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. Sigrid Lenz MAJA Geschichte einer Slasherin Roman © 2010 AAVAA eBook Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 Email: [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Hans Lebek, Berlin Covergestaltung Tatjana Meletzky Printed in Germany ISBN 9783862540600

MAJA - download.e-bookshelf.de file8 Es begann mit diesem Blick aus dem Fenster. Und Maja sah niemals aus dem Fenster. Es inte‐ ressierte sie nicht, was draußen vorging

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Sigrid Lenz  

MAJA Geschichte einer Slasherin 

 

Roman 

 © 2010  

AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) 

 Quickborner Str. 78 – 80,13439  Berlin 

 Telefon.: +49 (0)30 565 849 410 

Email:  [email protected] 

Alle Rechte vorbehalten 

1. Auflage 2010 

Lektorat: Hans Lebek, Berlin 

 

Covergestaltung 

 Tatjana Meletzky 

 

Printed in Germany  

ISBN 978‐3‐86254‐060‐0 

 

 

 

 

 

      

 

 

 

 

 Alle Personen und Namen sind frei erfunden.  

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen  

sind zufällig und nicht beabsichtigt.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Gut,  der  Titel mag  etwas  irreführend  erschei‐

nen, aber im Detail betrachtet trifft er die Situati‐

on explizit.  

Die  Erlebnisse  der  letzten  Zeit waren  tatsäch‐

lich  nichts  anderes  als  unglaublich. Und wenn 

ich mich  in der schäbigen Zuflucht umsehe, die 

mir im Augenblick der Aufzeichnung dieser No‐

tizen  einen  erbärmlichen  Schutz  bietet,  so  lässt 

sich  nicht  leugnen,  dass  das  Schlimmste  wohl 

noch bevorsteht.  

Vorausschicken  sollte  ich noch, dass die knap‐

pen  Zeitreserven  mich  zu  Zugeständnissen 

zwingen, die meinem innersten Wesen durchaus 

widerstreben. So dürfte Form und Fassung die‐

ser Sätze nicht  jedem kritischen Auge  standhal‐

ten,  zumal  gewisse  seelische  Einschränkungen 

meinerseits  den  Wechsel  zwischen  erster  und 

dritter Person der Erzählenden verlangen. Denn 

obwohl  es  mich  drängt,  die  Geschehnisse  zu 

schildern, die mich in diese Lage gebracht haben, 

so  gebietet  doch  der  Anstand,  mich  von  der      

einen  oder  anderen  Eigenschaft  oder  Hand‐

lungsweise der Protagonistin auch formal zu dis‐

tanzieren.  

Sie  kennen  das  sicher  auch,  als  Leser wie  als 

Autor  lebt und  leidet man mit seinen Charakte‐

ren, ist sich allerdings geradezu schmerzlich des 

Abgrundes bewusst, der die  eigene Person von 

der  des  Protagonisten  oder  in  diesem  Fall  der 

Protagonistin  trennt. Doch sollte am Anfang be‐

gonnen werden, besser gesagt, am Anfang vom 

Ende.  

Sich versteckt  zu halten war nicht ungewohnt 

für mich. Im Gegenteil. Ich wirkte aus dem Ver‐

borgenen. Dieses Verhalten war mir  so  sehr  in 

Fleisch und Blut übergegangen, dass es mir nicht 

einmal  unangenehm  auffiel.  Selbstverständlich 

handelte  es  sich  zu  diesem  Zeitpunkt  um  eine 

außergewöhnliche  Situation.  Und  natürlich  litt 

ich unter dem Verlust der Bequemlichkeiten, der 

Sicherheit, die, wenn auch Illusion, doch ein we‐

sentlicher  Teil  meiner  Selbst  geworden  war. 

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Auch  die  Bezeichnung  ‚mittelalterlich‘  traf  auf 

mich  in doppelter Weise zu. War  ich doch nicht 

nur in der Mitte meines Lebens angelangt. Nein, 

mein  ganzes  Wesen  war  dieser  Zeit  entrückt, 

passte einfach nicht in die Moderne, in die Hek‐

tik des Alltags.  

Ich  wusste  zwar,  dass  ich  beim  schwachen 

Licht  einer  niederbrennenden  Kerze  in  einem 

Kellerloch  saß,  den  Bleistift  umklammert,  die 

Worte  der  letzte  Ausdruck  meiner  Persönlich‐

keit.  Dennoch  spürte  ich  gleichzeitig,  wie  ich 

mich bewegte, wie  ich  rannte und  floh, wie  ich 

mir  keinen  Moment  der  Ruhe  gönnen  durfte. 

