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W. Struck / Vorlesung: Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/12 Literarizität: Poetische und narrative Verfahren Entsprechend der Definition von Roman Jakobson wären poetische Texte solche Texte, in denen die poetische Funktion dominant ist, also sprachliche Äußerungen, die durch ihre Überstrukturiertheit von der normalen Sprachverwendung abweichen und so die Alltagssprache verfremden. Was das für das Verständnis literarischer Texte bedeutet, soll im folgenden in der Lektüre von Johann Wolfgang von Goethes Erlkönig näher betrachtet werden. Erlkönig Johann Wolfgang von Goethe (1782) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - "Du liebes Kind, komm, geh mit mir; Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir, Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.” - Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - "Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön: Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein.” - Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau. - "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!” - Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot. 1. Schritt: Text und Sprachsystem (Ermittlung denotativer Bedeutungen) Zunächst gilt es, möglicherweise unverständliche Ausdrücke zu klären. In Frage kommt hier an erster Stelle offenbar das durch den Titel und den Text besonders betonte Wort „Erl(en)könig“. In der Regel ist die Denotation zu erschließen über Wör- terbücher, die historisch, geographisch (mundart- lich) und fachsprachlich dem Sprachsystem, das dem Text zurundliegt, möglichst nahe kommen: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Spra- che. In sechs Bänden, Mannheim 1976: „ [wohl in Anlehnung an die erste Zeile („Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“) der Ballade „Erlkönig“ von Goethe] (Fachjargon): getarnter Probe- wagen eines neuen Autotyps [...]“ Auch wenn diese Bedeutung von Goethes Gedicht abgeleitet sein sollte; ein Auto ist dort offensicht- lich nicht gemeint. Um den historischen Sprach- stand zu ermitteln, ist es notwendig, ein der Entste- hung des Textes historisch näherliegendes Wörter- buch zu wählen: Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kriti- sches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793: Hier findet sich kein Eintrag zu „Erlkönig“; unter „Erle“ findet sich: „Ein Baum, welcher ein röthli- ches Holz, und eine röthliche Rinde hat, und gern an feuchten sumpfigen Orten wächset; Betula Alnus [...] Ober- und Niederdeutsch heißt dieser Baum Eller“. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deut- schen Sprache, Braunschweig 1807: „ein erdichtetes geistiges Wesen in der alten deutschen Fabellehre. Siehst Vater du den Erlkönig nicht? Goethe“. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wör- terbuch, Leipzig 1860: „[...] in HERDERS stimmen der völker (1778) wurde das dän. ellekonge, d.i. elverkonge, elvekonge, also elbkönig, elbenkönig, beherrscher der elbe (sp. 400) falsch übersetzt, was hernach auch GÖTHEN verführte. einen erlkönig gibt es in keiner sage.“

Literarizität: Poetische und narrative Verfahren Text und ... · Entsprechend der Definition von Roman Jakobson wären poetische Texte solche Texte, in denen die poetische Funktion

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W. Struck / Vorlesung: Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/12 Literarizität: Poetische und narrative Verfahren Entsprechend der Definition von Roman Jakobson wären poetische Texte solche Texte, in denen die poetische Funktion dominant ist, also sprachliche Äußerungen, die durch ihre Überstrukturiertheit von der normalen Sprachverwendung abweichen und so die Alltagssprache verfremden. Was das für das Verständnis literarischer Texte bedeutet, soll im folgenden in der Lektüre von Johann Wolfgang von Goethes Erlkönig näher betrachtet werden. Erlkönig Johann Wolfgang von Goethe (1782) Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? - Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. - "Du liebes Kind, komm, geh mit mir; Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir, Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand.” - Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. - "Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön: Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein.” - Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? - Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau. - "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!” - Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

1. Schritt: Text und Sprachsystem (Ermittlung denotativer Bedeutungen) Zunächst gilt es, möglicherweise unverständliche Ausdrücke zu klären. In Frage kommt hier an erster Stelle offenbar das durch den Titel und den Text besonders betonte Wort „Erl(en)könig“. In der Regel ist die Denotation zu erschließen über Wör-terbücher, die historisch, geographisch (mundart-lich) und fachsprachlich dem Sprachsystem, das dem Text zurundliegt, möglichst nahe kommen: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Spra-che. In sechs Bänden, Mannheim 1976:

„ [wohl in Anlehnung an die erste Zeile („Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“) der Ballade „Erlkönig“ von Goethe] (Fachjargon): getarnter Probe-wagen eines neuen Autotyps [...]“

Auch wenn diese Bedeutung von Goethes Gedicht abgeleitet sein sollte; ein Auto ist dort offensicht-lich nicht gemeint. Um den historischen Sprach-stand zu ermitteln, ist es notwendig, ein der Entste-hung des Textes historisch näherliegendes Wörter-buch zu wählen: Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kriti-sches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793: Hier findet sich kein Eintrag zu „Erlkönig“; unter „Erle“ findet sich: „Ein Baum, welcher ein röthli-ches Holz, und eine röthliche Rinde hat, und gern an feuchten sumpfigen Orten wächset; Betula Alnus [...] Ober- und Niederdeutsch heißt dieser Baum Eller“. Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deut-schen Sprache, Braunschweig 1807:

„ein erdichtetes geistiges Wesen in der alten deutschen Fabellehre.

