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Logos Freie Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie http://fzwp.de, ISSN 1869-3423 Die Metaphysik und ihre Möglichkeit * Jonathan Lowe ** Zusammenfassung Auf Kants berühmte Frage „Wie ist Metaphysik möglich?“ wird eine bejahende Antwort gegeben – eine, die Metaphy- sik als eine selbständige und unentbehrliche Disziplin dar- stellt, deren Aufgabe es ist, das Reich der wirklichen Mög- lichkeiten zu erforschen. Die Begriffe der „wirklichen“ oder „metaphysischen“ Möglichkeit und Notwendigkeit werden verteidigt und von den Begriffen verschiedener anderer Arten von Modalität unterschieden, z. B. physischer, lo- gischer und begrifflicher Möglichkeit oder Notwendigkeit. Es wird dargelegt, daß die Gegner der Metaphysik, von den Relativisten bis zu denen, welche die Metaphysik den empirischen Wissenschaften, der Erkenntnislehre oder der Sprachphilosophie unterordnen möchten, inkohärente Auf- fassungen annehmen. * Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Metaphysik: Neue Zugänge zu alten Fragen, Hg. J. L. Brandl, A. Hieke und P. M. Simons, Sankt Augustin: Aka- demia Verlag, 1995, S. 11-32, aus dem Englischen übersetzt von Frau Maria Maier, und erscheint hier mit kleinen Veränderungen mit der freundlichen Genehmigung der Herausgeber. Erscheinungsdatum 1.10.2009. ** University of Durham, Epost: [email protected] (ersetze ‘ABC’ durch ‘durham’) Logos 1 (2009), 2–31, http://fzwp.de/0001/ urn:nbn:de:0265-00017

Lowe, Die Metaphysik Und Ihre Möglichkeit

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LogosFreie Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie

http://fzwp.de, ISSN 1869-3423

Die Metaphysik und ihre Möglichkeit*

Jonathan Lowe**

ZusammenfassungAuf Kants berühmte Frage „Wie ist Metaphysik möglich?“wird eine bejahende Antwort gegeben – eine, die Metaphy-sik als eine selbständige und unentbehrliche Disziplin dar-stellt, deren Aufgabe es ist, das Reich der wirklichen Mög-lichkeiten zu erforschen. Die Begriffe der „wirklichen“ oder„metaphysischen“ Möglichkeit und Notwendigkeit werdenverteidigt und von den Begriffen verschiedener andererArten von Modalität unterschieden, z. B. physischer, lo-gischer und begrifflicher Möglichkeit oder Notwendigkeit.Es wird dargelegt, daß die Gegner der Metaphysik, vonden Relativisten bis zu denen, welche die Metaphysik denempirischen Wissenschaften, der Erkenntnislehre oder derSprachphilosophie unterordnen möchten, inkohärente Auf-fassungen annehmen.

*Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Metaphysik: Neue Zugänge zu altenFragen, Hg. J. L. Brandl, A. Hieke und P. M. Simons, Sankt Augustin: Aka-demia Verlag, 1995, S. 11-32, aus dem Englischen übersetzt von Frau MariaMaier, und erscheint hier mit kleinen Veränderungen mit der freundlichenGenehmigung der Herausgeber. Erscheinungsdatum 1.10.2009.

**University of Durham, Epost: [email protected] (ersetze ‘ABC’ durch‘durham’)

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Abstract

A positive answer to Kant’s famous question, ‘How is me-taphysics possible?’, is given – one that represents meta-physics as being an autonomous and indispensable intel-lectual discipline whose task is to chart the domain of realpossibilities. The notions of ‘real’ or ‘metaphysical’ pos-sibility and necessity are defended and distinguished fromthose of various other species of modality, such as phys-ical, logical, and conceptual possibility or necessity. Theenemies of metaphysics, from relativists to those who seekto subordinate metaphysics to empirical science, epistem-ology, or the philosophy of language, are argued to holdpositions that are either incoherent or self-defeating.

IEs war Immanuel Kant, der als erster die Frage stellte „Wie istMetaphysik möglich?“. (KrV, B 22) Er nahm an, daß der Gegen-standsbereich der Metaphysik synthetische Wahrheiten a prioriumfasse. Inzwischen sind uns jedoch Zweifel daran gekommen, obes eine solche Klasse von Wahrheiten überhaupt gibt; dies nichtzuletzt deshalb, weil die analytisch-synthetisch-Unterscheidungaufgrund W. O. V. Quines Kritik daran fragwürdig gewordenist. (Quine 1951) Die Unterscheidung zwischen a priori und a po-steriori wird hingegen noch immer ernst genommen – ihr wurdedurch das Werk von Saul Kripke sogar neues Leben eingehaucht.(Kripke 1972) Aber auch Kripkes Arbeit untergräbt Kants epi-stemologische Annahmen, da sich daraus ergibt, daß notwendigeWahrheiten nicht a priori und kontingente Wahrheiten nicht aposteriori sein müssen. Im Lichte dieser veränderten Vorstellun-gen muß Kants Frage „Wie ist Metaphysik möglich?“ neu gestelltund sogar in einer neuen Art und Weise verstanden werden. Aberdie Frage selbst ist für uns ähnlich drängend wie für Kant – die

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Metaphysik ist nämlich von vielen Seiten unter Beschuß geraten,sowohl aus den Reihen der Philosophen selbst als auch durch ver-schiedene externe Gruppen. Ungeachtet dieser Attacken hat dieMetaphysik jedoch unter den sogenannten analytischen Philoso-phen eine Art Renaissance erfahren; und dies nach einer für sieäußerst unproduktiven Periode, in der zuerst der logische Positi-vismus und dann die ordinary language philosophy vorherrschten,welche beide der metaphysischen Spekulation feindlich gesinntwaren. Analytische Philosophen stehen nun Erörterungen, wel-che sich mit der Natur der Substanz, der Realität von Universa-lien oder der Existenz abstrakter Entitäten befassen, nicht mehrablehnend gegenüber. Es ist somit nötig zu begreifen, wie solcheUntersuchungen gerechtfertigt werden können, und welchen epi-stemologischen Status ihre Schlußfolgerungen berechtigterweisebeanspruchen können.

Hierfür ist es zunächst einmal nötig, daß wir uns auf eineim großen und ganzen unumstrittene Charakterisierung dessenfestlegen, was denn als zentraler Untersuchungsgegenstand derMetaphysik zu betrachten ist. In der philosophischen Traditionverstand man unter Metaphysik das systematische Studium dergrundlegendsten Struktur der Wirklichkeit – und das ist genaudie Auffassung, welche auch ich vertreten möchte. Faßt man dieZielsetzung der Metaphysik in diesem Sinne auf, so wird das An-liegen, die Möglichkeit von Metaphysik zu verteidigen, zu einersubstantiellen und nicht unproblematischen Aufgabe – und da-mit zu einer, die es durchaus wert ist, untersucht zu werden.Setzt sich die Metaphysik hingegen weniger ehrgeizige Ziele –versteht man darunter z. B. den Versuch, unsere zur Zeit allge-mein anerkannten Sprechweisen über die von uns unhinterfragtangenommene generelle Beschaffenheit der Welt, in der wir leben,zu analysieren –, so wird das ihre Rechtfertigung erleichtern, je-doch nur auf Kosten der Attraktivität der Metaphysik und desWertes der metaphysischen Untersuchungen. Sollte sich heraus-

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stellen, daß die im traditionellen Sinne verstandene Metaphysikunmöglich ist, so können wir noch immer anspruchslosere Pro-jekte verfolgen: In diesem Fall sollten wir dann aber zumindestnicht so tun, als ob wir etwas täten, das es wert wäre, mit demNamen „Metaphysik“ ausgezeichnet zu werden.

