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Management in Anzug und Uniform
MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen zivilem und militärischem Management zur
Bewältigung von Komplexität
Masterarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts in Political Management
der Fachhochschule FH Campus Wien
Masterlehrgang: Führung, Politik und Management
Vorgelegt von:
Major Franz Pochendorfer
Personenkennzeichen:
C1930019006
Betreuer:
Brigadier Mag. Erich Cibulka
Erstbegutachter:
Mag. Dr. Roman Pfefferle
Zweitbegutachter:
Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Schnider
Eingereicht am:
30.08.2021
Erklärung
Ich erkläre, dass die vorliegende Masterarbeit von mir selbst verfasst wurde und ich keine
anderen als die angeführten Behelfe verwendet bzw. mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfe
bedient habe.
Ich versichere, dass ich diese Masterarbeit bisher weder im In- noch im Ausland (einer
Beurteilerin/einem Beurteiler zur Begutachtung) in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit
vorgelegt habe.
Weiters versichere ich, dass die von mir eingereichten Exemplare (ausgedruckt und
elektronisch) identisch sind.
Datum: ……………………… Unterschrift: ……………………….……………………………….
- I -
Danksagung
Berufs- und familienbegleitendes Studieren verlangt der ganzen Familie sehr viel ab. Daher
gilt mein erster und größter Dank meiner Frau Mag. Astrid Pochendorfer BEd für ihre Geduld
und ihre scheinbar unerschöpfliche Energie während der Präsenzphasen und während der
Erstellung dieser Masterarbeit. Sie hat im Alleingang in der Praxis bewiesen, dass unsere
Familie ein Viable System ist, bevor ich VSM buchstabieren konnte. Zu diesem lebensfähigen
und liebenswürdigen System zählen auch meine Kinder Anna, Xaver und Reingard, die sehr
viele Tage und Stunden auf ihren Papa verzichten mussten und die ihn trotzdem noch
anerkennen und als Teil des Systems akzeptieren, wofür ich ihnen sehr dankbar bin und wofür
ich sie – unter anderem – sehr liebe. Ohne meine Familie wäre dieses Projekt nicht möglich
gewesen und ich bin dankbar, stolz und glücklich sagen zu können, dass wir das gemeinsam
geschafft haben.
Vielen Dank an meinen Betreuer Brigadier Mag. Erich Cibulka für die kameradschaftliche und
unkomplizierte Zusammenarbeit. Einen fachkundig versierteren Beistand, der die Schnittstelle
zwischen ziviler Welt und Militär selbst in der Praxis derart persönlich verkörpert und dennoch
unvoreingenommen Raum für den Forschungsansatz zulässt, ist in diesem Feld wohl kaum
zu finden.
Ich bedanke mich auch bei Gerald Forstner, der mit seiner erkenntnisreichen und gleichzeitig
zielorientierten Lehrveranstaltung den theoretischen Grundstein für die praktische Umsetzung
dieser Arbeit gelegt hat und dessen persönlicher Einsatz und praktische Hilfestellungen den
Forschungsprozess um Jahre verkürzt haben.
Größter Dank geht an die Kameradinnen und Kameraden aus dem Offizierscorps für ihre
Bereitschaft, ihre Expertise mit mir zu teilen und in diese Arbeit einfließen zu lassen.
Mein herzlicher Dank gebührt meinem Freund Hermann Brückl MA, der mich überhaupt erst
auf dieses Studium aufmerksam gemacht hat und der vor mir wusste, dass es für mich
maßgeschneidert ist.
Zum Schluss aber nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern Dr. Manfred und Lilli Pochendorfer
für ihre Geduld und ihre Großzügigkeit zu einer Zeit, als mir der Abschluss einer Arbeit wie
dieser noch nicht von der Hand gehen wollte.
- II -
Kurzfassung
Die derzeitige Transformation von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft wirkt sich auf alle
gesellschaftlichen Segmente aus. Hinter dem Begriff der „Globalisierung“ verbirgt sich eine
immer rascher voranschreitende Vernetzung von Systemen, welche vor allem durch die
sprunghafte Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie begründet ist.
Durch die Vernetzung von Systemen kommt es zu einer Erhöhung der Komplexität und
Dynamik innerhalb und zwischen den Systemen. Durch Emergenz entstehen neue, nicht
vorhersehbare Systemeigenschaften, welche wiederum neue Kausalzusammenhänge bilden,
die für die Steuerung von Systemen oder Organisationen tiefgreifende Folgen haben.
Steuerung wird aufgrund der fehlenden Vorhersehbarkeit von Maßnahmen erschwert und
Management und Führung müssen neue Wege und Instrumente finden, um mit dieser
Herausforderung umzugehen.
Das ÖBH ist wie jede andere Institution mit der steigenden Komplexität und Dynamik seines
Umfeldes konfrontiert. Bedrohungsszenarien, welche lange Zeit die Sicherheitslage
bestimmten, haben sich in den letzten Jahren aufgrund der Transformation zur
Netzwerkgesellschaft grundlegend geändert. Die Kernkompetenz der militärischen
Landesverteidigung ist dabei in den Hintergrund gerückt und neue, komplexe Szenarien, wie
hybride Bedrohungen oder Resilienz-gefährdende Ereignisse gewannen an Bedeutung. Die
Corona-Krise in Folge der SARS-Cov-2-Pandemie macht dies derzeit augenscheinlich.
Die vorliegende Arbeit wirft einen Blick darauf, inwieweit es dem Österreichischen Bundesheer
bisher gelungen ist, sich auf diese neuen, komplexen Szenarien einzustellen, um eine
wirksame Führung und Steuerung zu gewährleisten. Dafür wurde die Perspektive von
speziellen Führungskräften innerhalb des Österreichischen Bundesheeres gewählt.
MilizoffizierInnen gehen die meiste Zeit einer „normalen“ zivilen Berufstätigkeit nach und
führen in regelmäßigen periodischen Abständen für kurze Zeit militärische Einheiten, welche
als militärische Reserve und Ersatzeinheiten für das Österreichische Bundesheer
herangezogen werden können. Aufgrund ihrer Doppelrolle als zivile und militärische
Führungskräfte werden sie zur Schnittstelle zwischen ziviler Arbeitswelt und Militär. Sie
können daher Vergleiche ziehen und Aussagen treffen, wie in den beiden
Systemzusammenhängen mit steigender Komplexität und Dynamik der Umwelt und den damit
verbundenen Herausforderungen umgegangen wird.
Als theoretische Grundlagen wurden einerseits die Managementtheorie der Strategie des
Managements komplexer Systeme von Malik herangezogen, welches auf dem von Beer
entworfenen Modell lebensfähiger Systeme basiert und andererseits die Charakterisierung des
Österreichischen Bundesheeres als High Reliability Organization (HRO) berücksichtigt. Hier
dienten die Forschungen von Weick und Sutcliffe zu den HRO-Prinzipien als
forschungsleitende Gedanken.
Den Grundsätzen eines qualitativen Forschungsdesigns folgend wurden Interviews mit
MilizoffizierInnen geführt, deren Ergebnisse mithilfe einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse
nach Mayring ausgewertet und zur Beantwortung der Forschungsfragen herangezogen
wurden. Ergänzend wurden die Expertisen von System- und Komplexitätsforschern eingeholt.
Die Ergebnisse der Forschung zeigen, dass das Österreichische Bundesheer als
lebensfähiges System einzustufen ist, dessen Strukturen komplexe Herausforderungen
bewältigen können. Ebenso ist die Kultivierung von HRO-Prinzipien ein laufender Prozess, der
eine derartige Qualifizierung zulässt. Erschwerend für den Umgang mit Komplexität wurden
Mängel an struktureller Flexibilität und in vernetztem Denken auf formal-institutioneller Ebene
konstituiert. MilizoffizierInnen profitieren dabei in ihrer zivilen Führungstätigkeit mehr von ihren
militärischen Erfahrungen als umgekehrt.
- III -
Abstract
The current transformation from an industrial to a network society is affecting all segments of
society. The term "globalization" refers to the increasingly rapid networking of systems, which
is primarily due to the rapid development of information and communication technology. The
networking of systems leads to an increase in complexity and dynamics within and between
systems. Emergence gives rise to new, unpredictable system properties, which in turn form
new causal relationships that have profound consequences for the control of systems or
organizations. Control becomes more difficult due to the lack of predictability of actions, and
management and leadership must find new ways and tools to deal with this challenge.
The Austrian Armed Forces, like any other institution, are confronted with the increasing
complexity and dynamics of their environment. Threat scenarios, which for a long time
determined the security situation, have changed fundamentally in recent years due to the
transformation to a network society. The core competence of military national defense has
moved into the background and new, complex scenarios, such as hybrid threats or resilience-
threatening events, have gained in importance. The Corona crisis in the wake of the SARS-
Cov-2 pandemic currently makes this obvious.
This paper takes a look at the extent to which the Austrian Armed Forces have so far
succeeded in adapting to these new, complex scenarios in order to ensure effective command
and control. For this purpose, the perspective of specific leaders within the Austrian Armed
Forces was chosen. Militia officers spend most of their time pursuing a "normal" civilian
occupation and, at regular periodic intervals, lead military units for short periods of time, which
can be called upon as military reserve and replacement units for the Austrian Armed Forces.
Due to their dual role as civilian and military leaders, they become the interface between the
civilian working world and the military. Therefore, they can draw comparisons and make
statements on how the two system contexts deal with increasing complexity and dynamics of
the environment and the associated challenges.
On the one hand, the management theory of Malik's strategy of managing complex systems,
which is based on Beer's model of viable systems, was used as a theoretical basis, and on the
other hand, the characterization of the Austrian Armed Forces as a High Reliability
Organization (HRO) was taken into account. Here, the research of Weick and Sutcliffe on HRO
principles served as research guiding thoughts.
Following the principles of a qualitative research design, interviews were conducted with militia
officers, the results of which were evaluated using a summary content analysis according to
Mayring and used to answer the research questions. In addition, the expert opinions of systems
and complexity researchers were obtained.
The results of the research show that the Austrian Armed Forces can be classified as a viable
system whose structures can cope with complex challenges. Likewise, the cultivation of HRO
principles is an ongoing process that allows for such qualification. Complicating the handling
of complexity, deficiencies in structural flexibility and in networked thinking were constituted at
the formal-institutional level. Militia officers benefit more from their military experience in their
civilian leadership activities than vice versa.
- IV -
Abkürzungsverzeichnis
BMLV Bundesministerium für Landesverteidigung
EF Einjährig Freiwillig
HRO High Reliability Organizations
HUAk Heeresunteroffiziersakademie
LVAk Landesverteidigungsakademie
MO MilizoffizierIn(nen)
MUO MilizunteroffizierIn(nen)
ÖBH Österreichisches Bundesheer
TherMilAk Theresianische Militärakademie
VSM Viable System Model
VUCA Akronym, englisch für: Volatility Uncertainty Complexity Ambiguity -
deutsch: Unbeständigkeit Unsicherheit Komplexität Mehrdeutigkeit
- V -
Schlüsselbegriffe
Ambivalenz
Dynamik
Emergenz
Führung
High Reliability Organization
Hierarchie
KommandantIn
Komplexität
komplex – kompliziert
Landesverteidigung
Management
Militär
Miliz
Netzwerkgesellschaft
Österreichisches Bundesheer
OffizierIn
Organisation
standardisiert
sowohl-als-auch
Steuerung
Struktur
Transformation
Viable System Model
Zivil
- VI -
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ................................................................................................................ 1
1.1 Problemstellung ................................................................................................................ 1
1.2 Forschungsfragen ............................................................................................................. 2
1.3 Annahmen ......................................................................................................................... 3
1.3.1 Die Große Transformation21 ................................................................................................. 3
1.3.2 Zivile und militärische Systemunterschiede ........................................................................... 4
1.3.3 MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischem und zivilem Führen .................... 4
1.4 Zielsetzung und Nutzen .................................................................................................... 5
1.5 Gliederung der Arbeit ........................................................................................................ 6
2 Theoretische Grundlagen...................................................................................... 7
2.1 Wandel der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft ............................................ 7
2.1.1 Die Große Transformation ..................................................................................................... 7
2.1.2 Wandel im Aufgabengebiet des Österreichischen Bundesheeres ........................................ 8
2.2 Komplexität und Varietät ................................................................................................... 9
2.3 Management von Komplexität ........................................................................................ 10
2.3.1 Kybernetik............................................................................................................................. 11
2.3.2 Kontrolle von Systemen ....................................................................................................... 12
2.3.3 Managementverständnis bei Malik....................................................................................... 13
2.3.4 Kybernetische Managementsysteme ................................................................................... 14
2.3.4.1 Das Viable System Modell (VSM) ........................................................................................ 16
2.3.5 Komplexität und HRO-Prinzipien ......................................................................................... 18
2.3.5.1 Konzentration auf Fehler ...................................................................................................... 19
2.3.5.2 Abneigung gegen Vereinfachung ......................................................................................... 19
2.3.5.3 Sensibilität für betriebliche Abläufe ...................................................................................... 20
2.3.5.4 Streben nach Resilienz ........................................................................................................ 20
2.3.5.5 Respekt vor Expertise .......................................................................................................... 21
2.4 Das Österreichische Bundesheer ................................................................................... 21
2.4.1 Gliederung und Aufgaben .................................................................................................... 21
2.4.2 Strukturmerkmale des ÖBH ................................................................................................. 24
2.4.3 Das Milizsystem ................................................................................................................... 25
2.5 Komplexität und das Österreichische Bundesheer ........................................................ 28
2.5.1 Komplexe Bedrohungsszenarien ......................................................................................... 28
2.5.2 Militärische Führung und Management ................................................................................ 30
2.5.2.1 Definition............................................................................................................................... 30
2.5.2.2 Auftragstaktik ........................................................................................................................ 31
2.5.2.3 Menschenbilder .................................................................................................................... 31
3 Empirisches Vorgehen und Methodik ............................................................... 33
3.1 Forschungsinteresse....................................................................................................... 33
- VII -
3.1.1 Forschungsfragen ................................................................................................................ 33
3.1.2 Vorannahmen ....................................................................................................................... 34
3.1.2.1 Die Große Transformation ................................................................................................... 34
3.1.2.2 Zivile und militärische Systemunterschiede ......................................................................... 34
3.2 Forschungsfeld ............................................................................................................... 34
3.3 Methodologisches Vorgehen .......................................................................................... 35
3.3.1 Datenerhebung ..................................................................................................................... 36
3.3.2 Auswahl der GesprächspartnerInnen................................................................................... 37
3.3.3 Datenauswertung ................................................................................................................. 38
4 Ergebnisdarstellung............................................................................................. 40
4.1 Einleitung ........................................................................................................................ 40
4.1.1 Flexibilität und Persönlichkeit ............................................................................................... 40
4.1.2 „Sowohl-als-auch“ statt „Entweder-oder“ ............................................................................. 40
4.2 Transformation ................................................................................................................ 41
4.2.1 Transformation und Krise ..................................................................................................... 41
4.2.2 Antifragilität und Risiko ......................................................................................................... 42
4.2.3 Folgerungen ......................................................................................................................... 43
4.3 Vom Umgang des ÖBH mit Komplexität ........................................................................ 43
4.3.1 Führung und Steuerung ....................................................................................................... 43
4.3.1.1 Dezentralisierung und Vertrauen ......................................................................................... 44
4.3.1.2 Hierarchie und Komplexität .................................................................................................. 45
4.3.1.3 Das ÖBH als HRO ................................................................................................................ 46
4.3.2 Folgerungen ......................................................................................................................... 47
4.3.3 Organisationsstrukturen ....................................................................................................... 47
4.3.3.1 Konstruktivistisch-technomorph versus systemisch-evolutionär ......................................... 47
4.3.3.2 Das ÖBH als VSM ................................................................................................................ 48
4.3.4 Folgerungen ......................................................................................................................... 49
4.4 Die Rolle der Miliz ........................................................................................................... 49
4.4.1 Militärische und zivile Systemunterschiede ......................................................................... 49
4.4.2 Wechselseitige Nutzbarmachung von Kenntnissen ............................................................. 50
4.4.3 Relevanz der Miliz für Komplexitätsbewältigung des ÖBH .................................................. 51
4.4.4 Folgerungen ......................................................................................................................... 52
5 Beantwortung der Forschungsfragen ............................................................... 53
5.1 Forschungsleitende Frage .............................................................................................. 53
5.2 Forschungsfrage 1 .......................................................................................................... 54
5.3 Forschungsfrage 2 .......................................................................................................... 55
6 Resümee ................................................................................................................ 57
7 Ausblick ................................................................................................................. 59
8 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 60
- VIII -
9 Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 63
10 Anhang .................................................................................................................. 64
10.1 Leitfaden ......................................................................................................................... 64
10.2 Fallvignette ...................................................................................................................... 67
10.3 Waffengattungen ............................................................................................................. 68
- 1 -
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
„Warum kann man mit einem Milizoffizier nicht Verstecken spielen? – Weil ihn keiner sucht.“1
„Die Große Transformation21 … ist in vollem Gange. Wirtschaft und
Gesellschaft verändern sich in einer Geschwindigkeit, in einem Ausmaß und in
Richtungen, die bis vor kurzem für die meisten nicht vorstellbar waren.“2
„Als Ergebnis der sich gegenwärtig abspielenden Grossen sic! Transformation
21 werden wir eine grundlegende Änderung von fast allem erleben, was wir tun,
wie wir es tun und warum wir es tun Hervorhebung im Original. In gewisser
Weise wird sich sogar ändern, wer wir sind.“3
MilizoffizierInnen sind vielfach Menschen, die in ihrem zivilen Berufsleben als Führungskräfte
tätig sind und parallel eine militärische Führungsfunktion innerhalb des Österreichischen
Bundesheeres innehaben. Sie repräsentieren Führungsexpertise der Wirtschaft, der Industrie,
der Verwaltung, der Politik und des Militärs gleichzeitig. In einer sich wandelnden Gesellschaft
ist diese Expertise von hoher Bedeutung.
Die vorliegende Masterarbeit setzt sich mit der Frage der unterschiedlichen Zugänge von
zivilen und militärischen Organisationen im Umgang mit den von ihnen zu bewältigenden
Aufgaben auseinander. Im Fokus stehen dabei Management, Organisationsstrukturen und
Führungsverhalten im Zusammenhang mit den von Fredmund Malik und der St. Gallener
Schule entwickelten Managementsystemen, die der Kontrolle von komplexen Systemen
dienen sollen. Komplexität ist in diesem Zusammenhang als Vielfalt zu verstehen, die aus
möglichen Unterschieden und Unterscheidungsmöglichkeiten von Faktoren entsteht, deren
Folge Undurchschaubarkeit, Unberechenbarkeit, Nicht-Analysierbarkeit, Nicht-
Vorhersehbarkeit und fortgesetzte Veränderung sind, die aber auch als Voraussetzung für
Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Flexibilität, Responsivität, Evolutionsfähigkeit oder
Kreativität angesehen werden.4
Die Veränderungen, die Malik als „Große Transformation21“ bezeichnet, ereignen sich nach
seiner Forschung auf vier Ebenen: jener der Demografie, des Komplexes von Wissen und
Technologie, der Ökologie und schließlich der Ökonomie. Durch ihr gegenseitiges Zusammen-
und Aufeinandereinwirken befeuern diese eine daraus resultierende exponentiell wachsende
Komplexität5 und vergrößern die Herausforderung ihrer Bewältigung für Organisationen und
deren steuernde Einheiten.
Eine wesentliche Rolle spielen dafür eine ganzheitliche Betrachtungsweise und modulare
Lenkungs- und Steuerungssysteme, die über ein Managementverständnis, welches sich auf
den ökonomischen Faktor allein projiziert, hinausgehen. Dementsprechend sind für das
Bewältigen eines derartigen Wandels auch wesentliche Veränderungen in den
Managementsystemen, Organisationsstrukturen und Strategien notwendig. Diese Systeme,
Strukturen und Strategien, welche also an die neuen Herausforderungen angepasst werden
1 Vgl. Endres, Helge W (1994), S. 107.
2 Malik, Fredmund (2013), S. 17.
3 Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
4 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 346.
5 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 18 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 2 -
müssen, sind in den betrachteten Systemzusammenhängen jeweils unterschiedlich
ausgestaltet.
Während militärische Organisationen streng hierarchisch strukturiert sind, ist es in zivilen – im
Sinne von nicht-militärischen – Unternehmen durchaus keine Seltenheit,
Organisationskulturen zu schaffen, die auf eine breite Beteiligung der Mitarbeiter in Prozessen
und Abläufen bauen, also flachere Hierarchien zu etablieren und mehr persönliche
Entscheidungsfreiheit der „Untergebenen“ zuzulassen. Dies kann ebenfalls bereits als
bewusste oder auch indirekte Reaktion mit der von Malik beschriebenen Großen
Transformation21 in Zusammenhang gebracht werden. Organisationen stellen sich auf die
neuen Herausforderungen ein, die der Wandel mit sich bringt, ob sie es im bewussten
Begegnen auf die Transformation21 tun oder ob dies intuitiv aus unternehmerischem Denken
heraus geschieht, ist für diese Betrachtung zweitrangig. Inwieweit sich militärische Strukturen
bereits auf den Wandel eingestellt haben und ob militärische Führungskräfte, also
Offizierinnen und Offiziere, dies innerhalb ihrer Organisationsstrukturen wahrnehmen, wird
darzustellen sein.
Eine besondere Stellung kommt in diesem Zusammenhang jenen militärischen
Führungskräften zu, die diese Funktion nur zeitlich begrenzt und neben ihrer zivilen beruflichen
Tätigkeit erfüllen – den Angehörigen des Milizstandes. Die Österreichische Bundesverfassung
(Artikel 79) weist die militärische Landesverteidigung dem Österreichischen Bundesheer zu
und schreibt vor, es nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.
MilizsoldatInnen sind ZivilistInnen, die sich nach der Ableistung ihres Grundwehrdienstes dazu
verpflichten, ihre erworbenen soldatischen Fähigkeiten über den Grundwehrdienst (bei Frauen
über den freiwillig geleisteten Ausbildungsdienst) hinaus gemäß einem vorgeschriebenen
Laufbahnbild durch regelmäßiges „Üben“ zu erhalten, zu erweitern und in den militärischen
Dienstbetrieb einzubringen, ohne hauptberuflich dem Österreichischen Bundesheer
anzugehören. Eine besondere Stellung kommt diesen insofern zu, als sie nicht selten auch in
der zivilen Berufsrealität in einer Führungsverantwortung, etwa in der Wirtschaft, der Politik
oder im Öffentlichen Dienst stehen. Sie sind sozusagen Führungskräfte in zwei Welten.
