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Redakteur. Dr. Eduard Häckl Verantwortlich: Dr Eduard Häckl Stand: Jan. 2007/April 2008/Juni 2010 Rev.datum: Juni 2014 Freigabe durch die Klinikleitung: 15.4.2008 Anorexia nervosa_Abt_1_Konzept.doc ►Krankheitsbild ►Grundlagen der Behandlung ►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten ►Gestufte Behandlungskonzepte ►Behandlungsziele Beispiel eines Behandlungsverlaufes Krankheitsbild Die Anorexia nervosa ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Untergewicht (weniger als 85% des nach Alter und Körpergröße zu erwartenden Gewichtes; ein BMI = Bodymaßindex unter 17,5 kg / m²). Unter dieser Erkrankung leiden meist junge Mädchen und Frauen, aber auch Männer können an Magersucht erkranken. In der ICD 10 ein (International Classification of Diseases) die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme werden die Essstörun- gen folgendermaßen beschrieben: F50.- Essstörungen Exkl.: Anorexia o.a.A. ( R63.0 ) Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler ( R63.3 ) Fütterstörung im Kleinkind- und Kindesalter ( F98.2 ) Polyphagie ( R63.2 ) F50.0 Anorexia nervosa Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhal- tenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heran- wachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbun- den, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedri- ge Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unter- Mag ersucht Anorexia nervosa Behandlungskonzept der Abteilung I

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►Krankheitsbild ►Grundlagen der Behandlung ►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten ►Gestufte Behandlungskonzepte ►Behandlungsziele ►Beispiel eines Behandlungsverlaufes ►Krankheitsbild Die Anorexia nervosa ist charakterisiert durch ein ausgeprägtes Untergewicht (weniger als 85% des nach Alter und Körpergröße zu erwartenden Gewichtes; ein BMI = Bodymaßindex unter 17,5 kg / m²). Unter dieser Erkrankung leiden meist junge Mädchen und Frauen, aber auch Männer können an Magersucht erkranken. In der ICD 10 ein (International Classification of Diseases) die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme werden die Essstörun-gen folgendermaßen beschrieben:

F50.- Essstörungen Exkl.: Anorexia o.a.A. ( R63.0 )

Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler ( R63.3 ) Fütterstörung im Kleinkind- und Kindesalter ( F98.2 ) Polyphagie ( R63.2 )

F50.0 Anorexia nervosa Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhal-

tenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heran-wachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbun-den, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedri-ge Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unter-

Magersucht Anorexia nervosa Behandlungskonzept der Abteilung I

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schiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika.

Exkl.: Appetitverlust ( R63.0 ) Psychogener Appetitverlust ( F50.8 )

F50.1 Atypische Anorexia nervosa Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Anorexia nervosa erfüllen,

das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können die Schlüsselsymptome wie deutliche Angst vor dem zu Dicksein oder die Amenorrhoe fehlen, trotz eines erheblichen Gewichtsverlustes und gewichtsredu-zierendem Verhalten. Die Diagnose ist bei einer bekannten körperlichen Krankheit mit Gewichtsverlust nicht zu stellen.

F50.2 Bulimia nervosa Ein Syndrom, das durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene

Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Ab-führmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexia nervosa, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen. Häufig lässt sich in der Anamnese eine frühere Episode einer Anorexia nervosa mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren nachweisen.

Bulimie o.n.A. Hyperorexia nervosa

F50.3 Atypische Bulimia nervosa Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Bulimia nervosa erfüllen, das

gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können wiederholte Essanfälle und übermäßiger Gebrauch von Abführmitteln auftreten oh-ne signifikante Gewichtsveränderungen, oder es fehlt die typische übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht.

F50.4 Essattacken bei anderen psychischen Störungen Übermäßiges Essen als Reaktion auf belastende Ereignisse, wie etwa Trauerfälle,

Unfälle und Geburt. Psychogene Essattacken Exkl.: Übergewicht ( E66.- ) F50.5 Erbrechen bei anderen psychischen Störungen Wiederholtes Erbrechen bei dissoziativen Störungen (F44.-) und Hypochondrie

(F45.2) und Erbrechen, das nicht unter anderen Zustandsbildern außerhalb des Kapitels V klassifiziert werden kann. Diese Subkategorie kann zusätzlich zu O21.- (exzessives Erbrechen in der Schwangerschaft) verwendet werden, wenn haupt-sächlich emotionale Faktoren wiederholte Übelkeit und Erbrechen verursachen.

Psychogenes Erbrechen Exkl.: Erbrechen o.n.A. ( R11 )

Übelkeit ( R11 ) F50.8 Sonstige Essstörungen Pica bei Erwachsenen

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Psychogener Appetitverlust Exkl.: Pica im Kindesalter ( F98.3 ) F50.9 Essstörung, nicht näher bezeichnet Magersüchtige Patientinnen führen die Gewichtsabnahme durch Fasten, Erbrechen, körperli-che Aktivität sowie Einnahme von Abführmitteln, Appetitzüglern und Diuretika (harntreibende Mittel) herbei. Sie beschäftigen sich intensiv mit dem eigenen Gewicht, verleugnen das Un-tergewicht sowie ihre körperliche Schwäche und die Gefährlichkeit der Erkrankung. Häufig haben die Patientinnen ein Idealbild von völliger Unabhängigkeit und Autonomie. Sie verleugnen ihre eigenen seelischen und körperlichen Bedürfnisse nach Nähe und Nah-rung sowie auch ihre Bedürfnisse nach Unterstützung, Versorgung und Hilfe. Deshalb zeigen sie häufig ein widersprüchliches Muster von hilfesuchenden und hilfeabwei-senden Verhaltensweisen. Bei der Entstehung und der Aufrechterhaltung einer Magersucht spielen psychische, biologi-sche, gesellschaftliche und familiäre Faktoren in unterschiedlicher Weise zusammen. In je-dem Einzelfall muss individuell geklärt werden, welche Faktoren eine Rolle spielen. Ablö-sungskonflikte vom Elternhaus, Schwierigkeiten im Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, das herrschende Schönheits- und Schlankheitsideal, Selbstwertprobleme, Ängste vor anste-henden Entwicklungsschritten, insbesondere vor konflikthaften Auseinander-setzungen und Selbstbehauptung, Schwierigkeiten sich zu wehren und sich abzugrenzen können eine Rolle spielen. Etwa die Hälfte der Patientinnen erreicht eine Heilung, etwa ¼ ist nach der Behandlung ge-bessert, 10 % der Patientinnen weisen einen chronischen Verlauf mit dem Vollbild einer Ano-rexie auf. Selbst bei günstigem Verlauf dauert es im Schnitt 6 Jahre, bis es zu einer Heilung einer Ano-rexie kommt. Die Anorexie gehört immer noch zu den gefährlichsten Erkrankungen junger Mädchen und Frauen mit einer 10fach - gegenüber der Normalbevölkerung - erhöhten Wahrscheinlichkeit an der Erkrankung zu sterben. Allerdings ist Magersucht nicht gleich Magersucht: innerhalb der Gruppe der Anorexie-Patientinnen gibt es sehr unterschiedliche Krankheitsbilder und –verläufe, wobei insbesonde-re die Bereitschaft und Fähigkeit, Hilfe anzunehmen und die Teufelskreise der Erkrankung durchbrechen zu wollen, von ausschlaggebender Bedeutung ist. ►Grundlagen der Behandlung Das zentrale Problem in der Behandlung von Patientinnen mit Magersucht ist es, die oft hilflos mit ihrer Familie verstrickte Patientin und ihre Familie dafür zu gewinnen, einen Weg zu su-chen und zu finden, sowohl Essverhalten und Gewicht zu normalisieren als auch die Proble-me und Konflikte in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft konsequent zu bearbeiten und anzugehen. Die Forschung und die klinische Erfahrung (und der gesunde Menschenverstand) zeigen eindeutig, dass die Psychotherapie Hand in Hand gehen muss mit einer Gewichtszu-nahme und einer Normalisierung des Essverhaltens. Magersüchtige Patientinnen sind häufig innerlich zerrissen und voller Widersprüche. In ihnen tobt häufig ein verzweifelter Kampf zwischen Anteilen, die leben, lieben, arbeiten und genießen wollen, die sich zu einer selbständigen, selbstbewussten Persönlichkeit, die sowohl zu Nähe als auch zu Auseinandersetzungen im Umgang mit den Mitmenschen in der Lage ist, entwickeln wollen und einem mehr oder weniger bewussten verzweifelten, ängstlichen, trauri-