Ich gebe zu, daß die Charakterisierung von Metaphysik als dassystematische Studium der grundlegendsten Struktur der Wirk-lichkeit nicht besonders präzise ist. Ich biete jedoch auch keineDefinition – bei der Ungenauigkeit tatsächlich ein Mangel wäre.Ich glaube nicht, daß es überhaupt etwas bringt, eine Definiti-on von Metaphysik anzustreben, denn es besteht die Gefahr, sieso zu machen, daß eine metaphysische Position gegenüber ande-ren begünstigt wird – z. B. so, daß sie die Realität des Raumesoder der Kausalität voraussetzt, obwohl die Realität dieser En-titäten von einigen metaphysischen Systemen verneint wird. Miteiner ähnlichen Schwierigkeit ist jeder Versuch verbunden, denGegenstandsbereich der Metaphysik mittels einer Auflistung dervon ihr angeblich umfaßten Themen zu umreißen. Man muß sichnur die höchst unterschiedlichen Inhalte neuerer Metaphysik-Lehrbücher anschauen, um zu sehen, wie willkürlich ein solcherAnsatz ist. Eine Folge davon, keine absolut eindeutige Abgren-zung des Bereichs der Metaphysik zu geben, ist sicherlich, daßdie Metaphysik von bestimmten anderen Unternehmungen, wiez. B. den Erfahrungswissenschaften, nicht klar getrennt zu seinscheint. Obwohl ich später darlegen werde, daß jede empirischeWissenschaft die Metaphysik zur Voraussetzung hat, glaube ichdennoch nicht, daß eine klare Trennung zwischen metaphysischenBelangen und einigen der mehr theoretischen Belangen der Wis-senschaft gemacht werden soll. Zieht man in diesen Bereichenscharfe Grenzen, so ist das nicht hilfreich; und es ist auch nichtnötig, um behaupten zu können, daß die Gegenstände der Me-taphysik hinreichend bestimmt sind, um den Kern einer relativunabhängigen Disziplin zu bilden – eine Disziplin, deren intel-

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lektuelle Ansprüche eine Untersuchung durchaus wert sind. Injedem Fall hege ich die Hoffnung, daß durch den von mir wei-ter unten gemachten Versuch, die Möglichkeit von Metaphysikzu begründen, meine Auffassung des Gegenstandsbereiches undder Methoden der Metaphysik deutlicher zum Vorschein kommenwerden. Letztlich werde ich meine vorläufige Charakterisierungvon Metaphysik dadurch ausfüllen, indem ich sie als jene Diszi-plin beschreibe, welche durch eine Rechtfertigung der Art, wieich sie geben werde, möglich gemacht wird.

II

Bevor ich meine Rechtfertigung der Metaphysik darlege, möchteich kurz einige konkurrierende Antworten auf die Frage „Wie istMetaphysik möglich?“ betrachten, welche momentan in gewis-sen Kreisen beliebt sind. Manche dieser Antworten sind unver-holen antimetaphysisch, während andere – so wie ich das sehe –verdeckt antimetaphysisch sind, indem sie den Status der Meta-physik derart herabsetzen, daß sie des Namens unwürdig wird.Eine antimetaphysische Antwort auf unsere Frage ist somit ent-weder eine, welche ganz einfach verneint, daß Metaphysik – imtraditionellen Sinne verstanden – möglich ist, oder eine, welcheunter dem Namen „Metaphysik“ die Möglichkeit von etwas ande-rem verteidigt, während sie den eigentlichen Gegenstand impli-zit preisgibt. Sonstige, von mir ebenfalls verworfene Antwortenversuchen, die Möglichkeit von etwas zu rechtfertigen, das of-fensichtlich der im traditionellen Sinne verstandenen Metaphysiksehr ähnlich ist, machen dies aber in einer Art und Weise, die vonmir nicht als zufriedenstellend erachtet wird. Die vier Positionen,welche ich behandeln werde – und zwar nur, um sie zu verwerfen–, werde ich (etwas tendenziös) Relativismus, Szientismus, Neu-Kantianismus und Semantizismus nennen. Sie alle sind „moder-

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ne“ Auffassungen, obwohl natürlich einige von ihnen historischeVorläufer haben. Ich werde hier keine der traditionelleren Posi-tionen – wie den „Rationalismus“ oder den „Empirismus“, derenVertreter wahrscheinlich solche historischen Persönlichkeiten wieDescartes und Locke waren – untersuchen, da dies Standpunktesind, welche entwickelt wurden, bevor Kant seine folgenschwereFrage aufwarf: „Wie ist Metaphysik möglich?“

Die Antwort des Relativismus – z. B. in seinem neuesten dekon-struktivistischen Gewand – auf diese Frage lautet ganz einfach,daß Metaphysik nicht möglich ist, weil Metaphysik das mißge-staltete Produkt der intellektuellen Überheblichkeit des Abend-landes ist, die falsch verstandene Suche nach einer nicht-existierenden„objektiven“ und „absoluten“ Wahrheit, welche von angeblichzeitlosen und universellen Prinzipien der Logik geleitet wird.Wahrheit und Vernunft sind kulturabhängige Begriffe von strengbegrenzter Nützlichkeit. Der Gedanke, daß es eine für uns zu er-kennende „grundlegende Struktur der Wirklichkeit“ geben könn-te, ist absurd und paradox, da das, was wir „Wirklichkeit“ nen-nen, immer nur eine von einer interessengeleiteten Interpretati-on durchsetzte menschliche Konstruktion ist. Meine Entgegnungauf antimetaphysische Behauptungen dieser Art ist die folgende.Erstens: Sofern sie auf bloß behauptende Aussagen – d. h. nichtdurch rationale Argumente begründete Aussagen – hinauslau-fen, verdienen sie keine ernsthafte Beachtung. Der Umstand, daßihre Befürworter gerade den Wert der rationalen Argumentationselbst oft nicht achten – sie stellt einen ihrer Hauptangriffspunktedar –, verpflichtet die Verteidiger der Metaphysik schließlich kei-neswegs, jene ernst zu nehmen. Der Wunsch der Relativisten, dieIdee der rationalen Begründung als ein nur beschränkt geltendesund kulturabhängiges Produkt abzuqualifizieren, hat zur Folge,daß sie sich selbst jede Grundlage für ihre Behauptungen entzie-hen; übrig bleibt nur eine tiefsitzende Voreingenommenheit, undes soll uns recht sein, wenn sie sich in ihr suhlen, falls ihnen das

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Genugtuung verschafft. Zweitens: Wenn vorgebracht wird, daßdiese Behauptungen begründet sind – z. B. durch einen sogenann-ten „soziologischen Beweis“ oder „anthropologischen Beweis“ –,dann muß aufgezeigt werden, daß eine solche „Beweisführung“in Wirklichkeit nichts dermaßen Grundlegendes rechtfertigt: Aufdiese Weise wird nicht – und kann auch nicht – gezeigt werden,daß die Menschen unfähig sind, sich der kulturabhängigen und in-teressengeleiteten Auffassungen ihrer Welt zu entledigen, sondernbestenfalls, daß sie darin oft versagen. Doch gerade der Umstand,daß einige Menschen erkannt haben, daß viele Menschen darinversagen, zeigt – sofern er überhaupt etwas zeigt –, daß wir nichtunfähig sind, uns von jenen Auffassungen freizumachen. Drittens:Es ist für die von Seiten der Relativisten an der Metaphysik geüb-te Kritik kennzeichnend, daß sie das, was sie anzuprangern sucht,bewußt verzerrt. Sie stellt Metaphysiker so dar, als ob sie eine un-fehlbare Einsicht in ewige und universelle, durch die menschlicheBetrachtungsweise nicht verfremdete Wahrheiten beanspruchenwürden. Aber nur ein äußerst naiver oder dogmatischer Meta-physiker würde solch anmaßende Behauptungen aufstellen. Ei-nes der Hauptziele der Metaphysik besteht gerade darin, unsereBeziehungen zur übrigen Wirklichkeit zu erfassen – zumindestbis zu einem gewissen Grad –, und sie unternimmt dies – da esunumgänglich ist – von dem Standpunkt aus, an dem wir uns be-finden. Der Umstand, daß wir uns nicht außerhalb unserer selbststellen können, um jene Relation zu untersuchen, braucht nichtzu bedeuten, daß sie von uns überhaupt nicht untersucht werdenkann.