Verrückt, absonderlich, und doch nichts Neues. 

 

Jetzt kann  ich  alles  aus dem Blickwinkel  einer 

fremden und doch so vertrauten Person sehen – 

mit meinen Augen – mit Majas Augen: 

 

 

 

Es  begann mit  diesem  Blick  aus  dem  Fenster. 

Und Maja sah niemals aus dem Fenster. Es inte‐

ressierte  sie  nicht,  was  draußen  vorging.  Die 

Menschen auf der Straße behielten keine Bedeu‐

tung  für  sie. Und doch zog  sie ausgerechnet an 

diesem Tag etwas zu der Scheibe, die hinter den 

dicken Gardinen verborgen war. Mag sein, dass 

die Unruhe sie gepackt hatte. Sie wartete bereits 

zu  lange  auf  Xaver;  jede  Entschuldigung,  die 

seine Verzögerung  erklären  konnte, war  längst 

aufgebraucht.  Sie  gab  der  Sorge  also  nach  und 

sah  auf  die  Straße,  sah  ihn. Nein,  nicht  Xaver 

stand  dort  unten.  Stattdessen  empfing  sie  ein 

ungewohnter  Anblick  an  diesem  ansonsten  so 

normalen Wochentag.  

Lange,  schwarz  glänzende  Haare  flossen  das 

stolze Haupt hinab. Gekleidet war der Mann  in 

dunklen, erdigen Tönen. Er  sah Maja direkt an, 

direkt zu ihr hinauf in den ersten Stock des Hau‐

ses. Maja  sog die Luft  erschrocken  ein und  ließ 

den  Vorhang  zurückfallen. Hasste  sie  es  doch, 

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sich beobachtet zu fühlen.  

Paranoia  gehörte  nicht  zu  der  Sammlung  von 

Neurosen, die sie für gewöhnlich quälten.  

Sie fühlte, wie das Blut in ihren Schläfen poch‐

te.  Sie  zögerte.  Unwohlsein  breitete  sich  aus. 

Doch schließlich konnte sie nicht anders, als den 

Vorhang noch einmal zurückzuziehen. Ein klei‐

nes Stückchen nur. Sie beugte sich vor, doch die 

Gestalt war verschwunden, vom Erdboden ver‐

schluckt.  

Maja versuchte aufzuatmen, war es doch nicht 

das erste Mal, dass eine Halluzination sie genarrt 

hatte.  

Doch  dann  erstarrte  sie. Nicht  der Mann,  der 

ihr  in die Augen gesehen hatte, sondern mehre‐

re,  gleich  gekleidete Männer  von  bedrohlichem 

Äußeren  schritten  um  die  Ecke  zur  angrenzen‐

den Straße. Und nicht nur dort waren sie zu se‐

hen. Sie kamen aus Hauseingängen, lehnten aus 

Fensterrahmen.  

Maja  presste  ihre  Augenlider  zusammen.  Sie 

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atmete tief aus, bevor sie ihre Augen wieder öff‐

nete.  

Aber immer noch waren die Männer da, immer 

noch  glänzten  ihre  Sonnenbrillen,  obwohl  das 

Sonnenlicht  nur  dumpf  unter  der  grauen Wol‐

kendecke hervor drang. Maja zuckte zurück. Das 

war  einfach  nur  noch  dämlich.  Verfolger,  die 

aussahen wie Bodyguards und die nichts Besse‐

res zu tun hatten, als ausgerechnet  ihr hinterher 

zu spionieren. Abrupt wandte sie sich vom Fens‐

ter  ab. Und wieder war  ihr,  als müsste  sie  los‐

stürmen, als wäre es an der Zeit zu flüchten.  

„Dabei hab ich doch gar nichts getan“, flüsterte 

sie. „Nichts außer…“  

Ihr Blick  fiel auf den Computer und sie  schüt‐

telte  den  Kopf.  Es  konnte  einfach  keinen  Zu‐

sammenhang  geben.  Was  sie  tat  war  wichtig, 

entscheidend,  eine  Befreiung  für  sich  und  für 

andere. 