Siehst Vater du den Erlkönig nicht? Goethe“.

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wör-terbuch, Leipzig 1860:

„[...] in HERDERS stimmen der völker (1778) wurde das dän. ellekonge, d.i. elverkonge, elvekonge, also elbkönig, elbenkönig, beherrscher der elbe (sp. 400) falsch übersetzt, was hernach auch GÖTHEN verführte. einen erlkönig gibt es in keiner sage.“

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2 Schließlich noch zwei spezifischere Fachwörterbü-cher: Goethe Wörterbuch, hg. v. der Berlin-Branden-burgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 3. Bd., Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1998:

„naturmyth Vorstellungen von dämon Elementargeistern nachempfundene u. –gebildete Erscheinung [...] als erhabene Erscheinung von (homoerot-)verführe-risch bedrängender, tödl Verderben bringender Gewalt Siehst, Vater, du den E. nicht? / Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif [...]“

van Rinsum, Annemarie und Wolfgang: Lexikon literarischer Gestalten. Deutschsprachige Literatur, 2. Aufl., Stuttgart: Kröner 1993:

„ [...] Ein Vater reitet mit seinem Sohn „bei Nacht und Wind“ heim. In den Fie-berphantasien des Knaben erscheint der Erlkönig und lockt ihn in das Totenreich. Homoerotische Anklänge.“

Die Suche nach einer lexikalischen Bedeutung des Wortes „Erlkönig“ ergibt also einen auffälligen Befund: Während Adelung, also das der Entste-hungszeit des Textes am nächsten liegende Wörter-buch, den Begriff nicht kennt, verzeichnen ihn die späteren Wörterbuch zwar, verweisen dabei aber als zentrale Referenz auf Goethes Gedicht selbst. Campe vermutet zwar trotzdem einen Ursprung in der „alten deutschen Fabellehre“, kann dafür aber keine Referenz angeben; dagegen ergeben die ety-mologischen Studien der Brüder Grimm, daß das Wort vor der Entstehung von Goethes Gedicht nur ein einziges Mal, nur vier Jahre zuvor, in der deut-schen Sprache belegbar ist, ebenfalls in einem Ge-dicht, nämlich in Herders Übersetzung einer däni-schen (Volks-) Ballade. Das bedeutet also, daß dem Begriff in der deutschen Sprache kein Denotat zugewiesen werden kann, als Goethe ihn in seinem Gedicht verwendet. Die Bedeutung des Wortes ist damit allein aus dem Text (oder allenfalls noch aus einem intertextuellen Verweis auf den früheren Text Herders) zu erschließen. Genau das geschieht dann in den späteren Lexikon-Einträgen, insbeson-dere in den beiden, die den Begriff speziell inner-halb des Systems der Literatur verankern (das Goethe-Wörterbuch und das Lexikon literarischer Gestalten). Die Worterklärungen, die hier gegeben werden, stellen jedoch streng genommen Interpre-tationen des Textes dar: sie schreiben dem Begriff mögliche, aber keineswegs zwingende Bedeutun-gen zu, das heißt, sie bewegen sich Bereich von Konnotationen, wobei jeweils verschiedene Mög-lichkeiten in den Vordergrund gerückt werden, etwa die „Fieberphantasien des Knaben“: an keiner Stelle des Textes ist davon die Rede, daß der Knabe Fieber hat oder ansonsten krank ist, ebensowenig

kommen „Erdichtung“, „Homoerotik“ oder „Erha-benheit“ explizit im Text vor. Schon diese wenigen Beispiele zeigen aber , daß solche Interpretationen keineswegs eindeutig sind: „Fieberphantasien“ sind nicht das Gleiche wie „(homoerot-)verführerisch bedrängende[r], tödl Verderben bringende[r] Gewalt“ (wobei obendrein völlig unklar bleibt, welchen Status überhaupt eine solche Aneinanderreihung von Attributen haben soll – heißt das, daß all diese Eigenschaften not-wendig und immer zusammen zu denken sein sollen oder nur hier in diesem Gedicht oder in der Phantasie des Interpreten?). 2. Schritt: Segmentierung des Textes (im Blick auf poetische Verfahren: Reim und Metrum) Die Suche nach der Bedeutung des Wortes „Erlkö-nig“, die offenbar für ein Verständnis des Textes Erlkönig wichtig ist, verweist also auf diesen Text selbst zurück. Die Aufmerksamkeit richtet sich demnach nicht mehr auf das System der Sprache insgesamt, sondern auf den individuellen Text. Als eine – relativ komplexe – Äußerung läßt sich ein Text beschreiben als Ergebnis der grundlegen-den semiotischen Prozesse der Selektion (der Aus-wahl spezieller Elemente aus einem oder mehreren Paradigmen) und der Kombination (der Anordnung dieser Elemente in einem Syntagma). Will man diese Prozesse nachvollziehen, dann ist es sinnvoll, sie gleichsam in umgekehrter Richtung zu betrach-ten. Die erste Frage wäre dann, wie und woraus der Text zusammengesetzt ist. Anders formuliert: wie läßt sich der Text in kleinere Einheiten unterteilen, wie ist er zu segmentieren? Die zweite, sich daran anschließende Frage gilt dann den Regeln, nach denen diese Einheiten zusammengefügt sind – und die hier ebenfalls Regeln sind, die nicht (allein) dem System der Sprache (etwa der Grammatik) entnommen sind, sondern die nur im Text selber zu finden sind. Das Prinzip der Rekurrenz: Strophen und Verse Ein erstes Kriterium der Segmentierung gibt der Text deutlich vor: Er ist in acht Abschnitte unter-teilt, die jeweils wiederum in vier Zeilen unterteilt sind, wobei der Zeilenumbruch nicht der in Prosa-texten erwartbaren Konvention folgt, die Zeilen zu füllen. Für den Wechsel zu einer neuen Zeile lassen sich syntaktische und semantische Kriterien ange-ben (also Kriterien der Grammatik und der Bedeu-tung), auffälliger ist jedoch zunächst ein metrisch-rhythmisches Kriterium: der Zeilenumbruch erfolgt regelmäßig nach jeder vierten beim lauten Sprechen des Textes betonten Silbe. Jeder betonten geht in der Regel eine unbetonte Silbe voran, gelegentlich aber auch zwei. Als kleinste metrische Einheit er-gibt sich also eine Silbenfolge (Versfuß):