Eine zweite, weitverbreitete Antwort auf die Frage, wie Me-taphysik möglich ist, lautet: Sie ist möglich, weil der legitimeWirkungsbereich der metaphysischen Forschung – sofern es einensolchen gibt – zur Gänze von den empirischen Wissenschaften be-arbeitet wird. Wenn uns überhaupt irgend etwas über die grund-legende Struktur der Wirklichkeit Auskunft geben kann, dann

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diese Wissenschaften. Einen Bereich für einen ausdrücklich „phi-losophischen“ Ansatz zur Frage der Metaphysik gibt es somitnicht, wenn man sich darunter einen Ansatz vorstellt, dessenMethoden oder Gegenstände sich von jenen unterscheiden, diebereits durch die Erfahrungswissenschaften abgedeckt werden.Zum Beispiel: Wenn grundlegende Fragen über die Existenz undNatur von Raum und Zeit aufgeworfen werden, so können die-se nur von solchen Wissenschaften wie der Kosmologie und derQuantenphysik beantwortet werden. Für philosophische „Lehn-stuhl“-Betrachtungen oder „Begriffsanalysen“ – als Vorgehens-weisen zur Beantwortung solcher Fragen – ist da kein Platz. So-fern metaphysische Fragen tatsächlich beantwortet werden kön-nen, werden sie von Personen beantwortet, die in Instituten fürPhysik arbeiten – und nicht von Personen, die in Instituten fürPhilosophie arbeiten.

Auffassungen wie diese sind häufig – entweder explizit oderin einer kaum verschleierten Form – in neueren, populärwis-senschaftlichen Büchern zu finden; in Büchern, welche dazu be-stimmt sind, einem Laienpublikum die geheimnisvollen Verkün-digungen der neuesten Theorien der Physik zu überbringen, derTheorien, die z. B. besagen, daß der Raum „in Wirklichkeit“ drei-zehn Dimensionen hat, oder daß das Universum das Ergebniseiner Quanten-Fluktuation im Vakuum ist und somit aus dem„Nichts“ gekommen ist. In einer subtileren Form ist die Hingabean den Szientismus – wie ich die Lehre, daß gerechtfertigte me-taphysische Fragen zum Gebiet der empirischen Wissenschaftengehören, nenne – sogar, und das entbehrt nicht einer gewissenIronie, an vielen Instituten für Philosophie zu finden. Eine sei-ner Spielarten ist dort unter der Bezeichnung „naturalisierte Er-kenntnistheorie“ salonfähig geworden. Darunter versteht man dieAuffassung, daß das gesamte menschliche Wissen – einschließlichjeder metaphysischen Erkenntnis, auf die wir Anspruch erhebenkönnen – ein Produkt unserer biologischen Natur als erkennen-

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de Tiere ist, und daher mittels der Methoden der biolologischenWissenschaften, einschließlich Psychologie und Evolutionstheo-rie, zu erforschen ist. Wir sehen uns somit mit einer bizarrenSituation konfrontiert, in der popularisierende Wissenschaftlerdie Anmaßungen der Philosophen anprangern, während viele dervon ihnen kritisierten Personen in Wirklichkeit bereits jeden An-spruch aufgegeben haben, es besser zu wissen als die Wissen-schaftler, wie man sich den Fragen der Metaphysik zu widmenhat.

Beide Typen von Verfechtern des Szientismus – jene aus denReihen der Wissenschaftler und jene aus den Reihen der soge-nannten Philosophen – legen meiner Meinung nach einen mitScheuklappen versehenen Dogmatismus an den Tag, der das ge-naue Gegenteil wahrer Philosophie ist. Beide übersehen, daß Wis-senschaft Metaphysik voraussetzt, und daß es genauso die Aufga-be der Philosophie ist zu kritisieren wie zu beschreiben, wobei al-les – einschließlich der Wissenschaft – in den Wirkungskreis ihrerKritik fällt. Wissenschaftler machen beim Aufstellen und Über-prüfen ihrer Theorien – ob explizit oder implizit – zwangsläufigmetaphysische Annahmen, die über all das weit hinausgehen, wasdie Wissenschaft selbst begründen kann. Diese Annahmen müs-sen kritisch untersucht werden, sei es von den Wissenschaftlernselbst oder von Philosophen – was sowohl im einen wie auch imanderen Fall bedeutet, daß kritisch-philosophisch gedacht wer-den muß, und daß hierzu die Methoden und Gegenstände derempirischen Wissenschaft nicht zum Vorbild genommen werdenkönnen. Die Erfahrungswissenschaften sagen uns bestenfalls, wasder Fall ist, nicht, was der Fall sein muß oder was der Fall seinkann (aber nicht der Fall ist). Metaphysik behandelt Möglichkei-ten. Und nur wenn wir die Grenzen des Bereichs des Möglichenfeststellen können, haben wir Aussicht darauf, empirisch ermit-teln zu können, was aktual ist. Das ist der Grund, warum dieempirische Wissenschaft von der Metaphysik bedingt wird und

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sich nicht der dieser eigentümlichen Aufgabe bemächtigen kann.Die dritte Erwiderung auf unsere Frage „Wie ist Metaphysik

möglich?“ ist – im Gegensatz zu den beiden ersten – wahrhaftphilosophisch und bezieht ihre Anregungen von Kant – dahernenne ich sie neu-Kantianisch. Gemäß dieser Auffassung sagt unsdie Metaphysik nichts über die objektive Wirklichkeit „wie sie ansich ist“, und sie kann uns auch nichts darüber sagen, wiewohlder Begriff einer solchen Wirklichkeit durchaus einen Sinn hat.Sie kann uns aber etwas über gewisse grundlegende, notwendi-ge Merkmale unseres Denkens über die Wirklichkeit sagen. ZumBeispiel kann durch sie nachgewiesen werden, daß wir uns die Ge-genstände unserer Wahrnehmung als in Raum und Zeit befind-lich und in gegenseitiger kausaler Beziehung stehend vorstellenmüssen – dies vermutlich deshalb, weil, wie Kant selbst meinte,ein Erkennen unserer selbst als denkende Wesen, deren Gedankenund Erfahrungen zeitlich geordnet sind, von uns verlangt, daß wirauf eine derartige Welt wahrnehmbarer Gegenstände Bezug neh-men. Indem man sich für ein weniger ehrgeiziges Ziel entscheidet,hofft man, die Möglichkeit einer in angemessener Weise maßvol-len Metaphysik sichern zu können. Eine solche Haltung unterliegtjedoch einem verhängnisvollen Irrtum, sollte es ihre Absicht sein,„metaphysischen“ Behauptungen Berechtigung zu verleihen, in-dem sie sie so interpretiert, daß sie nicht darüber sprechen, wiedie Dinge wirklich sind, sondern nur darüber, wie wir sie als Sei-endes vorzustellen haben. Denn wir selbst sind, sofern wir irgendetwas sind, ein Teil der Wirklichkeit – wie auch unsere Gedanken–, sodaß man sich selbst widerspricht, wenn man den Ansprucherhebt, Behauptungen über vermeintlich notwendige Merkmaleunseres Denkens zu machen, während man gleichzeitig in Abredestellt, irgend etwas über die Natur der „Wirklichkeit“ zu sagen.Der Versuch, Metaphysik dadurch zu gewährleisten, daß mansich in der genannten Weise einschränkt, ist ein zum Scheiternverurteiltes Unternehmen.

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Noch unbefriedigender ist jedoch jeder Versuch, Metaphysikdadurch zu begründen, daß man sie noch mehr abschwächt, in-dem man ihre Behauptungen einfach als Beschreibungen einesBegriffssystems auffaßt, in Besitz dessen wir uns befinden, ohnedamit auch die zwingende Notwendigkeit dieses Systems behaup-ten zu wollen. Metaphysische Forschung muß zumindest kritischsein, sodaß sie sich, sofern sie „Begriffe“ behandelt, nicht damitzufrieden geben kann, die Begriffe, die wir haben, zu beschreibenoder zu analysieren, sondern sie sollte vielmehr versuchen, diese,wo es nötig ist, zu revidieren und zu verfeinern.1 Der Zweck einersolchen Revision, sofern sie einen Zweck hat, kann aber nur darinbestehen, unsere Begriffe der Wirklichkeit genauer anzupassen.Nur die interne Konsistenz eines Begriffssystems sicherzustellen,ist ein zu bescheidenes Ziel, da viele miteinander wechselseitiginkompatible Systeme diese Eigenschaft haben können.2 Auf denVorschlag, daß die Wahl zwischen derartigen Systemen rationalgetroffen werden kann, und zwar durch die Auswahl desjenigen,welches am wenigsten unsere „natürlichen“ Überzeugungen oder„Intuitionen“ verletzt und uns so in einem Zustand des „Über-legungsgleichgewichts“ beläßt, muß erneut der Einwand erhobenwerden, daß ein Unternehmen dieser Art es nicht verdient, mitdem Namen „Metaphysik“ ausgezeichnet zu werden, zumal wirkeine Berechtigung haben anzunehmen, daß unsere natürlichenÜberzeugungen die grundlegende Struktur der Wirklichkeit wie-dergeben. Es ist eines der wenigen Verdienste des Szientismus,diese Tatsache aufgezeigt zu haben, denn er hat erkannt, daßunsere natürlichen Überzeugungen das Ergebnis evolutionärerProzesse sind, welche vielmehr den praktischen Erfordernissen

1Folglich will ich hier sowohl P. F. Strawsons Unterscheidung zwischen„deskriptiver“ und „revisionärer“ Metaphysik als auch seine Ablehnung letz-terer angreifen: Siehe Strawson 1959, 9 ff.