Folgt man dieser Ansicht, sind MilizoffizierInnen in ihren Führungsbereichen der jeweiligen
Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen Ansätzen konfrontiert, dem derzeit
stattfindenden Wandel zu begegnen und die zuvor beschriebene wachsende Komplexität zu
bewältigen. Dies lässt sich an Parametern wie Organisationsstrukturen, Management- und
Führungsstrategien, Unternehmenskulturen, Menschenbildern, Sinnkonstruktionen, Werten,
Umgang mit Fehlern und so fort, festmachen. MilizoffizierInnen stehen dabei nicht an einer
Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Welt, sondern sie werden durch die in ihnen
verwirklichte Personalunion als Führungskräfte in beiden Systemkontexten selbst zu dieser
Schnittstelle. Mithilfe ihrer Erfahrungen lassen sich mögliche Vor- und Nachteile erforschen,
welche militärische Organisationsstrukturen, Strategien und Managementsysteme in Hinblick
auf die Bewältigung von wachsender Komplexität haben.
1.2 Forschungsfragen
Management ist nicht nur eine Frage, die sich unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten
stellt. Institutionen benötigen auf verschiedenen Ebenen Lenkungs- und Steuerungselemente,
um eine Zielerreichung zu gewährleisten, die dem Organisationszweck entspricht. In diesem
Sinne gibt es keine Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielsetzungen von
Management. Dennoch werden in den jeweiligen Kontexten unterschiedliche
Herangehensweisen gewählt. In der Regel ist es schwierig für einen Außenstehenden, die
- 3 -
unterschiedlichen Zugänge von Steuerung und Führung einer Institution nachzuvollziehen,
ohne sich intensiv mit den internen Strukturen, Prozessen sowie der Umwelt dieser Institution
auseinanderzusetzen. Dies erfordert einen hohen zeitlichen Aufwand und ein
zugrundeliegendes Bedürfnis.
Das Wissen darüber, wie einzelne Institutionen mit einer immer komplexer werdenden Umwelt
umgehen, die sich durch globale Vernetzung mithilfe der Informationstechnologien ergibt,
bleibt demnach zumeist den Angehörigen dieser Institutionen vorbehalten. Ein Austausch ist
nur möglich, wenn Einzelne einen Wechsel vollziehen, etwa bei einer beruflichen
Veränderung. Wieweit in solch einem Fall die Erfahrungen des Einzelnen von Nutzen und
Interesse sind, ist im jeweiligen Fall zu beobachten.
Wesentlich anders verhält es sich bei den für die Arbeit im Zentrum stehenden
MilizsoldatInnen. Diese sind aufgrund ihrer Doppelfunktion tatsächlich Teile zweier wesentlich
unterschiedlicher Systemzusammenhänge. Auch wenn sie die militärische Funktion nur
zeitlich begrenzt bekleiden, liegt es im Wesen des Milizsystems, dass ihnen rechtlich wie
moralisch dieselbe Verantwortung und dieselben Entscheidungsbefugnisse in ihrem jeweiligen
Verantwortungsbereich zukommen wie ihren hauptberuflich tätigen KameradInnen.
Von Seiten des ÖBH wird zumeist auf die Wirkung hingewiesen, welche die Miliz zur
Verankerung und Anerkennung der Landesverteidigung in der Bevölkerung hat.6 Die Wirkung
in die umgekehrte Richtung, nämlich dahingehend, dass Frauen und Männer, welche die
meiste Zeit ihres Lebens als ZivilistInnen verbringen, ihre Ansichten, ihr Wissen und ihre
Erfahrungen in die Führungstätigkeit des ÖBH einbringen, ist bisher wenig wissenschaftlich
erforscht worden und steht daher im Fokus dieser Arbeit. Sie soll mit folgenden
Fragestellungen erforscht werden:
Forschungseinleitende Frage
Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung
und zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden
Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?
Forschungsfrage 1:
Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer
auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21
beschrieben wird?
Forschungsfrage 2:
Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und
Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar
machen?
1.3 Annahmen
1.3.1 Die Große Transformation21
Wir befinden uns in einer Zeit des Überganges, den Malik mit Bezug auf Peter F. Drucker als
Die Große Transformation21 bezeichnet. In der Wirtschaft und in der Gesellschaft überhaupt
findet ein Paradigmenwechsel statt, der den Übergang von einer alten Welt in eine neue Welt
6 BMLV (2021), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 4 -
erkennbar werden lässt. Dieser Wandel ist mit dem Übergang der Agrargesellschaft in die
Industriegesellschaft vergleichbar oder mit der Verdrängung der Feudalgesellschaft durch
Rechtsstaat und Demokratie.7
Durch den Grad der globalen Vernetzung und der Möglichkeiten des digitalen
Informationsaustausches ist dieser Wandel einer zusätzlichen Beschleunigung ausgesetzt
und ereignet sich in einer Größenordnung, die es mit dem bisherigen Verständnis von
Steuerung und Führung unmöglich macht, die exponentiell steigende Komplexität von
Systemen unter Kontrolle zu bringen.
Organisationen stellen sich auf die neuen Herausforderungen, die der Wandel mit sich bringt, ein, indem sie ihre internen Organisationsstrukturen, Strategien und Systeme anpassen, um der steigenden Dynamik in ihren operativen Feldern zu begegnen und um handlungsfähig zu bleiben.
Die Annahme zu Forschungsfrage 1 besteht darin, dass das ÖBH mit einer steigenden
Komplexität seiner Aufgaben konfrontiert ist und darauf reagiert. Es wird weiters
angenommen, dass streng hierarchische Institutionen langsamer auf diesen Wandel reagieren
können.
Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer
zivilen beruflichen Tätigkeit mit Strategien konfrontiert sind, mit denen zivile Organisationen
auf die Große Transformation21 reagieren und dieses Wissen in ihre Führungstätigkeit beim
ÖBH einfließen lassen.
1.3.2 Zivile und militärische Systemunterschiede
Das ÖBH hat aufgrund seiner streng hierarchischen Organisation andere Strategien und
Systemprinzipien wie Kultur, Menschenbild und Werte als zivile Organisationen, in denen
einzelnen Organisationsteilen mehr Autonomie und Freiheit eingeräumt wird. Diese
Unterschiede wirken sich vor- oder nachteilig auf Komplexitätsbewältigung aus.
Die Annahme zur Forschungsfrage 1 besteht darin, dass das ÖBH einen eher
konstruktivistisch-technomorphen Ansatz von Management verfolgt als das in zivilen
Institutionen der Fall ist, um auf Komplexität zu reagieren.
Weiters wird angenommen, dass die Organisationsstruktur des ÖBH, also seine Gliederung,
geeignet ist, um als lebensfähiges System im Sinne eines kybernetischen
Managementverständnisses zu gelten.
Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen ihre im zivilen
Berufsleben erworbenen Kenntnisse über systemisch-evolutionäre Managementansätze nur
informell einbringen können, nicht aber im Zuge des formalen Dienstweges.
1.3.3 MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischem und zivilem Führen
Vielfach sind MilizoffizierInnen in ihrer zivilen beruflichen Tätigkeit ebenfalls Führungskräfte in
Wirtschaft, Politik oder Verwaltung. Zudem werden sie auch in beiden Welten geführt. Das
heißt, sie erfahren als Führungskräfte ebenso wie als Geführte unterschiedliche Zugänge zu
dieser Fragestellung. Sie verinnerlichen ihre Erfahrung und beurteilen bewusst und unbewusst
die Erfolgsaussichten dieser unterschiedlichen Zugänge. Sie sind daher aus Sicht der
Bewältigung von Komplexität die Schnittstelle zwischen zivilem und militärischem
Management und können Aussagen über die beiden sozialen Systemkontexte machen.
7 Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 5 -
Die Annahme zu den Forschungsfragen besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer
zivilen beruflichen Tätigkeit und ihrer militärischen Funktion die Folgen des Übergangs zu einer
Komplexitätsgesellschaft in beiden Aufgabenbereichen miterleben. Sie sind dabei mit
Strategien konfrontiert, mit denen Organisationen auf die steigende Komplexität reagieren und
lassen diese Erfahrungen in ihre Führungstätigkeit bei der jeweils anderen Organisation
einfließen.
1.4 Zielsetzung und Nutzen
Dass auch Bedrohungsbilder und die ihnen nachgereihten Ableitungen – also das, was als
das Betätigungsfeld von militärischen Führungskräften bezeichnet werden kann – ebenso als
eine Folge der Großen Transformation21 und damit aus einer steigenden Komplexität der
Umweltbedingungen insgesamt als solche komplexer werden, mag unter anderem
augenscheinlich bereits an der zeitlichen und örtlichen Gleichzeitigkeit festgemacht werden,
mit denen Terrorismus, globale Migrationsbewegungen, weltweite Pandemien, Cyber-War,
bewaffnete Konflikte, um nur einige zu nennen, auftreten. Diese immer schneller mutierenden
gesellschaftlichen Realitäten sind auch für militärische Organisationen Anlass, ihre
Organisationsstrukturen und Strategien hinsichtlich Führung zu beleuchten und anzupassen.
Dieser Entwicklung trägt das ÖBH sowohl auf Ebene der Forschung als auch in der
praktischen Umsetzung Rechnung. Es lassen sich Faktoren festmachen, die bestätigen, dass
das ÖBH hinsichtlich Führung wesentliche Entwicklungsschritte vollzogen hat und immer noch
vollzieht. Für die praktische Anwendung wurde dieser Entwicklungsschritt in Form des
Zentrums für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik institutionalisiert, welches als
Kernaufgabe eine zeitgemäße, wertschätzende, wirklichkeitsgetreue und geschlechter-
/diversitätsgerechte Führung und Ausbildung aller Militärpersonen und Zivilbediensteten des
ÖBH hat.8 Dies lässt den Schluss zu, dass auf der Ebene der individuellen Führung auf die
geänderten Anforderungen reagiert wurde.
Im Rahmen des Fachhochschul-Masterstudienganges Militärische Führung an der
Landesverteidigungsakademie widmen sich zahlreiche Publikationen dem Thema Führung.
Diese beziehen sich wiederum hauptsächlich auf individuelles Führungshandeln in einem
spezifisch militärischen Organisationskontext und Anwendungszusammenhang. Weniger
Bedeutung wurde bisher dem Aspekt beigemessen, dass das ÖBH selbst ein soziales
komplexes System darstellt, wodurch ein ganzheitliches Verständnis von Management und
Führung und die daraus resultierenden Interdependenzen zwischen Management und
Führungshandeln, wie sie bei Malik beschrieben werden, ausgeblendet bleiben.9
Der Umstand, dass das ÖBH Führungskräfte in der Miliz hat, die nicht nur im militärischen
Kontext Erfahrungen mit Management und Führung machen, sondern in der Wirtschaft, im
Öffentlichen Dienst oder der Politik mit der Bewältigung steigender Komplexität konfrontiert
sind, ermöglicht es, die Aussagen dieses Personenkreises im Rahmen einer
wissenschaftlichen Analyse hinsichtlich der zugrunde gelegten Fragestellung zu untersuchen
und etwaige Ableitung für die Ausbildung von Führungskräften des ÖBH insgesamt zu treffen.
Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sollen dem ÖBH, konkret dem Zentrum für
menschenorientierte Führung und Wehrpolitik an der LVAk zur Verfügung gestellt werden, um
Ableitungen für die Ausbildung und den Einsatz von MilizoffizierInnen treffen zu können.
Ebenso soll die Österreichische Offiziersgesellschaft, deren derzeitiger Präsident als
8 BMLV (2020), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
9 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 18.
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wissenschaftlicher Betreuer dieser Arbeit fungiert, als Interessenvertretung von OffizierInnen
des Präsenz-, des Miliz- und Reservestandes, mithilfe dieser Studien einen tiefergehenden
Einblick in den Zugang zu Führung und Management im militärischen und zivilen
Systemkontext ihrer Mitglieder zur Verfügung gestellt bekommen.
1.5 Gliederung der Arbeit
Die vorliegende Arbeit nähert sich nach einem einleitenden Kapitel zu Problemstellung und
Forschungsinteresse dem Forschungsgegenstand in zwei Hauptteilen.
Der theoretische Teil, zusammengefasst in Kapitel 2, widmet sich der Darstellung des
notwendigen wissenschaftlichen Unterbaus zum besseren Verständnis der Ursachen von
steigender Komplexität unserer Umwelt und den damit verbundenen Auswirkungen auf die
Steuerung von Organisationen. Ebenso werden die Organisations- und Führungsmerkmale
des ÖBH in Grundzügen erläutert, insoweit sie für das Forschungsthema relevant sind.
Der daran anschließende empirische Teil widmet sich zuerst in Kapitel 3 dem
Forschungsprozesses durch die Darstellung des Forschungsfeldes, sowie des
methodologischen Zuganges der Datenerhebung und -auswertung. Im Anschluss daran erfolgt
in Kapitel 4 die Behandlung der Ergebnisse der empirischen Forschung anhand des induktiv
abgeleiteten Kategoriensystems. Kapitel 5 befasst sich mit der Beantwortung der
Forschungsfragen unter Berücksichtigung der hiezu getätigten Annahmen.
Im abschließenden Kapitel 6 erfolgt ein Resümee sowie in Kapitel 7 ein Ausblick auf mögliche
weiterführende Forschungsfelder im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand.
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2 Theoretische Grundlagen
2.1 Wandel der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft
2.1.1 Die Große Transformation
Der Begriff „Great Transformation“ wurde geprägt vom ungarisch-österreichischen
Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi, welcher diesen 1944 erstmals im Zusammenhang mit der
Ausbreitung der Marktwirtschaft als Gesellschaftsordnung verwendete.10 In weiterer Folge
prägte Drucker den Begriff im Zusammenhang mit der Entwicklung vom Kapitalismus zur
Wissensgesellschaft und vom Nationalstaat zum transnationalen Megastaat.11
Malik verwendet den Begriff in dieser Tradition und bezeichnet damit einen fundamentalen
Wandel vom 20. in das 21. Jahrhundert, von einer Wissensgesellschaft hin zu einer
Komplexitätsgesellschaft, der sich mit dem Übergang von der Agrargesellschaft in die
Industriegesellschaft oder mit der Verdrängung der Feudalgesellschaft durch den
demokratischen Rechtsstaat vergleichen lässt. Als letztes historisches Beispiel eines
derartigen Prozesses sieht Malik die Aufklärung, welche auf politischer Ebene in die
Verfassung der USA oder die Französische Revolution mündete, sich technologisch durch die
Erfindung der Dampfmaschine und der dadurch ermöglichten Industrialisierung manifestierte
und gesellschaftlich in den modernen Universitäten, dem Parteiensystem und ihren Ideologien
und schließlich in einer völlig neuen Gesellschaftsstruktur ihre Verwirklichung erfuhr.12
Durch die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen und den damit verbundenen
weltweiten systemischen Vernetzungsgrad hat die Transformation21 jedoch eine globale
Dimension und ein Tempo angenommen, in denen sich der maßgebliche Unterschied zu
bisherigen gesellschaftlichen Veränderungen zeigt. Umwandlungsprozesse derartiger
Größenordnung sind in Schritten von 250 Jahren zu denken und lassen Vergleiche mit der
Erfindung des Buchdrucks, der Entdeckung Amerikas, dem Entstehen der Wissenschaften
oder der Verbreitung des arabischen Zahlensystems zu. Sie stellt den Übergang von einer
alten Welt in eine neue Welt dar, die Ablösung der bisherigen Ordnung durch eine neue
Ordnung.13
Während die alte Welt von Gesetzen der Ökonomie und des Geldes dominiert war, wird die
neue Welt von Gesetzen der Information, Wissen, Erkenntnis, Komplexität und Dynamik
hochvernetzter Systeme geprägt sein, was sich in der Formel „Wissen bricht Geld und
Information bricht Macht“ zusammenfassen lässt. Im Zentrum dieser neuen Welt wird das
beherrschende Merkmal eine proliferierende, exponentiell wachsende Komplexität sein, zu der
sich weitere komplexe „Treiber“ addieren, welche aus ihrem Zusammenwirken wiederum zum
Wachstum von Komplexität beitragen. Dies sind die Demografie, der Komplex von Wissen und
Technologie, die Ökologie und die Ökonomie (auf diesem Gebiet eine historisch angehäufte
Verschuldung).14
Dass dieser Wandel bereits im Gange ist, lässt sich an Phänomenen feststellen, welche mit
diesem einhergehen und die sich etwa in Form der Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten
20 Jahre manifestieren, wofür die Subprime-Krise (2007), die Eurokrise (2010), die
10 Vgl. Reissig, Rolf (2009), S. 93.
11 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 345.
12 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
13 Vgl. ebenda, S. 16.
14 Vgl. ebenda, S. 18.
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Migrationskrise (2015) oder die Corona-Pandemie (seit 2020) Beispiele sind. Diese Ereignisse
sind Auswirkungen eines fehlenden Wissens um eine neu funktionierende Ordnung, welche
wesentlich von ganzheitlichem Denken und modularer Steuerung abhängig ist. Voraussetzung
dafür ist vernetztes Denken und eine neue Vorstellung von Steuerung von Organisationen,
durch welches sie als komplexe, zusammenhängende und unüberschaubare Systeme
wahrgenommen werden.15
Da die Große Transformation21 einen Wandel auf allen Ebenen bedeutet, sind alle
Organisationen davon betroffen und müssen ihre Strukturen, Managementsysteme und
Strategien darauf abstimmen. Auch das ÖBH steht vor der Herausforderung, dass
infolgedessen sein Aufgabenspektrum von einer exponentiell steigenden Komplexität
gekennzeichnet ist.
2.1.2 Wandel im Aufgabengebiet des Österreichischen Bundesheeres
Mit dem Ende des Kalten Krieges 1998 endete die bipolare Weltordnung und es setzte eine
Entwicklung ein, die sich immer weiter von einem möglichen zwischenstaatlichen Konflikt, der
mit konventionellen Streitmächten geführt wird, entfernt hat. Das Konfliktbild wurde
unüberschaubarer und unkalkulierbarer.16
Zuvor ließ sich an klar abgrenzbaren und identifizierbaren Merkmalen festmachen, welche
Konfliktparteien, also Kombattanten mit gegnerischen militärischen Handlungsabsichten und
kalkulierbaren Bedrohungslagen, sich gegenüberstanden, um sich als Staat mit Streitkräften
darauf einzustellen und vorzubereiten. In Österreich war das passive
Bedrohungsreaktionskonzept der Raumverteidigung – nach seinem Verfasser General Emil
Spannocchi in den 1960er Jahren auch „Spannocchi-Doktrin“ genannt – bis in die 1980er
Jahre Grundlage des militärischen Strategiekonzeptes.17
Durch die globale Vernetzung der Gesellschaft veränderte sich nach dem Zerfall des
Warschauer Paktes auch das Bedrohungsbild, dem sich ein Staat oder ein Staatenverbund
gegenüberstehen. Technologischer Fortschritt und Entwicklung vor allem auf dem
Informations- und Kommunikationssektor tragen bis heute wesentlich zu dieser Veränderung
bei.18
„Wesentliche Merkmale des künftigen Gefechtsbildes sind (…), Unsicherheit, eine hohe
Agilität und Anpassungsfähigkeit der Akteure. (…) Eine größere Dynamik und
Komplexität von Bedrohungsszenarien und Konfliktpotentialen in der Gesellschaft sind
die Folge. (…) Durch nachhaltige, länger andauernde Angriffe auf kritische
Infrastrukturen und verfassungsmäßige Einrichtungen können die Funktionsfähigkeit
der Grundversorgung der Bevölkerung sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung und Sicherheit derart beeinträchtigt werden, dass bereits nach wenigen Tagen
chaotische und bald darauf anarchische Zustände drohen.“19
Das Betätigungsfeld des Militärs verlagert sich zunehmend weg vom militärischen
Gefechtsfeld hin in ein ziviles Umfeld.
Im militärstrategischen Konzept, das 2017 neu verfasst wurde, wird der neuen
Bedrohungslage entsprechend eine vernetzte Einsatzführung des ÖBH festgeschrieben:
15 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
16 Vgl. Dengg, Anton und Schurian, Michael(hrsg) (2015), S. 25.
17 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 24.
18 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 23 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
19 BMLV (2017a), S. 2.
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„Die künftigen Einsäte des ÖBH werden zunehmend in der größer werdenden
Schnittmenge von zivilen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen sowie Militär
sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene stattfinden. Die Fähigkeit zur
gemeinsamen – „vernetzten“ – Einsatzführung wird im gesamtstaatlichen Rahmen
weiter an Bedeutung gewinnen.“20
Das ÖBH muss demzufolge seine Einsatzorientierung und seine Fähigkeiten anpassen.
Weiterhin bleiben die Erfordernisse der militärischen Landesverteidigung und damit der Kampf
der verbundenen Waffen Alleinstellungsmerkmal des ÖBH. Zum Erhalt der
Durchsetzungsfähigkeit und der Weiterentwicklung der Reaktionsfähigkeit ist für die
Komplexitätsbewältigung vermehrt die Befähigung in folgenden Bereichen zu stärken:21
1) Autarkie – Unabhängigkeit von Ressourcen zur Stärkung der Resilienz
2) Interoperabilität und Kooperation im In- und Ausland mit zivilen Behörden und anderen
Armeen
3) Vernetzte Einsatzführung von dezentralen, funktionalen kleineren Verbänden
4) Berücksichtigung des erhöhten Anforderungsprofils bei der Personalauswahl und
Ausbildung
Die Stärkung dieser Fähigkeiten entspricht der Anpassung an jene Anforderungen, welchen
sich auch zivile Organisationen zur Steuerung und zum Umgang mit Komplexität in einem
unüberschaubaren Umfeld gegenüberstehen, wie in weiterer Folge dargestellt werden soll.