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gen, oft auch rachsüchtigen und destruktiven, misstrauischen Anteil, der Angst hat vor den anstehenden Entwicklungsschritten, der sich vielleicht sogar verweigert, jede Hilfe und Unter-stützung ablehnt und das Leben und die Liebe fürchtet oder hasst. Dieser innere Konflikt in den Patientinnen führt häufig zu einem widersprüchlichen Verhalten im Umgang mit Angehörigen und Ärzten und Therapeuten. Diese sehen einen Menschen, der einerseits über seinen körperlichen Zustand und die Ge-fühle, die er dadurch auslöst, extreme Hilflosigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Fürsorge und den Wunsch zu helfen auslöst, der aber andererseits verbal, seine Unabhängigkeit und Selbstge-nügsamkeit betont und die Gefahren der Erkrankung verleugnet, das krankhafte Essverhalten verheimlicht und Hilfsangebote nicht oder in widersprüchlicher Weise wahrnimmt, häufig nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ oder im Extremfall: „Du hast keine Chance, nutze sie!“. Unsere therapeutische Strategie ist es nun, uns mit dem gesunden Anteil zu verbünden, mit ihm zu verhandeln, so lange, bis wir einen klaren, stimmigen, für die Patientin und uns an-nehmbaren therapeutischen Auftrag mit klaren, gemeinsam abgestimmten Zielen als Grund-lage für die Behandlung haben. Therapie ist ein Prozess der selbstgewählten und selbstbestimmten Entwicklung, den ein Arzt oder Therapeut unterstützen kann, indem er dem Patienten hilft, sich mit seinen Widersprü-chen und Konflikten auseinander zu setzen, sich besser zu verstehen und Fähigkeiten zu entwickeln, um anstehenden Entwicklungsaufgaben zu meistern. In der Regel geht es bei diesen Entwicklungsaufgaben z.B. um Ablösungsprozesse von den Eltern, um die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen und zusammenzu-raufen, sich abzugrenzen, zu wehren, sich zu behaupten, sich auf Liebesbeziehungen einzu-lassen, sich in Liebesbeziehungen hingeben zu können, ohne sich zu verlieren, eine sichere Geschlechtsidentität zu entwickeln, und es geht darum, eine berufliche Identität zu entwickeln und sich im Lebenskampf behaupten zu können. Häufig verwechseln die Patientinnen auf Grund schlechter Erfahrungen Kontrolle und Fürsor-ge. Sie wünschen sich unbewusst Unterstützung und Hilfe, fürsorgliche Anteilnahme, erleben dies aber bewusst als Kränkung oder sehr schnell als Fremdbestimmung, gegen die sie sich wehren müssen. ►Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten Für Patientinnen, die unter einem lebensbedrohlichen Untergewicht leiden und dennoch die Notwendigkeit einer Behandlung verleugnen, sieht der Gesetzgeber vor, dass eine Behand-lung auch gegen ihren Willen erfolgen kann, wenn eine akute Selbstgefährdung vorliegt. An-sonsten sind uns Ärzten und Therapeuten die Hände gebunden, eine Therapie gegen den Willen des Patienten ist nicht möglich. Hier ist es sinnvoll, zwischen Maßnahmen, die der sozialen Kontrolle dienen und therapeuti-schen Maßnahmen zu unterscheiden: - Eine Zeangsbehandlung als Ausdruck sozialer Kontrolle auf dem Boden entsprechender Gesetze (PsychKG, Vormundschaft) sieht unsere Gesellschaft vor, wenn Menschen sich oder andere in Lebensgefahr bringen. Eine solche Behandlung gegen den Willen der Patientin ist in der Rhein-Klinik nicht möglich. - Therapie setzt voraus, dass die Patientin sich entschieden hat, sich bei der Überwindung ih-rer Krankheit helfen zu lassen und uns dafür einen Auftrag gibt. ► Gestufte Behandlungskonzepte Auch wenn es eine konsequente Behandlung letzten Endes immer eine Kombination von Psychotherapie und Unterstützung bei der Überwindung der Essstörung voraussetzt ( Siehe unten: Warum erfordert eine konsequente Psychotherapie einer Magersucht auch eine Be-reitschaft der Patientin, gleichzeitig eine Normalisierung ihres Gewichtes anzustreben?) so