2Diesbezüglich teile ich die von Donald Davidson 1974 vorgebrachten Zwei-fel nicht.

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des Überlebens denn den theoretischen Erfordernissen der meta-physischen Wahrheit angepaßt sind.

Die vierte und letzte Antwort, welche ich hier kritisieren möch-te, ist die des von mir so genannten Semantizismus. Dies ist dievon Michael Dummett stark befürwortete Auffassung, daß me-taphysische Fragen, im Prinzip durch Rekurs (und nur durchRekurs) auf die Bedeutungstheorie gelöst werden können. (Dum-mett 1991b, Einleitung) Ob wir zur Einnahme des Standpunk-tes eines „Realisten“ bezüglich eines Diskursbereiches berech-tigt sind, wie z. B. das Sprechen über Mengentheorie, Quanten-physik, oder die Vergangenheit, wird demgemäß dadurch ent-schieden, ob eine für jenen Diskursbereich adäquate Bedeutungs-theorie seinen Sätzen „realistische“ Wahrheitsbedingungen zu-ordnet, d. h. Wahrheitsbedingungen, die eine Bindung an dasBivalenz-Prinzip widerspiegeln, soweit es diese Sätze betrifft. Esscheint, daß sich ein derartiger Semantizismus in Wirklichkeitnicht grundlegend von dem unterscheidet, was ich als Neu-Kantianismusbezeichnet habe, da seine Befürworter – wie etwa Dummett – dieAnsicht vertreten, daß die Bedeutungstheorie die einzig gerecht-fertigte Grundlage für eine Theorie über die Struktur und denInhalt des Denkens bereitstellt. (Dummett 1988, Kap. 13) DerSemantizismus gibt somit einer von uns bereits betrachteten undzurückgewiesenen Form der Behandlung von Metaphysik nur einsprachliches Gewand. Sofern er überhaupt etwas leistet, drohtder Semantizismus die Metaphysik dadurch, daß er sich zur Be-antwortung ihrer Fragen dem Sprachgebrauch einer willkürlichgewählten menschlichen Gemeinschaft zuwendet, auf einen nochbeschränkteren Bereich zu reduzieren. Ohne Zweifel werden dieVertreter des Semantizismus behaupten, daß die Eigenschaftender Bedeutungstheorie, welche die metaphysischen Belange be-treffen, „tiefgehende“ – d. h. über die Unterschiede zwischen denverschiedenen menschlichen Sprachgemeinschaften hinausgehen-de – sind. Aber was ist die Basis einer derartigen Behauptung?

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Ist sie rein anthropologisch, so sind wir wieder beim Szientismusoder bei einer Art von Relativismus angelangt. Auch kann dieBedeutungstheorie selbst nicht bestimmen, was als „tiefgehend“zu betrachten ist.

Das Grundproblem des Semantizismus besteht darin, daß Über-legungen zur Bedeutung, sofern man sich auf derartige Erwägun-gen zur Beantwortung metaphysischer Fragen gerechtfertigter-weise berufen kann, nicht nur Betrachtungen darüber sein dürfen,was wir tatsächlich meinen – denn wir haben keine Garantie da-für, daß wir mit dem von uns Gesagtem etwas genau Bestimmtesoder Kohärentes meinen –, sondern vielmehr Überlegungen dar-über sein müssen, was wir meinen sollen. Ich wiederhole damitdie These, daß die Metaphysik Kritik üben und nach Möglich-keit zur Zeit anerkannte Begriffe und Überzeugungen revidierenmuß. Fragen darüber, was wir meinen sollen, können jedoch nichtzur Gänze innerhalb der Bedeutungstheorie beantwortet werden,sondern erfordern einen Rekurs auf eine unabhängige metaphy-sische Erörterung. Ein anschauliches Beispiel hierzu bietet unsdie Diskussion darüber, was einen Gegenstand konstituiert – ei-ne metaphysische Diskussion par excellence. Die Vertreter desSemantizismus werden typischerweise sagen, daß ein Gegenstandals der mögliche Bezugsgegenstand eines singulären Terms auf-zufassen ist, und sie werden darüber hinaus behaupten, daß derBegriff eines singulären Terms in einer Weise expliziert werdenkann, die nicht von dem grundlegenderen Begriff, was denn einenGegenstand konstituiert, abhängt – z. B. durch Bezugnahme aufdas charakteristische logische Verhalten singulärer Terme, wiees von gültigen Herleitungsschemata, in auf Sätzen mit singu-lären Termen beruhen, zum Ausdruck gebracht wird. 3 Es istjedoch offensichtlich, daß unsere Sprache Ausdrücke enthält, die

3Siehe (Dummett 1981, Kap. 4); siehe auch (Wright 1983, 53ff) und (Hale1987, Kap. 2).

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von jedem solchen Kriterium als singuläre Terme ausgezeichnetwerden, daß es aber dennoch übertrieben wäre anzunehmen, daßdiese irgendwelche Gegenstände bezeichnen. Als Beispiel kannman eine Kennzeichnung wie „das Grinsen in Johns Gesicht“anführen. Die Umgangssprache erweckt sogar den Anschein, alsob sie über solche Scheingegenstände quantifizieren würde, wieetwa in dem Satz „John trägt ein breites Grinsen zur Schau“.Natürlich kann ein derartiger Satz in zufriedenstellender Weisedurch einen den Quantor vermeidenden Satz paraphrasiert wer-den, nämlich durch „John grinst breit“. Doch das Paraphrasie-ren ist eine symmetrische Beziehung, sodaß man innerhalb dereigenen Bedeutungstheorie für die fragliche Sprache nichts zurVerfügung hat, womit man entscheiden kann, welcher dieser bei-den Sätze die Ontologie der Sprecher besser wiedergibt. Nochviel weniger ermöglicht uns eine derartige Theorie zu entschei-den, was ein „Gegenstand“ ist, oder welche Gegenstände die Welttatsächlich enthält. Solche Fragen können nur durch eine unab-hängige metaphysische Erörterung behandelt werden, sofern sieüberhaupt in einer begründeten Weise behandelt werden können.4 Die sprachbezogene bzw. semantische Annäherung an die Fra-gen der Metaphysik führt unweigerlich zu einer Doktrin extremerontologischer Relativität, wie dies einige ihrer Befürworter aucherkannt haben. 5 In dieser Form löst sie sich also in eine Spiel-art des oben betrachteten ersten und von mir als Relativismusbezeichneten Ansatzes auf.

4Dies erläutere ich ausführlicher in (Lowe 1999).5Ich denke hierbei daran, was W. O. V. Quine in „Das Sprechen über Ge-

genstände“ (1984a) und und „Ontologische Relativität“ (1984b) sagt.