Immerhin schrieb man das Jahr 2008. Die Jahr‐

tausendwende  war  längst  Vergangenheit.  Frei‐

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lich,  nicht  im Hinblick  auf die Zeitrechnung  in 

Beziehung  zum  ewigen  Fluss. Was waren  Tau‐

send  Jahre?  Nichts,  und  acht  Jahre  bedeuteten 

noch viel weniger. Ein drittes  Jahrtausend sollte 

der Menschheit, sollte ihr die notwendigen Rech‐

te garantieren.  

Maja schluckte.  

Ja, es war wichtig. Die Meinungsfreiheit gab ihr 

das  Recht  zu  sagen,  zu  schreiben, was  sie  ge‐

schrieben  hatte,  was  sie  schreiben  wollte.  Ihre 

Leser vertrauten  ihr, warteten  auf die Geschen‐

ke, die  sie  ihnen darbot,  so abartig und seltsam 

diese  einigen  konservativen  Mitbürgern  viel‐

leicht auch erscheinen mochten. Und sie fütterte 

diese Wünsche. Und was gab es daran auszuset‐

zen?  Sie  wollte  doch  niemanden  beleidigen? 

Nichts läge ihr jemals ferner.  

Eine Haustür knallte.  

Sie  atmete  auf und  ihr Gesicht verzog  sich  zu 

einem  schiefen  Lächeln,  als  Xaver  die  Treppe 

herauf polterte.  

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„Mama, das war verrückt“, platzte er hinaus.  

„Hier aber auch.“ Sie sah ihn verstört an.  

Xaver legte den Kopf schief und kratzte sich am 

Kinn,  das  jedoch  trotz  seiner  Bemühungen  frei 

von jeglichem Bartwuchs war.  

„Gekocht hast du wohl nicht.“  

„Konnte  nicht“,  antwortete  sie  schlagfertig. 

„War zu viel los.“  

Das war noch nicht einmal vollständig gelogen. 

Schließlich  sah  sie  sonst  nie  aus  dem  Fenster    

oder  beobachtete  geheimnisvolle  Gestalten,  die 

sich  in  verdächtiger Nähe  ihrer  Person  herum‐

trieben.  

Xaver, Kummer  gewohnt,  schließlich  hatte  sie 

ihm auch diesen Namen aufgezwungen, wandte 

sich den Schränken zu, suchte mit geübter Hand 

Brot und Aufstrich heraus und bereitete sich eine 

Nuss‐Nougat  Creme  Schnitte.  Als  Maja  sich 

nicht rührte, sah er sie verdutzt an.  

„Was  ist? Du  schreibst gar nicht dein Schund‐

zeugs?“  

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„Bin  abgelenkt  worden“,  erwiderte  sie  und 

seufzte. „Wo warst du so lang.“  

Xaver  rückte  sich  den  Stuhl  zurecht,  ließ  sich 

darauf  fallen und  biss  herzhaft  in  sein Brot. Er 

blinzelte mich schelmisch an.  

„Hab meine Verfolger abgehängt.“  

Ein kalter Schauer  rann Maja den Rücken hin‐

unter.  

„Welche Verfolger?“, murmelte sie.  

Xaver zuckte mit den Achseln.  

„Das war komisch“, sagte er mit vollem Mund. 

„Die  hatten  alle  lange  Haare  und  sahen  aus 

wie… wie amerikanische Ureinwohner?“  

Maja schluckte wieder.  

„Mehrere?“  

Er nickte.  

„Ja, ein paar. Sie warteten vor der Schule. Ehr‐

lich gesagt, warteten  sie  schon vor dem Fenster 

des  Chemiesaals. Haben  die  ganze  Zeit  hinein 

gelinst und mich ganz kirre gemacht.“  

„Aha.“  

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Maja wartete, doch das Unwohlsein  kroch  ihr 

den Rücken hinauf.  

„Naja“, fuhr er fort. „Ich bin dann hinten raus.“ 

Er  zuckte  wieder.  „Konnte  mich  des  Gefühls 

nicht  erwehren, dass  sie  es auf mich abgesehen 

hatten.“  

Maja räusperte mich.  

„Und… und was meinst du, würden sie von dir 

wollen?“  

Er brauchte nicht zu antworten, konnte es nicht 

wissen. Aber Maja wusste es. Es war ihr so klar, 

wie es nur sein konnte. Sie wollten sie. Es konnte 

nur einen Grund geben, warum diese Menschen 

hier waren. Sie hatte sie beleidigt, zutiefst  in  ih‐

rer Ehre  gekränkt  und  nun waren  sie  hier,  um 

Rache zu üben.  