2.2 Komplexität und Varietät
„Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen
bezeichnen, wenn aufgrund immanenter Beschränkungen der
Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit
jedem anderen verknüpft sein kann.“22
Folgt man Luhmann haben komplexe Systeme folgende Voraussetzungen: 1) Elemente, aus
denen sich das System zusammensetzt 2) Regeln nach denen diese Elemente zueinander in
Beziehung treten und 3) eine Unmöglichkeit des gleichzeitigen Zusammenwirkens dieser
Elemente mit jedem beliebigen anderen Element des Systems. Komplexität bedeutet
demnach, dass ein System mehr Interaktionsmöglichkeiten hat als es gleichzeitig
verwirklichen kann. Je größer die Anzahl dieser Möglichkeiten des Interagierens zwischen den
Systemteilen ist, umso höher ist die Komplexität des Systems.23
Die Interaktion oder auch die Beziehung der Systemteile zueinander bilden also ein
Wirkungsgefüge, das größer ist als die Summe der einzelnen Teile. Je dichter dieses
Wirkungsgefüge in sich vernetzt ist, umso dynamischer und unvorhersehbarer laufen
Prozesse im System ab. Es kommt zu Rückkoppelungen, die diesen Effekt verstärken und zu
exponentiellen Entwicklungen beitragen. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind nicht mehr
erkenn- oder nachvollziehbar und die Möglichkeit eines steuernden Eingreifens sinkt.
Mit der Vernetzung steigt auch die Emergenz in einem System. Damit ist eine spontane
Herausbildung von neuen Eigenschaften und Strukturen gemeint, die im Zusammenspiel von
Elementen eines Systems ihren Grund haben. Die jeweiligen Eigenschaften der einzelnen
20 BMLV (2017a), S. 11.
21 Vgl. ebenda, S. 10ff.
22 Luhmann, Niklas (2018), S. 46.
23 Vgl. Liessman, Konrad Paul (2001), S. 7f (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
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Elemente ermöglichen dabei keine Rückschlüsse auf die emergenten Eigenschaften des
Systems. Vielmehr kommt es dabei zur spontanen Selbstorganisation, was wiederum zur
Nichtvorhersehbarkeit der Entwicklung beiträgt.24
2.3 Management von Komplexität
Ausgehend von dieser Betrachtung hat sich innerhalb der Managementlehre ein
Komplexitätsbegriff durchgesetzt, der ausgehend vom Gedanken der Steuerbarkeit und der
Steuerung von Systemen den Begriff der Varietät in den Mittelpunkt rückt.
Komplexität ist demnach eine fundamentale Eigenschaft der Realität, die sich auch als
„Vielfalt“ bezeichnen lässt und entsteht aus möglichen Unterschieden und Unterscheidungen.
Sie führt zu Unvorhersehbarkeit, Unberechenbarkeit, Veränderung und Nicht-Analysierbarkeit,
was in der Regel als negativ angesehen wird. Sie ist jedoch auch die Voraussetzung für alle
höheren Eigenschaften wie Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Responsivität, Evolution,
Kreativität, Flexibilität oder Identität, wie sie bei biologischen und sozialen Systemen
auftreten.25
Hilfreich zum Verständnis des Komplexitätsbegriffes ist die Unterscheidung von komplex und
kompliziert. Ein kompliziertes System lässt sich anhand seiner Bestandteile beschreiben, die
man beobachten kann. Ein komplexes System hingegen ist nur über die Interaktionen, die
zwischen den Bestandteilen stattfinden, beschreibbar.26 In diesem Sinne ist ein Schulgebäude
kompliziert, der darin stattfindende Unterricht ist komplex.
Neben diesen Beschreibungen, die sich aus der Alltagserfahrung ergeben, ist Komplexität im
Zusammenhang mit der Problemstellung dieser Arbeit als Managementproblem von
Bedeutung und als solches wie folgt zu beschreiben:
„Komplexität als empirisches Merkmal von soziotechnischen Systemen bezeichnet die
Mannigfaltigkeit von Zuständen und Zustandskonfigurationen von Systemen. Diese
Mannigfaltigkeit resultiert im Prinzip aus der Interaktion von Systemen und
Systemelementen.“27
Das bedeutet, je größer diese Mannigfaltigkeit von Zuständen ist, desto schwieriger ist es für
das Management, das System zu steuern, also in einen gewünschten bestimmten Zustand zu
versetzen. Um den Grad an Komplexität zu messen, ist die Anzahl der unterscheidbaren
Zustände ausschlaggebend. Dieser wird als „Varietät“ bezeichnet. „Varietät ist die Anzahl der
unterscheidbaren Zustände eines Systems bzw. die Anzahl der unterscheidbaren Elemente
einer Menge.“28 Anders gesagt, Varietät ist nach Malik das Maß, mit dem Komplexität
gemessen werden kann.
Anders als Malik sehen etwa Weick/Sutcliffe eine Weiterentwicklung des Begriffs der
„erforderlichen Varietät“ als notwendig an. Wie oben dargestellt, greift für sie der Begriff der
Varietät zu kurz, um Komplexität zu messen, da sie keine Unterscheidung zwischen
komplexen und komplizierten Systemen zulässt. Dementsprechend sprechen sie von der
„erforderlichen Komplexität“ anstatt der „erforderlichen Varietät“.29 Wenn es um die Kontrolle
24 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 25 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
25 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 246.
26 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.
27 Malik, Fredmund (2015), S. 33.
28 Ebenda, S. 168.
29 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.
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von Systemen geht, wird die Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Systemen,
wie sie bei Malik beschrieben wird, folglich um die Unterscheidung zwischen komplizierten und
komplexen Systemen erweitert. Die Auswirkungen dieser Unterscheidung zeigen sich im
Umgang mit unerwarteten Situationen.
Eine Gruppe, die dadurch geformt wird, dass einzelne Gruppenmitglieder jeweils
nacheinander beitreten oder hinzugefügt werden, formt sich als Summe der einzelnen Teile
zu einem komplizierten System. Im Falle des Auftretens eines unerwarteten Ereignisses liegen
die Grenzen der Varietät in den jeweils individuellen Fähigkeiten und Herangehensweisen, die
mit jenen der anderen Individuen addiert bzw. verglichen werden. Das kleinste gemeinsame
Vielfache wird dabei als Lösungsansatz gesucht und dadurch Vereinfachung gefördert. Die
unerwartete Situation wird mit unserer bereits vorhandenen Erfahrung in Einklang gebracht
und dadurch normalisiert. Der Handlungsspielraum wird eingeschränkt und Steuerung
erschwert.30
Anders stellt sich die Situation dar, wenn in einem System Teile interagieren, die sich nicht nur
auf die individuelle Erfahrung und die damit verbundenen Fähigkeiten und
Herangehensweisen konzentrieren, sondern der Komplexität der unerwarteten Situation
Raum geben und der Interaktion mit anderen Systemteilen jene Aufmerksamkeit schenken,
die notwendig ist, um eine Herangehensweise zu generieren, die nur durch diese gemeinsame
Interaktion möglich ist und zu der keiner der einzelnen Teile alleine im Stande wäre. Dadurch
werden nicht die bereits in früheren Situationen gemachten Erfahrungen und die daraus
abgeleiteten Lösungsansätze abgerufen, sondern der Situation besser angepasste, neue und
differenzierte Interaktionen zugelassen. Dadurch wird der eigene Handlungsspielraum
erweitert und die gesteigerte Varietät trägt zur Verhinderung von Vereinfachung bei.31
Auch wird dabei ein sogenannter Confirmation Bias, also ein Bestätigungsfehler oder eine
Bestätigungstendenz vermieden. Diese treten immer dann ein, wenn eine getroffene
Entscheidung oder Hypothese gegen neu auftretende Aspekte verteidigt wird, um sie nicht
revidieren zu müssen. Dabei besteht die Tendenz, Informationen, die das eigene Argument
stützen, zu suchen und ihnen mehr Gewicht beizumessen als jenen Informationen, welche die
eigene Ansicht nicht bestätigen. Diese werden eher vernachlässigt.32 Dies führt in der Folge
zu vermeidbaren Fehlern, wenn eine Entscheidung trotz vorliegender Anzeichen ihres
Falschseins aufrechterhalten wird.
2.3.1 Kybernetik
Der Begriff Kybernetik als Wissenschaft von der Kommunikation und Kontrolle von Maschinen
und lebenden Organismen, wurde von Norbert Wiener geprägt und von W. Ross Ashby „als
die Kunst des Lotsens, wie sie ein Steuermann auf dem Schiff ausübt,“33 bezeichnet. Ihre
Hauptthemen sind vor allem Regelungs- und Steuerungsprozesse sowie
Rückkopplungsschleifen, die sich aus der Biologie für die Mechanik ableiten lassen.34 Diese
Forschungen schafften eine Basis für den rasanten technischen Fortschritt im 20. Jhdt. Zur
gleichen Zeit entstand daraus auch das bekannte, kreisförmige Regelungsmodell des Plan-
Do-Check-Act von Deming.35 Es ist aus selbstregulierungsfähigen Feedbackschleifen
30 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61f.
31 Vgl. ebenda, S. 62.
32 Vgl. Schon, Claudia (2008), S. 9 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
33 Ashby, W. Ross (2016), S. 15.
34 Vgl. ebenda, S. 15.
35 Vgl. Brühwiler, Bruno (2016), S. 37.
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abgeleitet, wie sie zum Beispiel in der Steuerung von Heizungssystemen oder in der
Nachrichtentechnik angewandt wurden und werden.
Das moderne Verständnis von Komplexität und Varietät entspringt der Wissenschaft der
Kybernetik. Sie ist eng mit den Systemwissenschaften und der Informationstheorie verbunden,
die dazu beigetragen haben, neben den elementaren Größen der Natur, nämlich Materie und
Energie, eine dritte Größe zu verstehen und systematisch zu nutzen – die Information.36 Dem
geht der Gedanke voraus, dass neben dem, woraus ein Lebewesen besteht, vor allem
wesentlich ist, wie diese Bestandteile angeordnet und organisiert sind sowie die Information,
die diese Ordnung, dieses Muster erst hervorruft oder zustande bringt. Demnach ist Leben
nicht nur Materie und Energie, sondern informierte Materie und Energie. Unter dem Blickwinkel
der Kybernetik ist also jene Information wesentlich, welche die Elemente eines Systems ordnet
und organisiert und sie dadurch überhaupt erst zu einem System macht. Grundlegend ist dabei
die Entdeckung, dass es für alle Systeme, egal ob biologische, technische, soziale oder
ökonomische, Gesetzmäßigkeiten gibt, die Kontrolle und Funktionieren aller Systeme
bestimmen. In Bezug auf komplexe Systeme fragt die Kybernetik nach der notwendigen
Beschaffenheit der Struktur und Architektur eines Systems, damit eine Steuerung, also das
Unter-Kontrolle-Bringen seiner Komplexität, überhaupt möglich ist.37
Dabei ist nach Malik ihr Ausgangspunkt nicht ein gegebener vorliegender Sachverhalt,
sondern immer die Menge an möglichen Sachverhalten, wenn sie ihre volle Varietät entfalten
würden. Es erfordert also die gedankliche Gegenüberstellung von dem, was sein könnte und
dem, was tatsächlich ist. Der Vorteil des kybernetischen Zugangs ist ein tieferes Verständnis
des tatsächlich gegebenen Sachverhaltes, weil ein breiterer Blickwinkel für seine
Beschaffenheit notwendig ist, um zu bestimmen, warum aus der Menge an Möglichkeiten
gerade jene eingetreten ist, und nicht eine andere denkbar mögliche. Es geht also in der
Kybernetik nicht um kausale Zusammenhänge – A ist eingetreten und daher musste B folgen
– sondern um das Netzwerk von Einflussmöglichkeiten, das den Kontext eines Sachverhaltes
bestimmt.38 Mit anderen Worten geht es um eine ganzheitliche Betrachtungsweise der
Organisation und der Struktur von Systemen.
Für das Management von Institutionen wie dem ÖBH stellen sich also folgende Fragen: Wie
müssen ihre Struktur oder ihre Organisation beschaffen sein, um sich auf den ständigen
Wandel der Umwelt einzustellen? Zweitens: Ist die derzeitige Beschaffenheit der Organisation
dafür geeignet?
2.3.2 Kontrolle von Systemen
Ein System ist immer nur so weit unter Kontrolle, als es gelingt, es daran zu hindern, Zustände
anzunehmen, die es grundsätzlich annehmen könnte, die aber aus Sicht der Steuerung nicht
wünschenswert sind.39 Wie dargestellt sinkt mit der Varietät eines Systems die Möglichkeit, es
in einen gewünschten Zustand zu versetzen, also es zu kontrollieren oder zu steuern. Dennoch
sind Organisationen gemäß der Annahme einer exponentiell wachsenden Komplexität mit dem
Problem konfrontiert, dieser Herausforderung begegnen zu müssen. Ein Ansatz besteht im
Streben der Reduktion von Komplexität, also einer Spezialisierung und Schwerpunktbildung
von Management und Steuerung. In der Wirtschaft etwa durch Gewinnmaximierung oder die
Konzentration auf das Aktionärsinteresse.40 Ein möglicher anderer Ansatz ist ein
36 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 51.
37 Vgl. ebenda, S. 52f.
38 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 172f.
39 Vgl. ebenda, S. 173.
40 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 55.
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kybernetischer und systemtheoretischer, der sich am Gesetz der erforderlichen Varietät
orientiert. Diesem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein komplexes System nur mithilfe eines
mindestens ebenso komplexen Systems unter Kontrolle gebracht werden kann, oder anders
gesagt, „um ein System unter Kontrolle zu bringen, benötigt man mindestens soviel sic!
Varietät (oder Komplexität), wie das System selbst hat.“41 Das Gesetz der erforderlichen
Varietät geht auf den britischen Neurophysiologen und Kybernetiker W. Ross Ashby zurück
und wird auch als „Ashby´s Law“ bezeichnet. Es lautet in der Originalfassung: Only Variety
can destroy Variety.42 Ein intuitiv nachvollziehbares Beispiel dafür ist, dass eine gesamte
Symphonie von Beethoven, die auf einem komplexen Zusammenwirken von Tönen,
Harmonien und Rhythmen basiert, nur von einem Orchester gespielt werden kann, das selbst
über genügend Instrumente verfügt und genügend MusikerInnen, die wiederum die vielfältigen
Wiedergabemöglichkeiten dieser Instrumente steuern können, um jenen Grad an
Interaktionsmöglichkeiten zu erreichen, der notwendig ist, um diese Symphonie
wiederzugeben. Dieses Beispiel zeigt den Kern des Gesetzes der erforderlichen Varietät,
dessen Verständnis für diese Arbeit notwendig ist. Nämlich, „dass die verfügbare
Lenkungsvarietät relativ zu den beabsichtigten Zielen mindestens so groß sein muss, wie die
Varietät des zu lenkenden Systems.“43
Dieser Gedanke wird zu behandeln sein, wenn es darum geht, die Eigenkomplexität und damit
die Lenkungsvarietät zu erforschen, welche das ÖBH mit Hinblick auf die Komplexität der von
ihm zu kontrollierenden Systeme hat und welche Rolle dieses Bewusstsein bei den
Führungskräften spielt, die in ihm wirken.
2.3.3 Managementverständnis bei Malik
Der Wandel, der sich aufgrund der Großen Transformation21 ereignet, betrifft nicht nur die
Wirtschaft, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Demnach bedarf es für Malik eines neuen
ganzheitlichen Verständnisses von Management, das den Herausforderungen einer
steigenden Komplexität gerecht wird und welches das Gesetz der erforderlichen Varietät
berücksichtigt. Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte lassen sich nach
Malik unter anderem darauf zurückführen, dass Institutionen nicht oder schlecht funktionieren.
Funktionieren bedeutet in diesem Zusammenhang die Reaktion einer Institution auf ihre
„Architektur“, also auf ihre Organisation und ihr davon abhängiges Verhalten. Nicht-
Funktionieren und Schlecht-Funktionieren sind demnach Probleme der Gestaltung und
Lenkung von Institutionen, als Probleme des Managements von Institutionen.44 Daraus ergibt
sich, dass Management als das Meistern von Komplexität verstanden werden kann.45
Malik unterscheidet dabei zwei grundsätzliche Arten von Managementtheorien zur
Komplexitätsbeherrschung. Einerseits eine konstruktivistisch-technomorphe und andererseits
eine systemisch-evolutionäre Art.
Mit dem Begriff „konstruktivistisch-technomorph“ wird das Bild der Maschine und damit der
klassischen Mechanik verbunden. Eine Maschine besteht aus Einzelteilen, deren
Zusammenwirken detailliert geplant ist und deren Funktion einen vorhersehbaren Zweck
erfüllt. Sie muss im Voraus bis ins kleinste Detail durchdacht, danach konstruiert und dann
beherrscht werden, was ein umfassendes Wissen über alle Bestandteile erfordert. Die Erfolge,
gemessen an Zuverlässigkeit und Effizienz, die durch diesen mechanischen Zugang im
41 Malik, Fredmund (2013), S. 59.
42 Vgl. ebenda, S. 59.
43 Malik, Fredmund (2015), S. 175.
44 Vgl. ebenda, S. 32.
45 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 7.
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Bereich der Technologie gemacht wurden, haben nicht nur zu einer enormen
Technologisierung unseres Alltages, sondern auch zu einer Verallgemeinerung dieses
Denkens und damit zur Anwendung bei der Steuerung von Systemen geführt.46
Der systemisch-evolutionäre Ansatz folgt hingegen der Grundvorstellung einer sich selbst
generierenden Ordnung, wofür das Bild des lebenden Organismus herangezogen werden
kann. Organismen werden von niemandem konstruiert, wie eine Maschine konstruiert wird,
also nach einem im Vorhinein festgelegten Zweck, sondern sie entwickeln sich von selbst hin
zu dieser Ordnung, deren Zweck sich oft erst im Nachhinein zeigt.47 Auch in sozialen Systemen
finden wir diese zweckrationalen Ordnungen, und zwar deshalb, weil Menschen nicht nur von
Zielen geleitet werden, sondern weil die Art und Weise menschlichen Verhaltens wesentlich
auch von Regeln geleitet ist, die unabhängig von den konkreten Zielen des Einzelfalls
bestehen.48 Die Ordnung entsteht dabei dadurch, dass einzelne Individuen allgemeine Regeln
faktisch befolgen, auch wenn sie diese Regeln nicht nennen oder beschreiben können. Die
sich daraus ergebenden Regelmäßigkeiten helfen den einzelnen Individuen dabei, sich
innerhalb des sozialen Systems zu orientieren, weil dadurch stabile Erwartungen über das
Verhalten anderer mit hoher Erfüllungswahrscheinlichkeit gebildet werden. Als Folge davon
kann das Individuum wiederum das eigene Verhalten anpassen und es so mit einer im Prinzip
beliebig hohen Anzahl anderer koordinieren. Diese Orientierungsleistung, die durch Regeln
entsteht, und die daraus ableitbare Koordinierung von Verhalten ermöglichen es, gemäß dem
systemisch-evolutionären Ansatz jene Art von Komplexität zu beherrschen, die entstünde,
wenn die Individuen das Verhalten anderer aufgrund fehlender Regeln – und damit
Regelmäßigkeiten – nicht (mehr) antizipieren und sich nicht daran orientieren können. Daraus
entsteht der Sinn dieser Ordnung, der Verhaltensweisen innerhalb der Ordnung sinnvoll macht
und der umgekehrt erst durch diese Verhaltensweisen für die Ordnung entsteht.49
Zur Erforschung, welche Art von Managementverständnis in den zivilen und militärischen
Systemzusammenhängen vorherrscht und welche Auswirkungen dies auf den Umgang mit
Steuerung von komplexen Systemen hat, wurden MilizoffizierInnen über ihre Erfahrungen
befragt.
Die Trennung von Organisationen in entweder rein systemisch-evolutionär oder rein
konstruktivistisch-technomorph lässt sich aufgrund der Forschungsergebnisse dieser Arbeit
nicht darstellen. Eine solche Spezifikation ist im Zusammenhang mit Abläufen und Strukturen
erkennbar und für eine Analyse hilfreich, jedoch von dem zu erreichenden Ziel und dem
jeweiligen Zusammenhang abhängig. So ist es denkbar, dass dieselbe Organisation in dem
einen Zusammenhang eine konstruktivistisch-technomorphe, in einem anderen eine
systemisch-evolutionäre Prägung annimmt. Konkret auf das ÖBH bezogen heißt das, dass es
etwa Aufgaben der Militärischen Landesverteidigung mit einer stark konstruktivistisch-
technomorphen Prägung im wahrsten Sinne des Wortes „in Angriff nimmt“, während
strategische Aufgaben im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung wiederum eine
mehrheitlich systemisch-evolutionäre Herangehensweise erfordern.
2.3.4 Kybernetische Managementsysteme
Mit Bezug auf den Management-Kybernetiker Stafford Beer beschreibt Malik ein auf der
Kybernetik basierendes Managementsystem, welches als Modell des lebensfähigen Systems
bezeichnet wird. Es dient bei der Erarbeitung der forschungsrelevanten Fragen als Vorbild für
46 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 34.
47 Vgl. ebenda, S. 34f.
48 Vgl. ebenda, S. 36.
49 Vgl. ebenda, S. 37.
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die Untersuchung, inwieweit die Organisationsstrukturen des ÖBH diesem Bild entsprechend
auf die steigende Komplexität durch die Transformation21 angepasst sind. Eine Darstellung
des Systems, welche sich am zentralen Nervensystem des Menschen orientiert, folgt weiter
unten. Grundsätze dieses Modells werden im Folgenden dargelegt.
Die Beziehung zwischen Management und der Wissenschaft der Kybernetik lässt sich anhand
der Aussage von Stafford Beers festmachen: „If cybernetics is the sciene of control,
management is the profession of control – in a certain type of system.“50 Wenn man die Frage
der Kontrolle von komplexen Systemen mit dem systemisch-evolutionären
Managementansatz verbindet, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Regeln benötigt
werden, die eine notwendige Orientierung liefern, um diese Kontrolle zu erreichen. Bleiben wir
beim Bild des Organismus, also einem natürlichen System, und fragen uns, wie die Natur
dieses Problem löst, also wer oder was ihre komplexen Systeme regelt, so stellen wir fest,
dass natürliche Systeme keine Regeln und keine Organisation haben. Sie regeln und
organisieren sich selbst. Selbstregulation und Selbstorganisation sind in allen natürlichen
Systemen enthalten, während sie in von Menschen geschaffenen Systemen bewusst
berücksichtigt und verwirklicht werden müssen. Orientiert man sich also am systemisch-
evolutionären Managementansatz und berücksichtigt die kybernetischen Funktionsprinzipien,
muss demnach Management dafür sorgen, dass sich ein System, eine Institution, ein
Unternehmen selbst organisieren und regeln kann.51 Damit dies der Fall ist, müssen zwei
entscheidende Kriterien vorliegen.
