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können; nicht einen Strich darunter zu machen, sondern zu ande- ren Dingen überzugehen – damit meine ich, den Kopf frei zu ha- ben, um das zu machen, was man mit seiner Behinderung machen kann. Es half mir, dass ich vorher so viel Ski gefahren war. Natürlich fürchtete ich mich vor dem ersten Mal auf dem Skibob. Um mit ihm zu schwingen, muss ich etwas Geschwindigkeit aufnehmen und um die Kurve rutschen. Doch ich lernte schnell, und eines Tages fuhr ich tatsächlich die Pisten von Verbier hinunter, ohne hinzufal- len. Weil der Skibob die Tendenz hat einzusinken, war es im Pul- verschnee etwas komplizierter – vor allem für meine Freunde, die mich 30 Mal am Tag wieder aufheben mussten. Es gab nur eine Lösung: schneller fahren. Mittlerweile habe ich im Pulver genauso viel Vergnügen wie vor dem Unfall. Ich fahre sogar schneller als die gesunden Skifahrer, weil mir die Oberschenkel nicht brennen – man muss mich fast dazu zwingen, anzuhalten. Ich geniesse die Geschwindigkeit, wie auf einer Kartbahn. Ich kann sogar mit vol- lem Tempo die Kurven schneiden. Obwohl ich in einem Sessel sit- ze, fühle ich mich total frei. Letztendlich lebe ich jetzt das Leben eines professionellen Freeriders. Ich habe das Glück, dass alle meine Partner zu mir ge- halten haben, und weil ich weiterhin in Filmen mitwirke, bin ich heute fast bekannter als früher. Ich komme nicht schlecht herum, war in Chile und Russland, und ich bin auch in der Jury der Free- ride World Tour tätig. Ich bin nicht glücklicher als vor meinem Un- fall, aber ich kann weiterhin Ski fahren und reisen. Ich denke, dass viele gern an meiner Stelle wären – nicht in meinem Rollstuhl, aber in meinem Leben. Ich hatte immer eine sehr grosse Leidenschaft für das Ski- fahren, und sie war es, die mich nach vorne schauen liess. Und nach oben: Am 7. Mai 2009 erreichte ich mit der tatkräftigen Hilfe zahlreicher Freunde nach einem mehr als fünfstündigen Aufstieg von der Vallothütte auf Krücken den Gipfel des Mont Blanc. Die Schneeverhältnisse waren perfekt, und so konnte ich als Erster die Nordflanke des Mont Blanc mit einem Skibob befahren. Extremes Skifahren in steilen Hängen, das war mein Ding. Als lei- denschaftlicher Freerider stieg ich besonders gern auf Gipfel und fuhr dann auf Linien ab, die absolut unmöglich aussahen. Drei oder vier Jahre arbeitete ich während des Verbier-Xtreme-Snowboard- rennens als Sicherheitsbeauftragter, kannte mich also vor Ort gut aus. Als der Veranstalter Nicolas Hale-Woods 2004 beschloss, das Rennen für Skifahrer zu öffnen, fragte ich ihn, ob ich mich anmel- den könne. Er lud mich daraufhin zum Wettkampf ein, und gleich beim ersten Mal – damals war ich 27 – gewann ich. So begann mei- ne Karriere als Freerider. Aber ich wollte nie ein professioneller Sportler werden, der zu 100 Prozent von Sponsorengeldern lebt, dazu bin ich zu wenig ein Geschäftsmann. Mein Beruf als Berg- führer liess mir trotzdem genug Zeit, um mich Steilhänge hinunter- zustürzen. Der 12. März 2006 veränderte alles. Ich fuhr einen rund 45 Grad steilen Hang am Mont Fort ab, im Skigebiet Les 4 Vallées, und lös- te bei einem Schwung eine Lawine aus, die mich 300 Meter mit- riss und in die Felsen schleuderte. Sämtliche Rippen brachen, und auch im