisierten Appa- raturen aus dem Chemischen Institut der Universitat jetzt durch gekaufte oder in der Werkstatt des Kaiser-Wilhelm-Instituts fach- mannisch hergestellte Gerate ersetzt werden.

Auch die innerwissenschaftlichen Vorausset- zungen fur die Entdeckung des Protacti- niums waren mit der Aufstellung der Ver- schiebungssatze durch Frederick Soddy (1877-1956), Kasimir Fajans (1887-1975) und andere im Jahre 1913 sowie der Erkenntnis der Isotopie ebenfalls im Jahre 1913 durch Soddy gegeben. Die Verschiebungssatze be- sagen, dai3 sich ein Element durch die Aus- sendung von a-Strahlen im Periodensystem um zwei Stellen nach links und durch die Aussendung von P-Strahlen urn eine Stelle nach rechts verschiebt.

Soddy erklarte das Phanomen, dai3 Stoffe exi- stieren, deren chemische Eigenschaften und Kernladungszahlen gleich sind, deren Strah- lungseigenschaften, Halbwertszeiten und Atomgewichte sich aber unterscheiden, mit der Vorstellung der Isotopie. Mit der Kennt- nis der Verschiebungssatze und der Isotopie war eine Einreihung der radioaktiven Sub- stanzen in das Periodensystem und die Vor- hersage ihrer chemischen Eigenschaften mog- lich geworden.

Ausgangspunkt fur die Suche nach der Mut- tersubstanz des Actiniums war die Untersu- chung des Actiniums selbst. Das Actinium war damals erst wenig charakterisiert, uber seine chemischen Eigenschaften wufite man kaum etwas, und seine Einordnung in das ra- dioaktive Zerfallsschema war noch nicht moglich. Da Actinium aber in allen Uranmi- neralien in einer dem Urangehalt proportio- nalen Menge vorkommt, wurde angenom- men, dafi dieses Element und seine Zerfalls- produkte einen Zweig der Uranzerfallsreihe bilden. Eine Nachbildung des relativ kurzle- bigen Actiniums direkt aus dem Uran konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Daher wurde ein Zwischenglied mit groBer Lebens- dauer zwischen Uran und Actinium vermu- tet, und man suchte nach der Abzweigstelle der Actiniumreihe von der Uranreihe und nach dem Element, aus dem Actinium ent- steht und das den Ursprung der Actinium- reihe bildet. Da Hahn und Meitner schon ver- schiedentlich uber das Actinium und dessen Zerfallsprodukte gearbeitet hatten, waren sie an der Aufklarung der Natur dieses Elements sehr interessiert.

Im Jahre 1913 schlugen sie ein Schema fur den Zerfall des Urans vor (s. oben). Sie postulier- ten ein a-strahlendes Uran X2(Pa 234)-Isotop mit langer Lebensdauer (Aktl, Pa 231) als Vorlaufer des Actiniums (Akt2, Ac 227) und versuchten, Aktl durch verschiedene Metho-

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den nachzuweisen. Die Untersuchung von Uransalzpraparaten und Pechblendeauf- schlussen fuhrten allerdings nicht zum Er- folg. Auf der Suche nach geeigneterem Aus- gangsmaterial, das nicht durch starke a- Strahler verunreinigt war, stiei3en Hahn und Meitner schliefllich auf die Ruckstande von Pechblende nach deren Behandlung mit Sal- petersaure (sogenannte Ruckriickstande), in denen die gesuchte Substanz angereichert sein sollte.

Nachdem ein geeignetes Material gefunden war, wurde die Arbeit allerdings durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbro- chen. Hahn wurde sofort mit Kriegsbeginn im August 1914 eingezogen. Lise Meitner fuhrte zwar bis August 1915 die angefange- nen Arbeiten weiter, war dann ja bis Oktober 1916 als Rontgenschwester tatig, bevor sie die Actiniumarbeiten unter sehr schwierigen Be- dingungen uberwiegend eigenstandig fort- setzte. Schwierigkeiten ergaben sich zum ei- nen durch die militarischen Arbeiten am KWI fur Chemie. AuBerdem fuhlte sich Lise Meit- ner durch die Korrespondenz mit Otto Hahn nur unzureichend unterstutzt; da er ihrer Meinung nach zu selten schrieb, fuhlte sie sich von ihm regelrecht im Stich gelassen. In den wenigen Briefen fragte Hahn ungeduldig nach neuen Versuchsergebnissen und machte seinerseits Arbeitsvorschlage, so dai3 sich Lise Meitner bald uberfordert fuhlte [9]:

,, Der Pechblendeversuch ist naturlich wichtig und interessant, aber Sie diirfen nicht bose sein, wenn ich ibn jetzt doch nicht machen kann. Erstens komme ich jetzt nicht ins Fi- scher'sche Institut [...]. Messungen konnte ich jetzt im Fischer'schen Institut auch nicht ma- chen, weil die Raume alle ungeheizt sind, so dajl die Assistenten von Stock zurn Teil wie- der in Dahlem arbeiten. Und aujlerdem ist es mir wirklich unmoglich, noch was Neues zu beginnen. ''

Die Ende 1914 aus Ruckruckstanden herge- stellte Probe enthielt Ende 1916/Anfang 1917 schon eine betrachtliche Menge Actinium- Emanation'>, was Lise Meitner als neuen Hin- weis darauf deutete, dai3 diese Praparate das geeignete Ausgangsmaterial fur die Suche nach der Muttersubstanz des Actiniums dar- stellten. Kurze Zeit spater nahm sie neue Trennversuche auf und konnte durch Ver-

'"Als Emanationen wurden damals die radio- aktiven Gase bezeichnet (hier Rn 219).

gleichsmessungen die Existenz einer ur- sprunglich vorhandenen Substanz mit einer a-Strahlung langer Lebensdauer, wie sie sie fur das Akt 1 postuliert hatten, nachweisen. Anschlieflend m d t e noch bewiesen werden, dafl es sich bei dieser Substanz wirklich um den Vorlaufer des Actiniums handelt. Ein di- rekter Nachweis des Actiniurns durch seine P-Strahlung war wegen der ohnehin schwa- chen Strahlung und des zudem sehr schwa- chen Praparats nicht moglich. Die damals be- nutzten P-Elektroskope waren dafiir viel zu unempfindlich. Auch fur einen indirekten Nachweis der Actiniumnachbildung durch Messung der Emanation (Actinon, Rn 219) oder des aktiven Niederschlags (Zerfallspro- dukte des Actinons) waren die Praparate zu schwach. Also galt es, alle anderen in Frage kommenden a-Strahler als Ursache der Akti- vitatszunahme auszuschlieflen.

Polonium kam als Verursacher nicht in Be- tracht, weil die a-Aktivitat dann hatte abneh- men mussen; deshalb kamen wegen des che- mischen Verhaltens der Substanz und der Ei- genschaften der ursprunglichen Strahlung nur noch Radium D (Pb 210) oder Ionium (Th 230) als die Stoffe in Frage, die bei dem Trennverfahren hatten mitgerissen werden konnen. Mit Indikatorexperimenten sollten diese beiden ausgeschlossen werden. Diese Experimente begann Otto Hahn wahrend ei- nes Kurzurlaubs Ende ApriVAnfang Mai 1917, und Lise Meitner fuhrte die Messungen anschlieiiend fort. Solange die Ergebnisse des Indikatorexperiments noch ungewid waren, bemuhte sie sich um eine moglichst direkte Nachweisrnethode fur das Actinium. Seine Entstehung aus dem neuen Element hatte ent- weder durch seine Emanation oder durch sei- nen aktiven Niederschlag nachgewiesen wer- den konnen [lo]:

,, Es fragt sich nu5 ob die Ernanationsmethode der gangbarste Weg dazu ist, und ob man nicht doch lieber rnit dern aktiven Nieder- schlag probieren soll. Besonders wenn man mit so grojlen Mengen arbeitet, wie Sie vor- schlagen. Denn ich glaube, dajl man rnit dern aktiven Niederschlag eine besser reproduzier- bare Anordnung treffen kann als fur die Emanation. Was meinen Sie dam? Ich will jedenfalls in der Richtung was probieren. "

