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i ,i ,, !, ,"'{ Die Deußche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Luhmänn, Niklas: Soziologische Aufklärung / Niklas Luhmann. - Opladen: 'Westdt. Verl 6. Die Soziologie und der Mensch. - 1995 ISBN 3-53r-12727-6 Alle Rechte vorbehalten @ 1995 \üTestdeutscher Verlag GmbFI, Opladen Der *Westdeutsche Verlag ist ein [Jnternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Das \ferk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalbder engen Grenzen des Urheberr..htsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbe- sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in'elektronischen Systemen. Inhalt Vorwort Probleme mit operativer Schließ*g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 4. 5. 6. 7, B. 9. Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? D i e Autopoiesis des Bewußtseins .... .... ......... , Was ist Kommunikation? . o. o . . . . . . . . . . . . , . . . . . . , o. Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum . , . Dig Form rrPerson" .... . : .................. , .... Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung ..... Wahmehmung und Kommunikation sexueller Interessen . . . . . Das Kind als Medium der Erziehung . . . . . . . . Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen Entfaltung ..... Inklusion und Exklusion Die Soziologie und der Mensch . . . . Drucknachweise .... .... . a a a selner a o . a a a l a a a a a a a a a a a a a . 7 . 7 2 1. 2. tji '+' w-/ 25 37 55 113 125 L42 155 169 189 204 229 237 265 275 ffi 10. 11. 72. 13. 14. Umschlaggestaltung:Horst Dieter Bürkle, Darmstadt Umschlagbild: Uwe Kubiak, Struktur 1985 850507-160 Satz: ITS Text und Satz GmbH, Herford Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Gedruckt auf säurefreiemPapier Printed in Germany ISRN j-511-1)7?7-6

Luhmann-1995-Das Paradox Der Menschenrechte

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Essay by Luhmann

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    Die Deuche Bibl iothek - CIP-Einheitsaufnahme

    Luhmnn, Nik las:Soziologische Aufklrung / Niklas Luhmann. -Opladen: 'Westdt. Verl6. Die Sozio logie und der Mensch. - 1995

    ISBN 3-53r-12727-6

    Alle Rechte vorbehalten@ 1995 \Testdeutscher Verlag GmbFI, Opladen

    Der *Westdeutsche Verlag ist ein [Jnternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH.

    Das \ferk einschlielich al ler seiner Teile ist urheberrechtl ich geschtzt.Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberr..htsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulssig und strafbar. Das gil t insbe-sondere fr Vervielflt igungen, bersetzungen, Mikroverfi lmungen unddie Einspeicherung und Verarbeitung in'elektronischen Systemen.

    Inhalt

    Vorwort

    Probleme mit operativer Schlie*g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    3.

    4.

    5 .

    6.

    7,

    B.

    9.

    Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialerSysteme

    Wie ist Bewutsein an Kommunikation beteiligt?

    D i e A u t o p o i e s i s d e s B e w u t s e i n s . . . . . . . . . . . . . . . . . ,

    Was ist Kommunikat ion? . o . o . . . . . . . . . . . . , . . . . . . , o .

    Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum . , .

    D i g F o r m r r P e r s o n " . . . . . : . . . . . . . . . . . . . . . . . . , . . . .

    Die Tcke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen

    Intersubjektivitt oder Kommunikation: UnterschiedlicheAusgangspunkte soziologischer Theoriebi ldung . . . . .

    Wahmehmung und Kommunikation sexueller Interessen . . . . .

    Das Kind als Medium der Erziehung . . . . . . . .

    Das Paradox der Menschenrechte und drei FormenE n t f a l t u n g . . . . .

    Inklusion und Exklusion

    Die Soziologie und der Mensch . . . .

    D r u c k n a c h w e i s e . . . . . . . .

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    10.

    11 .

    72.

    13.

    14.