Rücken hatte ich zahlreiche Frakturen, unter anderem eine am 12. Rückenwirbel. Ich war mehr oder weniger entzweigebro- chen. Ich wurde sofort operiert, und es wurden Metallplatten in meinen Körper eingesetzt. Nach einer Woche im Spital verlegte man mich zur Rehabilitation nach Sion. Ich hatte mir früher immer gesagt: Das Schlimmste, was mir zu- stossen kann, ist, durch einen Unfall querschnittsgelähmt zu wer- den. Als mir mit 29 Jahren genau das zustiess, ging es mir einige Tage psychisch sehr schlecht. Aber ich hatte zu der Zeit bereits eine drei Monate alte Tochter, und als Vater denkt man anders darüber nach, man erlaubt sich nicht, an das Ende zu denken. Vor allem half mir, dass ich trotz allem kleine Fortschritte wahrnahm. Die Ärzte gingen davon aus, dass es schon ein grosser Erfolg wäre, wenn ich mich jemals wieder mit Krücken von meinem Bett ins Bad bewegen könnte. Ich hatte das grosse Glück, dass einige Muskeln im Oberschenkel sowie die Nerven wieder aktiviert werden konn- ten, weil mein Rückenmark nicht ganz durchtrennt, sondern nur gequetscht war. Nach vier oder fünf Monaten fing ich an, aufzu- stehen und zwischen zwei parallelen Balken zu gehen. Durch das ständige Training konnte ich auch einen gewissen Gleichge- wichtssinn wiedererlangen, sodass ich heute ohne Krücken gehen kann. Da ich die Füsse überhaupt nicht mehr bewegen konnte, wurden sie durch Schienen an den Knöcheln fixiert, daher gehe ich etwas gebeugt. Am Anfang meiner Rehabilitation war mein Ziel, es zu schaffen, mich allein in meinem Bett aufzurichten und in den Rollstuhl zu kommen. Als ich die Beine wieder etwas bewegen konnte, keimte die Hoffnung auf, wieder normal Ski fahren zu können. Doch ich hatte beim Laufen so grosse Mühe, dass ich einsehen musste, dass das nicht mehr möglich war. Ich suchte daher nach anderen Alternativen und fand eine Möglichkeit, sitzend Ski zu fahren. Im Internet stiess ich auf Dualski, einen französischen Hersteller von Hilfsgeräten für Menschen mit einer Behinderung. Sie fertigten für mich eine Art Skibob an, und im Januar 2007, acht Monate nach meinem Unfall, begann ich wieder Ski zu fahren. Parafreeriding, so nenne ich es, unterscheidet sich stark vom traditionellen Skifahren. Ich sitze auf einem Gehäuse aus Karbon, das über einen Stossdämpfer mit einem Unterbau verbunden ist; dieser ist auf zwei Ski montiert, um im Pulverschnee mehr Auftrieb zu haben. Man kann das Gerät mit jedem Skimodell kombinieren. Ich habe auch zwei kleine Stützen für die Arme, um das Gleich- gewicht zu halten. Abgesehen von diesen Hilfsmitteln läuft das Skifahren selbst praktisch identisch ab, allerdings kann ich nicht Pflug fahren, um abzubremsen. Wenn du dein Leben lang Ski gefahren bist und dich von einem Tag auf den anderen nicht einmal mehr aufrecht halten kannst, hast du das Gefühl, bei null anzufangen, vor allem mit dem Skibob. Das Härteste war, dorthin zurückzukehren, wo ich immer Ski gefahren bin, dorthin, wo mich alle Leute von früher kannten und deshalb Mitleid mit mir hatten. Aber auch darüber bin ich schnell hin- weggekommen. Es hat mir bald Spass gemacht. Ich denke, das ist das Wichtigste nach einem Unfall: die Vergangenheit vergessen zu DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK Jean-Yves Michellod l Verbier/Schweiz 91