„Ähm… hat dich sonst noch jemand…“  

Maja zögerte das Wort auszusprechen.  

Xaver half ihr auf die Sprünge.  

„Verfolgt? Meinst  du  das?“  Er  schüttelte  den 

Kopf  und  verputzte  den  letzten  Rest  seiner 

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Schnitte,  nur  um  aufzuspringen  und  sich  eine 

neue  zuzubereiten.  „Nein,  niemand. Die  sollen 

bloß  kommen.“  Er warf  sich  in  die  Brust.  „Ich 

bin eigentlich schon gewappnet.“ Er sah sie von 

der Seite an. „Ich meine, es musste doch irgend‐

wann so kommen, oder?“  

„Was meinst du?“  

Er wedelte mit den Händen.  

„Na, diese Lakota‐Geschichte.“  

Maja lief rot an.  

„Du hast sie doch nicht etwa gelesen?“  

„Gott  bewahre!“  Xaver  verdrehte  die  Augen. 

„Bin ich verrückt? Nur den Anfang, als ich noch 

dachte,  es  könnte  etwas mit Cowboys  und Ka‐

nonen  herauskommen.  Aber  dann  kamst  du 

gleich  wieder  mit  diesem  Agentenschrott.“  Er 

schloss ergeben die Augen. „Außerdem  ist es  ja 

auch  nicht  gerade  so,  als  würdest  du  deinen 

Kram  verstecken.  Ich  meine,  du  postest  den 

Quatsch  überall, wo  er  nicht  gleich wieder  he‐

rausfliegt.“  

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„Ich hab Verpflichtungen. Meine Leser warten 

auf die Fortsetzungen.“  

Xaver verdrehte die Augen.  

„Ich weiß. Sie kommentieren und du kommen‐

tierst  zurück  und  schreibst  und  schreibst  und 

hast deshalb keine Zeit für etwas anderes… wie 

staubsaugen.“  

Maja  verschränkte  die  Arme  vor  der  Brust. 

„Das  ist wichtig  für mich,  vielleicht  das Wich‐

tigste überhaupt.“  

Xaver stöhnte.  

„Ich weiß. Zurück  zum Thema. Wenn  ich das 

richtig sehe, hast du wieder mit deinem blonden 

Agenten  angefangen,  der  unsterblichen  Liebe, 

den ekelhaften Beschreibungen…“  

Maja stemmte die Arme in die Seiten.  

„Da ist nichts Ekelhaftes an der Liebe.“  

„Du musst es ja wissen.“ Xaver grinste. Er lieb‐

te  es,  sie  auf die Palme  zu  bringen.  Sie merkte 

natürlich sofort, was Sache war, und wehrte ge‐

konnt ab.  

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„Also gut, ich hab etwas geschrieben über einen 

Agenten und… und einen Lakota.“  

„Und?“  

„Naja.“ Sie zögerte. „Hab erst später gelesen… 

und du weißt, ich hasse es zu recherchieren.“ Sie 

blickte entschuldigend zu  ihm hoch. „Und dass 

mein Englisch nicht so toll ist.“  

„Ja, weiß ich.“  

Xaver  nickte  ihr  ermunternd  zu  und  sie  holte 

tief Luft.  

„Also,  ich hab diese Liebesgeschichte geschrie‐

ben und erst später gehört, dass… dass amerika‐

nische Ureinwohner  nicht  so  offen…  also,  dass 

man das einfach nicht macht.“  

Xaver stöhnte.  

„Brillant. Also hast du  ihre  empfindlichen Ge‐

fühle verletzt.“  

„Ich weiß  nicht.“  Sie  sah  verstohlen  Richtung 

Fenster. „Also,  ich sah einen vorhin. Er… er hat 

mich angeguckt.“  

Xaver verzog spöttisch den Mund.  

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„Das ist natürlich wirklich verdächtig.“  

Maja nickte eifrig.  

„Genau,  hier  sieht  nie  jemand  hoch. Warum 

sollte  er  auch.  Die  Vorhänge  sind  immer  ge‐

schlossen.“  

Xaver fuhr sich durch sein Haar.  

„Ich weiß, weil Sonnenlicht Gift und Galle  für 

dich bedeutet.“  

Maja räusperte mich unbehaglich.  