    Umschlaggestaltung: Horst Dieter Brkle, DarmstadtUmschlagbi ld: Uwe Kubiak, Struktur 1985 850507-160Satz: ITS Text und Satz GmbH, HerfordDruck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, LengerichGedruckt auf surefreiem PapierPrinted in Germany

    I S R N j - 5 1 1 - 1 ) 7 ? 7 - 6

  • Da das Erziehungsmedium technisch nicht annifemd so leistungsf-hig ist wie beispielsweise Geld, ist durch das Fehlen einer binren Codie-ruig leicht zu rklren. Auch fehlt jede ?arallele zu jenen hochentwickel-ten Formen konomischer Rationalitt, die sich aus der Reduktion auf dieEntscheidung ber Zahlungen oder deren Unterlassen bei gegebenen Prei-sen ergeben."Der Rationalittsdefekt, der i,m

    _Vergleich zum GeldmediumauffflL wird dann nur allzu schnell durch Emphase, berschwTg- TdEnttuschung ausgeglichen. Vor allem erklrt dieser Unterschied die hoheInteraktionsintensitt der Erziehung, verglichen mit den extrem reduzier-ten Interaktionsformen, die die Geldwirtschaft allenfalls noch braucht' Indiesem vergleich gesehen, mssen die Medien-Defekte der Erziehungdurch Interaktion unter Anwesenden ausgeglichen werden; und zwardurch Interaktion deshalb, weil dies die einzig angemessene Form des um-gangs mit ,,Kindern" ist." D"i"r" ,p"ktuknlaren Unterschiede von Wirtschaft und Erziehung (undman knnte zum Vergleich auch Wissenschaft, auch Politik, auch Rechtheranziehen) sollten n--icht verdecken, da es in all diesen Fllen um dieAusdifferenzierung von autonomen, oPerativ geschlossenen Funktionssy-stemen geht. Es ritr"it t, da fr eine solche Evolution die Entwicklungspezifiser Kommunikationsmedien eine unerlliche Bedingung ist,denn wie anders knnten systemspezifische Formdifferenzen entstehenund den jeweiligen Funktionen zugeordnet werden? In all diesen Fllenrealisiert ri.r, ai" Differenzierungstypik der modernen Gesellschaft; undnur die Art und weise, in der das ermglicht wird, variiert von Funktions-svstem zu FunktionssYstem.

    228229

    Das Paradox der Menschenrechte und drei Formenseiner Entfaltung

    I.

    Das Problem der Begrndung der Menschenrechte ist ein Erbe, das unsder Zerfall des alteuropischen Naturrechts hinterlassen hat. Im Natur-recht war ein Naturbegriff wirksam gewesen, der sowohl kognitive alsauch normative Komponenten enthielt. Auch war Natur korruptibel ge-dacht gewesen, da sie offensichtlich nicht immer das ihr immanente Per-fektionsziel erreicht. Das wiederum galt auch fr die kognitiven und dienormativen Fhigkeiten der Natur, wie sie besonders (aber eben in derWeise der Korruptibilit$ in der rationalen Natur des Menschen zum Aus-druck kornmen. Die Begriffstechniken, die dieser Semantik zu entsprechensuchten, waren Paradoxieeliminierungstechniken gewesen. Das gilt ganzoffensichtlich fr die Zeitproblematik, sofern sie nach dem Vorbild derPhysikvorlesung am ontologischen Schema von Sein und Nichtsein abge-handelt wird.l Das gilt auch fr die ideengeleitete Abstraktion von Artenund Gattungen, die, obwohl sie in jedes ,,gnos" oerschiedene Individuen'einbeziehen will, dennoch darauf insistiert, da ein bestimmtes gdnos keinvon ihm Verschiedenes sei und verschiedene nicht dasselbe.2

    Dies sei nur vorausgeschickt, um den Leser zu versichem, da wir unsin guter, oder jedenfalls altehrwrdiger, Gesellschaft befinden, wenn wirvon der These ausgehen, da jede Begrndung von Menschenrechten (undBegrndung im Doppelsinne der Herstellung von Geltung und der Anga-be von Grnden dafr) ein Paradoxiemanagement erfordere. Wenn ,,nor-mal science" luft, braucht man daran nicht zu denken. Man verlt sichdann auf eine historisch etablierte Weise, die Paradoxie nicht zu sehen.Man hat es mit Unterscheidungen zu tun, die sie ersetzen und zugleichverdecken. Aber in Krisensituationen, bei einem Auswechseln von Begrn-dungsgrundlagen, bei der Suche nach prinzipiell andersartigen Formender Stabilitt, kommt die Paradoxie zum Vorschein, um den Paradigma-

    1 Siehe Aristoteles, Physica IV 10. Aucll noch Flegel,phischen Wissenschaften, S 258.

    2 Platon, Sophistes 253 D.

    Encyclopdie der philoso-

  • wechsel zu steuem. Und sie lehrt auch, da es dabei nicht beliebig zuge-hen kann.