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III

Es ist für mich nun an der Zeit, meine eigene Antwort auf die Fra-ge, ob – und wenn ja wie – Metaphysik möglich ist, vorzubringen.Meiner Ansicht nach ist sie möglich, d. h. es ist möglich, ratio-nale Antworten auf Fragen, welche die grundlegende Strukturder Wirklichkeit betreffen, zu geben – Fragen, die grundlegen-der sind als jene, die in den Kompetenzbereich der empirischenWissenschaft fallen. Ich behaupte aber nicht, daß die Metaphy-sik für sich allein genommen uns sagen kann, was ist. Eigentlichsagt uns die Metaphysik für sich genommen nur, was sein könn-te. Aber hat uns die Metaphysik dies einmal gesagt, so kann unsdie Erfahrung sagen, welche der verschiedenen alternativen me-taphysischen Möglichkeiten in der aktualen Welt plausiblerweisewahr ist. Der springende Punkt dabei ist: Obwohl dasjenige, wasaktual ist, aus dem nämlichen Grunde auch möglich sein muß,kann die Erfahrung für sich genommen – wenn die metaphysischeAbgrenzung des Möglichen nicht gegeben ist – nicht bestimmen,was aktual ist. Kurz gesagt: Eine eigenständige Metaphysik istmöglich – ja sogar notwendig –, weil die metaphysische Mög-lichkeit eine unumgängliche Determinante der aktualen Welt ist.Drückt man es in dieser äußerst abstrakten und komprimiertenForm aus, so mag meine Antwort unklar und sogar aphoristischerscheinen; meine verbleibende Aufgabe wird somit darin beste-hen, ihre Implikationen darzulegen.

In den vorangegangenen Abschnitten habe ich begonnen, eineVerbindung zwischen der Möglichkeit der Metaphysik und demBegriff der metaphysischen Möglichkeit herzustellen. Die Grun-didee besteht darin, daß das Gebiet der metaphysischen Möglich-keit ein eigenständiger Bereich ist, der erforscht – oder zumindestangenommen – werden muß, bevor irgendein Anspruch auf Wahr-heit in der aktualen Welt durch die Erfahrung begründet werdenkann. Dieser Bereich kann selbstverständlich nicht mit Hilfe der

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Methoden der Erfahrungswissenschaften erforscht werden, undzwar genau deshalb nicht, weil diese einzig und allein darauf ab-zielen festzustellen, was auf der Grundlage der Erfahrung in deraktualen Welt wahr ist – und damit die Metaphysik einfach vor-aussetzen. Vielleicht wendet man aber ein, daß die einzige Artvon Möglichkeit, die die empirischen Wissenschaften vorausset-zen, die der logischen Möglichkeit ist, und daß diese ohne Rekursauf eine eigene metaphysische Disziplin begründet werden kann,da die logische Möglichkeit einfach eine Frage der Konsistenz ist.Kurz gesagt: Man könnte verlangen, daß die einzige Vorbedin-gung, die von den Theorien der empirischen Wissenschaft erfülltwerden muß, bevor sie der Prüfung durch die Erfahrung unter-zogen werden, diejenige ist, daß sie nicht-selbstwidersprüchlichsind. Hierzu ist jedoch erstens zu sagen, daß empirische Äuße-rungen nur im Lichte der metaphysischen Möglichkeit beurteiltwerden können, und zweitens, daß diese Möglichkeit nicht einfachmit der rein logischen Möglichkeit gleichzusetzen ist. Letzteresbedarf nun einer genaueren Ausführung.

Die logische Möglichkeit einer Aussage oder einer Menge vonAussagen ist einfach eine Frage dessen, ob sie einen Widerspruchimpliziert. Die metaphysische Möglichkeit ist aber etwas ganzanderes. Zuerst einmal ist sie nicht die Möglichkeit einer Aus-sage (oder einer Menge von Aussagen), sondern vielmehr dieMöglichkeit eines Sachverhalts – und in diesem Sinne ist sie ei-ne„reale“ (bzw. de re) Möglichkeit. Der Begriff des Sachverhaltsist selbst wiederum ein metaphysischer, und zwar nur einer auseiner großen Familie solcher Begriffe, wovon einige grundlegen-der sind als andere. Weitere Begriffe aus dieser Familie sind derdes Gegenstandes, der Eigenschaft, der Relation, des Individu-ums, der Art, des Teils, der Substanz, der Existenz, der Identität,der Instantiierung und sogar der der Möglichkeit, zusammen mitseinem Korrelat, dem der Notwendigkeit. Einige dieser Begrif-fe sind mit Hilfe anderer Begriffe aus dieser Familie definierbar,

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doch gerade die Frage, wie sie definiert werden sollen, ist Gegen-stand metaphysischer Erörterung. So kann eine Substanz als einGegenstand definiert werden, dessen Existenz nicht von einemanderen Gegenstand abhängt (wobei Abhängigkeit mittels Not-wendigkeit definiert wird).6 Diese metaphysischen Begriffe sindnicht rein „logische“ Begriffe: Sie sind ontologische. (Vgl. Smith1981) Sie betreffen das Seiende und seine Modi, während dieLogik – im eigentlichen Sinne verstanden – sich nicht mit demSeienden, sondern vielmehr mit den Folgerungsbeziehungen zwi-schen Aussagen beschäftigt. Ferner sind diese metaphysischenBegriffe transzendental, in dem Sinne verstanden, daß sie nichtaus der Erfahrung abgeleitet werden, sondern vielmehr bei derKonstruktion dessen, was die Erfahrung uns von der Wirklich-keit offenbart, herangezogen werden. Zweifellos sind sie mit denKategorien von Aristoteles und Kant eng verwandt, doch weichtmeine Darstellung von der Kantschen in entscheidender Weisedarin ab (und ist dadurch der Aristotelischen näher), daß ich derAuffassung bin, daß sie im eigentlichen Sinne auf die Wirklich-keit – und nicht bloß auf unser Denken über die Wirklichkeit –anwendbar sind. Sie sind keine Kategorien des Denkens, sondernKategorien des Seienden. Das bedeutet jedoch nicht, daß im all-gemeinen die Anwendbarkeit einer gegebenen Kategorie auf dieWirklichkeit gänzlich a priori bestimmt werden kann – nur diemögliche Anwendbarkeit kann derart festgestellt werden. ZumBeispiel können wir nicht a priori nachweisen, daß Substanzenaktual gegeben sind, sondern nur, daß sie gegeben sein könn-ten. Nur durch Rückgriff auf die Erfahrung können wir zu dergerechtfertigten Überzeugung gelangen, daß sie gegeben sind.

Sicherlich werden die Vertreter des „Semantizismus“ behaup-

6Nach diesen Grundsätzen untersuche ich verschiedene Definitionen inmeinem Aufsatz „Ontological Dependency“ (1994a); siehe des weiteren mei-nen Aufsatz „Primitive Substances“ (1994b).

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ten, daß diese „Kategorien“ nur die semantisch-syntaktischenZüge der natürlichen Sprachen, welche wir zufällig gebrauchen,widerspiegeln und von diesen vollständig abgeleitet sind – derBegriff „Gegenstand“ entspricht dem des singulären Terms, derBegriff „Eigenschaft“ entspricht dem des Prädikats, und so wei-ter. Ich habe jedoch bereits ausgeführt, warum ich der Meinungbin, daß diese Auffassung die eigentliche Abfolge der Erklärungverkehrt. Entsprechungen der gegebenen Art bestehen deshalb,weil jede Sprache, die als Werkzeug zur Äußerung von Wahr-heiten über die Wirklichkeit entwickelt wurde, einige Erkennt-nisse – wenn auch noch so bruchstückhafte und entstellte – überdie metaphysischen Kategorien, mit deren Hilfe die grundlegendeStruktur der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird, umfassenmuß. Da ein Spielraum zur Diskussion über diese Struktur be-steht, überrascht es nicht, daß verschiedene natürliche Sprachenso manche metaphysische Kategorie unterschiedlich stark spie-geln. Derartige Differenzen zeigen aller Wahrscheinlichkeit nachUnterschiede in den stillschweigend vorausgesetzten metaphysi-schen Überzeugungen der verschiedenen menschlichen Sprachge-meinschaften. Aber obwohl die sprachliche Struktur unter Um-ständen dazu beitragen kann, jene Überzeugungen zu stärkenund zu festigen, ist die „Whorfsche“ Ansicht, wonach die sprach-liche Struktur ihren Ursprung bildet, völlig unhaltbar.7

Ich habe mich den metaphysischen Kategorien zugewandt, undzwar im Verlauf meines Versuches, den Begriff der metaphysi-schen Möglichkeit – und wie sich diese von der rein logischenMöglichkeit unterscheidet – zu klären. Die metaphysische Mög-lichkeit eines Sachverhalts ist nicht einfach dadurch bestimmt,daß in den zu seiner Beschreibung gebrauchten Aussagen keinWiderspruch enthalten ist – obwohl eine solche Widerspruchsfrei-

7Siehe (Caroll 1956). Zur Kritik der Whorfschen Ansicht siehe (Devitt1987, Kap. 10 u. 12).

