Louise March - Gurdjieff. Leben Und Werk

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    Am 29. Oktober 1949 starb in Paris ein hchst auerordentlicher Mann: G.Gurdjieff, betrauert von Freunden und Schlern aus vielen Lndern. Er starb,whrend sein erstes Buch in vier Lndern im Druck war - ein Gleichnisgewissermaen seiner immer gewahrten und gewollten Anonymitt der greren

    ffentlichkeit gegenber, trotzdem sein Aktionsradius von Tibet ber Europabis nach Amerika reichte. Hinterlassen hat er der Welt ein vierfaches Gut:

    1. Seine Schriften

    2. Seine Musik

    3. Seine Bewegungen und Tnze (Movements)

    4. Eine wohl vorbereitete berlieferung durch seine lteren Schler.

    Mir, als dem einzig Lebenden seiner deutschsprachigen Anhnger undbersetzer seiner Schriften ins Deutsche, fllt die Aufgabe zu, fr alle meineBrder gleicher Zunge, wenn auch sehr unzulnglich, so doch auf Gurdjieffhinzuweisen!!

    Gurdjieff wurde 1872 in der Gegend des Ararats geboren, von alters her einKnoten- und Kreuzungspunkt vieler Vlker und Kulturen. Seine Vorfahrenstammten von Griechen aus Csarea ab, deren Geschichte weit vor Christi

    zurckreicht. Er wuchs in einer patriarchalischen Familie unter geradezubiblischen Lebensumstnden auf. In der zweiten Serie seiner SchriftenBegegnungen mit hervorragenden Menschen, schildert er seinen Vater, einenletzten Barden und ursprnglichen Denker, seinen ersten Lehrer, den Dechantender militrischen Kathedrale in Kars, der seinen fhigen Schler fr dieLaufbahn eines Priesters und Arztes zugleich bestimmte, das heit, zur Heilungdes ganzen Menschen. Er selber hatte groes Interesse fr alle Wissenschaftenund zeigte gleichzeitig groe Geschicklichkeit mit den Hnden, weshalb er sichin vielen Gewerben versuchte. Aber einige Jugenderlebnisse in der seltsamen

    kaukasischen Umgebung, fr die er keine Erklrung in der Wissenschaft fand,lieen ihn frh ber den Sinn des Lebens nachdenken und an dem zweifeln, wasdie Leute sagen. So kam es dahin, dass er sich noch jung auf die Suche nachwahrem fr alle Zeiten und fr alle Menschen gltigem aufmacht. Nachdem erverschiedene mittelalterliche Ruinen und altarmenische Literatur studiert hatte,kam er zu der berzeugung, dass die Menschen frherer Zeiten ein Wissenbesessen hatten, das im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Im Vereinmiteinigen jungen Freunden machte er sich auf die Suche nach berresten oderSpuren dieses alten Wissens auf. Sie nannten sich Wahrheitssucher und

    kamen in abgelegene Klster, die uralte Traditionen bewahrt hatten, trafenDerwische, heilige Mnner und Mitglieder der verschiedensten religisenBruderschaften. Spter gesellten sich Leute aus verschiedenen Wissenszweigen

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    und mit greren materiellen Hilfsmitteln zu ihnen, ein Archologe, einGeologe, ein Ingenieur, ein Arzt, Sprachwissenschaftler usw. Einigen vondiesen hat Gurdjieff auch in der zweiten Serie seiner Schriften ein Denkmalgesetzt. Ihre Reisen gingen nach Persien, Turkestan, Tibet, Indien, der Wste

    Gobi, gypten. Gerchte, dass Gurdjieff in Tibet eine fhrende Rolle imenglisch-tibetanischen Krieg gespielt haben soll, sind aus dieser Zeit erhaltengeblieben. Gelegentlich tauchte er zu Hause auf und verschwand wieder, betriebauch zwischendurch verschiedene Geschfte und Gewerbe, um sich seinenUnterhalt zu verdienen. Seine Spuren werden fr uns erst um 1912 herumdeutlich. Damals war er an die vierzig, lebte in St. Petersburg und hatte Schlerum sich, die von seiner ungewhnlichen Originalitt und Echtheit angezogenwaren. Sie empfanden alle etwas von dem, was eines meiner Kinder so zumAusdruck brachte: Er sieht anders aus und ist anders als alle anderen Leute.