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haben wir doch die Erfahrung gemacht, dass es notwendig und sinnvoll ist, langsam aber si-cher Schritt für Schritt vorzugehen. Deshalb haben wir ein mehrstufiges Behandlungskonzept entwickelt, dass dem Motivati-onsstand der Patientin Rechnung trägt und gewährleistet, dass diese in jeder Phase der Be-handlung nur selbstverantwortliche und selbstbestimmte Entwicklungsschritte vollzieht. A) Ambulante Voruntersuchung Die ambulante Voruntersuchung dient der Abstimmung der Erwartungen der Patientin und unserer Behandlungsmöglichkeiten, -grenzen, -ziele und -bedingungen. Bei dieser lebensbedrohlichen Erkrankung und der oft verzweifelten Hilflosigkeit aller Beteilig-ten möchten wir die Hemmschwelle für eine Kontaktaufnahme so niedrig wie möglich gestal-ten. Deshalb überlassen wir es der Patientin, ob sie selbst oder ein Familienangehöriger mit ihrem Einverständnis einen Termin in unserer Ambulanz vereinbart. Die Patientin kann nach ihrem Gutdünken alleine oder auch mit ihrer Familie oder mit ihrem Partner zu diesem Vorgespräch kommen. Auch die Eltern einer magersüchtigen Patientin, die sich noch nicht entschließen kann, Hilfe in der zu Rhein-Klinik suchen, können mit uns ein Beratungsgespräch vereinbaren, um zu er-örtern, wie sie die Patientin zu einer Zusammenarbeit bzw. einem ersten Gespräch gewinnen können. Im Rahmen unseres analytisch-systemischen Ansatzes ist es unser Anliegen, dass alle Betei-ligten – die Patientin, ihre Familie -wenn möglich und gewünscht- und das Behandlungsteam - zu einem guten Team zusammenwachsen, das sich gegenseitig bei der schwierigen Aufgabe, diese Erkrankung zu überwinden, unterstützt. Wir bieten auch eine ambulante Gruppe an für Patientinnen, die auf eine Behandlung in der Rhein-Klinik warten, und Patientinnen, die diese hinter sich haben und auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Das Ziel dieser Gruppe ist es, die Übergänge ambulant-stationär-ambulant zu erleichtern. Durch den Austausch der „neuen“ und der „alten“ Patientinnen kann eine noch unschlüssige Patientin sich ein Bild machen, ob unser Behandlungsansatz ihr zusagt oder nicht. Es handelt sich um eine „gemischte“ Gruppe mit Patientinnen mit verschiedenen Krankheits-bildern. Die Teilnahme an dieser ambulanten Gruppe kann in dem ambulanten Vorgespräch verein-bart werden. B) 1-2 wöchige Behandlung Für Patientinnen, die hochgradig ambivalent sind, die von Angehörigen oder Ärzten zu uns geschickt werden und noch keinerlei Motivation in sich spüren, ihr Essverhalten zu normali-sieren und sich der Auseinandersetzung der äußeren und inneren Konflikte zu stellen, bieten wir eine 1-2 wöchige Behandlung an: Eine „Schnupperwoche“ für die Patientin, die es ihr erlaubt, sich ein Bild von unseren Behand-lungsangeboten zu machen und eine diagnostische Woche für uns, die es uns erlaubt, einzu-schätzen, ob wir mit unserem Konzept und unseren Möglichkeiten und Grenzen dieser Pati-entin angemessen helfen können.

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Behandlungsrahmen: Die Patientin wird vom Stationsarzt, Oberarzt und Chefarzt untersucht. Sie wird über unsere Behandlungskonzepte informiert. Sie informiert uns über ihre Vorstellungen und wir versu-chen zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Die Patientin erhält durch Teilnahme an den Einführungsgruppen der Pflege( sie vermittelt die notwendigen Informationen über die Abläufe auf der Station) sowie an den Visiten, der Großgruppe ( eine einmal wöchentlich stattfindende Gruppe der Patienten mit Stationsteam unter der Leitung von Chef- oder Oberärztin, in der aktuelle Probleme auf der Station bespro-chen werden), der Infogruppe (eine einmal wöchentlich stattfindende Gruppe unter der Lei-tung von Chef- oder Oberäztin in der Themen „rund um Psychosomatik und Psychotherapie“ erörtert werden) der Imaginationsgruppe ( hier werden beruhigende und wohltuende Phan-tasieübungen vermittelt) und der Stationsversammlungen (hier werden unter Leitung der Pflege organisatorische Fragen geregelt) und insbesondere auch durch den Austausch mit Mitpatienten die Möglichkeit, sich ein Bild von unserem Behandlungs-konzept zu machen. Die Pflegekräfte begleiten und unterstützen sie in der Bezugspflege. Darüber hinaus kann die Patientin sich bei der Stationspflegeleiterin und der Diätassistentin – gegebenenfalls auch im Rahmen unserer Essgruppe, in der einmal pro Woche alle Patien-tinnen mit Essstörungen, die Stationspflegeleiterin, die Diätassistentin und /oder ein Mitarbeiter der Küche und der Hauswirtschaft die konkreten Fragen der Nahrungs-zusammenstellung erörtern - über unsere Möglichkeiten, sie bei einer sinnvollen Ernährung zu unterstützen, informieren. Oft ist auch ein Familiengespräch sehr sinnvoll, in dem bisherige Lösungsversuche und die Möglichkeiten der Familie, eine positive Entwicklung, die allen Familienmitgliedern gut tut, zu unterstützen, besprochen werden. Wir bieten gerne so genannte „lösungsorientierte systemische“ Paar- oder Familien-gespräche an, in denen es darum geht, zu untersuchen, wie ein Paar oder eine Familie ge-meinsam gute Lösungen suchen und finden kann und wie Angehörige die Patientin unterstüt-zen können, ohne sich selbst zu überfordern oder ihre berechtigten Interessen aus dem Auge zu verlieren. C) 4-6-wöchige Behandlung Patientinnen, die „eigentlich“ Hilfe suchen, aber noch keine konkreten therapeutischen Ziele und Aufträge haben, sowohl im Hinblick auf ihr Gewicht als auch im Hinblick auf ihre seeli-schen und zwischenmenschlichen Probleme bieten wir eine zeitlich klar begrenzte 4-6-wöchige Behandlung an. Behandlungsrahmen: ● Für Patientinnen, deren Angst vor einer Gewichtszunahme oder einer Psychotherapie so groß ist, dass sie sich eine Unterstützung bei der Normalisierung ihres Essverhaltens und ih-res Gewichtes sowie bei der Lösung ihrer seelischen und zwischenmenschlichen Probleme noch nicht vorstellen können, beinhaltet diese Behandlung Einzelgespräche, Bezugspfle-gegespräche und die Teilnahme an den Stationsangeboten (Visiten, Großgruppe, Info-gruppe) ohne Verpflichtung zur Gewichtszunahme. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die Patientin sich nicht in einem kritischen Ernäh-rungszustand, der unbedingt der „Auffütterung“ bedarf, befindet. Themen der Einzelgespräche, Bezugspflegegespräche, der oft sinnvollen Familiengespräche und last not least der Gespräche mit den Mitpatienten sind die Fragen: Wofür ist die Magersucht gut? Welche wichtige Funktion hat sie in dem seelischen und zwi-schenmenschlichen Haushalt der Patientin? Welche vermeintlichen „Gefahren“ sind mit einer Gesundung verbunden? Vor welchen ängstigenden Entwicklungsschritten schützt die Ma-