    Wir gehen von der These aus, da man eine solche ,,Katastrophe" imEuropa des 16. Jahrhunderts beobachten kann und da die ,,Menschen-rechte" das Resultat der Dekonstruktion des Naturrechts sind (wobei zurSelbsttuschung der Protagonisten das Wort Naturrecht beibehalten, aberin ein Vernunfirecht umverstanden wird). Die Gninde fr diesen Ande-rungsdruck, der sich auch im Normengefge und den Systematisierungs-notwendigkeiten des gemeinen Rechts geltend macht, werden oft in derEntwicklung der Geldwirtschaft gesehen.3 Aber es gibt andere Differen-zierungsvorginge gleichen Ranges, die ebenfalls, und vielleicht sogar di-rektet den Naturbegriff tahgieren - so die durch die Entwicklung der ma-thematisch-experimentellen Wissenschaft erzwungene Differenzierungvon Wissenschaft und (schner) Kunst.a Auch an die Entwicklung des mo-demen Territorialstaates und der zunehmenden Benutzung des Rechts alsUnifikations- nd Reforminstrument wre zu denken' Wir knnen in dieseDiskussion der Auslseursachen hier nicht eingieifen. Es mu die Fest-stellung gengen, da der gesellschaftsstrukturelle Wandel bei aller Ver-mutung, es sei ,,Fortschritt'1, keine Begrndungsfolie fr die $echtstheorieliefert. (Erst in unserem jahrhundert kommt der ]urist auf die Idee, seineEntscheidungen aus ihren Folgen, also aus der Zukunft heraus begrndenzu mssen, und zwar genau deshalb, weil es jetzt an Fortschrittsvertrauenfehlt). Was man faktisch beobachten kann, besttigt denn auch diese Un-fhigkeit zu einer gesellsch4ftstheoretischen Begr'ndung des Rechts. DasRecht mu sich selbst helfen, es mu sein eigenes Paradox selbst zu do-mestizieren versuchen.

    Je nach dem, von welchen Unterscheidungen man ausgeht, stellt diesesProblem sich auf verschiedene Weise. Als rechtsinteme Unterscheidungkommt die Unterscheidung von Recht und Unrecht in Betracht, und dieParadoxie lautet dann: ob diese U:rterscheidung.zu Recht oder zu Unrechtbenutzt wird. Das Problem wird seit dem 18. Jahrhundert abgeleitet aufdie Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung:s Der Gesetz-

    3 Ygl. z.B. Gregorio Peces-Barbu Martinez, Trnsito a la modernidad y derechosfundamentales, Madrid 1982. Fr die Systematisierungsbewegung im gemeinenRecht entsprechende Andeutungen bei Hans Erich Troje, Die Literatur des ge-meinen Rechts unter dem Einflu des Humanismus, in: Helmut Coing (Hg.),Handbuch der Quellen und der Literatur der neueren europischen Privat-rechtsgeschichte II, 1, Mnchen 1977, S. 675-795,741ff. Solche Aussagen sindzunchst einmal nicht mehr als alte Legenden, und man mte rechtsinstituts-spezifisch nachprfen, wie weit sie berechtigt sind.

    4 Siehe hierzu Gerhart Schrter, Logos und List: Zur Entwicklung der Asthetikin der frLhen Neuzeit, Knigstein/Ts. 1985.

    5 Vgl. zum Rahrnen dieses Arguments Niklas Luhmann, The Third Question: The

    230

    geber kann sich entlasten mit dem Hinweis, da ber Flle nur der Richterentscheiden kann. Der Richter findet umgekehrt sein Alibi darin, da diesnach Regeln zu geschehen hat, die der Gesetzgeber allgemein festgelegthat.