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3 unbetont-(unbetont)-betont [v v –], die dann in jeder (Vers-) Zeile viermal wiederholt wird: v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) – Dabei kommt der zweisilbige Versfuß („v –”: jambisch) sehr viel häufiger als der dreisilbige. Jeweils vier solche Verszeilen sind dann zur nächstgrößeren Einheit zusammengefaßt (der Strophe): v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) – v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) – v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) – v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) – Dieses Schema bildet nun in achtmaliger Wieder-holung die metrische Struktur des Textes. Das Prin-zip der Wiederholung (Rekurrenz) spielt hier also eine entscheidende Rolle: größere Einheiten erge-ben sich jeweils aus der mehrfachen Wiederholung der nächstkleineren Einheiten. Neben dem Metrum findet sich in Erlkönig noch eine weitere klangliche Struktur: jeweils zwei auf-einanderfolgende Verszeilen sind in der letzten (betonten) Silbe gereimt, es ergibt sich also ein paarweiser Endreim, durch den innerhalb einer Strophe jeweils zwei Verszeilen zu einer Einheit zusammengefaßt sind. Die auffälligsten poetischen Verfahren (im Sinne der poetischen Funktion) bilden hier also Rekurren-zen auf der Ebene der metrischen Form und des Reimschemas. In einem sehr allgemeinen Sinn ist der Text damit als lyrischer Text, als Gedicht, zu klassifizieren, seine einzelnen Segmente als Stro-phen, Verse und Versfüße (s.u.: Zur Metrik). Allerdings zeigt sich, daß Erlkönig bei weitem nicht so schematisch ist, wie es die hier angegebene Grundformel beschreibt. Wichtig ist hier vor allem die Tatsache, daß in ein vorwiegend zweisilbiges, jambisches Metrum gelegentlich dreisilbige Vers-füße eingestreut sind. Für die erste Strophe ergibt sich dadurch folgendes Schema: v – / v v – / v – / v – (9) v – / v – / v v – / v – (9) v – / v – / v – / v v – (9) v – / v – / v v – / v – (9) Diese Strophe wirkt recht regelmäßig: alle Verse bestehen aus 9 Silben, in jedem Vers tritt genau eine Abweichung vom jambischen Grundrhythmus auf, und, zumindest in den ersten drei Zeilen, scheint selbst diese Abweichung einer gewissen Regelmäßigkeit zu folgen, indem sie gleichsam von vorne nach hinten durch den Text zu wandern scheint. (Manche Interpreten hören hier die Hufe des Pferdes über das Papier galloppieren; mir ge-nügt jedoch die Feststellung, daß der Text die

Möglichkeit eröffnet, ein bestimmtes, formal-metri-sches Ordnungsschema zu erkennen.) Der erste Vers der 2. Strophe (2/1: Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?) enttäuscht jedoch die Erwartung, hier eine Regel gefunden zu haben, indem er eine Silbe mehr enthält: v – / v – / v v – / v v – (10) Vers 2/2 und 2/3 sind dann wieder neunsilbig, Vers 2/4 (Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. – ) dagegen weist nur acht Verse und damit erstmals ein rein jambisches Metrum auf: v – / v – / v – / v – (8) Diese rein jambische Form setzt sich fort im an-schließenden ersten Vers der 3. Strophe (Du liebes Kind, komm, geh mit mir), tritt danach aber nie wieder auf, so daß die mögliche Annahme, hier habe das Gedicht nun endlich zu seiner metrischen Grundform gefunden, enttäuscht wird. Statt dessen werden die Variationen immer vielfältiger, es fin-den sich mehrere Verse mit elf Silben und am Be-ginn der 7. Strophe dann sogar einer mit zwölf, bei dem sich die Frage stellt, ob das metrische Grund-schema hier überhaupt noch zu realisieren ist (7/1: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt: v – v – v – v v – v v – oder v – v v – v – v – v v – ?). Man kann also konstatieren, daß das Gedicht ein metrisches Schema vorgibt, von dem es dann aber zunehmend abweicht, oder anders formuliert, daß es innerhalb des vorgegebenen Schemas von einem Zustand relativer Ordnung zu einem Zustand relati-ver Unordnung übergeht. 3. Schritt: Analyse narrativer Verfahren Neben den poetischen Verfahren Metrum und Reim bieten sich jedoch noch weitere Segmentierungs- und Beschreibungsmöglichkeiten für den Text an (sie werden später unter dem Stichwort narrative Verfahren genauer betrachtet; hier zunächst einige erste Hinweise): (a) Konfiguration Eine weitere naheliegende Segmentierung ergibt sich daraus, daß einzelne Textteile offenbar unter-schiedlichen Aussageinstanzen (‚Sprechern‘ bzw. ‚Figuren‘) zuzuordnen sind: einem ‚Erzähler‘ bzw. einer ‚Erzählerin‘, dem Vater, dem Sohn, dem Erl-könig. Dabei korrespondieren die hier auftretenden Segmentierungen den bisher entwickelten. Ein Sprecherwechsel findet nie innerhalb einer Vers-zeile statt und innerhalb einer Strophe nur nach bestimmten Regeln: - ‚Erzählerfigur‘ und (mit einer signifikanten