Das erste Kriterium basiert auf der zentralen Erkenntnis der Kybernetik und besagt, „dass alle
lebensfähigen Systeme eine invariante Struktur aufweisen oder mit anderen Worten, dass nur
jene Systeme lebensfähig sind, die diese Struktur besitzen.“52
Der zweite wesentliche Faktor ist, dass die Struktur des Systems derart gegliedert sein muss,
dass es aus Subsystemen besteht, die für sich genommen wiederum selbst lebensfähige
Systeme für sich bilden können. Jeder Teil des lebensfähigen Systems ist demnach selbst ein
eigenständiges lebensfähiges System, das die gleiche Organisation aufweist wie das System
selbst. Jedes Subsystem ist also eine strukturelle Kopie des Gesamtsystems. Man nennt dies
das Prinzip der Rekursion.53
Diese beiden Kriterien von Systemstrukturierung sind Ausdruck des sogenannten
Invarianztheorems,
„das besagt, dass alle komplexen Organisationen zueinander isomorph sind, wenn man
sie als unter Kontrolle befindliche Systeme betrachtet und dass die Lenkungsstruktur, die
sie aufweisen, eine invariante Eigenschaft aller lebensfähigen Systeme ist.“54
Das Invarianztheorem ist keine Anleitung, wie ein lebensfähiges System strukturiert sein soll,
sondern eine Feststellung, dass alle lebensfähigen Systeme derart strukturiert sind. Es kann
also über jede Form von Organisation „gelegt“ und bei genauer Analyse können jene
Strukturen und Mechanismen festgestellt werden, die für die Lebensfähigkeit und
Funktionsfähigkeit im kybernetischen Modell von Bedeutung sind.55
50 Beer zit. nach Malik, Fredmund (2013), S. 57.
51 Vgl. ebenda, S. 57f.
52 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 73.
53 Vgl. ebenda, S. 78f.
54 Ebenda, S. 84.
55 Vgl. ebenda, S. 84f.
- 16 -
2.3.4.1 Das Viable System Modell (VSM)
Die oben dargestellten Kriterien des Invarianztheorems sind Ausfluss aus der
Betrachtungsweise, dass die Lebensfähigkeit eines Systems von seiner Struktur oder seiner
Organisation abhängt. Als Voraussetzung für seine Anpassungsfähigkeit an seine sich
verändernde Umwelt ist jedem lebensfähigen System eine Struktur immanent, die sich in
Systeme und Subsysteme gliedern, die wiederum selbst lebensfähige Systeme sind. Ausdruck
dafür ist das Rekursionsprinzip, ein Systemstrukturierungsprinzip das besagt, dass alle
lebensfähigen Systeme aus Subsystemen und Supersystemen bestehen, die auf ihrer
jeweiligen Ebene die gleiche Struktur aufweisen.56
Als Vorbild für das Modell dient der lebende Organismus, der durch Interaktion mit seiner
Umwelt lernt, sich entwickelt und in ein Fließgleichgewicht kommt. Die Steuerung oder
Lenkung des Systems in diesen Zustand des Fließgleichgewichtes wird dadurch erreicht, dass
das System die möglichen Variablen in gewünschten Verhaltensgrenzen hält. Diesen
Mechanismus der Homöostase übernimmt im lebenden Organismus das zentrale
Nervensystem, welches durch Interaktion und Entwicklung von selber dieses Potential
hervorbringt.57 In Organisationen ist dieser Zustand durch die zu schaffende
Organisationsstruktur zu erreichen.
Das ÖBH kann mit dem Modell insofern beschrieben werden, als die Unterteilung des Viable
System Model in fünf Unter-Systeme und dessen Aufgabenzuteilung der
militärstabsdienstlichen Aufgabenverteilung vergleichsweise nahekommt. Auch findet sich die
Untergliederung der Organisationsstruktur in lebensfähige Untersysteme auf
darunterliegenden Rekursionsebenen im ÖBH und seinen Organisationseinheiten darstellbar
wieder. Eine Darstellung dieser Organisationeinheiten und ihrer stabsdienstlichen
Aufgabenverteilung erfolgt weiter unten.
Das Bezugsobjekt menschliches Zentralnervensystem mit seinen lenkungsvarianten Teilen
und die davon abgeleiteten Lenkungszusammenhänge stellen sich in folgender Abbildung
dar:58
56 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 90.
57 Vgl. ebenda, S. 74.
58 Vgl. ebenda, S. 77.
- 17 -
Abbildung 1: Das Viable System Model nach Malik59
Die einzelnen System 1 bis 5 übernehmen dabei folgende Funktionen:
System 1 steuert alle Untereinheiten eines lebendigen Systems, die operative Tätigkeiten zum
Wohl und zur Funktion des Ganzen leisten. Diese Untereinheiten (1A, 1B, 1C, usw.), die auch
als Divisionen bezeichnet werden, haben bei der Durchführung der Hauptaktivitäten des
Gesamtsystems grundsätzlich freien Handlungsspielraum. Das System 1 findet seine
Entsprechung im menschlichen Körper in den Nervenbahnen des Rückenmarks und Wirbeln
der Wirbelsäule, welche für die Kontrolle bestimmter Organe oder Glieder des menschlichen
Körpers zuständig sind.60 Jedes Subsystem auf Ebene 1 ist direkt für die Erfüllung seiner
spezifischen Aufgaben in seiner jeweiligen Umwelt verantwortlich.61
System 2 ist notwendig, um die unabhängigen Einheiten von System 1 koordinierend
auszubalancieren und Synergieeffekte im Sinne des Gesamtsystems zu ermöglichen.
Darunter sind alle Formen von Instrumenten und Mechanismen zu verstehen, die zur
Koordinierung der ergebnisverantwortlichen Einheiten geeignet sein können, wie etwa
Sitzungen, Beiräte, Jour Fixe, Briefings, Planungs- und Kontrollsysteme oder alle Formen von
formellen und informellen Kommunikationsbeziehungen zwischen MitarbeiterInnen oder
Führungskräften der verschiedenen Divisionen.62
System 3 dient der Sicherstellung der Effektivität der untergeordneten Divisionen (System 1)
und ihrer Koordination (System 2). System 3 hat eine logistische Schnittstellenfunktion und
dient der Erarbeitung eines operativen Gesamtplanes, mit Nutzung der Informationen von
System 4 und 5 sowie System 1 und 2. Es teilt Ressourcen an die einzelnen Divisionen zu
und überwacht die planmäßige Verwendung derselben. Dem System 3 stehen drei große
Kommunikationswege zur Verfügung: Die zentrale vertikale Befehlsachse zu den divisionalen
59 Malik, Fredmund (2015), S. 77.
60 Vgl. ebenda, S. 78.
61 Vgl. ebenda, S. 81.
62 Vgl. ebenda, S. 79f.
- 18 -
Führungsorganen, der operative „sympathische Kanal“ zu System 2, mit Informationen zu den
Koordinationsbemühungen und zum Koordinationserfolg sowie ein informeller
„parasympathischer Kanal“, der direkt mit den realen Geschehnissen in den Divisionen
verbunden ist. System 3 ist damit operativ für die Systemstabilität verantwortlich.63
System 4 liefert generelle Informationen über die Systemumwelt der gesamten Organisation,
die sich von den Teilumweltinformationen auf Divisionsebene unterscheiden. Sämtliche für die
Gesamtunternehmung bedeutsamen Umweltinformationen gelangen ausschließlich über das
System 4 in die Unternehmung. Verglichen mit dem menschlichen Organismus ist System 4
analog den Hauptsinnesorganen, dem Seh- und dem Hörsinn, zu betrachten. Die
Weiterleitung von aufgearbeiteten Informationen erfolgt sowohl an das übergeordnete System
5 wie auch an System 3. Durch das Zusammenwirken von System 3 und System 4, unter dem
Einfluss von System 5, entsteht eine Balance zwischen inneren und äußeren Anforderungen
an das Gesamtsystem. System 4 erfüllt dabei jedoch mehr als eine beratende Funktion und
nimmt strategische, steuernde Aufgaben wahr. Deshalb ist System 4 auf der zentralen
vertikalen Befehlsachse abgebildet.64
Das System 5 ist die oberste normative Entscheidungsinstanz des Gesamtsystems. Es legt
die Regeln und Grundsätze fest, an die alle anderen Systeme gebunden sind. Hier werden
Visionen für die Zukunft begründet und in engster Abstimmung mit System 3 und System 4
wird die Unternehmenspolitik gemacht. Von System 5 werden die für den Fortbestand des
Gesamtsystems relevanten Entscheidungen getroffen.65
Eine prägnante Charakterisierung der Systeme in einem Satz hat Malik folgendermaßen
vorgenommen:
• System 1: Was geschieht jetzt und hier?
• System 2: Fällt aus diesem Schema heraus, da es die Koordination der Systeme 1 ist.
• System 3: Was wird – demnächst im Rahmen der kurzfristig nicht änderbaren
Gegebenheiten – passieren?
• System 4: Was könnte – bei Einbezug gewisser vage erkennbarer
Entwicklungstendenzen und bei Beseitigung von internen Engpässen – geschehen?
• System 5: Was sollte – unter Einbezug aller Überlegungen – geschehen?66
2.3.5 Komplexität und HRO-Prinzipien
„Einfache Erwartungen produzieren einfache Wahrnehmungen, die das meiste, was vor sich
geht, nicht erfassen.“67 Das wiederum schränkt auch die eigene Handlungsweise ein, weil nicht
nur Blick auf die mögliche Vielfalt unerwarteter Ereignisse eingeschränkt werden, sondern
auch der Blick auf die mögliche Vielfalt der eigenen Handlungsmöglichkeiten gegenüber
diesen Ereignissen.68
Mit diesem Grundgedanken widmen sich Weick und Sutcliffe einem Managementansatz, den
sie anhand von Organisationen entwickelt haben, welche sich in sensiblen
Sicherheitsbereichen bewegen und die sich daher mit speziellen Paradigmen auf unerwartete
Ereignisse einstellen, um ihren Handlungs- und Reaktionsspielraum so breit als möglich zu
63 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 81f.
64 Vgl. ebenda, S. 82f.
65 Vgl. ebenda, S. 82f.
66 Vgl. ebenda, S. 83.
67 Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.
68 Vgl. ebenda, S. 61.
- 19 -
halten. Diese sogenannten High Reliability Organizations (HRO) widmen möglichen
Störquellen eine besondere Achtsamkeit, da in ihren Tätigkeitsbereichen unerwartete
Unterbrechungen zu schwerwiegenden Folgen führen können. Weick und Sutcliffe verwenden
dafür den Begriff „achtsames Organisieren“, welcher in seiner Bedeutung mit High Reliabiltiy
Organizing gleichgesetzt wird. Gemeint ist damit eine Infrastruktur achtsamen Organisierens,
die Sensemaking, kontinuierliches Organisieren und adaptives Managen fördert.69
Die fünf HRO-Prinzipien, die dies ermöglichen sollen, sind:
1) Konzentration auf Fehler
2) Abneigung gegen Vereinfachung
3) Sensibilität für betriebliche Abläufe
4) Streben nach Resilienz
5) Respekt vor Expertise
2.3.5.1 Konzentration auf Fehler
Fehler sind unerwartete Ereignisse in alltäglichen Prozessen, die negative Auswirkungen auf
Individuen oder Organisationen haben und meistens auf menschliches Versagen
zurückführbar sind.
Der Umgang mit Fehlern ist entscheidend für das Funktionieren einer Organisation. In HRO
nimmt die Konzentration auf Fehler einen hohen Stellenwert ein, da Anomalien in Abläufen
hier besondere Risiken in sich tragen, im schlimmsten Fall den Verlust von Menschenleben.
Deshalb wird besonderer Wert auf die laufende Beobachtung von Prozessen gelegt,
Abweichungen von der gemeinen Ordnung, Form oder Regel wird größte Aufmerksamkeit
geschenkt: Handlungen werden erst zu Fehlhandlungen, wenn sie bereits fehlgeschlagen
sind. Anomalien können, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, den Moment eines
Falschwerdens bezeichnen und helfen, einen Fehler im Ansatz zu vermeiden. Ein Gefühl des
Zweifelns ist somit für das Managen des Unerwarteten von großer Wichtigkeit.70 Ebenso die
Akzeptanz, dass das zukünftige Auftreten von Fehlern nicht nur möglich, sondern gewiss ist.
Eine grundlegende Anforderung an Organisationen liegt daher darin, die Fähigkeit des
Zweifelns zu entwickeln und konstruktiven Widerspruchsgeist zu kultivieren. Eine solcherart
mobilisierte Varietät erhöht die Fähigkeit zur Anpassungsfähigkeit an Unvorhergesehenes und
an Veränderung.71 Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns wird dadurch reduziert.
2.3.5.2 Abneigung gegen Vereinfachung
Vereinfachung trägt die Gefahr pauschalen Etikettierens in sich. Korrelationen und
Kausalitäten können verwechselt werden und für Konfusion sorgen. Vereinfachungen können
dann unerwünschte, unvorhergesehene und unerklärliche Details verschleiern und das
Erkennen und Lösen eines auftretenden Problems verzögern oder sogar ganz verhindern.
„Achtsamkeit entschleunigt mit ihrem Fokus auf Kontext und Details das Tempo, mit dem
wir etwas als „das Gleiche“ bezeichnen. Und wenn wir mehr Unterschiede wahrnehmen,
können wir uns ein reichhaltigeres und vielfältigeres Bild von möglichen Folgen machen,
69 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 19.
70 Vgl. ebenda, S. 44f.
71 Vgl. ebenda, S. 47.
- 20 -
was wiederum ein breiteres und vielfältigeres Set an Vorsichtsmaßnahmen und frühen
Warnsignalen nahelegt.“72
Es sollte daher so spät als irgend möglich vereinfacht werden, denn die erste
Vereinfachung ist der letzte unvoreingenommene Input. Darin liegt gerade die
Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit komplexen Situationen, dass einerseits
eine Vereinfachung und damit die Reduktion von Komplexität jeder Entscheidung und
jeder Handlung immanent und diese Reduktion auch notwendig ist, gleichzeitig aber
damit die Gefahr einhergeht, der Komplexität und damit der Dynamik von Situationen
nicht die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.73
Eine diverse Zusammensetzung eines Teams, aus MitarbeiterInnen mit verschiedenen
fachlichen Hintergründen und mannigfaltigen Erfahrungen, bedeutet ein verlässlicheres
Sensorium und eine Versicherung gegen Fehleinschätzungen in chaotischen
Situationen.74
2.3.5.3 Sensibilität für betriebliche Abläufe
Sensibilität für betriebliche Abläufe ist die Achtsamkeit auf das, was tatsächlich getan wird,
unabhängig davon, was in Intentionen, Aufgabenbeschreibungen, Plänen und Designs
festgelegt ist. Sensibilität für betriebliche Abläufe ankert in der Gegenwart, weil nur die
gegenwärtige Situation auch gegenwärtige Ereignisse beeinflussen kann. Die schlimmsten
Feinde der vollen Aufmerksamkeit sind Ignoranz, Beiläufigkeit und Ablenkung.75 Negative
Geisteszustände wie Verdrängung und Übermüdung können ebenso dazu gezählt werden.
„Ganz bei dem zu sein, was man tut, bedeute mehr als „Sei mit all deinen Gedanken bei
dem, was du tust.“ Es bedeutet, dass das Bewusstsein die Form eines Denkens beim
Handeln, eines Denkens indem man handelt und eines Denkens durch Handeln annimmt.
Bewusstsein bezieht sich auf eine Art zu handeln.“76
In Teamsituationen kann die erforderliche Aufmerksamkeit als eine Art „kollektives
Bewusstsein“ beschrieben werden, das dafür sorgt, dass auf auftretende
Veränderungen in Echtzeit reagiert werden kann.
2.3.5.4 Streben nach Resilienz
Um in schwierigen Situationen Output aufrecht zu erhalten, ist ein gewisses Maß an
Elastizität notwendig, das die Struktur anpassungsfähig hält. Wesentlich ist hier das „in
Bewegung bleiben“, die Anpassung und die Fähigkeit, bereits vorhandene Muster mit
minimalen gegebenen Mitteln weiter zu improvisieren. „In Momenten der Resilienz
variieren die Bedingungen, die Folgen bleiben jedoch die gleichen.“77 Das Fortführen,
der Fortbestand der Systemfunktionen ist deshalb zentral, weil sich in ihnen der Sinn
des Systems manifestiert. Wird ein System angegriffen, erweitert sich sein Zweck darauf,
zu versuchen, seine Funktionen in vollem Umfang aufrecht zu erhalten. Das Streben
nach Resilienz ermuntert „zu einem Handeln beim Denken bzw. zu einem Handeln, um
klarer denken zu können.“78 Lernerfahrungen erfolgen in Echtzeit und beinhalten ein
unvoreingenommenes, kontrollierendes in Kontakt bleiben mit der Situation und mit
72 Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 59.
73 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 79.
74 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 65ff.
75 Vgl. ebenda, S. 72f.
76 Ebenda, S. 75.
77 Ebenda, S. 90.
78 Ebenda, S. 100.
- 21 -
kontinuierlichen Feedbackprozessen. Resilienz erfordert demnach ein frühzeitiges
Erkennen von und Reagieren auf Fehler, welches als improvisierte Zwischenlösung das
System aufrechterhält und darauffolgende Veränderung absorbiert, damit das System
insgesamt fortbestehen kann.79
2.3.5.5 Respekt vor Expertise
Zuverlässige Systeme sollten so organisiert sein, dass Probleme eine Struktur oder ein
Netzwerk von selbst anziehen, welche die für ihre Lösung nötigen Schritte vorschlagen.
Diese Praktik kann nicht nur als „Respekt vor Expertise“, sondern auch als „Migration
von Entscheidungen“ beschrieben werden. Im Fokus steht demnach die
Entscheidungsfindung. Entscheidungen werden also auf jene Ebene verlagert, wo die
meiste Expertise zur Problemlösung vorhanden ist. Dies erfordert eine Durchlässigkeit
von Hierarchien in beide Richtungen. Expertise kann als Koproduktion gesehen werden;
sie entsteht dort, wo Menschen Informationen, Meinungen und anderen Input zu
Unterhaltungen beitragen, in denen Beiträge angenommen, verändert und auch
zurückgewiesen werden können. Verantwortungsvoller Umgang mit Expertise zeigt sich
auch an ihren Grenzen: ExpertInnen wissen, was sie nicht wissen. Der Respekt vor
Expertise soll einen breiteren Handlungsspielraum ermöglichen und als Instrument
dienen, diesen klarer abzustecken.80
2.4 Das Österreichische Bundesheer
2.4.1 Gliederung und Aufgaben
Das ÖBH hat seine rechtliche Grundlage in der Österreichischen Bundesverfassung in Artikel
9a und in Artikel 79 des Österreichischen-Bundesverfassungsgesetztes (B-VG). Eine
Konkretisierung seiner Aufgaben normiert das Wehrgesetz, hier insbesondere § 2 Abs. 1
Wehrgesetz 2001 (WG 2001). Für Aufgaben, die das ÖBH im Ausland übernimmt, dient ein
eigenes Bundesverfassungsgesetz als Grundlage und Konkretisierung, das
Bundesverfassungsgesetz über die Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von
Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSE-BVG).
Im Wehrgesetz ist festgehalten:
§ 2. (1) Dem Bundesheer obliegen
a) die militärische Landesverteidigung,
b) auch über den Bereich der militärischen Landesverteidigung hinaus der Schutz der
verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit und der demokratischen
Freiheiten der Einwohner sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im
Inneren überhaupt,
c) die Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen
Umfanges und
d) die Hilfeleistung im Ausland bei Maßnahmen der Friedenssicherung, der humanitären Hilfe
und der Katastrophenhilfe sowie der Such- und Rettungsdienste (Auslandseinsatz).
Die Aufgaben nach den lit. b und c (Assistenzeinsätze) sind, sofern hiefür nicht ein
selbstständiges militärisches Einschreiten zulässig ist, nur insoweit wahrzunehmen, als die
gesetzmäßige zivile Gewalt die Mitwirkung des Bundesheeres in Anspruch nimmt. Die
79 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 89ff.
80 Vgl. ebenda, S. 104ff.
- 22 -
Aufgabe nach lit. d ist nur insoweit wahrzunehmen, als die jeweils zuständigen Organe die
Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres in das Ausland beschließen.81
Die bereits im zweiten Satz das Artikel 79 B-VG festgeschriebene Organisationsform als
Milizsystem unterstreicht die Bedeutung der Miliz für das ÖBH.
In wie weit das internationale Engagement im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU mit der österreichischen Neutralität vereinbar ist, ist in der Lehre
umstritten. So sehen viele Völkerrechtler die Neutralität bereits als derogiert.82
Seinen verteidigungspolitischen Auftrag bezieht das ÖBH aus der Teilstrategie
Verteidigungspolitik, aktuell aus dem Jahr 2014. Daraus leiten sich folgende Zielsetzungen für
das ÖBH ab:
Gewährleistung der staatlichen Souveränität und Integrität
Beitragsleistung zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen
Leistung eines militärischen Solidarbeitrages zum sicherheitspolitischen
Handeln der EU
Förderung von Frieden, Humanität und internationaler Sicherheit
Beitragsleistung zum gesamtstaatlichen Sicherheitsmanagement im Rahmen
der Umfassenden Sicherheitsvorsorge83
Die für diese Aufgaben notwendige Gliederung und die notwendigen Mittel werden durch das
Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) an- bzw. zugeordnet.
Das ÖBH hat derzeit einen Personalstand von 47.000 Personen, inklusive 8.000
Zivilbedienstete und exklusive 16.000 Grundwehrdiener pro Jahr. Zusätzlich gehören dem
ÖBH 25.000 MilizsoldatInnen an. Das Verteidigungsbudget beträgt 2,61 Milliarden Euro.84
81 Rechtsinformationssystem des Bundes (2021), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
82 Vgl. Cibulka, Erich (2021), S. 5.
83 Vgl. Frank, Johann (2021), S. 3f.
84 Vgl. BMLV (2020b), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 23 -
Abbildung 2: Gliederung des Österreichischen Bundesheeres85
Das Bundesministerium für Landesverteidigung selbst wird zurzeit umstrukturiert. Die derzeit
noch insgesamt fünf Sektionen werden zu drei Generaldirektionen – Präsidialdirektion,
Generaldirektion Verteidigungspolitik (beide von Zivilisten geführt), Generaldirektion
Landesverteidigung (von einem Soldaten / Generalstabschef geführt) – umgewandelt mit dem
Ziel einer beweglicheren und moderneren Führungsorganisation. Dem Chef des
Generalstabes kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, der zugleich Teil des
Verteidigungsministeriums und des ÖBH ist. Er wird die Kernkompetenz der militärischen
Landesverteidigung im Ministerium repräsentieren und die Generaldirektion
Landesverteidigung führen, welche dadurch Teil des BMLV und des ÖBH gleichzeitig ist.