„Du weißt genau, dass  ich mich konzentrieren 

muss.“  

„Okay.“ Xaver  seufzte.  „Wenn du damit Geld 

verdienen  würdest,  hätte  es  ja  vielleicht  einen 

Sinn.“  

Sie verdrängte rasch  jedes Gefühl von Unbeha‐

gen, das sich ob dieses Wortwechsels  im Begriff 

war, einzustellen.  

Xaver kam umgehend zum Thema zurück.  

„Also, ein Volk wurde beleidigt, und jetzt sucht 

es  den Übeltäter  und  stellt  ihn  an  den Marter‐

pfahl.“  

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„Sei  nicht  kindisch“,  schnaubte  Maja,  auch 

wenn  sich  das  Magendrücken  verschlimmerte. 

„Es… es  ist vielleicht doch etwas ganz anderes. 

Vor allem hab  ich noch andere Typen hier her‐

umlungern  sehen. Sowas wie Bodyguards, oder 

Agenten.“  

„Agenten?“  Xaver  verschluckte  sich  fast  an 

dem  Glas  Milch,  das  er  sich  gerade  aus  dem 

Kühlschrank geholt hatte. „Agenten? Bist du si‐

cher? So wie in  ‚Agents on Fire‘?“  

„Ganz genau.“ Sie nickte heftig. „Genau daran 

dachte ich auch.“  

Xaver lachte los.  

„In der Hölle der Geheimdienste?“  

Maja blickte verächtlich auf ihn hinunter.  

„Du  weißt  genau,  dass  dieser  Titel  sich  nie 

durchsetzen konnte.“  

„Ja klar“, nickte er. „Die Übersetzung bringt es 

nie.“  

Maja  fühlte  regelrecht,  wie  ihr  Gesicht  einen 

verträumten Ausdruck annahm.  

20 

„‘Agents on Fire‘ klingt  einfach viel  eleganter. 

Und vermittelt perfekt das Dilemma in dem sich 

die Hauptdarsteller befinden.“  

„Bitte  nicht“,  stöhnte  Xaver.  „Diese  blöden    

Agenten nerven mich endlos.“  

Diese  Beleidigung  ihrer  Lieblings‐TV‐Serie 

konnte  sie natürlich nicht  auf  sich  sitzen  lassen 

und holte bereits Luft zum Gegenschlag, als sich 

Xavers  Stirn  auf  einmal  in  Falten  verzog.  Sein 

Gesicht nahm den Ausdruck an, den sie nur aus 

Momenten kannte, in denen er über seinen Text‐

aufgaben brütete.  

„Also“, sagte er  langsam und betont. „Du hast 

nicht nur Menschen aus  fremden Ländern gese‐

hen,  sondern  auch  noch  geheimnisvolle  Sicher‐

heitskräfte. Und du  fürchtest, sie könnten etwas 

mit dir zu tun haben.“  

„Es tut mir leid“, murmelte Maja kleinlaut.  

„Das  sollte  es auch.“ Sein  strafender Blick  traf 

sie erbarmungslos. „Entweder dreht deine Phan‐

tasie völlig mit dir durch und du siehst Gespens‐

21

ter…“ Er stockte. „Mehr Gespenster als gewöhn‐

lich.“ Eine  seiner Augenbrauen wanderte  in die 

Höhe. „Oder  finstere Mächte suchen dich heim, 

um  Rache  zu  nehmen  für  deine  Internet‐

Untaten.“  

Maja schluckte, doch wehrte sie sich.  

„Das  sind  keine  Untaten.  Das  ist  Befreiung 

und… und Befreiung eben…“  

„Wehe, wenn sie losgelassen…“, stöhnte Xaver 

wieder. „Ehrlich. Ich hab keine Ahnung, was du 

meinst, aber offensichtlich musst du schleunigst 

damit  aufhören.“ Hoffnung  flackerte  in  seinem 

Blick. „Und etwas Vernünftiges tun. Etwas Sinn‐

volles. Etwas, das  ich auch  in der Schule erzäh‐

len kann.“  

Er  schob  die Unterlippe  vor,  und  ein  hysteri‐

sches Kichern brach aus Maja heraus.  

„Es  tut mir  leid“, wiederholte  sie und  knuffte 

ihn  in die Seite. „Ich  reiß mich zusammen.“ Sie 

überlegte. „Das bedeutet,  ich werde erst einmal 

darüber schreiben.“  

22 

Erleichtert atmete sie auf, froh eine momentane 

Lösung entdeckt zu haben.  