Ausnahme) ‚Erlkönig‘ sprechen in eigenen Strophen, ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ in gemeinsamen

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4 (das könnte wiederum mit einer segmentieren-den Charakteristik der Figuren verbunden wer-den: Vater und Sohn gehören der ‚realen’ Welt an, der Erkönig einer anderen, mythisch-mär-chenhaften Welt). Eine Ausnahme bildet hier lediglich Strophe 7 mit Textanteilen von ‚Sohn‘ und ‚Erlkönig‘; so daß hier wiederum das bereits beobachtete Prinzip vorliegt, nach dem der Text eine zunächst etablierte Regel bricht.

- Jede Figurenrede umfaßt mindestens zwei

gereimte Zeilen (so daß der Reim hier zugleich die Einheit des Sprechenden markiert); auch hier gibt es eine signifikante Ausnahme: in Strophe 2 spricht in Vers 1 der Vater, in Vers 2 und 3 der Sohn, in Vers 4 wieder der Vater.

Aufgrund dieser Regeln scheint also der Text Vater und Sohn zunächst als Einheit zu etablieren, im Gegensatz zu den Stimmen ‚Erzähler‘ und ‚Erlkö-nig‘, die jeweils einzeln bleiben. Strophe 2 charak-terisiert diese Einheit von Vater und Sohn als Zu-sammenfügung zweier ungleicher Elemente: die Rede der Vaters ‚umklammert‘ die des Sohnes, der Vater ist ‚außen‘, der Sohn ‚innen‘, womit die se-mantische Aussage der ersten Strophe (Er hat den Knaben wohl in dem Arm / Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm) unterstützt wird. Diese Umklam-merung ist in Strophe 4 und 6 aufgelöst, die Rede von Vater und Sohn umfaßt jetzt jeweils zwei ge-reimte Doppelverse, also eine stärker eigenständige Untereinheit, bis schließlich in der 7. Strophe, in der zunächst aufgrund einer weiteren bisher eta-blierten Regel, nach der sich ‚Vater-Sohn‘- und ‚Erlkönig‘-Strophen abwechseln, erwartungsgemäß der Erlkönig ‚spricht‘, der Sohn gemeinsam mit diesem auftaucht, also gleichsam in die Erlkönig-Strophe überwechselt. Wieder scheint hier also ein Zustand relativer Geregeltheit in einen relativer Ungeregeltheit überzugehen – mit dem Zwischen-schritt, daß die Vater-Sohn-Symbiose ab der 4. Strophe aufgelöst ist. (b) Sprechsituation und besprochene Situation / Rahmen- und Binnenhandlung Anhand der ‚Figuren‘ läßt sich noch eine weitere Segmentierung vornehmen: Während der ‚Erzähler‘ oder die ‚Erzählerin‘ das Geschehen von außen zu betrachten scheint und neutral – gegenüber einem unbeteiligten Publikum – darüber berichtet, sind die anderen ‚Sprecher‘ auf unmittelbarere Weise darin involviert. Sie sind Teil der Situation, über die – in einer anderen Kommu-nikationssituation - gesprochen wird. Man könnte sich das so vorstellen, daß in einer Rahmenhand-lung ein Erzähler einem Publikum eine Geschichte präsentiert, die nur er kennt und die sich an ande-rem Ort und zu anderer Zeit zugetragen hat – die einleitende Frage könnte man dabei ebenso wie die Präsensform der ersten Strophe als einen aufmerk-

samkeitssteigernden ‚Kniff‘ verstehen (eine Strate-gie der ‚Vergegenwärtigung), jedenfalls deutet die Vergangenheitsform der letzten Zeile des Textes darauf hin, daß Erzählen und erzähltes Geschehen nicht gleichzeitig stattfinden. Aber auch das, was erzählt wird, besteht aus Kommunikationsakten: einem Gespräch zwischen Vater und Sohn über den Erlkönig sowie dessen Anrede an den Sohn.