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heit natürlich eine Minimalbedingung der metaphysischen Mög-lichkeit darstellt. Betrachten wir daher ein Beispiel par excel-lence für eine Frage der metaphysischen Möglichkeit, nämlichdie Frage, ob es unbestimmte Gegenstände geben kann; d. h. Ge-genstände, für die es unter gewissen Umständen der Fall seinkann, daß ihre Identität bzw. Verschiedenheit durch die Tatsa-chen nicht festgelegt wird. Nun ist es so, daß eine Anzahl vonPhilosophen, vor allem Gareth Evans, gegen eine solche Möglich-keit argumentiert haben, und zwar haben sie versucht, aus derAnnahme, daß eine gegebene Identitätsaussage einen unbestimm-ten Wahrheitswert hat – eine Annahme, welche etwa durch eineAussage der Form „V(a=b)“ ausgedrückt werden kann – einenWiderspruch abzuleiten. (Siehe Adam 1978, S. 208) Nun halteich dieses Argument allerdings für fehlerhaft, und folglich glaubeich, daß es nicht möglich ist, aus der in Frage stehenden Annah-me einen Widerspruch herzuleiten. (Siehe Lowe 1994c) Darausfolgt jedoch nicht, daß ich deshalb unbestimmte Gegenstände fürmetaphysisch möglich halten muß. Diesbezüglich habe ich tat-sächlich schwerwiegende Bedenken, denn ich neige sehr stark zuder Überzeugung, daß der metaphysische Begriff des Gegenstan-des mit dem Begriff der Entität, welche vollständig bestimmteIdentitätsbedingungen besitzt, zusammenfällt. (Lowe 1994b, Sie-he) Obwohl ich an anderer Stelle (Lowe 1994c) auf den Bereichder subatomaren Teilchen als vermeintliche Beispiele von Gegen-ständen, deren diachronische Identität unter gewissen Umstän-den unbestimmt sein kann, hingewiesen habe, stimme ich somitauf einer tieferliegenden Ebene mit der Ansicht überein, daß dierelevanten empirischen Daten zeigen, daß es falsch ist, sich Elek-tronen und Ähnliches überhaupt als real seiende Gegenständevorzustellen. Wir sehen also, daß die Behauptung, daß ein be-stimmter Sachverhalt metaphysisch möglich ist, nicht einfach vonder Frage abhängt, ob die zu seiner Beschreibung verwendetenAussagen einen Widerspruch implizieren, sondern vielmehr von

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der Frage, ob die metaphysischen Kategorien seine Existenz zu-lassen. Und dies ist ein Fall für eine eigenständige metaphysischeErörterung. Man kann hier eine Analogie zu der Frage ziehen,was moralisch möglich bzw. zulässig ist. Auch diese Frage kannnicht nur durch logische Überlegungen geklärt werden, da irgend-wann einmal der Punkt erreicht ist, an dem eindeutig moralischeBegriffe eingebracht werden müssen, welche dann eine substanti-elle Rolle in jedem Argument über die moralischen Zulässigkeiteines gegebenen Sachverhaltes spielen.

Betrachten wir noch eine andere Klasse von Beispielen, umdiese Schlußfolgerung zu untermauern. Die Metaphysiker habenlange und ausführlich über die Möglichkeit der Veränderung undüber die Realität der Zeit diskutiert. Dies sind weder rein empi-rische noch rein logische Fragen. Wie wir uns die Zeit vorstellensollen, ist eine metaphysische Frage – und zwar eine Frage dar-über, wie – sofern überhaupt – der Begriff der Zeit mit grund-legenderen metaphysischen Begriffen – einschließlich der Kate-gorien – in Beziehung zu setzen ist. Eine Auffassung, nämlichder „Aristotelische“ Standpunkt, besagt z. B., daß die Zeit dieDimension ist, in der nur eine Substanz konträre Qualitäten an-nehmen kann; und sofern dies richtig ist, scheint es mindestensdreierlei zu implizieren: Daß es den Substanzen möglich sein muß,trotz qualitativer Veränderungen identisch zu bleiben; daß es kei-ne Zeit ohne Veränderung geben kann; und daß sich die Einheitder Zeit auf die Beständigkeit der Substanz(en) gründet. Ob-gleich ich mit diesen Thesen übereinstimme (vgl. Lowe 1988a),gebe ich ohne Umschweife zu, daß sie umstritten sind. Woraufich an dieser Stelle aber insistieren möchte, ist erstens, daß diesestrittigen Punkte im Prinzip mittels rationaler Diskussion einerEntscheidung zugeführt werden können, und zweitens, daß dieArgumentationen, die in eine solche Diskussion eingehen, ohneZweifel metaphysische sind. Um zu zeigen, daß die Zeit metaphy-sisch möglich ist, reicht es nicht hin, die logische Konsistenz des

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Sprechens über die Zeit aufzuzeigen – indem man z. B. McTag-garts Argumente in das Gegenteil verkehrt (siehe Lowe 1987b)–, noch ist es zielführend, eine konsistente physikalische Theorieder Zeit, etwa gemäß den Grundsätzen der Speziellen Relativi-tätstheorie Einsteins, zu formulieren. Einsteins Theorie machtbestimmte grundlegende Annahmen über die Zeit – z. B. daß dieGleichzeitigkeit relativ ist und daß die Lichtgeschwindigkeit nichtüberschritten werden kann; daß seine Theorie tatsächlich die Zeitbehandelt, und daß sie – wenn eine derartige Behandlung vor-liegt – sich mit etwas beschäftigt, dessen Realität möglich ist,sind jedoch metaphysische Probleme, die von keiner derartigen,rein wissenschaftlichen Theorie geklärt werden können.

IV

Nachdem ich nun erklärt habe, warum ich der Überzeugung bin,daß der Bereich der metaphysischen Möglichkeit ein eigenständi-ges Gebiet der rationalen Untersuchung darstellt, möchte ich zuder Frage, was uns die Metaphysik über die Wirklichkeit sagenkann, zurückkehren. Ich habe angeführt, daß uns die Metaphy-sik für sich allein genommen nur sagen kann, was metaphysischmöglich ist, nicht jedoch, welche der verschiedenen alternativenmetaphysischen Möglichkeiten tatsächlich besteht. Zu dieser Be-hauptung muß aber einiges ergänzt werden. Erstens: Es wäreunklug, die Möglichkeit, daß die Metaphysik die Existenz ei-niger metaphysisch notwendiger Sachverhalte begründet, gänz-lich auszuschließen. Tatsächlich könnte man den Versuch, diesauszuschließen, als inkohärent betrachten, unter der Vorausset-zung nämlich, daß bewiesen werden kann, daß einige Sachver-halte metaphysisch nicht möglich sind, und zwar, indem maneinen Widerspruch aus der Annahme, daß sie es sind, herleitet.Man könnte dann den Nachweis, daß es für S metaphysisch nicht

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möglich ist zu existieren, als einen Nachweis dafür halten, daßes für S metaphysisch notwendig ist, nicht zu existieren. Was je-doch mit Hilfe solcher rein logischer Mittel begründet wird, istnicht wirklich eine substantielle metaphysische Notwendigkeit,sondern nur eine logische Unmöglichkeit. Eine substantielle me-taphysische Notwendigkeit, wie z. B. die notwendige Existenz ei-ner Substanz, ist sehr viel schwerer zu begründen. Zweitens: DieKonklusionen metaphysischer Argumente haben oft die Form vonKonditionalsätzen, die durch solche Argumente selbst wiederumals unbedingt wahr ausgewiesen werden. Eine solche Konklusionkönnte z. B. sein: Wenn die Zeit real ist, dann muß irgendeine be-ständige Substanz existieren. Der Umstand, daß die Metaphysikhäufig Schlußfolgerungen dieser Form hervorbringt, steht in kein-ster Weise im Widerspruch zu der Behauptung, daß die primäreAufgabe der Metaphysik darin besteht, die metaphysische Mög-lichkeit verschiedener Sachverhalte festzustellen, und daß sie unsim allgemeinen für sich allein genommen nicht sagt, daß irgendeinSachverhalt besteht. Tatsächlich erfolgt der Nachweis der Mög-lichkeit eines Sachverhaltes oft gerade dadurch, daß gezeigt wird,daß er notwendigerweise dann bestehen würde, wenn ein andererSachverhalt, von dem bereits gezeigt wurde, daß er möglich ist,bestünde.