„Na doll“, grummelte der  Junge  in sich hinein 

und  wühlte  in  seiner  Schultasche.  Doch  kaum 

hatte er seinen Gameboy in den Fingern, ließ ihn 

ein Aufschrei  von Maja,  seiner Mutter,  zusam‐

menzucken.  

„Verdammt,  verdammt...“ Der  Bildschirm  fla‐

ckerte,  doch  das  war  nicht  die  Ursache  ihres 

Unmutes. Obwohl  ihr  Sorgenkind, der Compu‐

ter,  sich wie  üblich mühsam  und  lautstark  aus 

seinem  Schönheitsschlaf  aufrappelte,  sich  stot‐

ternd  einige Momente  weigerte  und  zierte,  so 

ließ er sich doch eigentlich rasch und problemlos 

hochfahren und ermöglichte  ihr den Zugang zu 

der Welt, die ihr ein und alles war. Doch ihr Flu‐

chen hatte einen Grund und der lag nicht nur in 

der überquellenden Mailbox.  

Ein  schlechtes Zeichen,  fürwahr. Ließ  sie doch 

die  zahlreichen  Kommentare  zu  ihren Werken 

nicht mehr  direkt  in  ihren  Briefkasten  senden, 

23

sondern bemühte sich, die Korrespondenzen auf 

ein  Mindestmaß  zu  beschränken.  Ein  Zuge‐

ständnis, das dem kreativen Genius erlaubt wer‐

den  sollte.  Ein  Zugeständnis,  das  vielleicht  ihr 

Ego  weniger  streichelte,  da  sie  weniger  Feed‐

back, weniger Lob und Ermunterung seitens ab‐

hängiger Leser erhielt. Aber das Opfer war eine 

Notwendigkeit,  hemmte  doch  jede  Zeitver‐

schwendung den Fluss ihres Schaffens.  

Ergo war es kein Wunder, dass sie beim unge‐

wohnten  Anblick  der  Anzahl  von  Nachrichten 

erschrak.  

Noch weniger verwunderlich war es, dass sie in 

regelrechte Panik geriet,  als  sich  ihr die Absen‐

der  jener  Nachrichten  offenbarten.  Das  Unheil 

ließ  sich zwar nicht auf eine Person zurückfüh‐

ren,  jedoch auf die Bewegung, deren Wort‐ und 

Rädelsführer diese Person war.  

Wie um alles in der Welt war sie an ihre E‐Mail 

Adresse geraten?  

Womit in aller Welt hatte sie das verdient.  

24 

Schon seit geraumer Zeit machte sie ihr das Le‐

ben  schwer,  verwässerte mit  ihren penibel  aus‐

gedrückten,  vernichtend  konservativen  Kom‐

mentare  ihren  Lesern  den  Kunstgenuss.  Schon 

seit geraumer Zeit kämpften ihre Online Anhän‐

ger  auf  virtuellem  Grunde  gegen  die  giftigen 

Säuren,  die  sich  den Weg  durch  ihren Netzan‐

schluss  in  die  unschuldige  Gemeinschaft  der 

Freunde romantischer Literatur bahnten.  

Natürlich war es eben diese Romantik, die die‐

ser Dame ein Dorn im Auge war. Diese Roman‐

tik, die  ihrem verknöcherten Gemüt den Brech‐

reiz  entlockte,  dem  sie  verbalen Ausdruck  ver‐

lieh.  

Doris van Karnten, extremistisches Fangirl der 

Jahrtausendserie  ‚Agents  on  Fire‘.  Sie  leitete 

nicht nur einen Fanclub, sondern gleich mehrere. 

Sie  organisierte  Foren,  Conventions,  Petitionen 

und  Aktionen  verschiedenster  Färbungen  und 

Ziele.  Sie  betrieb  einen  Fanshop,  produzierte 

Briefpapier,  Ansichtskarten,  Wallpaper  und 

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Banner mit den Helden des kleinen Bildschirms.  

Mit dem Helden, dem  blonden  Star der  Serie: 

Finn Cackleford.  

Maja wollte nicht behaupten, dass sie ihn mehr 

liebte, als diese Doris es tat. Sie wollte auch nicht 

behaupten, dass  sie das einzig wahre Recht auf 

die Auffassung des Charakters besaß, den er  so 

gekonnt und genial verkörperte.  