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gersucht die Patientin? Wie könnte ein stimmiger Gesundungsprozess im weiteren Verlauf gestaltet werden, wie könnten sinnvolle Aufträge und Ziele im Rahmen einer weiteren statio-nären Behandlung, die dann auch die Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichtes anstrebt, definiert werden? ● Für Patientinnen, die etwas weniger Angst haben und bereit und in der Lage sind, sich auf erste Erfahrungen mit stationärer Psychotherapie einzulassen, sich aber noch nicht in der La-ge fühlen, sich auf eine konsequente Gewichtszunahme einzulassen, beinhaltet diese Be-handlung die oben aufgeführten Inhalte und Bedingungen sowie zusätzlich die Teilnahme an den Kleingruppen - eine Kombination aus Gesprächsgruppen und sog. nonverbalen Gruppen (Konzentrative Bewegungstherapie und Kunsttherapie) (tiefenpsychologisch fundierte Gruppenverfahren, die im verbalen Austausch und mit Hilfe körperorientierter oder kunsttherapeutischer Ansätze die Auseinandersetzung mit innerseelischen, körperlich-seelischenund zwischenmenschlichen Problemen, sowie die Entwicklung von Fähigkeiten gut mit sich und anderen umzugehen und die Aktivierung eigener Ressourcen fördern ) sowie ggfs. Skillsgruppe (Skills sind nützliche Fertigkeiten zur Regulierung von Stress, Emotionen, Selbstwert und zwischenmenschlichen Interaktionen)und Achtsamkeitsgruppe(Einüben ei-nes achtsamen Umgangs mit sich und seiner Umwelt mit dem Ziel der Stressreduktion und Selbstregulation). D) 8-10wöchige Behandlung Erst wenn - die Patientin sich überzeugt hat, dass unser Therapieangebot das geeignete ist, um ihr zu helfen, die anstehenden Entwicklungsschritte zu meistern, -sie uns einen eindeutigen Auftrag gibt, sie bei der seelischen und körperlichen Stabilisierung zu unterstützen, - sie unsere Bedingung einer kontinuierlichen Gewichtszunahme von 500 g pro Woche akzep-tiert -sie zu einer aktiven Teilnahme an einem psychotherapeutischen Einzel- und Gruppenthera-pieprozess, ggfs. auch mit Familientherapie bereit ist, -sie bereit ist, konsequent ihr selbstschädigendes, einen therapeutischen Prozess verunmög-lichendes Verhalten wie Hungern, Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln und Diuretika zu unterlassen und unsere Hilfe und Unterstützung bei der Unterlassung dieses Verhaltens an-zunehmen, ist eine kombinierte psychosomatische Behandlung mit ärztlicher, pflegerischer und diäteti-scher Unterstützung einer geregelten Nahrungsaufnahme, physiotherapeutischen Maßnah-men und psychotherapeutischen Verfahren (Einzel- und Gruppentherapie, konzentrative Be-wegungstherapie, Kunsttherapie, Familientherapie) in unserer Abteilung sinnvoll. Diese erfolgt in einem 8-10wöchigen Rahmen Wenn in diesem Zeitraum keine ausreichende Stabilisierung möglich ist (z.B. weil die bei 500g/Woche in 10 Wochen mögliche Gewichtszunahme von 5 kg nicht ausreicht, um ein aus-reichendes stabiles Gewicht (BMI von 18) zu erzielen) und der körperlich-seelische Zustand der Patientin noch nicht stabil genug für eine ambulante Behandlung ist, kann eine stationä-re Intervallbehandlung, also mehrere stationäre Behandlungen in sinnvollen Abständen, die im Einzelfall bestimmt werden müssen, indiziert sein.

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Wichtig ist uns ● dass die Patientin zu jedem Zeitpunkt der Behandlung das klare, eindeutige Gefühl hat, dass sie die Auftraggeberin ist und entscheidet, ob sie den nächsten Schritt mit uns gehen will oder ob sie sich entscheidet, ihren Weg – in welcher Weise auch immer- alleine weiterzuge-hen. ● dass WIR die Verantwortung haben für ein medizinisch-therapeutisches, hochwertiges An-gebot in einem für uns als sinnvoll und nützlich erachteten Rahmen und daran geknüpften Bedingungen, um dieses Angebot in Anspruch nehmen zu können. Dieses Angebot kann sinnvolle Veränderungen und Entwicklungen lediglich anregen. ● dass DIE PATIENTIN sich darüber im Klaren ist, dass nur sie wissen kann, was gut für sie ist und dass sie die Verantwortung für Veränderung oder Nicht-Veränderung und ihre Ent-wicklung hat. ● Wenn unsere Patientin uns einen klaren Auftrag erteilt, unsere Bedingungen akzeptiert und mit uns gut definierte therapeutische Ziele aushandelt, werden wir uns nach bestem Wissen, Gewissen und Kräften bemühen, sie und ihre Familie bei dem sicher anstrengenden und schwierigen Genesungsprozess zu unterstützen. ●Mit dieser Vorgehensweise wollen wir unfruchtbare Machtkämpfe vermeiden. Wir lassen uns ganz bewusst nicht in eine Interaktion verwickeln, in der wir zu wissen glauben, was gut für die Patientin sei (ein Muster, zu dem diese leicht einlädt, indem sie Sorge und Angst, sowie das Bedürfnis zu helfen, bei ihrem Gegenüber auslöst) sondern machen ein Angebot, das die Patientin darauf überprüfen kann, ob es für sie gut ist. Wir zeigen ihr damit unsere Möglichkei-ten aber auch unsere Grenzen auf. ●Dieses Behandlungssetting ist geeignet für Patientinnen, die sowohl motiviert sind, bis zu einem normalen BMI zuzunehmen, als auch Veränderungen in ihren Einstellungen und Ver-haltensänderungen im Umgang mit sich selbst und ihren Mitmenschen anzustreben. Sie haben sich entschieden, ihr selbstzerstörerisches Essverhalten aufzugeben und alles daran zu setzen, dieses Essverhalten und ihr Gewicht zu normalisieren, indem sie kontinuier-lich ca. 500g pro Woche zunehmen. ●Patientinnen, die eine 8-10wöchige Behandlung durchführen lassen wollen, haben verstan-den, dass wirkliche Therapie etwas damit zu tun hat, dass der Patient versteht und umsetzt, was er tun kann, damit es ihm in der Auseinandersetzung mit seinem Umfeld besser geht! Es geht darum, sich in den Therapien aktiv einzubringen, um die eigenen Ressourcen und die schwierigen Beziehungs- und Bewältigungsmuster kennen zu lernen und den Mut zu finden, in der Auseinandersetzung mit Team und Mitpatienten die eigenen Ressourcen einzusetzen und bekömmlichere Beziehungs- und Bewältigungsmuster zu entwickeln. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer ambulanten und einer stationären Behandlung besteht darin, dass im stationären Rahmen mehrere Behandlungsansätze kombiniert werden können: Einzel- und Gruppentherapie, Paar- und Familientherapie, physikalische Therapie und ggfs.medikamentöse Behandlung. Während in der ambulanten Psychotherapie die im Gespräch zwischen Therapeut und Pati-ent gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen direkt in dem möglicherweise schwierigen familiären und beruflichen Umfeld umgesetzt werden müssen, wird in der stationären Be-handlung ein Übungsfeld „mitgeliefert“ mit ständigem „Coaching“ durch ein erfahrenes Team und Austausch mit den Mitpatienten. Behandlungsrahmen: Wir schließen mit unseren Patientinnen, die uns den Auftrag zu dieser Behandlung geben, einen schriftlichen Vertrag, in dem eine wöchentliche Gewichtszunahme ( in der Regel 500g) und ein Zielgewicht ( in der Regel in 10 Wochen +5 kg) vereinbart wird. Die Behandlung umfasst sowohl eine aktive Unterstützung bei der Normalisierung der Ess-gewohnheiten und der Gewichtszunahme durch ärztlliche, pflegerische und diätetische Maßnahmen als auch eine intensive Psychotherapie mit Einzelgesprächen, Kleingruppen (analytisch-systemische verbale Gruppen, Konzentrative Bewegungs-therapie oder