Innerhalb des ÖBH obliegt ihm die Führung der Direktionen Einsatz, Luftstreitkräfte,
Ausbildung, Logistik, Beschaffung, IKT & Cyber, Infrastruktur, Militärisches Gesundheitswesen
und Fähigkeiten- und Grundsatzplanung.86
Die neue Struktur des Verteidigungsministeriums wurde von der Bundesministerin für
Landesverteidigung Klaudia Tanner im Juni 2021 vorgestellt, die Geschäftseinteilung wurde
bereits mit 01. Juli 2021 eingenommen. Final soll die Strukturreform mit Umsetzung der
Personalpläne bis April 2022 vollzogen sein.
85 Eigene Darstellung, Vgl. BMLV (2020c), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
86 Vgl. BMLV (2021d), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 24 -
Abbildung 3: Gliederung BMLV87
Zur Erfüllung der Aufgaben in den unterschiedlichen Operationsgebieten ist das ÖBH in
Teilstreitkräfte und Waffengattungen unterteilt. Eine Darstellung derselben erfolgt im
Anhang.88
2.4.2 Strukturmerkmale des ÖBH
Die folgenden Darstellungen orientieren sich an der Infanterie, oder „Jägertruppe“, also jener
Waffengattung, welche sowohl von der Organisationsstruktur als auch von der Bewaffnung
und vom Einsatzrahmen als die Basis militärischen Handelns betrachtet werden kann. Eine
„Waffengattung ist die Bezeichnung einer Truppe nach der Eigenart ihrer Verwendung sowie
ihres Hauptgerätes.“89 Auf dieser Grundstruktur bauen andere Waffengattungen, wie etwa die
Panzertruppe, auf und ergänzen diese um Waffentypen, Fahrzeuge oder andere Ausrüstung
und Technologie. Gleich bleibt jedoch die für diese Betrachtung wesentlichen
Organisationsmerkmale.
Die historisch gewachsenen Organisationsstrukturen des ÖBH bilden die für ein oben
dargestelltes lebensfähiges System (VSM) charakteristischen Rekursionsebenen deutlich ab.
In den jeweils selbst lebensfähigen Sub-Systemen finden sich die für das Militär typischen und
für seine Einsatzführung notwendigen Aufgabenbereiche wieder. Als unterste Ebene gilt die
87 Eigene Darstellung, Vgl. BMLV (2021), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
88 Vgl. BMLV (2017a), S. 30.
89 Ebenda, S. 22.
- 25 -
Kompanie, die auch als „Einheit“ bezeichnet wird. Mehrere Kompanien sind in der
Kommandoeinheit Bataillon, dem sogenannten „kleinen Verband“ gebündelt, welches mit
Äquivalenten zusammengefasst in der Brigade, dem „Verband“, ihre nächst höhere
Kommandostruktur findet. Die darüber liegenden Kommandoebenen der Division und der
nächst größeren Armee finden sich im ÖBH aufgrund der Reduktion der Truppenstärke nicht
mehr abgebildet.
In den jeweiligen Kommandostrukturen sind jeweils Funktionen abgebildet, die aus der
stabsdienstlichen Ordnung abgeleitet werden. Das Aufgabenspektrum der jeweiligen
Stabsfunktionen (S1 bis S6) umfasst folgende Bereiche:
S1 – Personalführung
S2 – Intelligence und Militärische Sicherheit
S3 – Einsatzführung, Einsatzplanung und Ausbildung
S4 – Logistik, Budget und Finanzen
S5 – Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation
S6 – Führungsunterstützung90
Von der Kompanie bis zur Brigade (und in Armeen mit entsprechend großer Truppenstärke
darüber hinaus) finden sich jeweils Funktionen mit dieser Entsprechung. Dadurch ist
gewähreistet, dass das jeweilige Subsystem in sich lebensfähig ist und analog in der
entsprechend höheren Rekursionsebene sein Pendant findet.
Die Funktionen der Systeme 1 bis 5 des VSM können ebenfalls über diese militärische
Stabsgliederung gelegt und in ihr abgebildet werden. So ist das System 5 des VSM als das
Kommando-führende Element (KommandantIn plus S3) zu sehen, System 4 ist im jeweiligen
Aufklärungs- und Öffentlichkeitselement (S2 und S5) dargestellt, System 3 finden wir im
Inneren Dienst und in der Einsatzplanung (S1 und S3), System 2 findet sich im formellen sowie
informellen Dienst, Kommunikationsmittel, Koordinierungsplattformen, Stabsbesprechungen,
Befehlsausgaben etc. wieder, und System 1 bilden die jeweiligen Versorgungsfunktionen (S4
und S6) sowie die Teileinheiten, welche den Kampf führen, auf der jeweiligen
Rekursionsebene (Zug, Kampfkompanie, Kampfbataillon, etc.).
Die Organisationsstruktur und die stabsdienstliche Funktionsaufteilung des Militärs
entsprechen demnach sehr genau jenem kybernetischen Modell von lebensfähigen Systemen.
Infolgedessen sind die organisatorischen und funktionellen Voraussetzungen des ÖBH für die
erfolgreiche Bewältigung von Komplexität in der Theorie erfolgreich darstellbar.
2.4.3 Das Milizsystem
Wie oben dargestellt ist gemäß Artikel 79 der Bundesverfassung das ÖBH nach den
Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.
Die Bezeichnung „Miliz“ geht auf das Lateinische Wort „militia“ für „Kriegswesen oder
Kriegsdienst“ bzw. „Gesamtheit der Soldaten“ zurück. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wird
der Begriff im deutschen Sprachraum gebräuchlich, wobei er bis zum 18. Jahrhundert das
Kriegs- bzw. Militärwesen im Allgemeinen bezeichnet.91
In der Neuzeit war es der Republikanismus, der vor den Gefahren eines Söldnerarmee und
ihrer möglichen Instrumentalisierung gegen die eigene Bevölkerung warnte. Montesquieu,
90 Vgl. BMLV (2017b), S. 30ff.
91 Vgl. BMLV (2021a), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 26 -
Jean-Jacques Rousseau, David Hume, Immanuel Kant oder Thomas Jefferson traten gegen
ein stehendes Heer auf und setzten sich für eine bewaffnete Volksarmee (Miliz) ein.92
Im 20. Jahrhundert erfuhr der Begriff „Miliz“ einen Bedeutungswandel. Seither werden damit
vor allem drei Phänomene bezeichnet:
1) Teile von regulären Streitkräften, die in Friedenszeiten für den Kriegsfall ausgebildet
werden und die nach einer in der Regel kurzen Dienstzeit (mehrere Monate) zu
periodischen Übungen eingezogen werden (Schweiz, Österreich, Skandinavien).
2) Paramilitärische Einheiten oder Freischärler, die sich aufgrund gemeinsamer
Interessenlagen ethnischer, religiöser, politischer oder sonstiger Natur
zusammenschließen (Südamerika, Afrika).
3) Paramilitärische Polizeieinheiten in Diktaturen (ehem. Ostblock)93.
Die Miliz im Sinne des Art. 79 B-VG entspricht dem Verständnis im Sinne von Punkt 1).
MilizsoldatInnen sind in das ÖBH eingegliedert, werden allerdings nur periodisch zu Übungs-
und Einsatzzwecken zum militärischen Dienst herangezogen. In der übrigen Zeit gehen sie
einer zivilen Tätigkeit nach. Teile ihrer Ausrüstung (mit Ausnahme der Bewaffnung) werden
Ihnen zur Verwahrung überantwortet und es ist ihnen in bestimmten Fällen gestattet, auch
außerhalb des militärischen Dienstes Uniform zu tragen.94 Im Falle einer Einberufung oder
Mobilmachung werden sie in den Präsenzstand gesetzt, wodurch sie rechtlich zu SoldatInnen
werden.
Präsenzdienst bezeichnet den rechtlichen Zustand, dem Personen nach dem Wehrgesetz
angehören, die a) Grundwehrdienst leisten, b) Frauen, die einen freiwilligen Ausbildungsdienst
leisten und c) Männer und Frauen, die dem ÖBH aufgrund eines militärischen
Dienstverhältnisses angehören. Nicht zum Präsenzstand zählen Zivilbedienstete des ÖBH und
des BMLV und Personen, die dem Miliz- oder Reservestand angehören. Nur Personen, die
Präsenzdienst leisten werden als „SoldatInnen“ bezeichnet.95
Der Begriff „Miliz“ wurde offiziell mit der Wehrgesetznovelle 1977 eingeführt und erfuhr danach
nie eine genaue Definition oder Interpretation. So war lange Zeit eine Unterscheidung
zwischen Miliz und Reserve nur dadurch zu treffen, dass Angehörige des Reservestandes zu
keinen periodischen Übungen mehr eingezogen werden, nachdem sie in den Reservestand
„versetzt“ wurden. Im 1975 beschlossenen und 1986 veröffentlichten Landesverteidigungsplan
(Raumverteidigung „Spannocchi-Doktrin“ – siehe oben) wurde das ÖBH neu gegliedert und im
Zuge dessen die Miliz als sogenannte Landwehr aufgebaut. In den Folgejahren wird die Miliz
weiter ausgebaut, der ursprünglich vorgesehene Mobilmachungsrahmen von 300.000 Mann
wird allerdings aufgrund mangelnder Rekrutierung nie erreicht.96
1988 wurde schließlich das Milizprinzip verfassungsrechtlich normiert und das bis dahin
gewachsene Milizsystem durch den rechtlichen Status des Milizstandes neben dem Präsenz-
und Reservestand offiziell in den Rechtsbestand eingeführt.97 Seither zählt die Miliz zu den
Einsatzkräften des ÖBH.
92 Vgl. Kley, Andreas (2009), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
93 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
94 Vgl. BMLV (2021a), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
95 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
96 Vgl. Schmidl, Erwin A. (2005), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
97 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
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Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 wird die Mobilmachungsstärke des ÖBH sukzessive
verringert und auch das Milizsystem den neuen Gegebenheiten angepasst.
Seit 2013 wird das Milizsystem neu ausgerichtet. Im Fokus stehen neben der Ausrichtung auf
Ressourcenbedarf und Einsatzwahrscheinlichkeit:
• Eine stärkere Bindung an die militärische Heimat
• Identitätsstiftung durch Regionalbezug
• Klare Aufgabenzuordnung bei Einsatz und Einsatzvorbereitung
• Verstärkte Verschränkung mit der Präsenzorganisation zur Steigerung der
gegenseitigen Integration, Identifikation und Akzeptanz als Mehrwert, sowohl für die
Milizteile als auch für die Präsenzorganisation98
Der zukünftige Schwerpunkt für den Einsatz der Miliz liegt dabei im Schutz kritischer
Infrastruktur, sowie in der Personalsicherstellung für Auslandseinsätze und Assistenzeinsätze
im Inland, die das BMLV für andere Ministerien übernimmt. Der jüngste derartige Einsatz war
im Zuge der Bekämpfung der SARS COVID-19 Pandemie (Corona-Pandemie), wo
MilizsoldatInnen auf allen Ebenen der Einsatzführung eingesetzt waren.
Das ÖBH ist trotz seiner Milizkomponente keine Milizarmee, weil dieses Organisationsprinzip
nur teilweise zum Tragen kommt und nicht im gesamten ÖBH seinen Niederschlag findet. So
ist etwa bei den territorialen (an ein Territorium gebundene) Einheiten, also den neun
Militärkommanden der neun Bundesländer, die Komponente stärker ausgeprägt, während bei
den Einheiten der Einsatzorganisation der Brigaden (in der Regel Kampfeinheiten und
Kampfunterstützungseinheiten) ein geringerer Anteil der Truppe aus der Miliz rekrutiert wird
und den hauptberuflich tätigen Kader zusätzlich auffüllen und unterstützen.99 Je nach
Einbindungsgrad der Milizeinheit in einen bestehenden Truppenkörper spricht man von
selbstständig strukturierter Miliz, das sind zu hundert Prozent aus MilizsoldatInnen bestehende
Einheiten (z.B. Jägerbataillone bei den Militärkommanden) oder eingegliederten Milizteilen,
die einem aktiven Truppenkörper zugeordnet sind (z.B. Personalreserven für
Kommandantenfunktionen). Umgangssprachlich bezeichnen sich SoldatInnen gegenseitig als
„aktiv“ für BerufssoldatInnen oder „Miliz“ für MilizsoldatInnen.
Milizangehörige können in beiden Formen theoretisch in jeder Funktion innerhalb der
Hierarchie ausgebildet und eingesetzt werden und entsprechende Dienstränge erreichen.
Der sogenannte „Milizbeauftragte“ ist eine im Wehrgesetz (§32a) abgebildete
Beratungsfunktion für die BundesministerIn, welche die Interessen der Miliz vertritt. Dabei
muss es sich nicht um eine MilizsoldatIn handeln. Tatsächlich ist Mag. Erwin Hameseder, der
im Generalsrang steht und den Dienstgrad „Generalmajor“ führt, der erste Milizoffizier in dieser
Funktion.
98 Vgl. BMLV (2021b), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
99 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 28 -
2.5 Komplexität und das Österreichische Bundesheer
2.5.1 Komplexe Bedrohungsszenarien
Wie oben dargestellt trat mit dem Ende des Kalten Krieges ein wesentlicher Wandel der
Bedrohungsbilder ein, von einer bipolaren überschaubaren Welt zu einer sogenannten VUCA
(volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) Welt, die volatil, unsicher, komplex und
ambivalent ist.100
Die Risikoanalyse, welche das BLMV für Österreich erstellt, wird am Institut für
Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der LVAk erarbeitet und in der
„Sicherheitspolitischen Jahresvorschau“ veröffentlicht. Mit nationalen und internationalen,
zivilen wie militärischen Experten wird in einem dafür entwickelten Risikoanalyseprozess,
unterstützt durch ein eigens entwickeltes Computerprogramm, die immer komplexer
werdenden Sicherheitsherausforderungen in fassbare Risikobewertungen für die Bevölkerung
und politische Entscheidungsträger übersetzt.
Abbildung 4: Risikobild Österreich 2021101
100 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 83.
101 Frank, Johann (2021), S. 11.
- 29 -
Zum einfacheren Verständnis der Grafik sollen folgende Erläuterungen dienen:
Abbildung 5: Erläuterungen zum Risikobild102
Daraus ergeben sich für Österreich und dem ÖBH folgende drei Risikogruppen:103
1) Hybride Bedrohungen
Cyberattacken, Desinformation, Subversion, Erpressung und Instrumentalisierung
gewaltbereiter Gesellschaftsgruppen zur Durchsetzung politischer Interessen laufen
unterhalb der Schwelle eines offenen Angriffs und verschleiert ab.
2) Resilienz-gefährdende Ereignisse
Blackout, Großschadensereignisse, Naturkatastrophen und das Auftreten von Pandemien
haben das Potenzial, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zu zerstören und können
unmittelbar die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden.
3) Internationale Krisen und Konflikte
Die Auswirkungen auf Österreich bestehen hier insbesondere in Massenmigration und
Terrorismus. Die Gefahr neuer Konflikte steigt, was internationale Einsätze des ÖBH für
Beratungs- und Ausbildungsaufgaben notwendig macht.
Die steigende Komplexität dieser Bedrohungsszenarien liegt im Wesentlichen in einer
exponentiell steigenden Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien,
102 Frank, Johann (2021), S. 11.
103 Vgl. ebenda, S. 10.
- 30 -
welche seit den 1950er Jahren eine breite gesellschaftliche Durchdringung erfahren haben
und die dadurch eine immer schnellere Entwicklung zur Netzwerkgesellschaft bewirken.104
Mit der Schaffung von technischen Vernetzungen gehen hoch komplexe wechselseitig
abhängige Systeme einher, die bei einem Krisenfall zu nicht vorhersehbaren Wirkungen mit
schwerwiegenden Folgen für das Gesamtsystem führen können. Der sogenannte „Schwarze
Schwan“ also ein Schockereignis, das erstmalig und entgegen früherer Erfahrungen und
Erwartungen auftritt, wird dadurch – im Wortsinn – wesentlich wahrscheinlicher. Infrastruktur,
Versorgungssicherheit von Energie und Lebensmittel oder Telekommunikation sind nur
einzelne Sektoren, die beispielhaft angeführt werden, um auf die fortgeschrittene Abhängigkeit
unseres gesellschaftlichen Systems hinzuweisen. Dominoeffekte über sektorale Grenzen
hinaus mit nicht-linearen, also mit keinen einfachen Ursache-Wirkungsketten, sondern
exponentiellen Auswirkungen sind zu erwarten. Erschwerend hinzu kommt eine systematische
Unterschätzung dieser systemischen Risiken durch Verantwortungsträger.105
2.5.2 Militärische Führung und Management
2.5.2.1 Definition
Das Militär steht als Inbegriff für Hierarchie, Drill, Befehl und Gehorsam. In der öffentlichen
Wahrnehmung wird nur selten der methodische Aufwand beleuchtet, der etwa vom ÖBH
betrieben wird, um seine Führungskräfte, die KommandantInnen aus- und weiterzubilden. Eine
zentrale Rolle spielt dabei die LVAk, die beim BMLV angesiedelt und in der Stiftskaserne in
Wien disloziert ist. Als intellektuelles Zentrum des Verteidigungsressorts106 ist sie die
wissenschaftliche Heimat der sicherheitspolitischen Forschung und der Ausbildung für
OffizierInnen des höheren Dienstes, wie beispielsweise des Generalstabs. Ebenfalls an der
LVAk angesiedelt ist das Zentrum für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik (ZMFW).
Dieses ist verantwortlich für eine „zeitgemäße, wertschätzende, wirklichkeitsgetreue und
geschlechter-/diversitätsgerechte Führung und Ausbildung im ÖBH“.107
„Die (angewandten) Forschungsbereiche des Zentrums umfassen insbesondere
Führungsverhalten, Kulturgüterschutz, empirische Sozialforschung,
Führungskräfteentwicklung, (Führungs-/ Militär-) Ethik, (Führungs-) Pädagogik, (Führungs-
) Psychologie, (Führungs-) Soziologie, Staats- und wehrpolitische Bildung und
Geschichte.“108
Diese Darstellung unterstreicht den Stellenwert, welchem der Bereich „Führung“ im BMLV
beigemessen wird, um das ÖBH und seine Führungskräfte auf die modernen (Führungs-)
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.
Für alle Angehörige des ÖBH definiert die Dienstvorschrift „Führungsbegriffe“ den Begriff
„Führung“ wie folgt:
„Führung ist ein allgemeines, richtungsweisendes, steuerndes und motivierendes
Einwirken auf Personen oder Organisationselemente, um eine Zielvorstellung zu
verwirklichen und die Organisation zu optimieren. Führung setzt Kräfte, Mittel und
Information zielgerichtet nach Zeit und Raum ein.“109
104 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 83.
105 Vgl. ebenda, S. 94f.
106 Vgl. BMLV (2021c), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
107 BMLV (2020a), S. o.s. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
108 Ebenda, S. o.S.
109 BMLV (2005), S. 27.
- 31 -
Pichlkastner führt dazu aus, dass es sich demnach um das Herbeiführen einer Leistung
innerhalb eines hierarchischen Systems von Vorgesetzten und Unterstellten handelt, dem ein
Machtverhältnis zugrunde liegt, zur Erreichung eines Zieles, welches auf die Erfüllung einer
Aufgabe ausgerichtet ist. Es handelt sich also um ein soziales Phänomen, „welches in
Interaktion als Anwendung von Macht zur Erreichung von exogenen Zielen sichtbar wird“. 110
Das explizite Fehlen eines Zwecks im Sinne eines „gemeinsamen Zieles“ oder die „Erfüllung
einer gemeinsamen Aufgabe“ von Führenden und Geführten lässt den Schluss zu, dass
militärische Führung im Sinne der Definition des ÖBH gegebenenfalls auch gegen persönliche
Ziele und gegen den persönlichen Willen von Geführten erfolgt, um eine Auftragserfüllung zu
garantieren.111
2.5.2.2 Auftragstaktik
Gekennzeichnet ist die militärische Führung im ÖBH durch die sogenannte „Auftragstaktik“.
Dabei handelt es sich weniger um eine Technik als um ein grundsätzliches Verständnis von
Führung und ein diesem Verständnis zugrundeliegendes Menschenbild. Kurz gesagt geht es
darum, dass nicht mit Befehl, sondern mit Auftrag geführt wird. Der wesentliche Unterschied
liegt im Freiraum, welcher den Geführten durch die Führenden eingeräumt wird. Ein Befehl
beinhaltet (im Idealfall) detailliert, wer, was, wann, wo und auf welche Weise zu tun oder zu
unterlassen hat („5W-Regel“), während ein Auftrag ein zu erreichendes Ziel oder eine zu
erbringende Aufgabe vorgibt und weitest gehenden Freiraum für die Umsetzung lässt. Diese
Delegation und die dafür notwendigen Freiräume setzen eine Vertrauensbasis voraus und die
Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Zudem wird dadurch den Anforderungen der
Komplexitätsbewältigung in modernen Szenarien Ausdruck verliehen.112
Damit ist jedoch nicht gesagt, dass dieses Führungsmodell aufgrund der Transformation der
Gesellschaft hin zu einer Netzwerkgesellschaft neu entwickelt wurde. Vielmehr war das
sogenannte „Theresianische Führungsmodell“, welches auf die Zeit der Gründung der
Theresianischen Militärakademie durch die österreichische Herrscherin Maria Theresia
zurückgeht, schon seit Anbeginn auf die Eigenverantwortung der Führungskräfte hin
ausgerichtet. Keine wissenschaftliche Abhandlung über Führung im ÖBH kommt ohne das
Zitat Maria Theresias aus, mit welchem sie ihren Feldmarschall Graf Daun beauftragte und
der die Geburtsstunde der Theresianischen Militärakademie im Jahre 1752 symbolisiert:
„Mach er mir tüchtige Officirs [sic!] und rechtschaffene Männer darauß [sic!]“.113 Und auch die
höchste militärische Auszeichnung, der Militär-Maria-Theresien-Ritter-Orden setzt als
Verleihungskriterium eigenverantwortliches Handeln voraus. Es sollen also im
Theresianischen Führungsmodell seit beinahe 300 Jahren Eigenverantwortung, Initiative und
Selbstständigkeit gefördert werden. Dieser Gedanke spiegelt sich im heutigen ÖBH noch
immer in der Auftragstaktik wider.114
2.5.2.3 Menschenbilder
Eigenverantwortliches Handeln anstatt dumpfem Gehorsam ist eine Tendenz, die sich auf
neue Prioritäten stützt, welche sich in der Wirtschaft und ihrem Management manifestiert
haben. Von den Mitarbeitern werden neben ihren fachlichen vermehrt soziale Kompetenzen
erwartet. Dementsprechend hat sich auch das Menschenbild gewandelt. War es davor noch
ausreichend zur fachlichen Qualifikation, Wertetreue und Loyalität zum Unternehmen
110 Pichlkastner, Karl (2001), S. 24 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
111 Vgl. ebenda, S. 24.
112 Vgl. ebenda, S. 26f.
113 Pichlkastner, Karl (2015), S. 97 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
114 Vgl. ebenda, S. 103.
- 32 -
mitzubringen, wird heute auch Selbstständigkeit, Offenheit, Teamfähigkeit, Zivilcourage und
Kreativität erwartet. Eigenschaften, die das Menschenbild wesentlich weg vom Untergebenen
hin zum Mitarbeiter gewandelt haben.115 Diese Aspekte von zivilem Management finden auch
im Prozess, der innerhalb des ÖBH maßgeblich an der LVAk stattfindet, ihre Abbildung.