Sie  behauptete  allerdings,  dass  ihr  das  Recht 

zustand,  ihre  Auffassung  der  Dinge  zu  veröf‐

fentlichen,  gleichgesinnten  Seelen  so  die Mög‐

lichkeit  zu  verschaffen,  ein  Forum  für  ihre  ein‐

samen Fantasien zu entdecken, sich nicht alleine 

zu fühlen mit dem, was sich  im tiefsten Inneren 

ihrer  Seele,  in  den  verbotenen,  verschlossenen 

Kerkern versteckte.  

War es denn  falsch zu  träumen? War es  falsch 

von Romantik zu  träumen  in einer Welt, die  so 

vollkommen  frei  von  Romantik  ist?  Und  diese 

Welt war  frei  von  Romantik.  Es war  die  harte 

Welt  der  Geheimdienste.  Eine  knallharte Welt, 

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dominiert  von Gewalt  und Hass. War  es  nicht 

umso entzückender, ausgerechnet in dieser Welt 

die  zarte Pflanze der Liebe  erblühen  zu  lassen, 

zwei Seelen zu vereinen, die  so verschieden,  so 

weit voneinander entfernt und doch so nah wa‐

ren.  

Natürlich,  sie  waren  beide  Kollegen,  Majas  

Agenten. Ein  Job, eine Berufung, ein  Ideal. Und 

sie beide waren Männer. Zwei Männer, die sich 

liebten.  

Natürlich nicht in der Serie. Nicht auszudenken 

in einer amerikanischen Mainstream Produktion. 

Nicht  auszudenken,  eine  Idee wie diese der  te‐

xanischen Landbevölkerung zuzumuten.  

Aber  hier,  im  freien  Europa,  in  einem  freien 

Land, in der freien Phantasiewelt einer Frau?  

Nein, nicht einer Frau alleine. Tausende teilten 

Majas Vision. Tausende sahen in dem wöchentli‐

chen Geplänkel, den Macho‐artigen  Streitereien 

unter tapferen Kriegern gegen das Böse, nur ein 

Vorspiel  für  etwas  Größeres,  etwas Wahrhafti‐

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ges, für die echte Liebe, wie sie es nur zwischen 

zwei gleichgestellten Kerlen geben kann. Kämp‐

fend  um  Dominanz,  kämpfend  um  die Macht, 

kämpfend  für  ein  abstraktes  Ziel,  das  sensible 

Gemüter  kaum  interessierte.  Der  Kampf  dage‐

gen,  erschwert  durch  persönliche  Schicksals‐

schläge, Dramen und  Seelenqualen  –  er  konnte 

nur zu einer Lösung, zu einem Höhepunkt  füh‐

ren. Zu der absoluten Hingabe an den einzigen 

Menschen,  der  Halt  und  Stütze  gewährleisten 

konnte.  

Und in Finn Cacklefords Welt, besser gesagt, in 

der  seines  Charakters,  konnte  es  das  Ersehnte 

nur  in  einem Menschen  geben.  In dem  großen, 

dunkel  gelockten  Angelo  Multobene,  seinem 

Partner, seinem Mitstreiter, seiner Deckung.  

Und in den Gefilden der Slash‐Literatur, seines 

Geliebten.  

Heimlich  lasen die  Fans  es;  heimliche  Leiden‐

schaften  flammten  auf  bei  der  Vorstellung  der 

beiden  ach  so männlichen  Figuren,  im  immer‐

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währenden  Clinch.  Ungebrochen  seelisch  und 

körperlich  verstrickt  in  immerwährender  Um‐

schlingung  der  heißen  Leiber,  vereint  in  dem   

ewigen Tanz, suchend nach Ekstase, verlangend 

nach Erfüllung, wissend um die Unmöglichkeit 

ihres Begehrens.  

Slash  macht  frei.  Der  Slash  verschönert  den 

grauen Alltag, Slash hält Existenzen wie die Ma‐

jas am Leben. Slash vertreibt die Langeweile und 

die Enttäuschung. Er öffnet Pforten, enthüllt Ge‐

heimnisse,  erlaubt  Entdeckungen. Der  Slash  ist 

die Krone der Fanliteratur.  