    Damals lernte ihn der Schriftsteller D. P. Ouspensky kennen, der durch seineErforschung der vierten Dimension auf psychologisch-philosophischem Gebietbahn brechend geworden ist. Er fand in ihm alles, was er, der selbst gerade ausIndien zurckgekehrt war, an verschiedenen Orten im Osten vergeblich gesuchthatte. In seinem letzten Buch Auf der Suche nach dem Wunderbaren.Fragmente einer unbekannten Lehre (Deutsch im Verlag Der Palme,Innsbruck) schildert Ouspensky sein Zusammentreffen mit Gurdjieff und gibtwrtlich viele seiner Gesprche mit Gurdjieff wieder, oder genauer gesagt,Gurdjieffs gewichtige Antworten auf die prgnanten Fragen Ouspenskys sowie

    anderer Schler.

    Gurdjieff kannte sich auf allen Gebieten aus und brachte Licht in die dunkelstenEcken. Besonders gab er eine neue Auffassung vom Sinn und Zweck desmenschlichen Daseins und dem, was Evolution wirklich ist. Er ging ber allesbekannte Universittswissen hinaus, auch ber das, was gewhnlich Religiongenannt wird; er konnte helfen, wo die blichen rzte und Seelsorger versagten.Aber er hielt keine Vorlesungen, er drngte sein Wissen niemandem auf, imGegenteil, es war schwer, es aus ihm herauszuholen und man musste wirklich

    ernsthaft suchen, wirklich es sich etwas kosten lassen, wirklich mehr als Wortewollen. Bei ihm hatte alles Hand und Fu, das groe Ferne kam einem nahe undwurde deutlich wie die eigene Hand, das nahe Kleine wurde millionenfachvergrert und deshalb erkennbar. Alles brige Denk- und Glaubensgut desmodernen Menschen flatterte wie Motten am Licht, wenn es in das BlickfeldGurdjieffs kam. Dafr gab er zu ahnen, in seiner Sprache zu kosten, wasderWeg, die Wahrheit, das Leben in Wirklichkeit ist. Damals war er imBegriff, ein groes Institut zu grnden, Das Institut fr die harmonische

    Entwicklung des Menschen, in dem der physische, emotionelle und denkerische

    Teil des Menschen auf gleiche Weise erzogen und Aufmerksamkeit und Willezur Erkenntnis und Lenkung seiner selbst herangebildet werden soll. Er hatte

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    schon viele wissenschaftliche Apparate aus Deutschland kommen lassen, als diepolitischen Ereignisse alles vereitelten; der erste europische Krieg brach aus.

    So unglaublich es klingen mag, auch ein solches enormes Ereignis brachte

    Gurdjieff nicht von seinem Vorhaben ab; das geplante Institut wurde einwanderndes Institut, teils mit den gleichen, teils mit verschiedenen Leuten.Dabei machten sie alle Schwierigkeiten der Millionen von Heimatlosen diesesunseligen zwanzigsten Jahrhunderts durch. Gurdjieff wie die Schler kmpftenum das tgliche Brot, aber nicht nur in dem einen Sinn, in dem dies gewhnlichverstanden wird, sondern sie arbeiteten auch. Arbeit bei ihm und in seinem Kreisbedeutet:Arbeit an sich selbst, Arbeit zur Erkenntnis seiner selbst und zurSelbstvervollkommnung. Je grer die Schwierigkeiten, um so grer dieMglichkeit zu produktiver Arbeit, vorausgesetzt, dass man bewusstarbeitet.Fr eine Weile schien es, dass das Institut im Kaukasus, dann in Tiflis sehaftwerden knnte, aber die politischen Ereignisse vereitelten es auch dort nachkurzer Zeit. Gurdjieffs Takt, Menschenkenntnis und ganz ungewhnlicherallgemeiner Umsicht war es zu verdanken, dass die verschiedenen feindlichenParteien ihn und seine Gruppe unbehelligt lieen, ja es kam sogar dazu, dass dieWeie und Rote Armee ihn unparteiisch genug fanden, so dass zum Beispielbeide ihm eine schriftliche Erlaubnis gaben, Waffen tragen zu drfen.