Beispielgebend dafür ist die militärwissenschaftliche Publikationsreihe „Armis et Litteris“,
welche sich den Forschungsschwerpunkten „Militärische Führung“ und „Umgang mit
Komplexität – Führung in komplexen Systemen“ und deren Auswirkung und Umsetzung für
die Führungsausbildung im ÖBH widmet.116
Die Tatsache, dass sich die LVAk intensiv mit Führung im modernen Aufgabenspektrum auf
wissenschaftlicher Basis auseinandersetzt, bedeutet jedoch noch nicht, dass das Militär nun
rein auf Management setzt, wie es in zivilen Organisationen zur Anwendung kommt. Nach wie
vor ist die Kernaufgabe des ÖBH die militärische Landesverteidigung, die im sogenannten
„Ernstfall“ mit Töten und Getötet-werden andere Anforderungen an Führende und Geführte
stellt, als das in einem Unternehmen der Fall ist. Dieses Risiko für Leib und Leben erfordert
einerseits ein hohes Verantwortungsbewusstsein der Führung und andererseits eine hohe
Opferbereitschaft seitens der Geführten, was sich auch in einem Menschenbild widerspiegelt,
das sich auch im 21. Jahrhundert nach wie vor an „Autorität, Gehorsam, Pflicht, Leistung, Mut,
Tapferkeit, Treue, Anstand und Ehre“117 orientiert.
In diesem Spannungsfeld zwischen Mitarbeiter und Untergebenen bewegen sich nicht nur
hauptberuflich tätige SoldatInnen, sondern insbesondere Angehörige der Miliz, die sich nur
zeitweise diesem Menschenbild unterordnen.
Der Umstand jedoch, dass beim ÖBH MilizsoldatInnen in Führungsfunktionen Verantwortung
tragen, die den größten Teil ihres Berufslebens in zivilen Organisationen tätig sind, bietet die
Gelegenheit, das Management im ÖBH unter jenen Maßstäben zu betrachten, die in der Regel
an zivile Institutionen, Unternehmen oder die Verwaltung angelegt werden.
Dafür ist es notwendig, ein Managementverständnis als theoretische Grundlage
heranzuziehen, welches über das hinausgeht, was gemeinhin oft unter Management
verstanden wird. Gemeint ist eine Sichtweise, die Management unter rein
betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten einordnet oder es mit Top-Management, also den
obersten Führungsorganen eines Unternehmens, gleichsetzt. Ebenso wenig hilfreich, aber
naheliegend in Zusammenhang mit dem Militär wäre es, Management mit Menschenführung
und Leadership gleichzusetzen. Wie bereits dargestellt greifen auch diese Ansätze zu kurz.
Es werden daher die Maßstäbe von kybernetischen Managementtheorien und Strategien zur
Komplexitätsbewältigung am Beispiel von HROs, wie sie im vorigen Kapitel dargestellt wurden,
herangezogen, um Strukturen und Abläufe, die im ÖBH eingebettet sind, in einen
theoretischen Zusammenhang zu bringen und einer empirischen Analyse zugänglich zu
machen.
115 Vgl. Forstner-Billau, Alois (2001), S. 49 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
116 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 65.
117 Forstner-Billau, Alois (2001), S. 52 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 33 -
3 Empirisches Vorgehen und Methodik
3.1 Forschungsinteresse
Wie oben dargestellt befassen sich wissenschaftliche Publikationen zur Führung im ÖBH, ob
von außen oder aus dem ÖBH selbst, in einer überwiegenden Zahl mit dem Führungshandeln
Einzelner. Ein ganzheitliches Managementverständnis, wie es etwa von Malik dargestellt wird,
welches als Grundlage für eine Darstellung der Organisation ÖBH als eigenes komplexes
System innerhalb einer sich wandelnden Umgebung dienen kann, war hingegen bisher
weniger oft Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.118
Wissenschaftlich gänzlich unbeleuchtet blieb bisher die Rolle, welche der Miliz in diesem
Zusammenhang im System ÖBH zukommt und der Blick auf die Möglichkeiten, die der Einsatz
und die Expertise von Führungskräften bieten, welche sich gleichzeitig in zwei
unterschiedlichen Systemzusammenhängen bewegen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt als also zwei Forschungsinteressen:
Erstens einen Beitrag zum vertiefenden Verständnis zu leisten, ob und wie sich das ÖBH auf
eine komplexer werdende Umwelt einstellt. Inwieweit ein ganzheitliches
Managementverständnis vorherrscht, welches vernetztes Denken zulässt und steuerndes
Eingreifen in diesem Umfeld ermöglicht und ob seine gewachsenen Organisationsstrukturen
anpassungsfähig sind.
Zweitens die Schließung der Forschungslücke, welche sich beim Blick auf die Rolle der Miliz
bei dieser Herausforderung des ÖBH auftut. Ob und wie das ÖBH von einem möglicherweise
unterschiedlichen Blick und einer differenzierten Herangehensweise der MilizoffizierInnen
profitieren kann bzw. welche Aspekte des militärischen Führungsverständnisses für
MilizoffizierInnen in ihrem zivilen Handlungsumfeld eine Rolle spielen.
Dieses Forschungsinteresse wird anhand folgender Forschungsfragen erörtert.
3.1.1 Forschungsfragen
Forschungsleitende Frage
Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und
zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden
Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?
Forschungsfrage 1:
Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer
auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21
beschrieben wird?
Forschungsfrage 2:
Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und
Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar
machen?
118 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 88.
- 34 -
3.1.2 Vorannahmen
3.1.2.1 Die Große Transformation
Die Annahme hinsichtlich der Großen Transformation21 zu Forschungsfrage 1 besteht darin,
dass das ÖBH mit einer steigenden Komplexität seiner Aufgaben konfrontiert ist und darauf
reagiert. Es wird weiters angenommen, dass streng hierarchische Institutionen langsamer auf
diesen Wandel reagieren können.
Die Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen haben gezeigt, dass es sich bei dem
Wandel hin zu einer Komplexitätsgesellschaft, wie sie Malik bezeichnet, um ein universelles
Phänomen handelt, das sich auf die gesamte Gesellschaft bezieht und dem sich auch das
ÖBH nicht entziehen kann. Das Militär wird aufgrund seiner historischen Entwicklung
gleichsam als die „Wiege der Hierarchie“ betrachtet und bietet durch die Befehlsstruktur, die
sich an einem strengen Top-down-Schema orientiert, auf den ersten Blick wenig Möglichkeiten
für die Teileinheiten, raschen Einfluss auf Strukturzusammenhänge zu nehmen. Dies erscheint
im Lichte eines kybernetischen Managementverständnisses als träge und nachteilig. Ob dies
tatsächlich der Fall ist, soll durch die empirische Erhebung beantwortet werden.
3.1.2.2 Zivile und militärische Systemunterschiede
Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer
zivilen beruflichen Tätigkeit mit Strategien konfrontiert sind, mit denen zivile Organisationen
auf die Große Transformation21 reagieren, und dieses Wissen in ihre Führungstätigkeit beim
ÖBH einfließen lassen. Dabei handelt es sich um die Grundannahme der geplanten Arbeit, die
auf die Erforschung der Schnittstellenfunktion von MilizoffizierInnen ausgerichtet ist.
BerufsoffizierInnen bewegen sich üblicherweise den größten Teil ihres beruflichen Lebens in
militärischen Strukturen. Ihre KameradInnen aus der Miliz hingegen sind aufgrund ihrer zivilen
Tätigkeit in Unternehmen, der Politik oder der Verwaltung mit Managementkenntnissen
ausgestattet, welche über das militärische Umfeld hinausgehen, und daher in der Lage,
alternative Lösungsvorschläge für militärische Problemstellungen zu machen. Inwieweit dies
in der Realität tatsächlich möglich ist, soll durch die Arbeit erörtert werden.
3.2 Forschungsfeld
Der Personalstand des ÖBH beträgt derzeit etwa 47.000 Personen. Davon sind rund 14.000
SoldatInnen und 8.000 Zivilbedienstete. Zusätzlich verfügt das ÖBH über rund 25.000
MilizsoldatInnen.119 MilizsoldatInnen sind Männer und Frauen, die dem ÖBH aufgrund einer
freiwilligen Verpflichtung nach Absolvierung eines Präsenzdienstes (siehe dazu oben)
weiterhin zur Verfügung stehen und in regelmäßigen Abständen für einen Zeitraum von in der
Regel zwei Wochen einberufen werden, um die militärischen Kenntnisse aufzufrischen und in
ihrer jeweiligen Funktion für einen Einsatzfall zu üben. Darüber hinaus können sich Angehörige
der Miliz auch auf freiwilliger Basis jederzeit zeitlich begrenzt zum aktiven Dienst in einer ihrem
Dienstrang und ihrer Ausbildung entsprechenden Funktion heranziehen lassen. Dies ist in
großer Zahl bei Assistenz- und Auslandseinsätzen der Fall, wo die Miliz für die sogenannte
„Durchhaltefähigkeit“, also die Fähigkeit, einen Einsatz über einen längeren Zeitraum
aufrechtzuerhalten, unerlässlich ist.
Bei MilizoffizierInnen handelt es sich um sogenannte „feldinterne ReflexionsexpertInnen“. Das
bedeutet, sie verfügen über ausgeprägte Schnittstellenerfahrungen, weil sie aufgrund ihrer
119 Vgl. BMLV (2020b), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).
- 35 -
Tätigkeit in unterschiedlichen Handlungsfeldern beobachten und dadurch relationales und
reflexives Wissen entwickeln. Es bietet sich daher eine offene Gesprächsführung in
ExpertInnengesprächen an, um die unterschiedlichen Perspektiven dieses Reflexionswissens
zu aktivieren.120
Um eine Erforschung von zivilen und militärischen Strategien, Strukturen und Systemen im
Umgang mit Komplexität und Wandel zu ermöglichen, ist ein möglicher Schritt, Mitglieder
beider Systeme zu ihren diesbezüglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen zu befragen, die
gewonnenen Daten mittels Interpretation zu vergleichen und in einen Zusammenhang zu
bringen. Führungskräfte haben aufgrund ihres Aufgabenbereiches (nämlich die Erreichung
eines Zieles unter charakteristischen Umfeldbedingungen) spezifische Einblicke und Zugänge
in ihr System und dessen Bedingungen. Sie sind dabei, wie in den Vorannahmen dargestellt,
in Folge der Transformation21 mit einer steigenden Komplexität dieser Umfeldbedingungen
konfrontiert. Aus diesem Grund wurden für die Arbeit Führungskräfte, die mit der Bewältigung
von Komplexität in einer sich grundlegend wandelnden Welt konfrontiert sind, als ExpertInnen
herangezogen.
3.3 Methodologisches Vorgehen
Bei dem zu untersuchenden Forschungsgegenstand handelt es sich um gemeinsame oder
unterschiedliche Strategien, Strukturen und Systeme zur Bewältigung von Komplexität, wie sie
von Führungskräften in zwei unterschiedlichen Systemkontexten (zivil und militärisch) erfahren
werden. Durch die Einheit von zwei an sich getrennten Lebenswelten, welche die
Personalunion der MilizoffizierInnen darstellt, können diese ihre subjektiv wahrgenommenen
Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Dadurch kann in Zusammenhang gebracht werden, was
für den jeweiligen Kontext relevant ist. „Im Zentrum qualitativer Interviews steht die Frage, was
die befragten Personen für relevant erachten, wie sie ihre Welt beobachten und was ihre
Lebenswelt charakterisiert.“121 Aus diesem Grund wurde ein qualitatives Forschungsverfahren
gewählt.
„Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von
Ausdrucksformen sozialer Prozesse. [...] Im Zuge dessen fokussieren qualitative
Analysen die gesellschaftlichen Verankerungen der Praxis menschlichen Handelns,
sozialer Ereignisse und deren Entwicklungsdynamik und versuchen diese einem
theoretisierenden Verständnis zuzuführen.“122
Im Zuge des Forschungsverfahrens wurde der Versuch unternommen, aus dem in
Einzelinterviews gewonnenen (Kommunikations-) Material im Wege einer
zusammenfassenden Inhaltsanalyse Rückschlüsse darauf zu ziehen, was Führungskräfte in
dem jeweiligen sozialen System als relevant erachten, wenn es um die Kontrolle von
Komplexität geht. Darüber hinaus gibt Kommunikation, welche das Fundament sozialer
Systeme darstellt, auch unabhängig vom transportierten Inhalt durch die Art und Weise, wie
sie im jeweiligen Kontext stattfindet, Auskünfte über soziale Systeme insgesamt.123 Dabei
spielen die sozialen Zusammenhänge, die SoldatInnen und zivile Führungskräfte erleben,
sowie deren Strukturiertheit eine Rolle.
Wäre menschliches Handeln nur von individuellen Überlegungen und subjektiver Planung
abhängig, so läge die Annahme nahe, dass sich MilizoffizierInnen im Umgang mit komplexen
120 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 58.
121 Ebenda, S. 14.
122 Ebenda, S. 15.
123 Vgl. ebenda, S. 90.
- 36 -
Herausforderungen gleich verhalten, egal ob sie sich in ihrer beruflichen zivilen Lebenswelt
bewegen oder aber in ihrer militärischen Funktion. Die qualitative Forschung geht jedoch von
der Annahme aus, dass Phänomene wie menschliches Handeln nur in einem kommunikativen
Prozess der Vergesellschaftung vorkommen, dass also menschliches Handeln über die
subjektive Entscheidung hinaus immer in einem sozialen Kontext eingebettet ist. Dies hat zur
Folge, dass die Strukturierung dieser sozialen Beziehungen und die Bedingungen, nach denen
Verständigung in ihnen funktioniert, beobachtet und charakterisiert werden können.124 Als
Teile beider Systeme sind MilizoffizierInnen also nicht nur Expertinnen der beiden Systeme,
sondern repräsentieren in ihren Aussagen die Systeme selbst und ihre Beziehung zu diesen.
Dadurch ist es möglich, durch ihre Aussagen Sinnkonstruktionen der beiden Systeme zu
erkennen.125
3.3.1 Datenerhebung
Das zu analysierende Material wurde mithilfe von offenen Interviews mit ExpertInnen
gewonnen. Offenheit bedeutet, dass die interviewte Person Raum hat, mit ihren eigenen
Begriffen das zu sagen, was sie sagen möchte und was ihr selbst wichtig ist und dass sich die
interviewende Person – über ihren eigenen Verstehenshorizont hinaus – auf unerwartete und
mit ihrem eigenen Deutungssystem inkompatible Aussagen einlassen kann.126
„Ein besonderer Vorteil inhaltsanalytischen Vorgehens […] ist ihre
kommunikationswissenschaftliche Verankerung.“127 Die Schlussfolgerungen aus der
Materialanalyse beziehen sich demnach immer auf einen konkreten Teil im
Kommunikationsprozess. Im konkreten Fall auf den übergeordneten Gedanken der
forschungsleitenden Frage nach den unterschiedlichen Zugängen bei der Bewältigung von
Komplexität und den daraus abgeleiteten Kategorien und Subkategorien. Das Material wird
dadurch kontextualisiert und auch auf seine Entstehung und Wirkung hin untersucht.128
Wie bereits ausgeführt sind Aussagen bezüglich der unterschiedlichen bzw. gemeinsamen
Organisationsstrukturen, Strategien und Managementsysteme in Hinblick auf die Bewältigung
von Komplexität in zivilen und militärischen Organisationen durch die Schnittstelle
„MilizoffizierIn“ möglich. Die Erfahrungen, die MilizoffizierInnen in ihren jeweiligen
Systemkontexten mit der Kontrolle komplexer Systeme machen, dienen als Grundlage für die
Analyse der jeweiligen Zugänge zu diesem Problem. Es erschien daher sinnvoll, mit einzelnen
ExpertInnen in Form von leitfadengestützten Interviews über diese unterschiedlichen
Erfahrungen zu sprechen und diese im Anschluss mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse
auszuwerten. Ein besonderer Vorteil ist dabei, dass das gewonnene Material stets in einen
Kommunikationszusammenhang gebracht wird, welcher sich hier klar abgrenzen lässt,
nämlich auf jenen der militärischen Führung einerseits und auf der zivilen Managementtätigkeit
andererseits.
Voraussetzung bei der Auswahl der ExpertInnen war daher, Führungskräfte zu interviewen,
die sowohl im militärischen Sinne als „KommandantInnen“ tätig sind, als auch im zivilen Beruf
der Management- bzw. Führungsebene ihrer Organisation angehören. Für den militärischen
Bereich erschien es dabei sinnvoll, KommandantInnen unterschiedlicher Ebenen in die
Analyse einzubeziehen. Aufgrund der Zeitspanne der Verwendung der jeweiligen
124 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 16.
125 Vgl. ebenda, S. 18.
126 Vgl. Baur, Nina und Blasius, Jörg(hrsg) (2019), S. 672.
127 Mayring, Philipp (2015), S. 50.
128 Vgl. ebenda, S. 50.
- 37 -
KommandantInnen und ihrer daraus ableitbaren Erfahrung und Aussagekraft wurde hier die
Ebene Kompanie als Grundlage angesetzt.
Die Interviews wurden zur Zeit der Corona-Pandemie erhoben und mussten aufgrund der
behördlichen Auflagen („Lockdown“) und der damit zusammenhängenden Einschränkungen
im persönlichen Kontakt jeweils über ein digitale Videoschaltung geführt werden, welche mit
Zustimmung der Interviewten aufgezeichnet wurde. Das derart gewonnenen Bild-/Tonmaterial
wurde anschließend mit Hilfe eines externen Unternehmens transkribiert und in geglätteter
Form schriftlich analysiert. Die Transkription kann zwar das beim Interview stattfindende
soziale Geschehen nicht abbilden, sie ermöglicht jedoch die Nachvollziehbarkeit der Analyse
auf Basis der relevanten Daten.129
Die GesprächspartnerInnen wurden darüber informiert, dass der Interviewende selbst
ebenfalls Milizoffizier ist, was eine soziokulturelle Gemeinsamkeitsebene des Vertrauens und
der Offenheit begünstigte.
3.3.2 Auswahl der GesprächspartnerInnen
Um eine Personalunion zwischen ziviler und militärischer Führungskraft repräsentativ zu
erfassen, war es nicht nur notwendig, dass die befragten Experten in ihrem Berufsleben in
einer Führungs- bzw. Managementfunktion tätig sind, sondern dass auch eine entsprechende
gesellschaftliche bzw. berufliche Bandbreite abgebildet ist. Die GesprächspartnerInnen sind
daher aus den Bereichen Wirtschaft, Industrie, Politik, öffentliche Unternehmen und
Öffentlicher Dienst (Verwaltung). Gleichzeitig wurde angestrebt, unterschiedliche Stufen der
militärischen Hierarchie und Gliederung abzubilden. Beginnend bei der Kompanie bis zur
ministeriellen Ebene wurden daher KommandantInnen für die Expertengespräche
herangezogen.
Alle Gesprächspartner sind wie dargestellt in einer gehobenen zivilen Managementposition
tätig. Mit „gehobenem Management“ ist in den Bereichen Wirtschaft und Industrie eine
Tätigkeit in der Führung (Vorstand) von Unternehmen gemeint. In den beiden Sektoren Politik
und Öffentliche Verwaltung wurden Führungskräfte der ersten Verfassungs- bzw.
Verwaltungsebene (Nationalrat und Ministerium) befragt.
Für den Bereich „militärische Führungskräfte“ kann bei OffizierInnen eine Führungs-
/Kommandofunktion vorausgesetzt werden, weshalb andere Dienstgrade (Unteroffiziers- und
Chargendienstgrade) nicht in Betracht gezogen wurden. Offiziersdienstgrade finden ab der
Ebene „Zug“ in Kommandantenfunktion Verwendung, das entspricht einem Kommando über
rund 40 SoldatInnen, ab der Ebene Kompanie sind es je nach Waffengattung 60 bis 250
SoldatInnen. Die befragten ExpertInnen sind jedenfalls KommandantInnen ab der Ebene
„Kompanie“ bis hinauf zu Verwendungen in der Generalstabsabteilung beim BMLV.
Abgerundet wurde der Kreis der ExpertInnen mit einem feldinternen Handlungsexperten130,
der aus dem Bereich der Forschung zu Komplexität, Dynamik, Vernetzung und Krisenvorsorge
wissenschaftliche Publikationen, sowie akademische Lehrtätigkeit mitbringt, selbst Absolvent
der Militärakademie ist und vor seinem Ausscheiden aus dem ÖBH Berufsoffizier in
Stabsdienstfunktion war.
129 Vgl. Baur, Nina und Blasius, Jörg(hrsg) (2019), S. 284.
130 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 58.