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Kunstgruppen) Großgruppen, Infogruppen, Imaginationsgruppen, Skillsgruppe, Acht-samkeitsgruppe, Essgruppe, bei Motivation und Bedarf Familien-gespräche. (zur Erläuterung der Verfahren siehe oben) Bei Patientinnen, bei denen traumatische Erfahrungen, wie sexuelle Gewalterfahrungen bei der Essstörung eine Rolle spielen, kann auch eine traumaspezifische Behandlung mit EMDR ( für weitere Informationen siehe z.B. www.emdr-institut.de )indiziert sein. Diese erfordert allerdings als Voraussetzung eine weitgehende Stabilisierung der Symptoma-tik und die Fähigkeit, Emotionen und Spannungen zu regulieren. - Die Patientinnen führen eine Gewichtskurve, die über ihrem Bett hängt, in dem die Ideal-kurve der Gewichtszunahme einen oberen grünen Bereich und einen unteren roten Bereich markiert. Sie haben sich entschieden, den grünen Bereich einzuhalten. -Die Patientinnen werden täglich gewogen. Grund für diese Maßnahme ist die Überlegung, dass es nicht das eigentliche Ziel ist, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, sondern der Patientin zu helfen, sich kontinuierlich gesund und ausreichend zu ernähren. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass weniger häufige Gewichtskontrollen dazu führen können, dass die Patientinnen einige Tage in der Woche ihr magersüchtiges Essverhalten zeigen, um dann durch zusätzliche Kalorienzufuhr in den Tagen vor den Wiegen das ge-wünschte Gewicht zu erzielen. - In Einzelfällen, wenn wir das Gefühl haben, dass der Anteil, der die Behandlung durch Rück-fälle in das Symptomverhalten, sabotieren will, noch sehr virulent ist, versuchen wir durch ei-ne konsequente Grenzsetzung diese Dynamik zu erschweren. Da wir wissen, dass die Patientinnen sehr viel Kompetenz haben, ihr Gewicht sehr zielgenau zu steuern, gehen wir davon aus, dass sie sich entschieden haben, ihr magersüchtiges Ver-halten vorerst nicht aufzugeben, wenn sie mehr als 7 Tage an einem Stück, oder insgesamt 14 Tage im roten Bereich liegen. Dann erfolgt die Entlassung - mit der Möglichkeit, jederzeit wiederzukommen, wenn die Moti-vationslage sich geändert hat. Warum erfordert eine konsequente Psychotherapie einer Magersucht auch eine Be-reitschaft der Patientin, gleichzeitig eine Normalisierung ihres Gewichtes anzustreben? Zunächst einmal hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass die Kombination von Psy-chotherapie und Unterstützung bei der Normalisierung des Essverhaltens die besten Erfolge zeigt. Es gibt aber auch gewichtige und einleuchtende, therapeutisch fundierte Überlegungen für eine Behandlungsstrategie, die als Voraussetzung für die Psychotherapie einer Magersucht die Bereitschaft, kontinuierlich zuzunehmen, fordert: Hungern, sich zu Tode hungern, stellt ein extrem selbstschädigendes Verhalten dar. Die Patientinnen delegieren sozusagen - mehr oder weniger bewusst - die Fürsorge, die Sor-ge und die Verantwortung für ihren Körper an ihre Angehörigen und Ärzte. Solange dieses selbstzerstörerische Muster der Verantwortungsabgabe bestehen bleibt, ist ein selbstbestimmter Therapieprozess mit dem Ziel gesünderer Einstellungen und Verhal-tensweisen nicht möglich. Unfruchtbare Machtkämpfe zwischen besorgten Ärzten und Eltern und der sich auf ihr Selbst-bestimmungsrecht berufenden Patientin, ihr selbstzerstörerisches Verhalten beizubehalten, sind unausweichlich. Voraussetzung für einen selbstbestimmten Therapieprozess und ein tragfähiges Arbeitsbünd-nis ist die bewusste und klare Entscheidung, alles zu tun, um dieses selbstzerstörerische „Spiel“ zu beenden und dafür offen und ehrlich die notwendige Unterstützung des therapeuti-schen Teams in Anspruch zu nehmen. Ein weiterer Grund ist die Funktion der Magersucht in dem seelischen Haushalt der Patientin-nen.