Fur solche Versuche waren aber sehr viel star- kere Praparate als die bis dahin gewonnenen und deshalb groi3ere Mengen an Ausgangs- material notig. Die Materialbeschaffung er- wies sich allerdings als schwierig. Als Lise

Meitner im Mai 1917 in Wien war, versuchte sie rnit Hilfe ihres osterreichischen Kollegen Stefan Meyer (1 872-1 949) geeignetes Material (Ruckriickstande) zu besorgen. Wegen der Kriegsumstande waren ihre gemeinsamen Bemuhungen erst Ende Januar 1918 erfolg- reich, als Meyer schliei3lich eine Ausfuhrge- nehmigung fur 1730 g Ruckriickstande aus der Radiumfabrikation der Firma Atzgers- dorf erhielt.

U m die Experimente zur Suche nach der Muttersubstanz des Actiniums fortsetzen zu konnen, brauchte Lise Meitner aber schon im Fruhjahr 1917 neues Ausgangsmaterial. Als ein weiterer Lieferant fur Ruckruckstande kam die Chininfabrik Buchler & Co. in Be- tracht, deren langjahriger Mitarbeiter Fried- rich Giesel (1852-1927) im Jahre 1915 die chemische Leitung des Betriebs iibernomrnen hatte. Giesel beschaftigte sich auger mit der Chininfabrikation auch mit der Produktion von Radiumpraparaten und brachte als erster fast reines Radiumbromid in den Handel, das er aus Joachimsthaler Pechblende herstellte. Die Ruckstande dieser Radiumverarbeitun- gen waren fur die Meitnerschen Versuche sehr interessant. Nach langeren Verhandlungen er- hielt Lise Meitner schliefllich einige hundert Gramm Ruckruckstande in Form von zwei Praparaten.

Nach einigen Vorversuchen, die sie mit Hahn gemeinsam durchfuhrte, begann Lise Meitner einen Teil des erhaltenen Materials nach dem bereits erprobten Verfahren zu verarbeiten. Dieser Trennversuch schien zunachst mifl- gluckt, denn sie erhielt ein viel schwacheres Praparat, als nach den Vorversuchen zu er- warten war. Sie war deprimiert und fuhlte sich von Hahn, der wieder einmal nicht auf ihre Briefe antwortete, mit ihren Schwierig- keiten allein gelassen [I I]:

,,Allen Respekt vor Ihrer Consequenz, rnit der Sie nicht schreiben. Es ware ja anders wohl aucb unzeitgemajl? Man spart rnit al- lem, warum nicht auch rnit einem freundli- chen Wort? Leider bin ich, wie Sie sehen, noch nicht ganz auf dieser Hohe der Zeit, denn ich schreibe Ihnen. Ich kann allerdings als Milde- rungsgrund geltend machen, dab Ihnen mei- ne Zeilen nicht nur einen freundlichen Grujl bringen sollen, sondern auch einige sachliche Mitteilungen. Und um den utilaristischen Zeitgott nicht zu sehr zu kranken, will ich auch gleich zur Sache kommen. ''

Schliefllich deutete sie die Resultate aber rich-

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Meitner-Hahn- Briefe 301

tig, indem sie annahm, dai3 die Praparate der Vorversuche noch durch andere a-Strahler verunreinigt gewesen waren und dadurch eine starkere Aktivitat vorgetauscht hatten, als ihrem Protactiniumgehalt entsprach.

An diesem Beispiel zeigt sich, dai3 Lise Meit- ner auch auf chemischem Gebiet praktisch und theoretisch sehr gut Bescheid wugte, hat- te sie doch wegen der Abwesenheit Hahns die chemischen Arbeiten selbstandig durch- fuhren mussen. Es war ihr auch ohne die Hil- fe und Anleitung Hahns gelungen, die Tren- nungen auszufuhren und die Ergebnisse rich- tig zu deuten. Im nachhinein stellte sich sogar heraus, dai3 das von ihr hergestellte Praparat von besonderer Reinheit war.