(c) Diegetischer Bericht und mimetische Dar-stellung Schließlich läßt sich der Text auch noch gemäß seiner Darstellungsart in zwei Teile unterteilen: in Strophe 1 und 8 wird von einem Erzähler berichtet, was geschieht (diegetisch/episch), in Strophe 2, 4 und 6 dagegen ist das Geschehen ausschließlich aus dem Dialog der beteiligten Figuren zu erschließen (mimetisch/dramatisch). Gewählt wird hier also zwischen verschiedenen Möglichkeiten, ein Ge-schehen zu präsentieren; es wäre ja auch denkbar, daß in Strophe 2 die Erzählerrede fortgesetzt würde („der Vater merkte, daß sein Sohn das Gesicht verbarg. Das Kind schien ihm ängstlich zu sein, und so fragte er, wovor es sich fürchten würde...“). Nicht völlig eindeutig zu bestimmen ist hier jedoch die Rede des Erlkönigs: spricht hier eine Figur im Rahmen des dramatischen Dialogs oder wird die Rede durch jemand anderen wiedergegeben – wor-auf in der vorliegenden Form die Anführungszei-chen verweisen. Durch wen aber spricht dann der Erlkönig?

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5 Aufgrund der bisher gemachten Beobachtungen läßt sich zunächst der Text genauer klassifizieren: es handelt sich um eine Ballade, eine Gedichtform, die vorwiegend lyrische poetische Verfahren (Metrum, Strophenform, Reim) verbindet mit dem Erzählen einer Geschichte, in Form einer Erzähler-rede und/oder eines dramatischen Dialogs. Darüber hinaus finden sich hier die Daten, an die eine Interpretation des Textes anknüpfen kann. Auffällig ist dabei, daß aufgrund der gewählten Darstellungsform einige entscheidende Informatio-nen gerade nicht geliefert werden. Der objektiv-sachlich erscheinende Erzähler präsentiert nur ei-nige sehr ‚dürre‘ Daten für den Anfang und das Ende der erzählten Geschichte: ein Vater reitet mit seinem Kind durch den Wald; als die beiden dann auf dem Hof ankommen, ist das Kind tot. Der Er-zähler beschreibt oder besser benennt also eine signifikante Differenz zwischen Anfang und Ende, nämlich die zwischen Leben und Tod. Aber aus dem, was sich dazwischen entspannt, hält sich der Erzähler gleichsam heraus. Eine Erklärung für das Geschehen müssen wir also aus der Rede der Figu-ren ableiten, und damit stehen wir vor einer Schranke: Figurenrede ist grundsätzlich perspektiv-gebunden. Eine Figur gibt nur ihre Sicht der Welt wieder; sie kann nur die Informationen weiterge-ben, über die sie selbst verfügt, und sie muß kei-nesfalls alle Informationen richtig wiedergeben – Figuren können sich täuschen und sie können an-dere täuschen wollen. So liefern Vater und Sohn sehr unterschiedliche Beschreibungen dessen, was sie sehen und hören, auch wenn sie sich offenbar auf die gleichen Ob-jekte (den gleichen Referenten) beziehen:

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? - Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. -

„Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif“ und „Nebel-streif“ stehen sich – trotz des Reimes - ebenso unvereinbar gegenüber wie ein leises Versprechen und das Säuseln von Wind in dürren Blättern. Die Beschreibungen stellen also im Grunde selber In-terpretationen des Gesehenen und Erfahrenen dar und sie etablieren zwei verschiedene Modelle von Welt: einmal existiert die Welt des Erlkönig tat-sächlich (für den Sohn), einmal erscheint sie als Täuschung (für den Vater – oder jedenfalls in der Welt, wie sie der Vater für den Sohn darstellt). Nur im ersten Fall bildet der Angriff des Erlkönig eine akzeptable Begründung für das Ende. Nun geht man aber – in der Regel zu recht – davon aus, daß die in literarischen Texten dargestellten Welten im wesentlichen der ‚normalen‘ Welt entsprechen, so