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Mit der Magersucht wird ein trügerisches Gefühl von Macht, von Triumph über den Körper (und die Angehörigen) erzeugt und Konflikte und ängstigende Gefühle und Bedürfnisse z.B. im Zusammenhang mit einem weiblichen Körper oder auch tiefliegende Gefühle der Ver-zweiflung , Trauer, Wut und Sehnsucht werden in den Hintergrund gedrängt oder ganz ver-drängt. Erst die Aufgabe des Symptoms der Magersucht bzw. die Bereitschaft, die therapeutisch ver-langten Grenzen und Bedingungen zu akzeptieren, kann die verdrängten Gefühle und Konflik-te mobilisieren, sodass sie in der Behandlung erlebt, verstanden und bearbeitet werden kön-nen. ► Behandlungsziele Das Ziel einer stationären Krankenhausbehandlung, die eine Behandlungsepisode in einem Gesamtbehandlungsplan, der je nach Bedarf ambulante, teilstationäre und stationäre Be-handlungseinheiten umfassen kann, darstellt, ist eine körperliche und seelische Stabilisierung mit den Mitteln des Krankenhauses. Diese sollte ausreichend sein, um der Patientin zu ermöglichen, den Prozess der Normalisie-rung ihres Essverhaltens nach der Entlassung mit Hilfe der in der Regel notwendigen ambu-lanten Psychotherapie fortzusetzen. Zu Beginn der Behandlung steht vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Erkran-kung und den zu Grunde liegenden Problemen das Ziel der Klärung des Überweisungskon-textes und der Motivation der Patientin. Klärung des Überweisungskontextes bedeutet, dass wir die Frage klären, wer will was von wem? Kommt die Patientin mit einem eigenen Wunsch und Auftrag oder ist sie mehr oder weniger gegen ihren Willen von Angehörigen oder behandelnden Ärzten in die Klinik geschickt wor-den? Wir stellen z.B. die Frage: Zu wie viel Prozent kommen Sie zu uns, weil Sie sich dazu entschieden haben und zu wie viel Prozent, weil ihre Eltern oder ihr Arzt, es von Ihnen erwar-ten? Klärung der Motivation bedeutet, dass wir uns ein genaues Bild machen müssen über die meist widersprüchliche Motivationslage der Patientin. Häufig tobt in ihr ein gnadenloser Kampf zwischen Kräften, die sich ein selbstbestimmtes und gesundes Leben wünschen und auf Hilfe und Unterstützung hoffen und Kräften, die aus Angst, Verzweiflung, Wut oder destruktiver Rache an der Symptomatik festhalten und keiner-lei Hilfe zulassen wollen. Es gibt Patientinnen, die mit der Entscheidung zu uns kommen, aus den Teufelskreisen der Erkrankung aussteigen zu wollen und bereit sind, hier jede Hilfe und Unterstützung anzuneh-men. Andere Patientinnen wiederum sind widersprüchlich und zerrissen, was sich bezüglich ihrer Motivation und ihres Wunsches nach Hilfe in einem „Wasch mich, aber mach mich nicht nass – Verhalten“ äußert. Hier müssen wir gemeinsam mit der Patientin einen Therapieplan entwickeln, der diesen Ängsten Rechnung trägt, aber auch die gewünschte Entwicklung ermöglicht. Im Folgenden lesen Sie die Aussagen von zwei magersüchtigen Patientinnen, die wir gebeten haben, die inneren und äußeren Gründe, die gegen eine Therapie sprechen bzw. verdeutli-chen, wofür die Magersucht gut ist, aufzuschreiben.

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Frau H.T., 46 Jahre, seit 25 Jahren magersüchtig, schreibt: Innere Gründe die gegen eine Therapie sprechen: 1. Ich muss mein Symptom aufgeben und damit meine bisherigen Möglichkeiten die Welt zu

ertragen. 2. Das „Nein“, was ich bisher über die Körpersprache und mit mir selber ausgemacht habe,

muss ich nun durch Auseinandersetzungen in die Beziehung bringen. Das erfordert von mir viel Kraft. Ich muss mich der Angst aussetzen, angegriffen und zurechtgewiesen zu werden, evt. Für mein „Nein“ abgelehnt und allein gelassen zu werden.

3. Mein „Nein“, zu Beziehungen kann ich nicht beibehalten, muss mich zumindest auf die Beziehungen mit dem Therapeuten einlassen, was alle Ängste von abgelehnt werden zu enttäuschen selber enttäuscht und verlassen werden zu dumm zu sein zugeben zu müssen, Fehler zu machen mich im anderen zu verlieren mich minderwertig zu fühlen nicht zu genügen den anderen auf die Nerven fallen mich als gierig und unersättlich zu erkennen in einen Streit zu geraten, den ich vernichtend erlebe mich ausgeliefert fühlen Macht über mich zu verlieren mich mit der Unsicherheit auseinandersetzen – wie viel darf ich nehmen, was muss

ich geben? verletzt zu werden für lästig und aufdringlich befunden zu werden zu langweilig und uninteressant zu sein mich zu blamieren mich zu schämen die Kontrolle zu verlieren Gefühle zu fühlen, die nicht erwidert werden.

4. Ich muss den Teil in mir den ich verleugnet habe, den ich versucht habe, auszuhungern, begegnen, den Teil den ich an mir nicht mag und ihn auch noch in der Beziehung mit je-mand anderen aushalten.

5. Ich muss mir und anderen eingestehen, dass ich es nicht alleine schaffe, das ich Hilfe brauche und muss auch dann dabei bleiben, wenn es besonders für meine Arbeitskolle-gen unbequem wird und sie mich verunsichern wollen.

6. In meiner Schwäche liefere ich mich den Kollegen aus, was mich angreifbar, verletzbar und manipulierbar macht.

7. Meine bisherige Art, wie ich mich und meine Umgebung wahrgenommen habe, könnte sich als Illusion herausstellen und mir den Grund unter den Füßen entziehen.

8. Ich habe Angst vor den Veränderungen, weil ich nicht weiß, wohin sie mich führen. Das was ich hatte, war wenigstens vertraut und gab mir eine gewisse Sicherheit.

9. Ich habe Angst in ein Raster gesteckt zu werden, das für mich nicht passt und mich ein-engt und festlegt.

10. Die Spannungszustände könnten in der Therapie größer werden und ich kann nicht zu al-ten Methoden zurückgreifen. Wo bleibe ich damit?

11. Ich werde von einem Menschen so abhängig, das ich nur noch von einer Stunde zur an-deren lebe und das Leben dazwischen als schrecklich leer erlebe.

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12. Ich tue mich schwer damit, dass ich Dinge die in der Therapie aufgerissen werden, solan-ge mit mir herumtragen muss, um sie erst in der nächsten Stunde loswerden zu können.

13. Weiß der Therapeut, was er tut? Es kann auch schief gehen. 14. Es wird weh tun!!! 15. Ich muss das Risiko eingehen, ihm zu vertrauen, ohne zu wissen, was dabei heraus-

kommt. 16. Ich muss einen Seelenstriptease vollbringen, was mit viel Scham und Angst verbunden

ist. 17. Werde ich diesmal wieder in etwas verstrickt, was sich nur in einem zerstörerischen Be-

freiungsakt lösen lässt? 18. Ich muss mich vermehrt Auseinandersetzungen stellen. 19. Mit der Entwicklung meines Willens werden jede Menge Ängste auftauchen. 20. Man kann mir als „Gesunde“ noch mehr aufladen, wenn ich es nicht schaffe „Nein“ zu sa-

gen. 21. Ohne meine „Essstörung“ fehlt mir die äußere Kontrolle über meinen inneren Seelenzu-

stand. Es wird damit für mich viel schwerer greifbar. 22. In der Therapie kann ich meine bisherige Strategie, die Dinge heimlich und für mich allei-

ne zu erledigen, nicht beibehalten. Mit dem Offenlegen sind sie für andere auch viel leich-ter zu enttarnen. Etwas offen auszutragen, bedeutet auch immer kritisiert werden zu kön-nen, bedeutet auch einen Klaps auf die Finger zu bekommen, zurechtgewiesen und gerügt zu werden.