Mit Hilfe dieses Praparats wurde dann spater die Existenz des Protactiniums indirekt nach- gewiesen, denn nach Messung des aktiven Niederschlags des Actiniums konnte Lise Meitner Hahn berichten, dai3 sich die Akti- vitaten der Praparate erwartungsgemai3 ver- hielten. Die Existenz des Protactiniums war damit gesichert, und jetzt konnten Versuche zum direkten Nachweis der Strahlung des neuen Elements in Angriff genommen wer- den. D a m waren allerdings noch sehr vie1 starkere Praparate notig, als ihr bis dahin zur Verfugung standen. Da kein Ausgangsmate- rial fur neue Praparate mehr vorhanden war und aul3erdem im KWI fur Chemie keine Moglichkeit bestand, die benotigte groae Menge an Material zu bearbeiten, nahm sie noch einmal die Hilfe von Friedrich Giesel in Anspruch und fuhr im November 1917 nach Braunschweig, dem Sitz der Firma Buchler & Co., um ihn personlich zu bitten, ein Praparat in der benotigten Starke herzustellen. Giesel ubernahm schliei3lich auf Kosten des KWI fur Chemie die Verarbeitung von 2 kg Ruckstan- den.

Die Wartezeit nutzte Lise Meitner rnit den Vorbereitungen der quantitativen Messungen der Actinium-Emanation: Sie konstruierte dazu eine Meaanordnung, bestellte die benotigte Druckluftflasche und stellte ein Standardpraparat der Actinium-Emanation her. Mit den vorhandenen Praparaten fuhrte sie Vorversuche durch und wies die Nachbil- dung der Emanation qualitativ nach.

An den neuen, von Giesel hergestellten Praparaten konnte Lise Meitner schliei3lich den Gang der Nachbildung der Actinium- Emanation und des aktiven Niederschlags, dessen Nachbildung ja schon qualitativ gesi-

chert war, quantitativ messen; aui3erdem be- stimmte sie die Reichweite der neuen Strah- lung. Nach ihrem Weihnachtsurlaub in Wien konnte sie dann am 17. Januar 1918 Otto Hahn berichten, dai3 alle Versuche positive Ergebnisse geliefert hatten. Die Abtrennung der Muttersubstanz des Actiniums war ihr wieder gelungen, und die Messung der Reich- weite war zwar sehr langwierig, hatte aber schliei3lich zu guten Ergebnissen gefiihrt [12]:

,, Ich babe nun auch bereits eine Reichweiten- bestimmung gemacht. Die Bleiblenden, die Sie so freundlich waren, mir vorzubereiten, waren zwar in der urspriinglichen Form nicht brauchbar, aber ich babe sie nach einigem Ausprobieren so geandert, daj3 ich ganz gute Messungen bekam I...]. Die Messungen dau- ern a m Ende der Reichweite, auf das es gera- de sehr ankommt, stundenlang, ich bin seit 10 Tagen so zwischen 1 / 2 9 und abends aus dern Labor gegangen, aber diese Miihe hat sich wenigstens gelohnt. Ich werde noch min- destens eine Reichweitenkurve mit A1 B oder C aufnehmen. ''

Fur den Zeitaufwand bei diesen Arbeiten wurde Lise Meitner durch die Messungen der Emanation entschadigt, denn aufgrund der Starke der neuen Praparate konnte sie fast taglich eine Zunahme der Emanation feststel- len, worbber sie sich besonders freute [12]:

,,Auj3erdem babe ich auch die Emanations- messungen gemacht. Das alte Praparat 25 ist mehr als doppelt so stark, das neue Giesel'sche dre$igmal! starker. Diese Zunahme ist so stark, daj3 man sie beinahe von einem Tag auf den andern verfolgen kann. Das hat mir ganz besondern Spa& gemacht, ich denke, Sie wer- den sich auch daruberfreuen. ''

Auch konnten sie jetzt ,,wirklich bald ans Pu- blizieren denken" [12].