Wie sollen wir uns dann aber ein rationales Urteil darüber bil-den, welche der verschiedenen metaphysisch möglichen Alterna-tiven aktual bestehen? Mit einem Wort: durch die Erfahrung. Dawir wissen, wie die Welt hinsichtlich ihrer grundlegenden Struk-tur sein könnte, müssen wir – so gut wir eben können – ein Urteildarüber fällen, wie sie ist, indem wir feststellen, wie gut unse-re Erfahrung mit dieser oder jener – bezüglich jener Struktur– alternativen metaphysischen Möglichkeit in Einklang gebrachtwerden kann.8 Das erweckt vielleicht den Eindruck, daß dem me-

8Es mag hier eingewandt werden, daß ein Zirkelschluß – oder zumindest

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taphysischen Theoretisieren ein Status ähnlich dem des wissen-schaftlichen Theoretisierens zuerkannt wird, doch ist die Ähn-lichkeit nur oberflächlich. Das Urteil, daß die aktuale Welt einenbestimmten metaphysischen Grundzug aufweist – z. B., daß sieSubstanzen enthält, oder daß die Zeit real ist – wird freilich eina-posteriori-Urteil sein, das auf Erfahrungserkenntnisse zurück-geht. Der Inhalt des Urteils behält aber indes seinen modalenCharakter bei, da er eine metaphysische Möglichkeit ausdrückt,wenn auch eine, welche als derzeit aktual beurteilt wird. Die-ses Verständnis des epistemologischen Status metaphysischer Be-hauptungen – daß sie nämlich zugleich a posteriori und modalsind – ist der gemeinhin mit Kripke verknüpften Ansicht offen-sichtlich sehr ähnlich. Er behauptet z. B., daß die Wahrheit voneinigen Identitätsaussagen und Konstitutionsaussagen metaphy-sisch notwendig ist und dennoch nur a posteriori gewußt werdenkann. (Kripke 1972, 114 ff) Was a priori gewußt werden kann, istgemäß Kripke nur folgendes: Wenn eine Identität zwischen denGegenständen a und b besteht, dann besteht sie mit metaphysi-scher Notwendigkeit; aber daß sie besteht, kann nur a posteriorierkannt werden. Es ist nun so, daß ich von dieser speziellen Krip-keschen Behauptung nicht gänzlich überzeugt bin, auch nichtvon seiner damit in Zusammenhang stehenden Behauptung, daßdie ursprüngliche Konstitution eines Gegenstandes metaphysischnotwendig ist. (Lowe 1982) Ohne Vorbehalte billige ich hingegenseine Einsicht, daß die Metaphysik sich mit modalen Wahrhei-ten befassen und zugleich auch Antworten auf Fragen über dieaktuale Welt geben kann, welche a posteriori sind – und sein

Relativismus – droht, da ich gleichzeitig behaupte, die Erfahrung selbst seigleichsam metaphysisch belastet. Aber tatsächlich braucht das kein größeresProblem als die Theoriebeladenheit der Beobachtung im Falle der empirisch-wissenschaftlichen Theorien zu sein. Alles, was preisgegeben werden muß,ist höchstens jede Form von naivem Fundamentalismus in beiden Untersu-chungsbereichen und die Annahme einer bestimmten Form des Fallibilismus.

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müssen.Kant war natürlich anderer Meinung. Er glaubte, daß sich die

Metaphysik – sofern sie uns etwas über die aktuale Welt sagenkann – in a priori Urteilen erschöpfen muß. Sie muß uns unabhän-gig von jedem Rückgriff auf die Erfahrung sagen, daß die Weltso-und-so sein muß. Und ihre Äußerungen dürfen nicht rein ana-lytische Wahrheiten sein, welche nur logische Zusammenhängezwischen bestimmten unserer Begriffe aufzeigen, ohne jede Ge-währ, daß diese Begriffe der Wirklichkeit entsprechen. Sie mußfolglich a priori substantielle und notwendige Wahrheiten bie-ten – keine geringe Aufgabe! Wen wundert’s da, daß Kant zudem Schluß kam, daß die„aktuale“ Welt, von der die Metaphy-sik spricht, nur die phänomenale Welt sein kann, d. h. die Welt,wie sie von den Menschen erfahren wird, nicht die Wirklichkeit,„wie sie an sich ist“. Geben wir jedoch die eitle Hoffnung auf, daßdie Metaphysik absolut gewisse und unabänderliche Einsichten indie grundlegende Natur der Dinge bieten kann, so können wir dieÜberzeugung beibehalten, daß die Metaphysik eine lebensfähigea priori Disziplin ist – und noch dazu eine, die reale Möglichkei-ten, d. h. Möglichkeiten für die Wirklichkeit, „wie sie an sich ist“,behandelt. Kant würde hier einwenden, daß die „Kategorien“ nurdann gerechtfertigterweise verwendet werden können, wenn mansie auf Gegenstände in Raum und Zeit, welche er als phänome-nal betrachtet, beschränkt. Eine derartige Beschränkung ist je-doch völlig unbegründet, und der Versuch, sie uns aufzudrängen,führt Kant in Selbstwidersprüche. Ob Raum und Zeit „phäno-menal“sind – und somit, unabhängig von der Art und Weise, wiewir sie erfahren, keine Bestimmungen der Wirklichkeit sind –,ist selbst eine wichtige metaphysische Frage, sodaß Kant, wenner versucht, eine begründete Antwort auf diese Frage zu geben,nicht widerspruchsfrei behaupten kann, daß sich die Metaphysiknur damit beschäftigt – oder beschäftigen sollte –, wie die Din-ge in der phänomenalen Welt sind. Prüfen wir die Argumente,

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die er für den phänomenalen Status von Raum und Zeit gibt, sozeigt sich, daß er z. B. sagt, der Raum müßte, wäre er real, an-scheinend ein reales „Unding“ sein, weil er weder eine Substanznoch eine Relation zwischen Substanzen sein könnte. 9 Aber das

9Siehe Kant, KrV, A 39–40, B 56–57. Daß ein derartiges „Unding“ in derWirklichkeit nicht existieren kann, ist natürlich selbst eine metaphysischeBehauptung, deren Wahrheit noch gezeigt werden müßte, sollte das Argu-ment Kants von Erfolg gekrönt sein. Die einschlägige Stelle in der Kritiklautet wie folgt:

„[D]ie, so die absolute Realität des Raumes und der Zeit behaupten, siemögen sie nun als subsistierend, oder nur inhärierend annehmen,... müssen[entweder] ... zwei ewige und unendliche vor sich bestehende Undinge (Raumund Zeit) annehmen, welche dasind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist),nur um alles Wirkliche in sich zu fassen ... [oder sie] ... müssen den mathe-matischen Lehren a priori in Anschauung wirklicher Dinge (z. B. im Raume)ihre Gültigkeit ... bestreiten.“ (B 56–57, A 39–40)

Das Angriffsziel der Kantschen Kritik ist natürlich die Ansicht von New-ton bzw. von Leibniz. Seine hier geäußerten Bedenken gegen die relationaleTheorie des Raumes setzt die Korrektheit seiner Auffassung, daß die geo-metrischen Wahrheiten synthetisch a priori sind, voraus – ein Standpunkt,der nicht mehr ernst genommen werden kann. Aber selbst wenn dieses Ver-ständnis der Geometrie korrekt wäre, kann es nicht zulässig sein, für denphänomenalen Status des Raumes allein aufgrund solch rein epistemologi-scher Gründe einzutreten; man muß darüberhinaus wenigstens noch zeigen,daß es für uns unmöglich ist, substantielles a priori Wissen von einer vonunserem Geist unabhängigen Wirklichkeit zu haben – und das ist eine me-taphysische Behauptung. An anderer Stelle verwendet Kant bekanntlich dasArgument der inkongruenten Gegenstücke gegen die relationale Theorie, ob-gleich das wiederum – gemäß meiner Auffassung – ein eindeutig metaphysi-sches Argument ist. (Siehe vor allem Kants vorkritisches Werk „Träume einesGeistersehers – Der Unterschied der Gegenden im Raum“.) Ich verstehe Kantso, daß er im oben gegebenen Zitat mit wirklich nicht einfach ’real’ im Sinnevon objektiv existent-seiend meint, denn das würde bedeuten, daß sein Re-lativsatz [welche dasind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist)] nahezu einenWiderspruch ausdrückt. (Es kann nicht etwas „da“-sein – nicht einmal ein„Unding“ –, wenn nicht irgendetwas existent-seiend ist.) Somit verstehe ichKant – zumindest hier – so, daß er mit „wirklich“ „real“ in einem substanti-elleren Sinne meint; vielleicht in einem Sinne, der wirksam-seiend impliziert.Es ist bekanntlich eine geläufige Kritik an der Newtonschen Auffassung des