23. Ich muss mich mit meinen Gefühlen zeigen, was Scham und neue Ängste auslösen kann. Die Gefühle könnten mich überschwemmen, aber genauso gut könnten auch gar keine da sein, was in mir das Gefühl entstehen ließe, dem Anderen unnötige Zeit gestohlen zu ha-ben.

Äußere Gründe die gegen eine Therapie sprechen

1. Die Therapie wird viel Kraft und Zeit kosten. Während andere sich hinlegen und von der Arbeit ruhen, werde ich mich einer seelischen Operation unterziehen.

2. Die Zeit, über die ich frei bestimmen kann, wird noch knapper. 3. Die Autofahrt nach Bad Honnef im Winter durch Dunkelheit, Eis und Schnee ist für mich

beängstigend. 4. Evtl. im Stau zu stehen und meine Stunde dahinschwinden zu sehen, bedeutet Frust und

Stress. 5. Ich gerate unter Druck, wenn von der Arbeit oder der Familie, Termine mit denen der The-

rapie zusammentreffen und ich entscheiden soll, wer Vorrang hat. 6. Die Therapie wird mich für eine gewisse Zeit von den anderen isolieren. 7. Die Fahrtstrecke, der Verschleiß am Auto und evt. anfallende Therapiekosten werden

mich Geld kosten. 8. Ich muss mich vor anderen dazu bekennen magersüchtig und damit krank zu sein und

damit riskieren, im Ansehen der Anderen zu sinken und nicht mehr ernstgenommen zu werden. (besonders schwierig auf meiner Arbeitsstelle, Kollegen, Eltern)

Diese Patientin hat sich schließlich für eine Therapie entschieden und hat ihr Gewicht lang-sam aber sicher auf Normalgewicht gesteigert.“ Und das bei einer schon 25 Jahre andauern-den „chronifizierten“ Magersucht!

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Die 20-jährige K. S. schreibt: Wozu ist die Magersucht gut? „Fangen wir bei der Familie an: Durch meine Essstörung haben wir für uns entdeckt, wie wertvoll wir füreinander sind. Wir unternehmen Ausflüge zusammen, sehen uns Filme an usw., wobei es von allen Beteiligten mit Begeisterung aufgenommen wird, statt von einem aufgezwungen zu sein. Meine Eltern haben sich im Kampf gegen den „gemeinsamen Feind“ angenähert. Mama fing an, nicht nur mir, sondern auch ihr Verhalten zu hinterfragen. Ich fühle mich nun in meinen Problemen ernst genommen. Sie werden nicht mehr als Hirngespinste betrachtet. Papa kümmert sich mehr um das Familienleben. So fürchte ich innerlich, dass, sobald ich ein Normalgewicht erreiche, dieses Gefühl der Kost-barkeit des Familienlebens zurück geht. Es kann ja folgendes sein: Ich brauche meine Eltern weniger als Unterstützung und lasse mich seltener blicken. Mein Vater flüchtet wieder an sei-nen Fernseher, meine Mutter versinkt in Selbstmitleid und macht mir wieder andauernd Vor-würfe, und mein Bruder hängt nur mit den Kumpels herum. Durch meine Magersucht habe ich meine Eltern dazu gezwungen, mir ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, mehr Anlehnung und Rat anzubieten. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Beistand ist etwas, das ich mir innerlich immer gewünscht habe. Ich habe mich nach außen hin aber genau gegensätzlich verhalten: Schroff, abweisend, ver-schlossen, weil ich mich vor der damit verbundenen Nähe fürchtete. So bekomme ich den Beistand, ohne mich öffnen zu müssen oder darum zu bitten. Das fällt schwer, denn damit würde ich zeigen, wie abhängig ich bin.. Deshalb fürchte ich, dass ich ohne Essstörung von den Eltern nicht mehr unterstützt werde; da ich nicht danach frage und Distanz signalisiere. Die Magersucht ist ferner dazu da, dass ich mir selber jeden Tag aufs Neue beweisen kann, dass mein Ehrgeiz und meine Disziplin noch da sind. Es sind Eigenschaften, über die ich mich gerne definiere und bei denen ich jedoch in ständiger Angst und Unsicherheit lebe, dass sie verschwinden, sobald ich aufhöre, sie jeden Tag auf die Probe zu stellen. Ich fürchte, dass, sobald die Begrenzung des Essens vorbei ist, mein Essverhalten ins Ge-genteil umschlägt – Frustessen. Dies ist auch ein Gespenst der Vergangenheit. Mir hat das Leben bis jetzt keine Freude bereitet. Ich war immer in der Planung und immer in Sorgen und Gedanken und nie in der Gegenwart. Ich habe Phasen der Antriebslosigkeit, in denen alles sinnlos erscheint, und die Hilflosigkeit und Wut, deren ich mir selbst nicht bewusst war, mussten irgendwie zum Ausdruck kommen. Dann habe ich gehungert. Wenn ich nicht mehr hungere, muss ich mich dieser Freudlosigkeit stellen. Ich hungere, wenn ich mich schlecht fühle. Oft habe ich Schwierigkeiten, mich mitzuteilen, habe ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Es staut sich auf. Ich hungere, um das Empfinden dumpf zu stellen. Ich hungere, um mir einen Tag mit weniger Aktion zu gönnen. Meine Hauptangst ist, wenn ich normalgewichtig bin, würde kein Grund mehr bestehen, auf meinen Körper zu hören und auf-zupassen. Wie geht es mir? Das wäre egal, ich bin „normal“, muss also „normal“ funktionieren. Ich habe die Magersucht gebraucht, um auf mich hören zu lernen“. Es hat sich uns bewährt, nicht unreflektiert und ohne sorgfältige Abstimmung der „armen ma-gersüchtigen Patientin“ helfen zu wollen und zu wissen, was für sie gut ist, - das führt in der Regel nur zu Widerstand, Trotz und Verweigerungsverhalten (nicht nur bei magersüchtigen Patientinnen, sondern bei den meisten Menschen!), sondern sorgfältig und respektvoll zu klä-