    Das wandernde Institut gelangte schlielich nach fast unberwindlichenSchwierigkeiten nach Konstantinopel. Alfons Paquet, der Frankfurter

    Schriftsteller, traf ihn dort 1921, am Tag vor seiner Rckkehr nach Deutschland,und sah eine Vorfhrung der sakralen Tnze von Gurdjieffs Gruppen. Es isterstaunlich, wie viele Ahnungen er an jenem einen Abend von der Universalittvon Gurdjieffs Lehre gewann.* Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, dasInstitut in Hellerau zu erffnen, und Gurdjieffs Weigerung, es in London zu tun,kam es schlielich 1922 dazu, dass es in Fontainebleau im historischen Chteaudu Prieur eine - wie es schien - bleibende Behausung fand. Es hatte Schler ausaller Herren Lnder, vorwiegend jedoch Russen und Englnder. Das groe Hausund der groe Garten und Wald gaben mehr als genug Gelegenheit zu

    praktischer Arbeit. Es wurde gebaut, gefarmt, studiert, gewoben, gemalt und indem aus einer Zeppelinhlle eigens dafr errichteten Study House wurden bistief in die Nacht die Bewegungen und heiligen Tnze gebt, psychologischebungen gemacht und es gab Gurdjieff seine auf Fragen gegebene Antworten.Eine Vorfhrung im Theater der Champs Elyses lie die Welt sehen, wasGurdjieff und sein Kreis leisteten. 1924 ging er mit 40Schlern seines Institutsnach Amerika und gab dort groe Vorfhrungen in Carnegie Hall, New York,Boston, Chicago und anderen Stdten. Diese Vorfhrungen von Tempeltnzenund psychologischen Phnomenen erregten grtes Aufsehen. Damals wollte er

    in Amerika und in (*Siehe Alfons Paquet, Delphische Wanderung, Seite 218 ff.)verschiedenen anderen Lndern Zweigstellen des Instituts fr die harmonischeEntwicklung des Menschen grnden.

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    Wiederum unterbrach das Schicksal seine Plne und wiederum wurde dadurchnur die Form der Mittel, seine Lehre an andere weiterzugeben, verndert. Kurznach seiner Rckkehr nach Frankreich erlitt Gurdjieff einen sehr schwerenAutounfall, der seinem Leben fast ein Ende machte. Whrend er wochenlang im

    Bett lag und mit groer innerer Anstrengung sein Bewusstsein wiedererkmpfte,erkannte er, wie viel er noch zu tun und wie wenig Zeit er noch hatte. Damalseben beschloss er zu schreiben. Es war sein eigener Entschluss, seine ihm vonsich selbst diktierte Aufgabe, sein freiwillig auf sich genommenes Kreuz. Erschloss sein Institut fr die harmonische Entwicklung des Menschen, schickteseine Schler nach Hause, schloss sich selbst von allem ab und begann zuschreiben. Der von ihm gewhlte Rhythmus seines Tages blieb berall derselbe;alle nur mgliche Kraft und Zeit verwandte er auf das Schreiben. Davon wich ernicht ab, ganz gleich, was die ueren Umstnde waren. er schrieb auch in derEisenbahn oder auf dem Schiff. Meistens sa er im Caf de la Paix in Paris, oderin einem kleinen Caf in Fontainebleau, oder wenn er fr kurz nach New Yorkkam, bei Childs, und schrieb. Der Lrm der redenden Menschen und dasKlappern des Geschirrs drangen nicht an sein Ohr - ja selbst Besucher, derenviele kamen, mussten warten, bis er sich ihnen zuwandte, und darber konntenein und zwei und drei Stunden vergehen. Manche sprten in der Nhe desseltsamen Meteors den Gegensatz zwischen der geruschvollen, hastenden,trgerischenueren Welt und der Ruhe, Sicherheit und inneren Flle dessen,der da sa und schrieb.