Am 18. Marz 1918 ging die Arbeit rnit dem Titel ,,Die Muttersubstanz des Actiniums, ein neues radioaktives Element von langer Le- bensdauer" bei der Redaktion der Physikali- schen Zeitschrift ein, als Autoren treten in dieser Reihenfolge auf: ,,Otto Hahn und Lise Meitner". In der Publikation weist nur eine kurze Bemerkung darauf hin, dai3 die meisten der Versuche, die schliei3lich zur Entdeckung des Protactiniums fuhrten, von Lise Meitner allein durchgefiihrt wurden [13]:

,,Am auj3eren Griinden wurden die Versuche erst Anfang 191 7 wieder aufgenommen, und

auch da konnte sich der eine von uns an ihrer Durchfiihrung nur zeitweise beteiligen. ''

Auch die durch die Kriegssituation bedingten Schwierigkeiten bei der Beschaffung von ge- eignetem Ausgangsmaterial hatte sie allein zu bewaltigen, so dai3 man bei der Entdeckung des Protactiniums mit einer gewissen Berech- tigung von einer Entdeckung Lise Meitners sprechen konnte.

Der Erste Weltkrieg hatte somit fur die wis- senschaftliche und personliche Entwicklung Lise Meitners eine groi3e Bedeutung. Wahrend ihrer Zeit als Rontgenschwester wurde ihr bewuflt, welchen Stellenwert die wissenschaftliche Forschung fur sie besai3, und ihre berufliche Selbstandigkeit wurde durch die Kriegsumstande stark gefordert.

Nachkriegszeit

Auch in der Nachkriegszeit konnte sich Lise Meitner trotz der schlechten Arbeitsbedin- gungen, die durch die Inflation verursacht wurden, eine immer groi3ere Eigenstandigkeit erwerben. Nachdem ihre eigene Abteilung zu Beginn der zwanziger Jahre arbeitsfahig ge- worden war, lockerte sich die Zusammenar- beit mit Otto Hahn. Wahrend dieser sich ver- starkt mit der angewandten Radiochemie be- faate, wandte sich Lise Meitner erfolgreich einem eigenen Forschungsgebiet, den Unter- suchungen der Natur der P-Strahlung und der Atomkonstitution sowie - damit verbun- den - der Atomtheorie, zu. Zwar war sie 1907 nach Berlin gekommen, um ihre Kenntnisse in theoretischer Physik zu vertiefen, und hat- te dabei durch die Vorlesungen von Max Planck auch den ersten Kontakt mit der Quantentheorie bekommen, war aber bis da- hin uberwiegend experimentell tatig gewesen. Doch bei der Erforschung des Zusammen- hangs zwischen der P-Strahlung und der Atomkonstitution gewannen die theoreti- schen Fragen - wie die 1913 von Niels Bohr (1 885-1962) entwickelte Quantentheorie des Atoms und die Einsteinsche Lichtquantenhy- pothese - fur ihre Arbeiten immer groi3ere Bedeutung. Ihre Kenntnis der Bohrschen Theorien hatte Lise Meitner durch verschie- dene Kontakte zu Niels Bohr vertieft, und sie beeinflui3te natiirlich ihre neue Arbeitsweise sehr stark. Lise Meitner blieb zwar eine expe- rimentell arbeitende Physikerin, bezog die theoretische Physik jetzt aber starker in ihre Arbeiten mit ein als wahrend der engen Zu- sammenarbeit mit Otto Hahn. So gehorte sie auch spatestens ab 1918 zu den wenigen An-

Chemie in unserer Zeit / 27. Jahrg. 1993 / Nr. 6

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hangern dcr damals noch nicht allgemein an- erkannten Einsteiiischen Lichtquantentheo- ric. In den folgenden Jahren interpretierte sie ihre Vcrsuchsergebnisse im Sinne dieser Hy- pothese, was sich vor allem bei ihren Uberle- gungen zum Compton-Effekt zeigte, den sic auf die radioaktiven Vorgange ubertrug.

Als besonders fruchtbar fur die Aufklarung der Natur der P-Strahlung erwies sich ihre Auseinandersetzung mit den englischen For- schern James Chadwick (1891-1974) und Charles Drummond Ellis (1895-1980), die die Entstehung des kontinuierlichen und des L.inienspcktrums der F-Strahlung sowie die Reihenfolge der Aussendung von P- und y- Strahlung gegensatzlich zur Ansicht Lise Meitners interpretierten. Ellis und seine Mit- arbeiter konnten schliefllich ihre Theorie be- weisen, dafl die primire P-Strahlung ein kon- tinuierliches Spektrum erzeugt, wahrend Lise Meitner der Nachweis gelang, dafi die y- Strahlung erst nach dem Atomzerfall emit- tiert wird.