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ren, ob die Patientin uns einen Auftrag geben will, der auch uns sinnvoll und durchführbar er-scheint – oder nicht. Die Behandlungsziele sind demnach gestuft: - Klärung der Motivation eine konsequente körperlich-seelische Entwicklung anzustreben, - Klärung der Lebensziele und Therapieziele, Abstimmung klarer und widerspruchsfreier Auf-träge. - Klärung der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Gewichtszunahme. Wenn die Voraussetzung gut abgestimmter Therapieziele und Therapieaufträge erfüllt ist, kann die psychotherapeutische Arbeit im engeren Sinne mit folgenden Zielen beginnen: - Erforschung der individuellen lebensgeschichtlich bedingten Muster des Umgangs mit Ge-fühlen, Bedürfnissen, Wünschen, Konflikten, Belastungen, Erwartungen, Anforderungen - Vermittlung seelisch-körperlicher Zusammenhänge und Wechselwirkungen - Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von belastenden Lebenserfahrungen - Verbesserung der Gefühl- und Körperwahrnehmung - Wahrnehmung der Belastungsgrenzen - Abbau von überfordernden Leistungsidealen - Verbesserung der Entspannungsfähigkeit - Verbesserung der Fähigkeit, Hilfe annehmen zu können, Schwächen und Hilfsbedürftigkeit als Teil einer Persönlichkeit, die immer sowohl Stärken als auch Schwächen hat, selbstver-ständlich zu akzeptieren Verbesserung von Kommunikation, Abgrenzung- und Konfliktfähigkeit ►Beispiel eines Behandlungsverlaufes: Eine 22 jährige Patientin, in Ausbildung zur Bürokauffrau, Frau A. litt seit 6 Jahren unter ei-ner Anorexie. Sie war 1,60m groß, wog 40 kg, d.h. der Bodymaßindex wies mit 15.6 auf das deutliche Untergewicht hin (Normalbereich 18,5.24, 9) Sie kam zur ambulanten Erstuntersuchung in Begleitung ihrer Mutter. Die Patientin selbst erschien abweisend, einsilbig, unzugänglich und zeigte kein Interesse an einer stationären Behandlung. Die Mutter war verzweifelt, hilflos. Alle bisherigen Bemühungen der Eltern und des Hausarztes waren erfolglos geblieben. Wir informierten die Patientin ausführlich über unsere Behandlungsvorstellungen, insbeson-dere darüber, dass wir sorgfältig mit ihr jeden Behandlungsschritt abstimmen werden und die Behandlung nur dann durchführen, wenn wir von ihr einen stimmigen Auftrag erhalten und schlugen ihr einen 1-2wöchigen „unverbindlichen“ Aufenthalt in der Rhein-Klinik vor. Darauf konnte sich die Patientin einlassen. Dieser einwöchige Aufenthalt führte dazu, dass die Patientin sich grundsätzlich eine Behand-lung bei uns vorstellen konnte. Allerdings waren ihre Vorstellungen über ihre Ziele noch sehr widersprüchlich und ihre Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf einen konstruktiven Entwick-lungsprozess einzulassen, noch wenig entwickelt. Wir vereinbarten deshalb mit ihr eine weitere stationäre Behandlung von ca.6 Wochen. In diesem zeitlich klar begrenzten Aufenthalt luden wir sie ein, mit uns untersuchen, welche mehr oder weniger bewussten Gründe, sie für ihr magersüchtiges Verhalten hat und welche Befürchtungen sie mit einem Gesundungsprozess verbindet. Ziel dieser zeitlich klar begrenzten Behandlung war es auch, Frau A. erleben zu lassen, wie stationäre Psychotherapie die zwischenmenschlichen Prozesse in der Stationsgemeinschaft

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nutzt, um die Zusammenhänge zwischen Symptomen und innerseelischen und zwischen-menschlichen Problemen deutlich zu machen und die Fähigkeiten zu fördern, diese zu lösen. Das Behandlungsangebot für Frau A. umfasste therapeutische Einzelgespräche m, eine Betreuung durch eine Bezugspflegekraft, Anwendungen in der Physikalischen Therapie mit Massagen und Krankengymnastik mit einem physikalischen Behandlungsangebot (intentiona-les Bewegen und Feldenkrais) sowie Großgruppen, Infogruppen, Imaginationsgruppen und Stationsversammlungen. Frau A. nahm dann auch die Möglichkeit eines Familiengesprächs mit den Eltern und ihrer Schwester in Anspruch. Am Ende dieses Aufenthaltes wog Frau A 43 kg, das entspricht einem Bodymaßindex von 16,8. Frau A. hatte eine stimmige Motivation für eine Psychotherapie, die auch die körperliche Sta-bilisierung und Normalisierung des Gewichtes einschließt, entwickelt. Sie fühlte sich gefestigt genug, ihr Gewicht zu halten, sah sich aber noch nicht in der Lage, selbstständig eine weitere notwendige Gewichtszunahme zu erreichen. Frau A. begann eine ambulante Psychotherapie bei einer Therapeutin mit Erfahrungen mit Essstörungen und folgte unserer Empfehlung einer wöchentlichen Vorstellung und Gewichts-kontrolle bei ihrem Hausarzt, der ihre Therapeutin regelmäßig über die Gewichtsentwicklung informierte. Nach ca. einem halben Jahr hatte sie noch ein halbes Kilo zugenommen und fühlte sich in den Auseinandersetzungen in der Familie etwas sicherer. Sie schreckte aber nach wie vor vor einer Partnerschaft, die sie sich eigentlich ersehnte, aber der sie sich nicht so recht gewachsen fühlte, zurück. Auch in ihrer Ausbildung als Bürokauf-frau litt sie noch unter Versagensängsten und ihrer Neigung, Konflikten aus dem Weg zu ge-hen. In Abstimmung mit ihrer Therapeutin stellten wir die Indikation für eine weitere stationäre Be-handlung von 10 Wochen. Frau A., die Vertrauen in das Behandlungsteam und die Behandlungsmethoden entwickelt hatte, konnte sich sehr motiviert auf die Behandlung einlassen. Mit Unterstützung der Ess-gruppe, ihres Stationsarztes und ihrer Bezugspflege – und den Mitpatienten! gelang es ihr, kontinuierlich zuzunehmen. Am Ende der Behandlung wog sie 48 kg, dies entspricht einem BMI von 18,7. In den Einzel- und Gruppentherapien setzte sie sich intensiv mit den durch die körperlichen Veränderungen und die zwischenmenschlichen Erfahrungen von Nähe und Aus-einandersetzung ausgelösten Gefühle und Konflikte auseinander und entwickelte zunehmend zuversichtliche Zukunftsperspektiven Im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung setzte sie sowohl die ambulante Psychotherapie als auch die regelmäßigen Gewichtskontrollen bei ihrem Hausarzt fort. Dr. Eduard Häckl Ltd. Arzt der Abteilung I Stand Juni 2010