Mammut Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leserpobe 'Die Frage nach dem Glück

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Mammut Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leserpobe 'Die Frage nach dem Glück' von Jean-Yves Michellod

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können; nicht einen Strich darunter zu machen, sondern zu ande-

ren Dingen überzugehen – damit meine ich, den Kopf frei zu ha-

ben, um das zu machen, was man mit seiner Behinderung machen

kann.

Es half mir, dass ich vorher so viel Ski gefahren war. Natürlich

fürchtete ich mich vor dem ersten Mal auf dem Skibob. Ummit ihm

zu schwingen, muss ich etwas Geschwindigkeit aufnehmen und

um die Kurve rutschen. Doch ich lernte schnell, und eines Tages

fuhr ich tatsächlich die Pisten von Verbier hinunter, ohne hinzufal-

len. Weil der Skibob die Tendenz hat einzusinken, war es im Pul-

verschnee etwas komplizierter – vor allem für meine Freunde, die

mich 30 Mal am Tag wieder aufheben mussten. Es gab nur eine

Lösung: schneller fahren. Mittlerweile habe ich im Pulver genauso

viel Vergnügen wie vor dem Unfall. Ich fahre sogar schneller als die

gesunden Skifahrer, weil mir die Oberschenkel nicht brennen –

man muss mich fast dazu zwingen, anzuhalten. Ich geniesse die

Geschwindigkeit, wie auf einer Kartbahn. Ich kann sogar mit vol-

lem Tempo die Kurven schneiden. Obwohl ich in einem Sessel sit-

ze, fühle ich mich total frei.

Letztendlich lebe ich jetzt das Leben eines professionellen

Freeriders. Ich habe das Glück, dass alle meine Partner zu mir ge-

halten haben, und weil ich weiterhin in Filmen mitwirke, bin ich

heute fast bekannter als früher. Ich komme nicht schlecht herum,

war in Chile und Russland, und ich bin auch in der Jury der Free-

ride World Tour tätig. Ich bin nicht glücklicher als vor meinem Un-

fall, aber ich kann weiterhin Ski fahren und reisen. Ich denke, dass

viele gern an meiner Stelle wären – nicht in meinem Rollstuhl, aber

in meinem Leben.

Ich hatte immer eine sehr grosse Leidenschaft für das Ski-

fahren, und sie war es, die mich nach vorne schauen liess. Und

nach oben: Am 7. Mai 2009 erreichte ich mit der tatkräftigen Hilfe

zahlreicher Freunde nach einem mehr als fünfstündigen Aufstieg

von der Vallothütte auf Krücken den Gipfel des Mont Blanc. Die

Schneeverhältnisse waren perfekt, und so konnte ich als Erster die

Nordflanke des Mont Blanc mit einem Skibob befahren.

Extremes Skifahren in steilen Hängen, das war mein Ding. Als lei-

denschaftlicher Freerider stieg ich besonders gern auf Gipfel und

fuhr dann auf Linien ab, die absolut unmöglich aussahen. Drei oder

vier Jahre arbeitete ich während des Verbier-Xtreme-Snowboard-

rennens als Sicherheitsbeauftragter, kannte mich also vor Ort gut

aus. Als der Veranstalter Nicolas Hale-Woods 2004 beschloss, das

Rennen für Skifahrer zu öffnen, fragte ich ihn, ob ich mich anmel-

den könne. Er lud mich daraufhin zum Wettkampf ein, und gleich

beim ersten Mal – damals war ich 27 – gewann ich. So begann mei-

ne Karriere als Freerider. Aber ich wollte nie ein professioneller

Sportler werden, der zu 100 Prozent von Sponsorengeldern lebt,

dazu bin ich zu wenig ein Geschäftsmann. Mein Beruf als Berg-

führer liess mir trotzdem genug Zeit, um mich Steilhänge hinunter-

zustürzen.

Der 12. März 2006 veränderte alles. Ich fuhr einen rund 45 Grad

steilen Hang am Mont Fort ab, im Skigebiet Les 4 Vallées, und lös-

te bei einem Schwung eine Lawine aus, die mich 300 Meter mit-

riss und in die Felsen schleuderte. Sämtliche Rippen brachen, und

auch im Rücken hatte ich zahlreiche Frakturen, unter anderem eine

am 12. Rückenwirbel. Ich war mehr oder weniger entzweigebro-

chen. Ich wurde sofort operiert, und es wurden Metallplatten in

meinen Körper eingesetzt. Nach einer Woche im Spital verlegte

man mich zur Rehabilitation nach Sion.