    Ziemlich am Anfang meiner Arbeit, als ich noch verwundert war, dass Gurdjieffnichts von dem suchte, was die Annehmlichkeiten und das Streben aller anderenMenschen ausmacht, setzte er sich einmal, als er sichtlich ermdet aus dem Cafzurckkam, neben mich auf die Terrasse mit dem schnen Blick auf demhistorischen Garten der Prieur, wo ich an der bersetzung arbeitete. Warumarbeiten Sie nicht auch hier, mit dem Blick auf die Rosen, den Goldfischteichund die beschnittene Platanenallee, in so guter Luft? Ich arbeite immer nur inCafs, Tanzlokalen und hnlichen Sttten, wo ich die Menschen sehe, wie siesind, wo ich die sehe, die am meisten betrunken sind, am anormalsten. Bei

    ihrem Anblick kann ich den Impuls der Liebe in mir erzeugen. Und aus demheraus schreibe ich meine Bcher.

    Eine Art Erholung war fr ihn das Kochen. Er nannte sich Dr. Kulinari undkonnte die verschiedensten Gerichte aller asiatischen Stmme zubereiten, so wiesie durch die Jahrhunderte berliefert worden sind, und viele eigeneKombinationen dazu, die nicht nur den uns immer mehr abhanden kommendenGeschmackssinn beleben, sonder den Menschen auch zu einem gewissenBewusstwerden der in ihm vor sich gehenden Verdauungsvorgnge fhren.

    Acht oder neun Jahre verwandte er zum Schreiben und es entstanden drei Serienvon Bchern, fr einen einzigen Menschen von ungewhnlicher Flle,

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    Originalitt und Vielfalt der Bedeutung. Die zweite Serie, die zugleich einReisebuch von unvergleichlicher Schnheit ist, ging ihm so leicht wie seineMusik vonstatten, die an die 5000 Stcke zhlt. Die Hauptanstrengung frGurdjieff war die erste Serie seiner Schriften, betitelt; Eine objektive

    unparteiische Kritik des Lebens des Menschen oder Beelzebubs Erzhlungenfr seinen Enkel.

    Manche Kapitel der ersten Serie, vor allem das Kapitel Gedankenerwachen,zuerst Warnung genannt, hat er sieben- und dieses sogar zwlf Malumgearbeitet. Was fr eine Mhe, bis alle Themen seines Werkes, das keineFrage unberhrt lsst, in dieser Ouvertre angeschlagen und verbunden waren.Bei den nderungen war deutlich zuerkennen, dass er den Knochen tiefervergraben wollte, das heit, nichts auf billige Weisegeben wollte. Dies warunbedingt ntig zur Erreichung des sich von ihm gesteckten Zieles. Es kannkeinem etwas geschenkt werden; auch das Beste, was uns gegeben wird, kannnur dann unser eigen genannt werden, wenn wir es selbst erarbeiten. Auf keinemFall wollte er neues Wissen geben, was sich leicht in Worten sagen lsst,sondern etwas im Wesendes Menschen ndern, ffnen, entfalten, was ihnlangsam zur Erschaffungseiner eigenen inneren Welt fhren und ihm Verstehengeben sollte. Er, der die Menschen mit einem Blick erkannte, wusste, dass dieserVorgang eine ungeheure Operation bedeutet und die erste Serie hatte eben dieAufgabe, aufzurumen mit den im Denken und Fhlen des Lesers seitJahrhunderteneingewurzelten Vorstellungen und Anschauungen ber alles in der

    Welt angeblich Existierende, um Platz zu schaffen zur Aufnahme von etwasNeuem und Wirklichem.Damit komme ich auf das Hauptziel von Gurdjieffs Schriften zu sprechen undvor allem zu seiner ersten Serie: an Stelle eines persnlichen Lehrers gibt siealles, was wir in diesem zwanzigsten Jahrhundert brauchen, um uns einewahrhafte und unvernderliche innere Welt erwerben zu knnen. Dies kann abernur geschehen, wenn der Leser langsam lernt, dass seine Mitarbeit, sein sichwundern, Vergleichen, Gegenberstellen, Fragen lernen, und auf Antwortwarten, ebenso ntig ist, wie die Hilfe des Buches. Durch unsere falsche

    Erziehung sind die uns verliehenen Krfte des Denkens, Fhlens undEmpfindens ganz vermechanisiert und einseitig ausgebildet; erst recht, wenn wirso genannte gebildete Menschen sind. Der Kern in uns, das Samenkorn, das sichnach einer Entfaltung und Kontinuierlichkeit sehnt, liegt deshalb erstickt undeingezwngt zwischen den falschen Ttigkeiten unserer vielen vermeintlichenIchs.