lange keine deutlichen gegenteiligen Signale ge-geben werden (wie beispielsweise im Märchen oder in der phantastischen Literatur). Setzt man ein do-minant naturwissenschaftlich-rationales Weltbild voraus, dann wird man nach einer Ursache für den Tod des Kindes suchen müssen, die mit einem solchen Weltbild vereinbar ist; etwa die Vorstel-lung, der Knabe habe Fieber, was sowohl seinen Tod als auch ein vorangehendes Phantasieren erklä-ren kann (allerdings eine ganze Reihe weiterer Frage offenläßt: ist der Knabe schon von Anfang an krank oder wird er es erst auf dem Ritt – und viel-leicht sogar durch diesen? warum sind die beiden nachts unterwegs?) Mit der Erklärung, daß der Sohn Fieber habe, wird der Gegensatz einer rational-naturwissenschaftli-chen und einer märchenhaft-phantastischen Welt (der Welt des erwachsenen, vernünftigen Mannes und des noch an Märchen glaubenden und oben-drein fieberden Kindes) aufgelöst. An seine Stelle tritt nun die Vorstellung, daß es eine Entsprechung geben könnte zwischen der Düsternis des Waldes und den Fantasie-Bildern des Kindes, daß also äußere und innere Natur (Wald und Fieber-Fanta-sie) sich zu überlagern scheinen. Diese Paralleli-sierung setzt sich fort in den (in einigen der Wör-terbücher gefundenen) Deutungen, die nicht (allein) von einem körperlichen Fieber, sondern von einer inneren Triebnatur des Knaben ausgehen (seiner erwachenden Sexualität). Damit entstünde eine Isotopie-Ebene zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Wald als Naturraum. Allerdings kann man einer solchen – vereindeuti-genden – Interpretation entgegenhalten, daß der Text selbst durch eine raffinierte Konstruktion die entscheidende Frage gerade offenläßt: die Frage, wie der Erlkönig sich im Text manifestiert. Er ist weder der Rede des Erzählers zuzuordnen, noch dem dramatischen Dialog. Es ist allein der Sohn, der über den Erlkönig spricht, aber kann er es auch sein, der für ihn spricht? Wer spricht, wenn der Erkönig spricht: eine Stimme, die nur der Sohn hören kann, eine Stimme, die nur der Vater nicht hören kann (oder will), eine Stimme, die einer äu-ßeren, realen oder irrealen, Aussageinstanz zuzu-schreiben ist, eine innere Stimme des Sohnes (die Stimme seines Unterbewußten), die durch eine andere Instanz (den Erzähler? den Sohn?) zitiert wird? Mit (dem) Erklönig steht nicht nur ein Begriff im Zentrum des Textes, der im Sprachsystem der Zeit nicht eindeutig zu bestimmen ist, sondern auch eine Aussageinstanz von äußerst prekärem Status, d.h. eine Aussageinstanz, von der nicht auszumachen ist, welche Art von Realität ihm zukommt. Eben diese Stimme nimmt aber schon rein quanti-tativ den größten Redeanteil im Text ein: auf den Erzähler entfallen 8 Verse, auf den Sohn ebenfalls 8, auf den Vater 6, auf den Erlkönig 10. Noch auf-fälliger ist die qualitative Differenz der Attribute,

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6 die den jeweiligen Welten des Vaters und des Erl-königs zugeschrieben werden: Kron und Schweif Nebelstreif bunte Blumen dürre Blätter Strand alte Weiden gülden Gewand "scheinen grau" wiegen, tanzen, singen ruhig schöne Spiele bang schön (in der Erzählerrede:) Töchter sicher Mutter warm liebes Kind feiner Knabe Reihen düstern Ort Gewalt Leids Alle Ausdrücke in der linken Spalte werden vom Erlkönig oder über ihn bzw. im Zusammenhang mit ihm geäußert, die auf der rechten Spalte dagegen vom oder über den Vater. Auch wenn die linke Spalte mit ‚Düsternis‘, ‚Ge-walt‘ und ‚Leid‘ negative Attribute enthält, ver-weist sie doch sehr viel stärker als die rechte auf das semantische Feld (die Isotopie) ‚Leben‘ (in seinen positiven wie negativen Aspekten), während die rechte Spalte mit ‚dürre Blätter‘ und ‚alte Wei-den‘ kaum übersehbare Konnotationen von Erstar-rung, Leblosigkeit und Tot aufruft – eine Welt, aus der mit den Gefährdungen des Lebens auch die Freuden ausgeschlossen sind. Zusammenfassend läßt sich also sagen: es wird eine Geschichte erzählt, in der es um einen Übergang von einem Anfangszustand zu einem Endzustand geht; die vom ‚Erzähler‘ präsentierte Rahmen-handlung bestimmt diese Zustände sehr grundle-gend als Leben und Tod. Die Binnenhandlung aber präsentiert ein System von Oppositionen, die nicht unmittelbar mit diesen Zuständen identifizierbar sind: • Phantasie vs. Verstand (in den Wahrneh-

mungsweisen von Sohn und Vater); • Mythos/ Märchen vs. Rationalität; • lebendige (verlebendigte, vermenschlichte,

anthropomorphisierte) vs. tote Natur („Kron und Schweif“ vs. „Nebelstreif“);

• Verschwendung, Überfluß, Reichtum (sowohl materiell: Gold, als auch habituell: Gesang, Tanz, Spiel) vs. Nüchternheit;

• Unbekümmertheit vs. Sorge; • Gefahr vs. Sicherheit; bunt vs. grau; • Kindheit vs. Erwachsensein. Diese letzte Opposition ist nun selbst, ebenso wie die von Leben und Tod, temporalisierbar, das heißt, sie kann als eine Geschichte beschrieben werden, die vom Übergang von einem Ausgangszustand ‚Kindheit‘ zu einem Endzustand ‚Erwachsensein‘ erzählt. Die Möglichkeit, eine ganze Reihe der