Nationale und internationale Anerkennung der fruhen Arbeiten Lise Meitners

Der Grundstein fur Lise Meitners Karriere wurde aui3er durch ihre wissenschaftliche Qualifikation durch das Zusammentreffen niehrerer gldcklicher Umstande gelegt: Hahn suchte gerade einen auf dem Gebiet der ,,Ra- dioaktivitat" erfahrenen Physiker, als Lise Meitner sich um eincn Arbeitsplatz in der Ex- perimentalphysik bemuhte, so dai3 die Vor- aussetzung fur eine produktive Zusammenar- beit zwischen beiden gegeben war. Daruber hinaus fand sie in Max Planck einen vaterli- chen Freund, der ihr den Eintritt in eine aka- demische Laufbahn erleichterte, indem er sie zu seiner Assistentin machte. Durch die For- derung von seiten Emil Fischers wurde sie als erste Frau in den wissenschaftlichen Dienst der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eingestellt, und ihr Arbeitsgebiet, die Radioaktivitatsfor- schung, konnte sich bald am Kaiser-Wilhelm- Institut fur Chemie etablieren und ausweiten. Lise Meitner entwickelte sich gleichzeitig vom ,,Gast" in der Abteilung Otto Hahns zu einer selbstandigen Forscherin.

In1 Kreis der Berliner Physiker, der sich aus fachlich wie menschlich auflergewohnlichen Personlichkeiten zusammensetzte - einige von ihnen erhielten spater den Nobelpreis -, wurden die Arbeiten Lise Meitners hoch ge- schatzt. Sie nahm an den wissenschaftlichen

Zusammenkiinften der Physiker teil (wie dem Mittwochskolloquium des Physikalischen Instituts und den Sitzungen der Berliner Phy- sikalischen Gesellschaft und der Preuflischen Akademie der Wisscnschaften), die durch die Moglichkeit zum regelmafligen Austausch der neuesten Forschungsergebnisse dazu beitrugen, dafl Berlin damals Metropole der exakten Naturwissenschaften war. Die Kon- takte zu ihren Kollegen fuhrten zu einigen Gcmeinschaftsarbeiten (etwa mit James Franck, Otto von Baeyer und Albert Ein- stein) sowie vielen Freundschaftcn (so mit Max von Laue, Otto von Baeyer, Gustav Hertz, James Franck, Robert Pohl, Peter Pringsheim, Hans Geiger und Erich Regener).

In Anerkcnnung ihrer wissenschaftlichen Leistungen wurde L. Meitner im Juli 1919 vom Minister fur Wissenschaft, Kuiist und Volksbildung das Pradikat ,,Professor" verlie- hen, im August 1922 wurde ihr als erster Frau, die sich an einer preufiischen Univer- sitat habilitierte, von der Philosophischen Fa- kultat der Friedrich-Wilhelms-Universitat die venia legendi erteilt. Sie hielt bis zum Ent- zug ihrer Lehrbefugnis im Jahre 1933 Vorle- sungen und betreute in ihrer Abteilung Dok- toranden und Assistenten. Fur ihren Beitrag zur Aufklarung der Natur des P-Zerfalls wurde sie durch Auszeichnungen der Preufli- schen und der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften geehrt. Auch ihre interna- tionale Anerkennung wuchs stetig, was sich in verschiedenen Einladungen zu Vortragen im Ausland sowie in einer Aufforderung, im Physikalischen Institut der Universitat Lund ein Praktikum der Radiophysik einzurichten, ausdruckte.

Es ist schwer zu verstehen, warum die wis- senschaftlichen Leistungen Lise Meitners nach ihrer Flucht aus Deutschland (1938) im- mer mehr in Vergessenheit gerieten und teil- weise sogar als Verdienste Otto Hahns ange- sehen wurden und noch werden. Auch das Kernforschungszentrum, das sich in den dreifiiger Jahren im Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie aus den Abteilungen Otto Hahiis und Lise Meitners entwickelte, wird meist nur mit dem Namen Otto Hahns verbunden, obwohl dieses Institut ohne die physikalische Abteilung Lise Meitners uberhaupt nicht lei- stungsfahig gewesen ware. Die friihen Briefe Lise Meitners zeigen, dafl sie schon in ihrer Anfangszeit im Kaiser-Wilhelm-Institut fur Chemie eine selbstandige Forscherin war und nicht Ianger als Jangjahrige Mitarbeiterin" Otto Hahns bezeichnet werden kann.