Doch dann gab es sie. Menschen, anonyme Ge‐

sichter, die es nicht ertragen konnten, wenn ihre 

Helden  anders handelten,  anders  liebten,  als  es 

in  ihrer  verklemmten Gemütswelt möglich  sein 

durfte. Selbst wenn es nur in der Phantasie einer 

einzelnen Person geschah.  

Und  all  diese  gesichtslosen Menschen  kumu‐

lierten  in einer Figur, Doris van Karnten. Doris, 

weizenblond gefärbt, hager von Gestalt, besessen 

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von der Reinheit des heldenhaften Agenten. Be‐

sessen  von  der  selbstgewählten  Aufgabe,  die 

Beschmutzer  jener  Reinheit  bloßzustellen,  sich 

an ihnen zu rächen, sie zu vernichten.  

Und vor allen anderen, die die Welt anders sa‐

hen als  sie  selbst, hatte  sie Maja auf  ihrem Kie‐

ker. Vielleicht, weil Maja deutsch schrieb und sie 

daher wohl eher zufällig auf  ihre beleidigenden 

Geschichten gestoßen war. Vielleicht, weil Maja 

die Einzige war, die es wagte, auch in unserer so 

kalten, harten Muttersprache die Charaktere der 

Serie auszuleihen, um sie unmenschlichen Tortu‐

ren zu unterziehen. Vielleicht auch nur, weil Ma‐

ja  es war, weil  sie  für diese Doris van Kampen 

erreichbar  war,  weil  sie  Maja  gefunden  hatte. 

Weil sie sie jetzt gefunden hatte.  

Es musste etwas zu tun haben mit dieser ID, IP 

Nummer, die hin und wieder und vollkommen 

unverständlich  für  technisch  und  logisch  unbe‐

gabte Geister wie Maja erwähnt wird.  

Maja wusste, dass sie mehr Vorsicht hätte wal‐

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ten  lassen  sollen, dass  eine  erfundene  Identität, 

ein abgedrehter Künstlername einfach nicht aus‐

reichte.  

Grob  fahrlässig,  so hatte  sie gehandelt,  anders 

ließ es sich nicht erklären.  

Maja starrte auf die Absender. Sie war es. Un‐

verkennbar  ihre Mailadresse. Unverkennbar der 

Account ihrer Fangemeinschaft. Es war… all die‐

se Hasstiraden trugen ihre Handschrift. Es reich‐

te aus, die Betreffzeilen zu lesen, um sich dessen 

klar zu werden. Es reichte, sich ein wenig in den 

Gebieten, in den Räumen der Fangemeinschaften 

herumgetrieben  zu  haben.  Und  ihre  Anhänger 

hatten es ihr gleichgetan.  

Majas  Briefkasten  quoll  über.  Ihr  Geheimnis 

war gelüftet. Trotz des Pseudonyms, unter dem 

sie  schrieb,  trotz  der Vorsichtsmaßnahmen,  die 

sie so gewissenhaft getroffen hatte, war ihre An‐

schrift durchgesickert.  

Ein beängstigender Verdacht breitete sich in ihr 

aus.  Ihr Kopf  fuhr herum, und sie starrte Xaver 

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erschrocken  an.  Er  blickte  zurück,  mindestens 

ebenso verwirrt, doch glücklicherweise noch oh‐

ne den Ernst der Lage zu erkennen. Glückliches 

Kind.  

Maja  stürmte  an  ihm  vorbei.  Sie  riss  die  Tür 

auf. Zu spät kam ihr die Unvorsichtigkeit dieser 

Handlung  zu  Bewusstsein.  Doch  noch  spielte 

diese  keine Rolle. Niemand  bedrohte  sie. Noch 

nicht. Niemand mit Ausnahme der Papiere, der 

Massen  von  Papieren,  die  aus  dem  Briefkasten 

neben der Tür quollen. Niemand außer den zahl‐

losen Briefen, die verziert mit Totenköpfen und 

gestempelt mit Galgenmännchen und abstrakten 

Zeichnungen von tödlichen Waffen, eine eindeu‐

tige Botschaft des  Inhalts  lieferten, den  anzuse‐

hen, sie nicht mehr den Nerv hatte.  

Automatisch,  als könnte  sie  sich nicht  zurück‐

halten, als wollte  sie  sich  selbst quälen, griff  sie 

mit  beiden  Händen  in  die  weiße  Flut,  packte, 

wessen sie habhaft werden konnte, und zog sich 

mit  dem  letzten  Aufflackern  der  einstigen