    Whrend der acht Jahre des Schreibens lie Gurdjieff tglich vor oder nachTisch, im kleinen Kreis oder fr viele Gste das eine oder andere Kapitel in der

    einen oder anderen Sprache vorlesen. Gurdjieff beobachtete die Zuhrer underkannte an ihnen den Grad der Vollendung des von ihm neu geschrieben wieauch die Exaktheit der bersetzung. Oft whlte er Kapitel, die dem einen oder

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    anderen Menschentyp mehr entsprachen, oder aber das Kapitel ber die Nationdes Betreffenden. Neue Gste waren erstaunt, dass er ein kleines Wort oder eineSatzverdrehung so wichtig nehmen konnte, die bersetzer dagegen kanntenGurdjieff schon alsLehrer der Exaktheit. Fr uns geschah die bersetzung nicht

    eigentlich um der bersetzung willen, sondern war unsere Schulung, die uns ausunseren subjektiven Vorstellungen und Ansichten herausschlte und mit derSchaffung einer neuen exakten Sprache zu einem Verstehen brachte, das wir amAnfang nicht einmal htten ahnen knnen. Vor allem wurde in uns allmhlichdie Fhigkeit des Sich- leer- machen- knnens, des Hren-knnensherangebildet. Nur wo Platz ist, kann etwas neues Platz finden, Nun ist das einschwierigerer Prozess als die meisten Leute glauben wollen:Die Befreiung vondem automatisch erworbenen, rein subjektiven Denk- und

    Vorstellungskaleidoskops und die Erwerbung eines bewusst arbeitenden,

    immergltigen, objektiven an seiner Stelle.Alle mglichen Anekdotenillustrieren diesen Vorgang, und wenn sie erst einmalgesammelt werden, um Gurdjieffs Lehre in seiner grandios-humorvollen Weisezu veranschaulichen, werden die bersetzereinen guten Beitrag liefern knnen.Aus dem Lesen um Gurdjieff erwuchsen allmhlich Gruppen in denverschiedensten Hauptstdten der Welt, wobei die Zuhrer, jeder fr sich, dieerstaunliche Tatsache feststellten, dass seine erste Serie, dieses kosmischeMrchen, wirklicher als alle Mrchen, mit einer sicherlich auerirdischenWissensquelle, die ihnen unerlsslich ntige Hilfe in der Erkenntnis ihrer selbstund aller Dinge in dieser Welt gibt. Wenn sie eine Frage hatten, auf die sie keine

    Antwort finden konnten, eine Schwierigkeit, die sie nicht annehmen oderberwinden konnten, so brachte ihnen dieses Buch die ntige Hilfe. Dabeikonnte man im Laufe der Jahre bemerken, dass ihr uerer Mensch, ihr sichWichtignehmen, ihr mit tausend kleinen tglichen Aufregungen undBegeisterungen geflltes Dasein gewhnlich stiller, ruhiger und ernster wurde,und ihr innerer Mensch, der in fast keinem Menschen der heutigen Zeit zumDurchbruch kommen kann, anfangsgelegentlich und spter hufiger inErscheinung trat. Man musste nicht mit ihnen reden, aber man sprte, dassdieses Buch ihnen eine wirkliche Nahrung und Mastab war. Selbstzufriedenheit

    konnte nicht auftreten, wenn man erkannte, wie lange es gebraucht hatte, bisman die eine oder andere Sache verstand, oder, richtiger gesagt, auf dem Wegewar, zu verstehen; oder wenn man bemerkte, dass zwei Stunden des Zuhrensschon zuviel waren fr unser nur auf flchtige Beobachtung eingestelltesDenken und unser immer flatterndes oder lahmes Gefhl. Jede Seite, jedesKapitel in Gurdjieffs Schriften lieen den Zuhrer sein eigenes Unvermgen,seine eigene Uneinheitlichkeit, seine eigene Nichtigkeit erkennen undgleichzeitig verstrkten sie in ihm den Drang nach etwas Bleibendem, Sicherem,Dauerndem, erweiterten seineFragemglich-10keiten, frderten sein

    Forschungsvermgen und seine nachdenkenden Fhigkeiten und erweckten inihm Krfte, die ihm zwar niemals recht, aber dafr den Geschmack dessengeben knnen, was ein Mensch sein knnte und sein sollte.