‚Versprechungen‘ des Erlkönigs sexuell zu konno-tieren, legt tatsächlich nahe, daß das Kind sich in einer Schwellensituation befindet, dem mit dem Erwachen seiner Sexualität verbundenen Ende der Kindheit. Aber damit ist die Frage keineswegs gelöst, was die Parallelisierung dieser Grenze mit der zwischen Leben und Tod zu bedeuten hat: stirbt das Kind, weil es sich nicht aus der Welt seiner Kindheit lösen kann oder will, stirbt es, weil es sich nicht aus dieser Welt lösen darf (das heißt, weil der Vater es nicht aus seiner Umklammerung und damit nicht in die Unabhängigkeit einer autonomen Exi-stenz entläßt), stirbt es, weil es die (Vernunft-) Welt der Erwachsenen zu spät oder weil es die (Trieb-) Welt der Erwachsenen zu früh erreicht? Stirbt viel-leicht nur das Kind, indem es doch in der Welt der Erwachsenen angelangt, dabei aber einen Teil sei-ner Existenz (die Phantasie) verliert? Die verschie-denen Oppositionspaare und die keineswegs ein-deutigen narrativen Vermittlungen zwischen den jweiligen Polen (die Geschichten, die vom An-fangs- zum Endpunkt führen) eröffnen eine ganze Reihe von Deutungsmöglichkeiten, die das Ge-schehen bildhaft (bzw. figurlich; dazu mehr in der folgenden Vorlesung) auslegen; etwa - daß der sachlich klassifizierende Verstand des

Vaters die Phantasie des Kindes tötet - oder daß das Kind sich in seine eigene, hyper-

aktive Phantasie verstrickt und dadurch nicht mehr in die wahre Welt zurückfindet

Vor allem diese zweite Deutung würde die eigent-lich irritierende Tatsache, daß die Welt des Todes, in die das Kind hinübergleitet, mit äußerst ‚leben-digen’ Attributen ausgestattet ist, dadurch bewälti-gen, daß eine weitere zentrale Opposition einge-führt wird: • Schein (falsche Versprechen des Erlkönigs) vs.

Sein (wahre Welt des Vaters) Nur: eine klare Aussage dazu findet sich im Text nicht. Diesen scheinbar frustrierenden Befund könnte man nun aber selbst zur Grundlage einer Interpretation machen. Schließlich stellt der Text selbst verschie-dene Interpretationen der Welt einander gegenüber. Und er gibt zumindest an einer Stelle einen Hinweis darauf, daß es sich auch bei der scheinbar so objek-tiven Weltsicht des Vaters um eine Deutung han-deln könnte: „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh‘ es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau. -“ So „genau“ diese Äußerung zu sein scheint, enthält sie doch an entscheidender Stelle eine Mehrdeutig-keit: das Wort „scheinen“ ist polysem – einerseits kann es in etwa die Bedeutung von „leuchten“, „schimmern“, „blinken“ haben (Lichtschein), ande-rerseits kann es als Verb zu „anscheinend“,

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7 „scheinbar“ gebraucht werden (Anschein). Hier ist offenbar zunächst die erste Bedeutung (Schein im Sinne von Sichtbar-Werden, Sichtbar-Sein) nahe-liegender, allerdings ergibt sich dann in der Kombi-nation mit „grau“ eine gewisse Irritation. „Grau“ ist eher das Gegenteil von „scheinend“, „schim-mernd“, „leuchtend“; die Kombination ‚grau leuchtend‘ ist zumindest ungewöhnlich. Es könnte also auch sein, daß doch nur graue Weiden da zu sein scheinen, wo tatsächlich Erlkönigs Töchter spielen. Die Äußerung selbst ist also keineswegs so genau, wie der Vater behauptet. Auch da, wo die Sprache rein sachlich-beschreibend ist, läßt sie unterschiedliche Interpretationen zu; damit aber ist die Grenze zwischen der rationalen und der phanta-siegeleiteten Weltsicht und Weltinterpretation nicht mehr so absolut. Nicht Schein und Sein stehen ein-ander gegenüber, sondern verschiedene, grundsätz-lich gleichberechtigte Interpretationen. Der Versuch, eine solche Uneindeutigkeit aufzuhe-ben, führt nicht zu mehr Genauigkeit, sondern nur zu einer schlechter erkennbaren Ungenauigkeit. In diesem Sinne kann man auch das auf mehreren Ebenen beobachtete Spiel verstehen, in dem der Text Ordnungsschemata aufbaut, um dann sofort wieder dagegen zu verstoßen. Die mit der Sprache selbst gegebene Unsicherheit korrespondiert weiterhin der anfangs konstatierten Denotatlosigkeit des zentralen Begriffs „Erlkönig“: während der eine Begriff (Erlkönig) quasi zu wenig an Bedeutung aufweist, besitzt der andere (schei-nen), zu viel – zwei Optionen, zwischen denen Sprache sich grundsätzlich bewegt. Anders, im Sinne Roman Jakobsons, formuliert: neben der referentiellen Funktion ist immer mit weiteren Funktionen zu rechnen, insbesondere auch mit der poetischen. Hinweise zur Metrik Die Metrik beschreibt rhythmische Wiederholungs-strukturen (Rekurrenzschemata), d.h. die regelmä-ßige Wiederkehr eines bestimmten Wechsels von betonten und unbetonten Silben, unabhängig davon, welche konkreten Worte gebraucht und was ausge-sagt wird. Versfuß: kleinste metrische Einheit, beruhend auf einer geregelten Abfolge von He-bung/Länge/Betontheit und Sen-kung/Kürze/Unbetontheit (Notation: – = betonte Silbe, Hebung; v = unbetonte Silbe, Senkung) zweisilbige Versfüße: Jambus v – Trochäus – v Spondeus – – dreisilbige Versfüße:

Daktylus – v v Anapäst v v – Versmaß: ergibt sich aus der Reihung von Versfü-ßen in einer Verszeile. Einige der gebräuchlichsten Beispiele: Blankvers (jambischer, fünfhebiger Vers): v – v – v – v – v – [...] So great an object. Can this cockpit hold The vasty fields of France? Or may we cram Within this wooden O the very casques That did affright the air at Agincourt? [...] Solch großen Vorwurf. Diese Hahnengrube, Faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl In dieses O von Holz die Helme nur, Wovor bei Agincourt die Luft erbebt?