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ist eben ein metaphysisches Argument: Nicht gerade eines, dasich sehr überzeugend finde, aber dennoch eines, das sich in dieAuffassung von Metaphysik, die ich vertreten habe, einfügt. Unddas Aufschlußreiche daran ist, daß es die offizielle Kantsche Be-schränkung, nur über Gegenstände in der phänomenalen Weltder menschlichen Erfahrung zu sprechen, nicht beachtet. (Wiekönnte es dieser Beschränkung auch nachkommen, wenn mandavon ausgeht, daß es ein Argument für den phänomenalen Sta-tus dieser Welt ist?) Es ist tatsächlich möglich, daß Raum undZeit „irreal“ sind, und zwar in dem Sinne verstanden, daß unsertrefflichstes Urteil darüber, wie in der aktualen Welt die Wirk-lichkeit im Grunde strukturiert ist, keine Verwendung für dieseBegriffe finden wird. Wenn das aber so ist, dann wird diesesUrteil zum Teil mit Hilfe einer metaphysischen Argumentationzustande gekommen sein, in welcher die Kategorien (natürlichnicht gerade Kants Kategorien) unbehindert von Kants Restrik-tionsbemühung entwickelt wurden.

Es verbleibt noch die Frage, wie uns die Erfahrung in die Lageversetzen kann, von einem Urteil über metaphysische Möglich-keit zu der Behauptung, daß eine derartige Möglichkeit aktualgegeben ist, fortzuschreiten. Es gibt hier aber keinen allgemeinenAlgorithmus zu entdecken. Jeder Fall muß einzeln – für sich be-trachtet – beurteilt werden. Das ist ein Grund, warum DummettsÜberzeugung, die noch ausstehenden Probleme in der Metaphy-sik mittels einer allgemeinen Strategie zu lösen – nämlich da-durch, daß die Anwendbarkeit des Bivalenzprinzips geprüft wird–, etwas unüberlegt erscheint. Es ist anzunehmen, daß diejenigenempirischen Überlegungen, welche die Frage nach der Realität

absoluten Raumes, daß es nur schwer einzusehen ist, wie die Existenz desso verstandenen Raumes einen Unterschied für das Verhalten der physischenDinge ausmachen könnte). (Auch das ist ein metaphysischer Punkt.) Bezüg-lich einer damit verwandten Diskussion von Freges Verwendung des Wortes„wirklich“ siehe (Dummett 1991a, 80f).

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der Zeit betreffen – und die Art und Weise, in der sie sie be-treffen –, wenig Ähnlichkeit mit entsprechenden Fragen haben,z. B. mit der Frage, ob das Ich real ist. Doch zeigt ein einfachesBeispiel, wie in einem konkreten Fall empirische Überlegungenund eine metaphysische a priori Argumentation aufeinander ein-wirken können, um eine Behauptung über die aktuale Welt zubegründen.

Betrachten wir – als eine Art Fallstudie – die These von Da-vid Lewis, daß beständige Gegenstände vielmehr über die Zeithinweg als in der Zeit bestehen, d. h. daß sie deshalb Bestandhaben, weil sie jeweils an aufeinanderfolgenden Zeitpunkten auf-einanderfolgende zeitlche Teile haben. Er vertritt dies u.a. mitder Begründung, daß wir nur so die Möglichkeit von Gegenstän-den, welche eine intrinsische Veränderung durchmachen, erklä-ren können – d. h. von Gegenständen, welche einen Wechsel ihrerintrinsischen bzw. nicht-relationalen Eigenschaften, wie z. B. eineVeränderung vom Gekrümmte-Form-Haben zum Gerade-Form-Haben, erfahren. (Lewis 1986, 202ff) Lewis vertritt die Auffas-sung, daß es die verschiedenen zeitlichen Teile des beständigenGegenstandes sind, welche die unterschiedlichen Formen besitzenmüssen, sodaß der beständige Gegenstand diese nur in einemabgeleiteten Sinne besitzt – nämlich vermöge des Umstandes,daß er aus einer Abfolge von Teilen besteht, von denen einigeunterschiedliche Formen besitzen. Hierauf kann man erwidern:Wenn alle Gegenstände, die einen intrinsischen Wechsel durch-machen können, letztendlich aus intrinsisch unveränderlichen Ge-genständen – einer Art von„Atomen“ – bestehen, von deren Ei-genschaften die Eigenschaften jener veränderlichen Gegenständeabhängen, dann müssen wir also doch nicht annehmen, daß ir-gendein beständiger Gegenstand zeitliche Teile hat. (Vgl. Lowe1987a und 1988b.) Die Atome brauchen keine zeitlichen Teile zuhaben, weil sie – ex hypothesi – keine intrinsische Veränderungdurchmachen. Und die intrinsisch veränderlichen Gegenstände,

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welche sich aus den Atomen zusammensetzen, brauchen auchkeine zu haben, da gemäß dem dargelegten Vorschlag ein int-rinsischer Wechsel der Eigenschaften eines zusammengesetztenGegenstandes im Grunde nur darin besteht, daß sich die Bezie-hungen zwischen seinen atomaren Bestandteilen ändern. Ob mansich von dieser Erwiderung überzeugen läßt, ist an dieser Stelleirrelevant. Was jedoch von Bedeutung ist, ist der Umstand, daßsie uns eine Gelegenheit bietet, metaphysische Argumentationund empirisch-wissenschaftliche Theorie miteinander zu verbin-den, um ein Urteil darüber zu erzielen, ob eine bestimmte meta-physische Auffassung in der aktualen Welt plausiblerweise wahrist – in diesem Fall die Auffassung, daß beständige Gegenständezeitliche Teile haben. Wenn das gerade gegebene metaphysischeArgument gültig ist, und es zudem der Fall ist, daß uns die em-pirische Wissenschaft gute Gründe liefert, an die Korrektheit desAtomismus (in einer angemessenen Form) zu glauben, dann wer-den wir einen Grund – und zwar einen a posteriori Grund – habenzu behaupten, daß beständige Gegenstände in Wirklichkeit keinezeitlichen Teile haben.

Seltsamerweise beunruhigt eine derartige Kombination von em-pirischen und metaphysischen Überlegungen viele Philosophen inhohem Maße. Sie sprechen von der Gefahr, „sich dem Schicksalauszuliefern“ – d. h. davon, die Möglichkeit zu eröffnen, daß dieeigenen Behauptungen über die metaphysischen Grundzüge deraktualen Welt von den Fortschritten in empirisch-wissenschaftlichenTheorien untergraben werden. Das ist meiner Meinung nach nurdeshalb möglich, weil sie noch immer dem unerfüllbaren Traumder „Rationalisten“ nachhängen, die grundlegende Struktur derWirklichkeit völlig a priori und mit absoluter Gewißheit bestim-men zu wollen. Es war Kant, der uns lehrte, daß das wirklich nurein Traum ist. Aber anstatt sich auch weiterhin um die Wirklich-keit zu kümmern, entschied er sich leider für die Behaglichkeitender Gewißheit und der empirischen Unantastbarkeit. Das An-

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liegen, das ich in diesem Aufsatz zu vermitteln suchte, ist dasfolgende: Die Metaphysik kann sehr wohl von der Wirklichkeithandeln, ohne dabei zur naturwissenschaftlichen Theorie zu wer-den, jedoch nur, wenn wir uns mit der Tatsache anfreunden ler-nen, daß uns die Metaphysik bezüglich der aktualen Welt keineGewißheiten bieten kann.

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