- 38 -
Abbildung 6: Hintergrund der GesprächspartnerInnen (Eigene Darstellung)
3.3.3 Datenauswertung
Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse will Kommunikation und fixierte (also in irgendeiner
Form protokollierte) Kommunikation analysieren, dabei systematisch, regelgeleitet sowie
theoriegeleitet vorgehen und Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation
ziehen.131
Nach Mayring können drei Grundformen der Inhaltsanalyse zusammengefasst werden:
Zusammenfassung: Reduktion des Materials auf die wesentlichen Inhalte durch Abstraktion –
ermöglicht einen überschaubaren Blick auf das Gesamtmaterial
Explikation: unklare Textstellen werden durch zusätzliches Material verständlich(er) gemacht
– ermöglicht einen genaueren Blick auf besonders interessante Teile des Materials
Strukturierung: Herausfiltern bestimmter Aspekte des Materials unter vorher festgelegten
Ordnungskriterien – ermöglicht einen Blick auf bestimmte Eigenschaften des Materials
Um einen Überblick über die beiden Lebenswelten der ExpertInnen zu gewinnen und daraus
Ableitungen über die Strukturen, Strategien und Systeme treffen zu können, wurde für diese
Arbeit die zusammenfassende Inhaltsanalyse gewählt, mit deren Hilfe ein überschaubares
Konvolut an Informationen geschaffen werden soll, das ein Abbild des Grundmaterials
darstellt, welches dabei systematisch auf das Wesentliche reduziert wird. Erfasst werden dabei
jene Aspekte, die im Zusammenhang mit der Beantwortung der Forschungsfragen stehen.
Dies erfolgt im Zuge einer schrittweisen Reduktion des Materials durch eine fortschreitende
Erhöhung des Abstraktionsniveaus.132 Das Ziel dieses Prozesses ist die induktive Bildung
eines Kategoriensystems, das es mit Bezug auf die zugrundeliegende Theorie ermöglicht, das
Material thematisch zuordenbar zu machen, um eine Beantwortung der Forschungsfragen
131 Vgl. Mayring, Philipp (2015), S. 11f.
132 Vgl. ebenda, S. 67ff.
- 39 -
darstellen zu können. Dabei darf eine Rücküberprüfbarkeit am Ausgangsmaterial nicht
verloren gehen.133
Abbildung 7: Ablaufmodell der "Zusammenfassenden Inhaltsanalyse"134
Eine Fallvignette zur Veranschaulichung des Prozesses im Rahmen der praktischen
Umsetzung, sowie eine Darstellung des induktiv erstellen Kategoriensystems findet sich
im Anhang.
133 Vgl. Mayring, Philipp (2015), S. 61.
134 Eigene Darstellung, Vgl. Ebenda, S. 70.
- 40 -
4 Ergebnisdarstellung
4.1 Einleitung
Die Bedrohungsszenarien des 21. Jahrhunderts und mit ihnen die Herausforderungen, mit
denen sich das ÖBH konfrontiert sieht, werden aller derzeitigen Voraussicht nach nicht mit
Panzern und Sturmgewehr bewältigt. Die Coronavirus-Krise in Folge der COVID-19-Pandemie
macht dies derzeit augenscheinlich. Im Vordergrund steht für das ÖBH daher nicht die
militärische Landesverteidigung, wenn diese auch weiterhin als Kernkompetenz des ÖBH
betrachtet werden muss, sondern vielmehr komplexe Bedrohungsszenarien, die sich
wesentlich von jenen zur Zeit des Kalten Krieges unterscheiden. Der Hinweis auf diese bereits
30 Jahre zurückliegende bipolare Weltordnung erscheint dennoch bis heute weiter relevant.
Aufgrund der Altersstruktur der strategischen Führungsebene des ÖBH ist nämlich der
Schluss zulässig, dass ein großer Teil der derzeit im Dienst befindlichen höheren militärischen
Führung in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen ist und damals die militärische
Berufslaufbahn eingeschlagen hat. Diese Prägung wird als relevant erachtet, wenn es um den
Umgang mit einer komplexer werdenden Umwelt geht.
4.1.1 Flexibilität und Persönlichkeit
Zwei relevante Faktoren kommen darin zum Tragen. Erstens die Flexibilität und zweitens die
Persönlichkeit. Erstere spielt bei der Frage der Bewältigung von Komplexität durchgängig eine
entscheidende Rolle. Gemeint ist, dass sowohl soziale Systeme, unabhängig von der Größe
und vom Organisationsgrad, ihre Strukturen und Prozesse flexibel gestalten und dann erhalten
müssen, als auch psychische Systeme, also Individuen, Flexibilität als Grundthema ihres
Denkens und Handelns kultivieren müssen, wenn sie sich in einer dynamischen und
unüberschaubaren Umwelt bewegen und steuernd in diese Organisationen eingreifen wollen.
Dabei wird der Fähigkeit des „Vernetzen Denkens“ eine wesentliche Bedeutung beigemessen,
wie noch darzustellen sein wird. Diese Fähigkeit führt uns zum zweiten Aspekt, nämlich der
Persönlichkeit. Es zeigt sich, dass einzelnen Personen und ihren Fähigkeiten eine hohe
Bedeutung im Zusammenwirken von Organisationen und deren Möglichkeiten, komplexe
Herausforderungen zu bewältigen, zukommt. Ob und wie weit eine Institution mit Komplexität
umgehen kann hängt also von der Fähigkeit seiner Mitglieder ab, flexibel im Sinne von
anpassungsfähig zu sein und vernetzt denken zu können. Wesentlich erscheint, dass diese
Fähigkeit erlern- und trainierbar ist und dass OffizierInnen durch ihre Sozialisierung als
SoldatIn diese Grundsätze vermittelt bekommen.
4.1.2 „Sowohl-als-auch“ statt „Entweder-oder“
Für die bisherige Betrachtung erscheint dies insofern wichtig, als sie aufzeigt, dass der Erwerb
von neuen persönlich(keitsbildend)en Fähigkeiten notwendig ist, um das System ÖBH auf die
sich wandelnden Umfeldbedingungen einzustellen. Es ist jedoch nicht diese Tatsache allein,
die als trivial erscheinen könnte, sondern es ist ein sich daraus ableitender Leitgedanke, der
durchgängig empirisch getragen wird und daher von wesentlicher Bedeutung ist. Es ist das
allgemeine Verständnis einer Handlungsmaxime, die vom Geist eines „Sowohl-als-auch“
anstatt eines „Entweder-oder“ getragen wird. Dieser Geist taucht gemeint als Grundstimmung
durch alle Aspekte der Komplexitätsbewältigung auf und muss daher am Anfang der
Darstellung der Ergebnisse Erwähnung finden. Es handelt sich dabei um eine Grunderkenntnis
der empirischen Auswertung der Gespräche mit den feldinternen Reflexions- und
HandlungsexpertInnen, die sämtliche Entwicklung, jede Anpassung, alles Lernen und jede
daraus abgeleitete Folgerung und jeder Änderung innerhalb des Systems und seiner
- 41 -
Außenwirkung, danach ausrichtet. Um ein Beispiel anzuführen, eine Entscheidung in einem
dynamischen Umfeld zu treffen wird nicht nur allein durch flexible Prozesse ermöglicht,
sondern es zeigen sich ebenfalls standardisierte Verfahren als hilfreiche Mittel. Es sind also
sowohl Flexibilität als auch standardisierte Verfahrensabläufe notwendig, um in einem sich
wandelnden, unüberschaubaren Umfeld zu einer Entscheidung zu kommen.
4.2 Transformation
Es bestätigt sich, dass das Entstehen einer Netzwerkgesellschaft, wie sie im zweiten Kapitel
beschrieben und als Vorannahme formuliert wurde, auch auf das ÖBH Auswirkungen hat.
Diese Auswirkungen betreffen jedoch nicht nur, wie man annehmen könnte, den äußeren
Einfluss, der auf das ÖBH einwirkt, sondern das ÖBH als komplexes soziales System an sich.
Als Hauptauslöser für diese steigende Komplexität außerhalb wie innerhalb des ÖBH wird vor
allem der technische Fortschritt gesehen und die damit verbundene Menge an zu
verarbeitender Information. Die Entwicklung in der Informations- und
Kommunikationstechnologie führt zu einer Flut an Daten, welche die unterschiedlichen
Verantwortungsbereiche betrifft und die dort nicht mehr als Ganzes erfasst und verarbeitet
werden kann. Das beginnt bereits auf der Ebene Kompanie und setzt sich in allen höheren
Kommanden fort. Dabei ist zu beobachten, dass zwar jede Ebene individuell von einem
Transformationsprozess betroffen ist, dieser jedoch nur schwer an konkreten Faktoren
festgemacht werden kann. Durchwegs wird in dem Zusammenhang auf allen Ebenen das
Bedrohungs- und Risikobild, das auf strategischer Ebene für die gesamte Republik erstellt
wird, als Orientierung für ein sich wandelndes Umfeld herangezogen. Praktisch manifestiert
sich dies in weiterer Folge in den Einsatzarten, wie beispielsweise im sogenannten „COVID19-
Einsatz“, im Einsatz zum Schutz von verfassungsmäßigen Einrichtungen (etwa ausländische
Botschaften) oder im sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz an der Staatsgrenze. Dort
werden die theoretischen komplexen Bedrohungsszenarien Pandemie, Terrorismus oder
Migrationsströme zum tatsächlichen Betätigungsfeld des ÖBH und damit für die einzelnen
SoldatInnen erfahrbar. Diese Einsatzszenarien sind zwar planbar und können in einem
gewissen Umfang auch geübt werden, sie erfordern in der Umsetzung jedoch andere
Instrumente und ein höheres Maß an Flexibilität als das in früheren militärischen
Betätigungsfeldern der Fall war. Im Besonderen gilt das für die Abwehr von Cyber-Attacken,
deren Auswirkungen und Langzeitfolgen schwer bis gar nicht vorhersagbar sind. Es stellt sich
heraus, dass gerade in diesem Bereich das Potential der Miliz dringend erforderlich ist und
noch zu wenig genutzt wird. Insgesamt wird durch den Einsatz der Miliz die Flexibilität
innerhalb des ÖBH und seiner Handlungsmöglichkeiten nach außen erhöht. Dazu jedoch
unten mehr.
4.2.1 Transformation und Krise
Um relevante Aspekte sichtbar zu machen, welche den Wandel beschreiben, dem sich das
ÖBH gegenübersieht, ist es zielführend, einen allgemeinen Blick auf Hintergrund und
Regelmäßigkeiten von Anlässen zu werfen, in denen es zum Einsatz kommt. Am klarsten
erkennbar wird dies im Umgang mit Krisen.
Die aktuelle Pandemie, ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2, hat gezeigt, dass
Nationalstaaten bei der Lösung von komplexen Herausforderungen an Bedeutung verlieren.
Es mag gerade aktuell in der Corona-Krise den gegenteiligen Anschein haben, da ja
vornehmlich die Nationalstaaten mit dem Krisenmanagement beschäftigt sind. Gleichwohl
herrscht der Eindruck vor, dass dieses Management ein reaktives ist, welches den Ereignissen
stets einen Schritt hinterherhinkt, als dass es die Entwicklung der Pandemie aktiv steuernd
- 42 -
beeinflussen oder sie gar beenden könnte. Dies liegt zum einen an der einfachen Tatsache,
dass Befindlichkeiten und nationale Interessen einer Gesamtlösung entgegenstehen. Zum
anderen hat das Umdenken hin zur Netzwerkgesellschaft noch nicht umfassend
stattgefunden. Die Verbreitung des Virus und die Reaktionen darauf lassen erkennen, dass
sich das Denken des Industriezeitalters (noch) nicht ausreichend mit exponentiellem
Wachstum auseinandergesetzt hat, weshalb sich die Menschen dieses schlicht gedanklich
nicht vorstellen können. Die Transformation hat technisch bereits stattgefunden, aufgrund der
globalen Vernetzung unserer Verkehrswege kann sich ein Virus weltweit exponentiell
ausbreiten. Die Bildungssysteme der Nationalstaaten sind jedoch noch nicht in der
Vernetzungs- und Informationsgesellschaft angekommen und hinken dieser technischen
Entwicklung, die bereits in den 1950er Jahren mit der Kybernetik und der Computertechnologie
begonnen hat, um mehr als 50 Jahre hinterher. Das Krisenmanagement arbeitet daher mit
Mitteln, die dem Grad an Vernetzung, welche durch die Transformation Realität geworden ist,
nicht gerecht werden und bleibt reaktiv.
4.2.2 Antifragilität und Risiko
Das fehlende Vorstellungsvermögen über exponentielles Wachstum betrifft jedoch nicht nur
die Verbreitung eines Virus, es birgt eine Kernfrage im Umgang mit Krisen und in der
Bewältigung von Komplexität insgesamt. Unser Erfahrungswissen basiert auf den
Erkenntnissen, die wir aus dem Prozess von Versuch und Irrtum gewonnen haben. Innovation,
Anpassung und Lernen brauchen Versuch und Irrtum, im Englischen „Trial-and-Error“, also
Fehler. Neben der Bedeutung von Fehlern für die Steuerung einer Organisation, im
Zusammenhang mit HRO-Prinzipien, die in Kapitel 2.3.5.1 erörtert werden, soll hier kurz die
Wirkung eines betriebswirtschaftlichen Blicks auf Fehler und seine negativen Folgen auf
Entwicklung und Umgang mit Komplexität beleuchtet werden.
Durch den Grundsatz der betriebswirtschaftlichen Effizienzsteigerung wurden Rückfallebenen
und Pufferreserven aus Kostengründen aufgelöst, die jedoch in einem Krisenfall notwendig
wären, um einen Systemabsturz zu vermeiden. Eine derartige Effizienzsteigerung führt zwar
zu Kostenminimierung, gleichzeitig aber auch zu höherer Anfälligkeit für Systemausfälle im
Krisenfall. Problematisch wird dies, wenn sich ein derartiges Handeln mit einem fehlenden
Vorstellungsvermögen und mit der fehlenden Möglichkeit für Trial-and-Error verbindet, weil die
exponentiellen Auswirkungen eines ersten Ausfalls bereits zu einer Katastrophe größeren
Ausmaßes führen würden. Die Folge wäre ein Gesamtausfall des Systems, der ohne
Vorbereitung und ohne Reaktionsmöglichkeit zu nicht vorhersehbaren Schäden führen würde.
Da ein derartiges Risiko seinem Wesen nach nicht vorhersehbar ist, wird eine komplementäre
Betrachtungsweise notwendig, die nicht das Risiko in den Vordergrund von
Sicherheitsüberlegungen stellt, sondern die Antifragilität, also die Robustheit eines Systems.
Diese ist im Gegensatz zum Risiko beobachtbar und messbar.
Ein konkretes Beispiel findet sich in dem in Kapitel 2.5.1 dargestellten Risikobild des ÖBH für
die Republik Österreich. Durch die Vernetzung der Strom-, IT- und Logistiksysteme würde ein
erster großflächiger Blackout, der über mehrere Tage dauert, zu einem Gesamtausfall des
Systems führen, der nicht abschätzbare Schäden für die gesamte Gesellschaft nach sich
ziehen würde. Dementsprechend hoch ist die Einschätzung des Risikos, wie sie beim ÖBH
vorgenommen wird, beobachtbar und messbar sind jedoch ausschließlich die Stabilität des
Netzes bzw. seine Schwankungsausschläge.
Dass bei der Auflösung von Rückfallebenen und Pufferreserven auch ein
betriebswirtschaftlicher Gedanke nicht zum Tragen kommt, zeigt sich letztlich an dem
Umstand, dass die Auswirkungen eines derartigen Ausfalls in kurzer Zeit die
Effizienzsteigerung und Kostenoptimierung von Jahrzehnten zerstören würde.
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4.2.3 Folgerungen
o Anerkennung der Transformation und ihrer unmittelbaren Auswirkungen auf die
Dynamik und Komplexität des Aufgabenspektrums des ÖBH
o Anpassungen des Bildungssystems der Industriegesellschaft an die Anforderungen der
Netzwerk- und Informationsgesellschaft durch Intensivierung der Themenbereiche zu
Komplexität und exponentieller Entwicklung in Grundlehr- und Studienplänen
o Sensibilität für nachhaltige Krisensicherheit von Organisationen im Zuge von
betriebswirtschaftlicher Effizienzsteigerung
o Komplementäre Sichtweise zur Risikoanalyse auf Organisationen durch Konzentration
auf Antifragilität und Resilienz des Systems
4.3 Vom Umgang des ÖBH mit Komplexität
Wie zuvor dargestellt bewegt sich das ÖBH in einem Umfeld, das sich im Umbruch befindet
und dadurch volatil, unsicher, komplex und ambivalent (VUCA) ist. Die Transformation von der
Industrie- zur Netzwerkgesellschaft, welche auf der Entwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnologie fußt und eine exponentiell wachsende technische Vernetzung
verursacht, stellt eine sicherheitspolitisch relevante Entwicklung dar. Die neu auftretenden
Querschnittsmaterien im Sicherheitsbereich erfordern eine Anpassung des Denkens und
Handelns an die neuen Rahmenbedingungen. Die hohe Varietät an möglichen Szenarien
schließt das Schaffen von Musterlösungen für einzelne Institutionen aus. Der Weg kann daher
nur über die Vernetzung von Institutionen, Organisationen und Fächern und über das
Überwinden von derzeit noch bestehendem „Silo-Denken“ und Abbau von Bürokratie führen.
Dies setzt wiederum einerseits Flexibilität in den Organisationsstrukturen und Hierarchien
innerhalb dieser Institutionen voraus und andererseits Flexibilität im Denken und
Führungshandeln der Verantwortlichen auf allen (Rekursions-) Ebenen.
Die nachfolgende Darstellung befasst sich daher mit den beiden Bereichen, Führung und
Steuerung, sowie Organisationsstrukturen, um die diesbezügliche Entwicklung beim ÖBH zu
verfolgen. Abschließend wird in einem letzten Teil der Frage nach der Einbindung der Miliz in
diesen Bereichen nachgegangen.
4.3.1 Führung und Steuerung
Das ÖBH agiert in weiten Bereichen mit standardisierten Verfahren. „Führungsverfahren“ und
„Befehlsschema“ lassen schon ihrem Namen nach erkennen, dass das Ziel ihrer Anwendung
ein strukturierter Weg zur Entscheidungsfindung und Auftragserfüllung ist. Sie sind im oben
dargestellten Sinne komplizierte Instrumente für komplizierte Anforderungen. Aus dieser Sicht
widersprechen sich Militär und Komplexität auf den ersten Blick aufgrund der Anwendung
standardisierter Führungsinstrumente. Hinter diesen Führungsinstrumenten stehen allerdings
Führungsgrundsätze, die darauf schließen lassen, dass das Militär durchaus in der Lage ist,
die nötige Flexibilität zu entwickeln und vernetzt zu denken, um sich in einem komplexen
Umfeld zu bewegen.
So kann etwa das Führungsverfahren nicht als stures Abarbeiten einer Punktation gesehen
werden, das einem unverrückbaren Schema folgt. Vielmehr handelt es sich bei genauerer
Betrachtung um einen Plan-Do-Check-Act Regelkreis, wie er dem kybernetischen Verständnis
von Steuerungsprozessen entspricht, der beim ÖBH in erster Linie auf einen Zeitgewinn
ausgerichtet ist, welcher Handlungsspielraum und damit Initiative gewährleisten soll. Ein aus
einem militärischen Grundsatz gewonnenes Verfahren also, dem die Erfahrung zugrunde liegt,
dass in den meisten historischen und aktuellen militärischen Auseinandersetzungen derjenige
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überlegen war, welcher schneller und besser auf das Gefecht vorbereit war, während der
andere nur reagieren konnte und daher unterlag. Ähnliches ist uns bei der
Auseinandersetzung mit Krisen bereits begegnet. Es zeigt sich auch hier der Grundsatz, dass
für komplexe Szenarien sowohl flexibles Denken als auch einfache standardisierte Prozesse
notwendig sind.
Eine ähnliche Wirkung hat die Auftragstaktik. Sie ist ein Produkt des laufenden Regelkreises,
welchen das Führungsverfahren darstellt. Während im Gegenstück, der Befehlstaktik, kein
Freiraum bei der Durchführung eines Befehls gegeben ist, setzt die Entwicklung zum „Führen
mit Auftrag“ voraus, dass der Geführte seine eigene Umsetzung innerhalb seines
Handlungsspielraumes ständig überprüft und an eine sich ändernde Lage anzupassen
vermag. Erst dadurch kommt der Plan-Do-Check-Act Regelkreis zum Tragen und umgekehrt
ermöglicht dieser Prozess erst das Führen mit Auftrag und gewährtem Handlungsspielraum.
Für die Erreichung des Gesamtzieles wird die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt,
die Steuerung nicht zentral von einer einzigen Führungsstelle aus, sondern von mehreren
kleineren, dezentralen, funktionalen Einheiten übernommen. Durch eine übergeordnete
Steuerung wird die Handlungsfreiheit der Subsysteme gewährleistet. Dieses Prinzip der
Subsidiarität stellt einen zentralen Faktor der Steuerung in einem komplexen Szenario mit
hoher Dynamik und Veränderungsgeschwindigkeit dar. Das ÖBH erfüllt mit seiner
Führungsmaxime der Auftragstaktik diese wesentliche Voraussetzung.
Die Grenzen der Auftragstaktik liegen in der Unmittelbarkeit der militärischen Gefechtstechnik,
welche Führung sowohl durch Auftrag als auch durch Befehl erfordert, und in mangelndem
Vertrauen zwischen Geführten und KommandantInnen.
4.3.1.1 Dezentralisierung und Vertrauen
Handlungsfreiheit und die Delegation von Verantwortung setzen eine hohe
Vertrauensbeziehung voraus. Das Bild der Geführten wandelt sich von Untergebenen zu
Mitarbeitern, welchen durch die Führungskraft Vertrauen in die auftragsgemäße Zielerfüllung
entgegengebracht wird und welche umgekehrt im Führungshandeln Sinn erkennen müssen,
um ihrerseits Vertrauen in dieses Führungshandeln zu entwickeln. Dazu hat sich gezeigt, dass
dieses auf Vertrauen basierende Führungsverständnis innerhalb der Miliz gelebte Praxis ist.
Inwieweit dies auf das gesamte ÖBH zutreffend ist, kann aufgrund der Datenerhebung im
Milizkreis nur vermutet werden. In Milizeinheiten wird der Weitergabe von Information und
damit der Transparenz eines Entscheidungsprozesses eine hohe Bedeutung beigemessen.
Die sprichwörtliche militärische Begründung mit vier Buchstaben „isso“ („So ist es eben!“), die
in der Vergangenheit berüchtigt war, hat ausgedient. Vielmehr hat heute interne
Kommunikation einen hohen Stellenwert, sie erleichtert Akzeptanz für Entscheidungen, den
Blick für das Große Ganze und Führungsmaßnahmen insgesamt. Dies drückt sich auch in
einem wertschätzenden Umgangston aus, der innerhalb von Milizeinheiten oftmals anders
wahrgenommen wird als in Einheiten des Berufskaders.