[W. Shakespeare: Herny V; dt. Übersetzung von A.W. Schlegel]

Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, Ins Nichts, ins Nichts! In dem Gefild der Schlacht, Sehn wir, wenns dir gefällig ist, uns wieder! Im Traum erringt man solche Dinge nicht! Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!

[Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg] Alexandriner (jambisch-sechshebig, mit einer Zäsur nach der 6. Silbe, im klassizistischen Drama paar-weise gereimt): v – v – v – / v – v – v – Die du mit ewger Glut, mich Tag und Nacht begleitest Mir die Gedanken füllst und meine Schritte leitest O Rache wende nicht im letzten Augenblick, Die Hand von Deinem Knecht. Es wägt sich mein Geschick Mit unsern Weibern auch, ist es ein übel Spiel Sie haben nie kein Geld und brauchen immer viel.

(Johann Wolfgang Goethe, Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, 2. Fs.)

Hexameter: sechsfüßiger Daktylus, am Ende un-vollständig (= "katalektisch"): –v(v) –v(v) –v(v) –v(v) –vv –v Schwindelnd trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen, Hinter dir siehtst du, du siehst vor dir nur Himmel und Meer [Friedrich Schiller: Der epische Hexameter] Pentameter: sechsfüßiger Daktylus mit zwei Kata-lexen im dritten und sechsten Fuß: – v (v) – v (v) – – v v – v v – Knittelvers, vierhebig, mit männlicher und weibli-cher Kadenz, Füllungsfreiheit:

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8 Werd's rühmen und preisen weit und breit Daß Plundersweilern dieser Zeit Ein so hochgelahrter Docktor ziert Der seine Collegen nicht cujoniert

[Johann Wolfgang Goethe: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern]

Strophe: Aus der Kombination von Versen ergeben sich Strophenformen, so beispielsweise das Distichon: ein Hexameter gefolgt von einem Pentameter: Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab. [Friedrich Schiller: Das Distichon] Gedichtformen (z.B. Hymne, Elegie, Ode, Stanze, Ghasel, Ballade, (Volks-) Lied): Bestimmte Gedichtformen können durch festgelegte Kombi-nationen von Vers-/Strophenformen definiert sein; z.B. Sonett: - 14 Verszeilen - verteilt auf 4 (2) Strophen:

- 2 x 4 Zeilen (2 Quartette) - 2 x 3 Zeilen (2 Terzette)

- vor allem im Barock gelten weitere Kriterien, etwa ein spezielles Reimschema: - a – b – b – a in den Quartetten - cdcdcd; ccdede; cdcdee in den Terzetten - bevorzugtes Versmaß: Alexandriner - zumeist antithetischer Aufbau (das letzte

Terzett bringt eine entscheidende semanti-sche Wendung)

Die Kriterien können jedoch auch allgemeiner sein, so gilt etwa für das (Volks-)Lied nur die Forderung, daß es irgendein wiederkehrende Schema aufweisen muß; für die Ballade kommt dann etwa als anderes Definitionskriterium die Existenz einer (epischen) Narration, einer Geschichte dazu. Reimtypen: Strophen- und Gedichtformen können zugleich durch bestimmte Reimschemata gekenn-zeichnet sein, z.B. Paarreim: a - a - b - b Kreuzreim: a - b - a - b umarmender Reim: a - b - b - a Kettenreim: a-b-a/b-c-b oder a-b-a/c-b-c verschränkter Reim: a - b - c - d / a - b - c - d Binnenreim: Neben solchen Endreim-Formen gibt es auch Reime im Versinneren ("Sie blüht und glüht und leuchtet”; Heinrich Heine, "Die Lotusblume”). Alliteration: eine Variante des Reims, bei der der Gleichklang nicht am Wortende, sondern am An-fang steht, beispielsweise im Stabreim:

Winterstürme wichen dem Wonnemond, in mildem Lichte leuchtet der Lenz

(Richard Wagner, "Der Ring des Nibelungen”)

Kadenz: Bei Versen, die mit einer betonten Silbe enden, spricht man auch von "männlichem" Vers-schluß, bei unbetontem Ende von "weiblichem"; entsprechend bei reimenden Versen von "männli-chem” und "weiblichem” Reim. Wenn nur eine unvollkommene vokalische oder konsonantische Übereinstimmung der Reimsilben vorliegt, spricht man von "unreinen Reimen” (Himmel - Schimmer; gehn - schön). Literaturhinweise: • Hans-Werner Ludwig (Hg.): Arbeitsbuch

Lyrikanalyse, 2. Aufl. Tübingen 1981 • Dieter Breuer: Deutsche Metrik und

Versgeschichte, München 1981 • Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine

historische Einführung, München 1981 • Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen,

Stuttgart 1992