    Im Dogma der Menschenrechte wird ein ganz anderes Paradox abgelegt.Hier geht es um die Unterscheidung von Lrdividuum und Recht, die eben-falls mit der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung an struktureller undsemantischer Brisanz gewinnt.6 Das Problem ist dadurch bedingt, da diestruktur- und herkunftsbedingte Identittszuweisung ersatzlos gestrichenwird. Statt dessen entwickelt sich die Figur des subjektiven Rechts, dasaber nur als objektives Recht gilt. Wenn das Individutrm sein 'Recht alseigenes Recht in Anspruch nimmt, scheitert es daran wie Michael Kohl-haas.7 Wenn das Recht seinerseits das Individuum bercksichtigt, dasnicht mehr als Entitt Teil der Gesellschft ist, dann mit psychisch nichtvalidierten Abkrzungen, etwa ber den Begriff der Person.

    Dies ist, formal gesehen, zunchst kein Paradox, sondern nur eine vonvielen Verschiedenheiten. Es wird aber zum Paradox, wenn man die Ver-schiedenheit nicht als Letztantwort gelten lt, sondem nach der Einheitdes Verschiedenen fragt, hier also nach der Rechtsform fr die Einheit derDifferenz von Individuum und Gesellschaft. Der Begriff der Menschen-rechte (im Unterschied zu Brgerrechten) deutet an, da man fr diesesParadox eine Lsung gefunden hat - und es daraufhin wieder vergessenkann. Aber worin besteht die Lsung?

    II.

    Es gehrt zu den akzeptierten Meinungen in der Ideengeschichte der So-zial- und Rechtsphilosophie, da die Entstehung des Konzepts der indi-viduellen Menschenrechte in engem Zusammenhang steht mit den Lehrenvom ursprnglichen Sozialvertrag.S Es gehrt etwas mehr Mut dazu (aberevolutionstheoretische tlberlegungen knnten dafr sprechen), das Fun-dierungsverhltnis einfach umzukehren: Nicht die Individuen begri.rnden

    Creative Use of Paradoxes in Law and Legal History, in: fournal of Law andSociety 15 (1988), S. 153-165. Zu den Besonderheiten der Entwicklung im 18.Jahrhundert etwa Gerald J. Postema, Bentham and the Common Law Tiadition,Oxford 1986; David Lieberman, The Province of Legislation Determined: LegalTheory in Eighteenth Century Britain, Cambridge Engl. 1989.

    6 Hierzu nher Niklas Luhmann, Individuum, Individualitt, Individualismus,in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 149-ZSB.

    7 Siehe zu diesem, zumindest der Romantik noch bewuten Problem Regina Ogo-rek, Adam Mllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifuhgen desMichael Kohlhaas, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 96-125.

    8 Siehe nur Peces-Barba (FN 3), S. 159ff.

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  • den Sozialvertrag, sondern der Sozialvertrag begrndet die Individuen.Oder genauer: Erst die Doktrin vom Sozialvertrag macht es mglich undauch ntig, zu fragen, wer denn diesen vertrag abschliet und dank wel-cher natrlichen Ausstattung (vernunft, Interessen, Triebe, natrlicheRechte) die vertragsschlieenden ihren vorteil im Vertrag sehen. wie sooft mag auch hier die vorhandene Problemlsung, der Sozialvertrag, esermglicht haben, das Problem zu definieren. Fr eine bekarurte Lsungwird, pil anderen Worten, das Problem gesucht' Das Problem heit dann:die Vielzahl der vorgesellschaftlich (= u""rgutellschaftlich) existierendenIndividuen. Aber dies Problem erzeugt ber den Sozialvertrag hinweg einzweites Problem: was wird aus den Individuen, nachdem sie den Vertraggeschlossen haben? Dieses vorher/nachher-Problem beantwortet die Dok-trin der Menschenrechte dadurch, da Menschenrechte von den vertrag-lich konstituierten Rechten unterschieden werden. Und dies nicht nachdem Muster von Naturzustand/Zivilzustand, sondern in der paradoxenForm der Einheit dieser Differenz. Menschenrechte sind die Rechte, diesich aus dem Naturzustand in den Zivilzustand hinberretten knnen,und dies auch und gerade dann, werur der Sozialvertrag unkndbar ist.