Ich hatte mir früher immer gesagt: Das Schlimmste, was mir zu-

stossen kann, ist, durch einen Unfall querschnittsgelähmt zu wer-

den. Als mir mit 29 Jahren genau das zustiess, ging es mir einige

Tage psychisch sehr schlecht. Aber ich hatte zu der Zeit bereits

eine drei Monate alte Tochter, und als Vater denkt man anders

darüber nach, man erlaubt sich nicht, an das Ende zu denken. Vor

allem half mir, dass ich trotz allem kleine Fortschritte wahrnahm.

Die Ärzte gingen davon aus, dass es schon ein grosser Erfolg wäre,

wenn ich mich jemals wieder mit Krücken von meinem Bett ins Bad

bewegen könnte. Ich hatte das grosse Glück, dass einige Muskeln

im Oberschenkel sowie die Nerven wieder aktiviert werden konn-

ten, weil mein Rückenmark nicht ganz durchtrennt, sondern nur

gequetscht war. Nach vier oder fünf Monaten fing ich an, aufzu-

stehen und zwischen zwei parallelen Balken zu gehen. Durch

das ständige Training konnte ich auch einen gewissen Gleichge-

wichtssinn wiedererlangen, sodass ich heute ohne Krücken gehen

kann. Da ich die Füsse überhaupt nicht mehr bewegen konnte,

wurden sie durch Schienen an den Knöcheln fixiert, daher gehe ich

etwas gebeugt.

Am Anfang meiner Rehabilitation war mein Ziel, es zu schaffen,

mich allein in meinem Bett aufzurichten und in den Rollstuhl zu

kommen. Als ich die Beine wieder etwas bewegen konnte, keimte

die Hoffnung auf, wieder normal Ski fahren zu können. Doch ich

hatte beim Laufen so grosse Mühe, dass ich einsehen musste,

dass das nicht mehr möglich war. Ich suchte daher nach anderen

Alternativen und fand eine Möglichkeit, sitzend Ski zu fahren. Im

Internet stiess ich auf Dualski, einen französischen Hersteller von

Hilfsgeräten für Menschen mit einer Behinderung. Sie fertigten für

mich eine Art Skibob an, und im Januar 2007, acht Monate nach

meinem Unfall, begann ich wieder Ski zu fahren.

Parafreeriding, so nenne ich es, unterscheidet sich stark vom

traditionellen Skifahren. Ich sitze auf einem Gehäuse aus Karbon,

das über einen Stossdämpfer mit einem Unterbau verbunden ist;

dieser ist auf zwei Ski montiert, um im Pulverschnee mehr Auftrieb

zu haben. Man kann das Gerät mit jedem Skimodell kombinieren.

Ich habe auch zwei kleine Stützen für die Arme, um das Gleich-

gewicht zu halten. Abgesehen von diesen Hilfsmitteln läuft das

Skifahren selbst praktisch identisch ab, allerdings kann ich nicht

Pflug fahren, um abzubremsen.

Wenn du dein Leben lang Ski gefahren bist und dich von einem

Tag auf den anderen nicht einmal mehr aufrecht halten kannst, hast

du das Gefühl, bei null anzufangen, vor allem mit dem Skibob. Das

Härteste war, dorthin zurückzukehren, wo ich immer Ski gefahren

bin, dorthin, wo mich alle Leute von früher kannten und deshalb

Mitleid mit mir hatten. Aber auch darüber bin ich schnell hin-

weggekommen. Es hat mir bald Spass gemacht. Ich denke, das ist

das Wichtigste nach einem Unfall: die Vergangenheit vergessen zu

DIE FRAGE NACH DEM GLÜCKJean-Yves Michellod l Verbier/Schweiz

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