Literatur und Anmerkungen

[l] Die Briefe befinden sich im Besitz des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Ber- lin-Dahlcni. Ich dmke Herrn Dr. E. Henning und Frau Dr. M. Kazenu fur das mir zur Vcrfiigung ge- stelhe Material. Fur die Vermittlung der Photos danke ich Herrn J. Lemmerich, Berlin. [2] Auszug aus Sabine Ernst: Lise Meitner un Otto Hahtz. Briefe aus den Jahren 1912-1924, Edition und Kommentierung. Qucllen und Studien zur Geschichte der Pharmazic, Bd. 65, Wissenschaftli- che Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 1992 (zugleich Dissertation, Universitat Mainz, 1992). [3] Zur Biographie Lise Meitners siehe: Charlotte Kerner: Lise, Atomphysikerin. Die Lebensge- schichte der Lise Meitner. Belz Verlag, Weinheim, 1986; Fritz Krafft: Lzse Meitner und ihre Zeit. Zum hundertsten Geburtstag der bedeutenden Natur- wissenschaftlerin, Angew. Chem. 1978, 90, 876; Fritz Krafft: Lire Meitner (7. XI. 1878-27. X. 1968), in: Frauen in den exakten Naturwissei7schaften, Festkolloquium zuin 100. Geburtstag von Frau Dr. Margarethe Schimank (1890-1983) (Hrsg.: W. Schmidt und C. J. Scriba), Beitrage zur Geschichte der Wissenschaft und der Technik, Heft 21, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 1990, S. 33-70; Patricia Rife: Lire Meitner. Ein Leben fur die Wissenschaft. Claasen, Diisscldorf, 1990; Werner Stolz: Otto Huhn/Lzse Meitner. Teubner, Leipzig, 1983; Lise Meitner: Einige Erinnerungen an das Kaiser-Wil- helm-Institut fur Chemie in Berlin-Dahlem, Na- tumissenrchaften 1954,41,97; Lise Mcitner: Look- ing Back, Bull. .4t. Sci. 1964, 20 (Nr. 11), 2; Otto Robert Frisch: Lise Meitner 1878-1968. Elected For. Mem. R. S. 1955. Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society 1970, 16, 405, wiederabgedruckt unter dem Titel: Distinguished Nuclear Pioneer - 1973: Lise Meitner, /. Nucl. Med. 1973, 14, 365; Otto Roben Frisch: Woran ich mirh erinnere. Physik und Physiker meiner Zeit. Grofie Naturforscher, Bd. 43, Wissenschaftliche Verlagsgescllschaft, Stuttgart, 1981. [4] Brief vom 14.3. 1915. [5] Briefevom 10. 9. und 14. 10. 1915. [6] Brief vom 25. 10. 1916. [7] Brief voni 16. 11. 1916. [8] Eine Darstellung der Eiitdeckung des Protac- tiniums unter Verwendung der friihen Briefe Lise Meitners wurde bereits im Jahre 1986 von Ruth Sime vorgelegt, vgl. R. L. Sime: The discovery of Protactinium,/. Chem. Educ. 1986, 63,653. [9] Brief vom 22. 2. 1917. [lo] Brief vom 7. 5. 1917. [11] Brief vorn 27. 7.-6. 8. 1917. [12] Brief voni 17. 1. 1918. [13] 0. Hahn und L. Meitner: Die Muttersubstaiiz des Actiniums, ein neues radioaktives Element von langer Lebensdauer, Phys. 2. 1918,19,208.

Sabine Ernst, geb. 1959 in Oldenburg/Hol- stein, studierte Chemie an der Universitat Hamburg. Sie promovierte 1992 an der Uni- versitat Maim mit einer naturwissenschafts- historischen Arbeit.

Chemie In unserer Zeit / 27. Jahrg'. 1993 / Nr. 6