    Schon das ist ein nicht unmerkwrdiges Konzept' Es kommt hinzu, dader Sozialvertrag selbst, wenn er als pactum unionis (und nicht nur mit-telalterlich ak pctum subiectonis) begriffen werden soll, einen Begrn-dungszirkel enthit, Der Vertrag ist nur dank seiner selbst verbindlich.Ohne ihn gibt es nicht einmal die Norm des ,,pacta sunt servanda". Auchdas ,,free rider"-Problem, also das Problem der Rationalitt der Chancen-ausnutzung, die mglich ist, wenn die anderen einen solchen Vertragschlieen, bleibt ungelst. Das Paradox, das eliminiert werden sollte, kehrtalso in sehr spezifischen Formen zurck. Die Frage ist dann: unter welchenBedingungen kann man es in dieser Form ignorieren - und wie lange,wenn die sozialen Verhltnisse sich ndern?

    Sptestens in der zweiten Hlfte des 18. ]ahrhunderts verlieren die So-zialvertragskonzepte an berzeugungskraft. Im Rckblick erscheint dieserEinbau normativer Prmissen in einen offensichtlichen Zirkel heute als,,Ideologie" des aufstrebenden Brgertums.9 Aber das Problem der Men-schenrechte bleibt. Es sucht sich jetzt ein neues uneingestehbares Paradoxund findet die Lsung in der Vertextung, schlielich in der Positivierungdieser vorpositiven Rechte. Man denkt zunchst an rein deklaratorische

    9 Siehe nur David Gauthier, The Social Contract as Ideology, in: Philosophy andPublic Affairs 6 (1,977), S. 130-164. Anzumerken wre noch, da die bloe Be-zeichnung als ldeologie manche schon zufriedenstellt und von weiteren 119""abhlt. Zi fragen wre aber dann, wie die Bezeichnung einer angeblichen Wahr-heit als Ideolgie wahr sein kann; oder wie sie sicher sein kann, nicht selbereine Ideologie zu sein.

    232

    Texte, die nur anerkennen, da es solche Rechte gibt, etwa in den ameri-kanischen Bills of Rights oder in der franzsischen Dclaration.10 Alsbaldwird es aber blich und gegen systematische Bedenken auch notwendig,solche Texte in die Verfassung einzubeziehen, um ihnen die Stabilitt desVerfassungsrechts zu vermitter und sie juristisch zu normalisieren. Jetzterscheint unser Paradox in der Form der Positivierungsbedrftigkeit desvorpositiven Rechts. Eine Zeitlang karur man sich darber hinweghelfen,indem man das, was die Texte meinen, immer noch als ,,Naturrecht" be-zeichnet und diese Referenz auf Natur auch in den Textformulierungenanklingen lt, es in sie hineinlegt und dann wieder herausholt, etwa mit,,ist"-Formulierungen (statt ,,soll"-Formulierungen), zum Beispiel in Art. IGG. Auch kann man sagen, da die Textformulierungen nur Anwendungs-hilfen, nur akzidentelle Ausstattungen ohnehin bestehender Rechte sind.Aber schon sieht man, da es keinen Unterschied macht, ob Aussagendieser Art zutreffen oder nicht. Und vor allem macht dies Positivierungs-erfordernis das Paradoxiemanagement abl"rngig- von der Institution desTerritorialstaates. Das lt die Geltungsgrundlage der Menschenrechte frdie Weltgesellschaft.ungeklrt - ein heute zunehmend dringliches Pro-blem, das man wohl kaum dadurch lsen kann, da man die Existenzeines weltgesellschaftlichen Rechts schlicht bestreitet. Auch intemationaleKonventionen bleiben an die Einzelstaaten gebunden, und dies auch dann,wenn sie spezifisch auf die Achtung der Menschenrechte bezogen sind.Wie man am Schicksal der American Convention on Hurnan Rights von1988 ablesen kann: sie werden unterzeichnet oder nicht, ratifiziert odernicht, mit oder ohne Unterwerfung unter eine vorgesehene Gerichtsbarkeitund natrlich all dies mit dem Souverinititsvorbehalt der Widerrufsmg-lichkeit. l l

    Ist diese Form des Paradoxiemanagements, ist die Paragraphierung derMenschenrechte heute noch zeitgem? Man wird darauf nicht verzichtenwollen, aber werur man den Paradoxiebezug dieser Figur im Auge behlt,kann man vielleicht schon einen netien Gestaltswitch der Paradoxie beob-

    10 Zu den so/orf anschlieenden Formulierungs- und Reformulierungskmpfensich Marcel Gauchet, Droits et l'homme, in:.Frangois Furet/Mona Ozouf (Hg.),Dictionnaire de la R6volution Frangaise, Paris 1988, S. 685-695. Sobald Texteproduziert sind, sind sie auch kommentar- und nderungsbedrftig.