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    Gurdjieff sprach in den acht Jahren, in denen er die verschiedenen Serien seinerSchriften schrieb, oft von deren Verffentlichung, ja, er fuhr sogar eigens nachLeipzig, um mir den Ort zu zeigen, wo seine Schriften gedruckt werden sollten.

    Damals, in den spten zwanziger und frhen dreiiger Jahren, verstand ich dasGedrucktwerden hauptschlich indem Sinne, dass es in mir gedruckt werdenmsse, nmlich, um in mir jenen Menschen zu erwecken und wach und ttig zuerhalten, der das Verlangen in meiner Kindheit gewesen war, wenn ich darbernachsann, was es denn eigentlich bedeute, dieses Lieben deinen Nchsten wiedich selbst. Gerade als ich nach allen mglichen Versuchen und unterZuhilfenahme der mir bekannten Religionen, philosophischen Richtungen,Wissenschaften und Knste endgltig die Hoffnungslosigkeit jedes wirklichenVersuches in dieser Richtungeingesehen hatte, hrte ich selber zum ersten Malein Kapitel aus Eine objektivunparteiische Kritik des Lebens des Menschen(man konnte es damals nie selber lesen, nur hren), um ihm meine erstegesegnete schlaflose Nacht zu verdanken.Anfang 1949, bei einem Besuch in New York, sagte Gurdjieff im Kreiseeinigerseiner lteren Schler, dass die Zeit gekommen sei, seine Schriften zudrucken und dass es noch im gleichen Jahre geschehen msse. Er bestimmte,dass die erste Serie, die schwierigste, unbedingt als erste herauskommen msse,und zwar im Taschenformat, damit jeder sie in seiner Tasche bei sich tragenknne. Gleichzeitig gab er die Erlaubnis, das letzte Werk von Ouspensky, der inEngland und Amerika sehr bekannt und ob seiner frheren Bcher sehr

    geschtzt wird, zu verffentlichen: Auf der Suche nach dem Wunderbaren,Fragmente einer unbekannten Lehre ist sowohl Vorlufer als auch ein ersterKommentar zu Gurdjieffs Schriften.

    In Deutschland las ich 1929 zum ersten Mal in Gegenwart von Gurdjieff einigeKapitel aus Beelzebubs Erzhlungen vor. Es war im Hause von Alfons Paquet inFrankfurt. Zu der Lesung luden Paquet und ich Freunde ein; nach GurdjieffsWeisung sollten mindestens sieben Familienvter darunter sein. Drei Stundenununterbrochenen Lesen waren auch fr die auf ihre Auffassungskraft stolzen

    Deutschen zuviel. Spter wollte mich einer meiner Freunde enttuschen, indemer mir sagte, nur ein Wort sei ihm von dem langen Lesen im Gedchtnisgeblieben:Kundabuffer. Mir schien dies genug: Kundabuffer an Stelle desechten Menschen, Tuschung an Stelle der Wahrheit, auerdem die erste undeinzige Erklrung dessen, was in der Sprache der Kirche Erbsnde genanntwird. Wider seinen Willen war mein Freund beim Regnen nass geworden. InBerlin lie mich Gurdjieff als erstes das Kapitel berFrchte alterZivilisationen und die Blten der modernen lesen, wobei mir schien, das einigeder Anwesenden ber das, was darin ber die Erfindungen der Deutschen gesagt

    wird, fast Blut schwitzten. Beim Studium der Massenpsychose, jenem Gruel,der die Entartung der der modernen Menschheit am schrfsten zeigt, nimmt

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