    11 Im Falle der American Convention ist die Enthaltsamkeit der USA besondersbemerkenswert, die soweit ich wei, bis heute nicht ratifiziert und sich jeden-falls der Gerichtsbarkeit des Inter-American Court nicht unterworfen haben,obwohl sie in anderen Zusammenhngen doch besonders und mit geradezuweltpolizeilicher Anmaung sich der Menschenrechte annehmen. Siehe zurgleichwohl bemerkenswerten Wirksamkeit den Annual Report of the Inter-American Court of Human Rights 1989, Washington 1989. Ich danke fin zu-stzliche Information anllich eines Gesprchs in Mdxico City (August 1990)Herrn Prof. Hctor Fix-Zamudio.

  • achten. Sie versteckt sich auf andere Weise - entsprechend dem allgemei-nen Eindruck, da Zivilisationsprodukte in ihren Grenzen erkennbar wer-den.

    Die aktuellste Form der Behauptung von Menschenrechten knnte zu-gleich die urtmlichste (natrlichste) sein. Normen werden an Verstenerkannt, Menschenrechte daran, da sie verletzt werden. So wie Erwar-tungen oft erst an Enttuschungen bewut werden, so auch Normen ofterst an Verletzungen. Die Situation der Enttuschung fhrt bei Informa-tionen prozessierenden Systemen zur Rekonstruktion ihrer eigenen Ver-gangenheit, zu rekursivem Prozessieren mit Rckgriffen und Vorgriffenuf etwas, was nur im Moment einleuchten mu. Und es scheint, da sichdie Aktualisierung von Menschenrechten heute weltweit primr diesesMechanismus bedient.

    An Anlssen fehlt es nicht. Dds Ausma an Menschenrechtsverletzun.gen in fast allen Staaten ist erschreckend, ebenso wie die Drastik der Vor-iatte - das Foltem und Beseitigen von Menschen oder das Tolerieren sol-cher Praktiken, die immer geringer werdende Garantie ffentlicher Sicher.heit mit hoher Toleranz von physischer Gewalt, um nur unbestreitbardeutliche Flle zu erwhnen. EJwre ,,geschmacklos",12 angesichts solcherAtrozitten in Texten nachzuschlagen oder die lokal geltende Rechtsord-nung zu befragen, ob dergleichen erlaubt ist oder nicht. Das Problem liegteher in der Kommunikation solcher Verletzungen und im Wachhalten derffentlichen Aufmerksamkeit angesichts der Massenhaftigkeit und der la-fenden Reproduktion des Phinomens'

    wie imer der sachstand in dieser Frage ist und wie immer er sichndern wird: jedenfalls ist wiederum eine Paradoxie impliziert. Die Gel-tung der Norm erweist sich an ihrer Verletzung. Man mag das im Ausgangvon einer hochentwickelten Rechtskultur, die unsere Erwartungen be-stimmt, als unzureichende Antwort auf das Problem beklagen' Man hataber schon oft bemerkt, da die weltrechtsordnung eher den ordnungs-formen tribaler Gesellschaften gleicht, also auf organisierte Sanktionsge-walt und auf authentische Definition der Rechtsverste an Hand bekann-ter Regeln verzichten mu. Immerhin scheint mit der Einsicht in die ber-lastung und Inadquitt gtaatsgarantierter Rechtspflege auch die Aufmerk-

    12 Ich brauche diesen Begriff hier im Sinne von Kants Kritik Urteilskraft, also imsinne eines Appells air Kriterien, die sich weder kognitiv noch praktisch anentsprechenden Vernunftsorten ausweisen mssen. Die Berufung auf guten Ge-schmack mag zynisch klingen, aber es ist nicht unplausibel, hier mit Rcksichtauf das systm der drei Kritiken ein offenes Kriterienproblem zu sehen, da wirkaum beieit sein werden, das Problem ber die unterscheidung von Vernunft-ideen und sthetischen Ideen (Kritik der urteilskraft $ 49) abzulegen - wasberdies auch das Problem htte, da sthetische Ideen nicht den Anspruchauf Konsensfhigkeit erheben.

    234

    samkeit ftir Phinomene der beschriebenen Art zuznnehmen; und jeden-falls sollte man sich nicht scheuen, das Menschenrechtsparadox in seinergegenwrtig dominierenden Gestalt als Paradsx zu bezeichnen. Geradedas fhrt ja vor die Frage, ob nicht auch neue Formen der ,,Entfaltung"dieses Paradoxes durch darauf bezogenen Unterscheidungen bentigt wer-den.

    III.

    Wie die klassische Mythologie lehrt, wird ein Beobachter, der eine Para-doxie zu beobachten versucht, dran hingen bleiben. Er wird erstarren,wenn es ihm nicht gelingt, mit der bekannten Spiegeltechnik des Perseusdie Medusa zu tten. Dann ist, der Sage nach, der Kopf bei Athena abzu-liefem, und die Welt ist fr die Gttin der Kognition logisch-ontologischin Ordnung. Etwas voreilig, mchte der Soziologe kommentieren. Er be-vorzugt denn auch ein Beobachten der Beobadrter der Paradoxie - einBeobachten zweiter Ordnung.

    Er mchte wissen, wie und in welchen Formen der Direktblick auf Pa-radoxien vermieden wird, wobei mitgesehen wird, da dies vermiedenwerden mu.13 Im Metaphysikkritikprograrnm eines Jacques Derrida wr-de das heien: die ,,omissions" der Philosophie zu studieren und den Blickdafr zu schrfen, wie sich das Abwesende im Anwesenden gleichwohlbemerkbar macht.l4

    ,,Dekonstruktion" ist ein ebenso berhmter wie auch irrefhrender Aus-druck fr eine solche Vorgehensweise. Man knnte sie auch positiver se-hen. Wenn man dem allgemeinen Theorieschema folgt, da Paradoxienbei jeder operativ benutzten Unterscheidung auftreten, sobald man nachihrer Einheit fragt, also nach der Einheit dessen, was nur als Differenzbenutzt werden kann, wird die Frage aktuell, wie Paradoxien ,,entfaltet",das heit durch unterscheidbare Identitten ersetzt und verdrngt werden.Die Typenhierarchie der Logik oder die Ebenenunterscheidung der Lin-guistik mgen hier als Muster dienen. |edenfalls kann die Paradoxieent-faltung nicht logisch-deduktiv erfolgen. Ihre Kriterien liegen eher in derFrage, welche Unterscheidungen fr welche Systeme in welchen geschicht-lichen Zeiten so viel Plausibilitt aufweisen, da die Frage nach der Einheit

    13 Siehe auch Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, in: Hans UlrichGumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbr-che: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt 1991, S. 58-82.

    14 Aber dies sichbemerkbarmachen ist zugleich ein Auslschen des Sichbemerk-barmachens und ein Bemerkbarmachen des Auslschens des Sichbemerkbar-machens - eine ,,trace de l'effacement de la trace", wie es in Jacques Derrida,Marges de Ia philosophie, Paris 1972, S. 77 heit.

  • der Unterscheidung oder auch die Frag'e, wieso diese Unterscheidung undkeine andere benutzt wird, nicht gestellt wird. Anything may go, abernicht alles zu jeder ZeiL

    Man kommt, das sollten die vorstehenden Analysen zeigen, zu einerhistorisch-empirischen Semantik der Paradoxieentfaltungsformen. Mankann sie, wenn Soziologie mitwirkt, mit gesellschaftsstrukturellen Vern-demngen korrelieren. Man karur auf diese Weise auch eine Kritik von [Jn-terschidungsgewohnheiten anregen mit den Fragen, welche Paradoxie sieverdecken sollten und ob die dafr benutzten Formen noch berzeugen.Daraus kann eine grere Unbefangenheit in der Wahmehmung von Neu-entwicklungen resultieren, und dies wre in einer von Selbstunsicherhei-ten geplagtn Gesellschaft kein kleiner Gewinn.

    Da unsere wahmehmung von Menschenrechtsverletzungen durch dieMassenmedien gesteuert (was einschliet im Hinblick auf 'die Selektions-weisen der Massenmedien manipuliert) wird, ist sinnvoll und nicht zubeanstanden. Dasselbe gilt ja auch fr die Wahmehmung technisch-ko-logischer Katastrophen.S In beiden Fllen befriedigen jedoch die Resultateniht. pas liegt offenbar daran, da ein Bezugspunkt und, im Falle derMassenmedien, eine ausdifferenzierte Ebene fr Reflexion fehlt' Mit ge-wissen Theorieanstrengungen knnte heute an diesem Defizit gearbeitetwerden. Eine dafr geeignete Theoriesprache lt sich entwickeln, wennman mathematische Theorien des Prozessierens von Formen (= Unter-scheidungen) mit einer neokybernetischen Theorie der Beobachtung zwei-ter Ordnung und mit operationsbasierten Systemtheorien kombiniert. So-wohl fr die Rechtstheorie als auch fr die Soziologie erfordert das einBetreten unvertrauten Gelndes. Aber an einem so brisanten Thema wiedem der Menschenrechte lt sich zeigen, da solch ein.Unternehmennicht ohne Aussicht ist'

    @uchForschung,SieheetwaRolfLindner,MedienundKatastrophe: Fnf Thesen, in: Hans Peter Dreitzel/Horst Stenger (Hg )i Y"-gewollte^ Selbstzerstrung: Reflexionen ber den Umgang mit katastrophalenEntwicklungen, Frankfurt 1990, S. 124-134.

    Inklusion und Exklusion

    I .

    Im Theorieapparat der Soziologie spielt seit den Zeiten der Klassiker derBegriff der sozialen Differenzierung eine wichtige Rolle. Er bezeichnet fastdas einzige Konzept, das fr die Darstellung des Gesellschaftssystems inununterbrochener Tradition zur Verfgung steht. Man kann Varianten un-terscheiden, etwa solche, die mehr auf Klassenherrschaft, und andere, diemehr auf die Vorteile der Arbeitsteilung setzen. Und es gibt theorieimma-nente Entwicklungen, etwa von der Vorherrschaft einer Rollen- oder Grup-penperspektive zu formaleren systemtheoretischen Darstellungsmitteln.Auch und gerade in den letzten Jahren ist Differenzierung wiederum einbevorzugtes Thema soziologischer Theorie.l Im Zusammenhang damitentstehen Fragen nach der Integration differenzierter Systeme. Wenn eineEinheit differenziert gedacht wird, mu sie als Einheit doch noch erkenn-bar sein; sie mu die Zusammengehrigkeit der Teile ausweisen knnen.Durkheim hatte darin bekanntlich ein Ptoblem der (moralischen) Solida-ritt gesehen und den Schwerpunkt seiner Theorie zunehmend. auf diesenAspekt verlagert. Parsons hatte im Anschlu an Durkheim einen evolu-tionren Variationszusammenhang von Differenzierung und Generalisie-rung der Einheitssymbolik angenommen.2 Dabei lief jedoch der Integra-tionsbegriff gleichsam im Schatten der Differenzierungstheorie mit undblieb begrifflich ungeklrt.3-Er wird nur durch das CovariationsschemaDifferenzierung/ lntegration gehalten:

    1 Siehe efwa Renate Mayntz et al., Differenzierung und Verselbstndigung: ZurEntwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt 1988; Jeffrey C. Alexan-derlPaul Colomy (Hg.), Differentiation Theory and Social Change: Compara-tive and Historical Perspectives, New York 1990.

    2 Oder in der komplexeren, an das AGIL-Schema angepatert Formulierung vonTalcott Parsons, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs NJ. 1971,S. 11, 26ft., einen Zusammenhang von adaptive upgrading, differentiation, in-clusion and value g-eneralization.

    3 Fr einen knappen Uberblick siehe Helmut Willke Systemtheorie,3. Aufl. Stutt-gart 199L, S. I67ff. Da die bekannte Unterscheidung social integration/systemintegration von David Lockwood; Social Integration and System Integration,.in: George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hg.), Social Change: Explorations, Dia-gnoses, and Conjectures, New York 1976, S. 370-383, nicht weiterhilft, liegt aufder Hand. Sie vergrert nur die Spannweite des Begriffs, ohne ihn selbst zu