Einen Beitrag dazu leistet die Führungsmethodik-Ausbildung für MilizoffizierInnen, welche
diesbezügliche Schwerpunkte setzt und in der Wahrnehmung der OffizierInnen an Qualität und
Stellenwert gewonnen hat. Auch, oder gerade, weil Führungsverhalten von Charakter und
Persönlichkeit abhängig ist, wird diese persönlichkeitsbildende Komponente der Ausbildung
durch das Zentrum für menschenorientierte Führung dem ursprünglichen Sinn des
theresianischen Auftrags „tüchtige Offiziers und rechtschaffene Männer zu machen“
buchstäblich gerecht. Dies ist insofern von Bedeutung, als auch Fähigkeiten, welche für die
Bewältigung von Komplexität nötig sind, wie etwa vernetztes Denken, als erlern- und
trainierbar eingestuft werden. Im Rückschluss müssen diese persönlichen Fertigkeiten geübt
und gefestigt werden, um nicht wieder verloren zu gehen. Ebenso von Bedeutung in dem
- 45 -
Zusammenhang ist die Erkenntnis, dass das Bestehen einer Organisation unter Belastung von
den Fähigkeiten und den Vorbereitungen Einzelner, also vom sprichwörtlichen schwächsten
Glied in der Kette, abhängig ist. Eine Erfahrung, die in der militärischen Praxis seit
Jahrhunderten besteht, welche durch die exponentiellen Folgewirkungen von Ausfällen aber
an zusätzlicher Brisanz gewonnen hat.
Wesentliches Merkmal für das Vertrauen, das in der Miliz der Führung entgegengebracht wird,
sind Erfahrung und soziale Kompetenz. Eine Eigenart des Militärs liegt darin, dass aufgrund
von Laufbahnbildern oftmals an Lebensjahren jüngere KommandantInnen Vorgesetze für
ältere SoldatInnen sind, welche zusätzlich oft auch längere militärische Erfahrung haben. Das
bedeutet, fehlende Erfahrung und damit möglicherweise verbundene fehlende fachliche
Kompetenz müssen durch höhere soziale Kompetenz wettgemacht werden, um Akzeptanz
und Führungsautorität zu erhalten. Fehlt diese, kommt es aufgrund der formell bestehenden
hierarchischen und funktionellen Kommandostruktur zu Führungskonkurrenz und
Parallelstrukturen aufgrund informeller Führungsrealitäten.
4.3.1.2 Hierarchie und Komplexität
Das ÖBH ist strukturell und funktionell eine hierarchisch gegliederte Organisation. Dienstgrade
und Funktionsebenen sind sichtbare Abbilder dieser Ordnung. Nicht nur in den gerade
dargestellten Situationen informeller (Parallel-) Führung wird diese strenge hierarchische
Gliederung problematisch gesehen.
Hierarchien sind für die Steuerung des ÖBH sowohl förderlich, als auch hinderlich, weil es
sowohl komplexe, als auch komplizierte Szenarien gibt, in denen es sich bewegt.
Insbesondere in der Kernkompetenz des ÖBH, der militärischen Landesverteidigung, zeigt
sich, dass strenge Hierarchien unerlässlich sind. Ein militärisches Gefecht, das unter
Einbeziehung der Einschätzung aller Beteiligten, deren Leib und Leben dabei auf dem Spiel
steht, geführt werden sollte, erscheint absurd. Dass unter Druck die formelle Hierarchie mehr
an Bedeutung gewinnt, ist aber kein alleiniges Merkmal des Militärs. Auch im Zivilen werden
Führungsmaßnahmen, die in zeitlichen oder finanziellen Belastungssituationen getroffen
werden, weniger auf einen gemeinschaftlichen Prozess, als eher auf hierarchische Strukturen
gegründet.
Aber nicht nur in Extremsituationen können Hierarchie und standardisierte Abläufe hilfreich
sein, auch tägliche Routineabläufe können dadurch erleichtert werden. Hinderlich sind sie
jedoch im militärischen Alltag überall dort, wo sie zur Begründung für das Abschieben von
Verantwortung herangezogen werden, was oftmals unter dem Sammelbegriff „Bürokratie“
zusammengefasst wird.
Nicht erwartete Szenarien verlangen hingegen einen bewussten Wechsel zu aktiver Steuerung
und ein „Aufweichen“ der funktionellen Hierarchie hin zu Aufwertung von Expertise. Moderne
Bedrohungsszenarien verlangen mehr Netzwerkdenken und weniger Hierarchie. Am Beispiel
der Organisation „Anonymus“ wird aufgezeigt, wie flexible Hierarchien unter Einbeziehung von
Expertise erfolgen kann. Derartige Organisationen haben grundsätzlich keine Hierarchie,
nehmen aber für konkrete Aktionen kurzfristig hierarchische Strukturen unter Führung der
Bestqualifizierten ein, welche sie nach Beendigung der Aktion wieder auflösen. Diese
Kombination aus sowohl flexiblen Strukturen als auch Hierarchien ist in einem komplexen
Umfeld höchst erfolgreich. Entscheidend sind die jeweilige Situation und die grundsätzliche
Flexibilität. Das ÖBH als von Grund auf streng hierarchische Organisation lässt diese
Flexibilität vermissen, die empirische Auswertung zeigt, dass selbst die Vorstellung, die
gegebene hierarchische Struktur zu verlassen, bzw. situationsbedingt anzupassen, innerhalb
des ÖBH und der Miliz nicht vertretbar ist.
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Insgesamt wird Hierarchie innerhalb des ÖBH als funktionales Mittel zur Erreichung eines Ziels
betrachtet. Sie entbindet den Vorgesetzen nicht von der Schaffung eines
Vertrauensverhältnisses. Im Gegenteil wird gerade in Extremsituationen mit der Gefahr für
Leib und Leben, sowohl ein hierarchisches, als auch ein vertrauensgeprägtes Verhältnis als
zwingend notwendig erachtet. Das Schlagwort vom „Führen durch Vorbild“ wird im ÖBH trotz
streng hierarchischer Gliederung als Idealtypus von Führung vertreten.
4.3.1.3 Das ÖBH als HRO
Das Betätigungsfeld des ÖBH ist in letzter Konsequenz mit der Gefahr für Leib und Leben
seiner Mitglieder verbunden. Und wie dargestellt sind seine zukünftigen Einsätze in einer
VUCA-Umwelt nicht zur Gänze plan- und vorbereitbar, da die Komplexität und Dynamik der
Bedrohungsszenarien zu Unerwartetem führen. Das ÖBH erfüllt daher zumindest in der
Theorie die Voraussetzungen einer HRO.
Das Bewusstsein dafür, dass HRO-Prinzipien ein Schlüssel zum Umgang mit Komplexität sein
können, ist im ÖBH noch nicht in der Form ausgeprägt, wie man es aufgrund der Beachtung
der einzelnen Prinzipien annehmen könnte. Es hat sich nämlich gezeigt, dass gerade die
Sensibilität für Fehler eine für MO durchaus relevante Rolle in der Praxis spielt. So werden die
Auswirkungen von Fehlern in einem zivilen Umfeld als zumeist finanzieller Natur, welche in
weiterer Folge zu Personalabbau und dadurch zu Arbeitslosigkeit führen können, dargestellt,
während das Bewusstsein für die Konsequenzen für Leib und Leben der anvertrauten
SoldatInnen im militärischen Aufgabenbereich für das Führungshandeln der MO von
Bedeutung ist. Von den fünf HRO-Prinzipien ist dementsprechend auch die Sensibilität für
Fehler am deutlichsten ausgeprägt, was sich auch in der Führungsausbildung an der
TherMilAk und an der HUAk widerspiegelt. Dies geht soweit, dass sich die Fehlerkultur im
ÖBH in den letzten Jahrzehnten deutlicher und bewusster in Richtung höhere Fehlertoleranz
entwickelt hat, als das in der zivilen Arbeitswelt erlebt wird. Dort werden Fehler eher vertuscht
und aufgrund eines fehlenden „Skin in the Game“-Effektes, also dem Umstand, dass
Entscheidungsträger zumeist nicht persönlich oder mit ihrem eigenen Vermögen für ihre
Entscheidungen einstehen müssen, werden aus Fehlern nicht die notwendigen
Konsequenzen gezogen. Dagegen schildern gerade MO im Rahmen von Einsätzen und
Übungen eine offene, reflektierte und intensiv betriebene Fehlerkultur im Rahmen von
Evaluierungsprozessen zur Fehleridentifikation und -vermeidung und eine konsequente
Konzentration auf Fehler auch unter Vernachlässigung hierarchischer Strukturen.
Der Respekt vor Expertise findet im ÖBH seine alltägliche Ausprägung in der Stabsarbeit,
welche die Grundlage für Entscheidungen darstellt. StabsoffizierInnen fügen als ExpertInnen
aus ihren jeweiligen Fachbereichen den erforderlichen Input für das Gesamtbild bei. Bei
diesem Respekt vor der Expertise handelt es sich jedoch zum größten Teil um Routineabläufe,
bzw. um komplizierte und vorhersehbare Abläufe. Abseits davon zeigt sich das ÖBH weniger
durchlässig für Expertise außerhalb der vorgegebenen Strukturen. Im Zusammenhang mit
dem Wandel von Bedrohungsszenarien werden dementsprechende Wahrnehmungen
schlagend, welche aufgrund fehlender Einbindung in vorgegebene Strukturen kein Gehör
finden.
Die Ergebnisse zur (Ab-) Neigung, zur Vereinfachung und zur (fehlenden) Sensibilität für
betriebliche Abläufe lassen darauf schließen, dass das ÖBH zwar eine Fehlerkultur entwickelt,
jedoch das Erkennen von schwachen Signalen strukturell (noch) keine Rolle spielt. Einzelne
KommandantInnen sind hier die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel, ein institutionelles
Bewusstsein für die Wirkung und die Möglichkeit des Beachtens von Abläufen und des
frühzeitigen Erkennens von schwachen Signalen kann allerdings nicht festgestellt werden.
- 47 -
Das Streben nach Resilienz ist dem ÖBH schon aufgrund der existentiellen Ausrichtung seines
Betätigungsfeldes immanent. So werden die Wirkungsarten von militärischen Maßnahmen mit
den Begriffen Vernichten, Zerschlagen oder Niederhalten bezeichnet, welche es im
umgekehrten Falle zu vermeiden gilt. Dabei ist die sogenannte laufende Lagebeurteilung im
wahrsten Sinne überlebenswichtig. Resilienz bedeutet demnach nicht die Widerstandskraft
des Bestehenden, sondern laufende Anpassung und Weiterentwicklung. Das Militär hat
demnach das Streben nach Resilienz als seine Hauptaufgabe stets im Fokus.
4.3.2 Folgerungen
o Sowohl Führungsverfahren (standardisiert) als auch Auftragstaktik (flexibel)
charakterisieren Führung im ÖBH
o Hierarchien sind sowohl hilfreich als auch hinderlich
o Flexibilität, Hierarchien anzupassen ist im ÖBH nicht gegeben - „starre Hierarchie“
o Wesentliche Aspekte für evolutionäre Weiterentwicklung der Institution ÖBH sind:
Senkung des Ressourcenbedarfs und Abhängigkeiten
Dezentrale Steuerung und Vertrauen (Stärke der Miliz)
Fehlerfreundlichkeit
o ÖBH ist sich der Stellung als HRO bewusst
o HRO-Prinzipien werden zum Teil kultiviert
insb. Fehlerkultur wurde weiterentwickelt
Expertise wird in kompliziertem Umfeld anerkannt, zur
Komplexitätsbewältigung aber nur teilweise genutzt
Sensibilität für schwache Signale und Abläufe wird unterschätzt
Streben nach Resilienz ist als Metathema immanent
o Institutionelles Bewusstsein des Nutzens der HRO-Prinzipien für
Komplexitätsbewältigung fehlt
4.3.3 Organisationsstrukturen
4.3.3.1 Konstruktivistisch-technomorph versus systemisch-evolutionär
Dieser Unterscheidung geht die Fragestellung voraus, ob das ÖBH eher als Maschine oder
als lebender Organismus betrachtet wird. Dabei hat sich gezeigt, dass auch dieser Bereich
nicht ohne „Sowohl-als-auch“ auskommt.
Es herrscht jedoch das systemisch-evolutionäre Bild vom ÖBH als einem lebenden
Organismus vor. Das Produkt „Sicherheit“ wird durch das Zusammenwirken von Menschen
erzeugt. Dafür sind einerseits Funktionen und andererseits Personen wesentlich. Die
Funktionen innerhalb des Militärs sind historisch gewachsen und es hat sich dabei insgesamt
weiterentwickelt, was einem evolutionären Gedanken Rechnung trägt. Die existentielle
Ausrichtung des militärischen Handelns setzt das soziale Zusammenwirken in den
Vordergrund, wodurch in der Praxis Personen mehr Bedeutung bekommen als Funktionen.
Unbestritten dabei bleibt die Ansicht, dass die militärische Kernaufgabe, die
Landesverteidigung und mit ihr das militärische Gefecht, eine konstruktivistisch-technomorphe
Herangehensweise erfordert. Je „näher am Feind“, desto mehr muss das Militär wie eine
Maschine funktionieren, deren einzelne Zahnräder ineinandergreifen. Gerade in
Führungsebenen bis Bataillon und darunter ist es daher wichtig, ein derartiges
Führungsverständnis zu etablieren und für einen Einsatz zu üben.
Dieser Zugang hat das ÖBH auch in seiner gesamten Friedensorganisation geprägt und tut es
zum Teil bis heute. Komplexitätsbewältigung braucht jedoch beide Ansätze. Dass diese
Sichtweise Eingang in die Organisationsstruktur des ÖBH gefunden hat, wird stark der
- 48 -
Weiterentwicklung der und durch die Führungsausbildung an LVAk, TherMilAk und HUAk
zugeschrieben. Weil vernetztes Denken erlern- und trainierbar ist und dem Gedanken folgend,
dass das Wirksamwerden Einzelner einen Effekt auf das Gesamtsystem haben kann, greift
das Bewusstsein des ÖBHs als lebendem Organismus und dadurch ein systemisch-
evolutionäres Verständnis des ÖBH immer mehr Platz, ohne die Notwendigkeit von
konstruktivistisch-technomorphen Organisationsmerkmalen aus den Augen zu verlieren.
4.3.3.2 Das ÖBH als VSM
Wie bereits in Kapitel 2.4.2 dargestellt, findet das VSM prinzipiell seine Abbildung im ÖBH
hinsichtlich Rekursionsebenen, Kompetenzzuteilung und Lebensfähigkeit. Offensichtlich wird
dies in seiner Gliederung, welche aus jeweils lebensfähigen (Sub-)Systemen besteht und in
den einzelnen Stabsfunktionen, welche die Systeme 1-5 des VSM gut abbilden (siehe dazu
Seite 24). Das VSM hat jedoch nur insoweit einen Mehrwert, als sich seine Teilnehmer dessen
auch bewusst sind und aktiv zwischen standardisierten Abläufen und Strukturen umschalten
können. Dieser aktive Wechsel zwischen Routineabläufen und aktiver Steuerung muss den
Systemmitgliedern bewusst gemacht und trainiert werden. Hier zeigen Ergebnisse, dass sich
die MO der positiven Auswirkung der Gliederung bewusst sind, aber nicht die volle Tragweite
für Komplexitätsbewältigung abschätzen können.
Es zeigt sich jedenfalls, dass die Struktur von der strategischen Führungsebene bis hinunter
zur Kompanie durchgetragen wird und innerhalb des ÖBH und der Miliz auch bekannt ist. Die
Rekursionsebenen sind klar in der Gliederung abgebildet und jede Ebene für sich ist ein
lebensfähiges System, das aus lebensfähigen Subsystemen besteht. Die Kompanie wird
demnach mit dem Namen „Einheit“ bezeichnet, das Bataillon als „kleiner Verband“ und die
Brigade als „großer Verband“ und so weiter. Diese Namen zeigen nach außen, dass diesen
(Sub-)Systemen die jeweilige Eigenständigkeit und Lebensfähigkeit immanent ist. In der Praxis
sind die jeweiligen Ebenen durch einen eigenen Corpsgeist gekennzeichnet, mit dem die
jeweiligen Mitglieder ihre Zugehörigkeit zu einem der Systeme nach Außen zeigen und ihre
persönliche Identifikation als Teil des (Sub-)Systems demonstrieren. Ein weiteres Indiz für die
Eigenständigkeit in sich.
Ebenfalls für die notwendige Flexibilität des ÖBH im Umgang mit Komplexität und Dynamik
liegt im Grundsatz, dass die Gliederung dem Auftrag folgt. Dahinter steht das
Organisationsmerkmal der Truppeneinteilung, welche durch die Organisationsstruktur als
Führungsmittel zur Verfügung steht. Die Truppeneinteilung ermöglicht es dem
einsatzführenden Kommando, je nach Rekursionsebene, die eigenen Verbände je nach
Auftrag mehr oder weniger flexibel und divers zusammenzusetzen. Als Beispiel wird für einen
Angriff in gebirgigem Gelände ein Truppenkörper anders zusammengesetzt werden als für
einen Ordnungseinsatz nach einem Blackout in einer Landeshauptstadt. Die
Truppeneinteilung ermöglicht es KommandantInnen auf allen Ebenen, ihren Verband flexibel
zusammenzustellen und in der Truppeneinteilung festzulegen. Auch können dafür
Teileinheiten aus anderen Verbänden zum Einsatz kommen, die nach Erfüllung des Auftrages
wieder zu ihrer Stammtruppe zurückkehren. Dass die einzelnen Subsysteme dem VSM
folgend prinzipiell die gleiche Gliederung und die gleichen Fähigkeiten haben, macht dies
möglich und stellt einen wesentlichen Beitrag zur Flexibilität des ÖBH und zu seiner
Charakterisierung als VSM dar. MO nehmen dieses Organisationsmerkmal als gewichtigen
Vorteil gegenüber ihren zivilen Betätigungsfeldern wahr.
In modernen Bedrohungsszenarien und Krisen ist es notwendig, Strukturen einzunehmen, die
unter Störungsbedingungen weiter funktionieren. Das sind, dem VSM folgend, kleinere
dezentrale Einheiten, die zellulär organisiert sind. Diese zelluläre Organisationsstruktur
stabilisiert regional mit Kernkompetenzen, die an die jeweilige Situation angepasst zur
- 49 -
Anwendung kommen. Eine Problematik besteht darin für das ÖBH insofern, als es aufgrund
seiner geringen Personalstärke nicht dazu in der Lage ist, genügend derartige kleinere
dezentrale Einheiten zu bilden, um im Großen stabilisierend zu wirken. Die Einschätzungen
zielen daher auf regionale Unterstützungsleistungen des ÖBH auf einen begrenzten Zeitraum
ab. Eine großräumige und längerfristige Krisensituation würde das ÖBH personell und
materiell überfordern. Die Miliz leistet in diesem Fall einen Beitrag zur personellen Nähr- und
Ersatzrate und damit zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit des ÖBH.
4.3.4 Folgerungen
o Sowohl Organismus (komplexe Szenarien), als auch Maschine (militärische
Kernkompetenz) sind notwendig
o Führungsausbildung hat Entwicklung hin zu systemisch-evolutionär stark gefördert
o VSM prinzipiell im ÖBH abgebildet
o Bewusstsein für Vorteile in komplexen Szenarien fehlt (noch), Bewusstsein für Vorteile
in komplizierten (standardisierten) Szenarien vorhanden
o Flexibilität durch Truppeneinteilung gegeben
o Personalstruktur für großräumige und längerfristige Krisensituationen zu gering
4.4 Die Rolle der Miliz
4.4.1 Militärische und zivile Systemunterschiede
Anforderungen an zivile Unternehmen oder das Militär verschwimmen trotz unterschiedlicher
Betätigungsfelder und Herangehensweisen bisweilen, wenn beispielsweise staatliches
Krisenmanagement an militärische Stabsstrukturen und -funktionen angelehnt ist oder im
Sprachgebrauch beispielsweise von „in Stellung bringen“, „feindlicher Übernahme“ oder
„Reservenbildung“ die Rede ist. Jedoch lässt sich eine klare Trennlinie zwischen zivil und
militärisch ziehen. Das Operationsgebiet des Militärs beginnt dort, wo die zivile Normalität
endet. Auch wenn sich außerhalb der zivilen Normalität Grundsätze herausgebildet haben, die
rückwirkend wieder in das zivile Management Eingang gefunden haben, wie etwa der Blick für
das Wesentliche, eine ständige Prüfung der bestehenden Situation und die Weitergabe von
Information an Untergebene / MitarbeiterInnen.
Die wesentlichste Abgrenzung des Militärs ist die potentielle Beeinträchtigung der körperlichen
Integrität, der Verlust von Leib und Leben, also die tatsächliche Bedrohung der Existenz der
Systemmitglieder. Diese existentielle Ausrichtung stellt ein Alleinstellungsmerkmal dar,
welches das soziale Zusammenwirken im wörtlichen Sinne zur Überlebensfrage macht und
einen hohen ethischen Maßstab an die Führungsverantwortlichen in den Vordergrund rückt.
Daraus abgeleitet werden soldatische Tugenden wie Treue, Gehorsam, Pflichtbewusstsein
oder Verantwortung, welche im Zivilen erst in der sogenannten Corporate Governance
formuliert werden müssen. Dass dabei der etwas aus der Mode gekommene Begriff Gehorsam
im Militär dennoch eine zentrale Funktion hat, liegt wiederum an der existentiellen Ausrichtung
des militärischen Handelns. Würde beispielsweise in einem Gefecht dem Befehl, einen
Geländeteil „weißen Birken“ in Besitz zu nehmen, der Gehorsam verweigert und stattdessen
der Geländeteil „grünen Tannen“ angegriffen, kann dies zu Verlusten von Menschenleben
führen. Im ÖBH sind aufgrund der drastischen Auswirkungen derartiger Abweichungen Werte
wie Pflicht und Gehorsam historisch tief verwurzelt und haben für seine Mitglieder einen
ungleich höheren Stellenwert als das im zivilen Umfeld durch die Formalisierung von
- 50 -
Verhaltensregeln in einem Corporate Governance Kodex eines Unternehmens normierbar
wäre. Für MO mit einer derartigen soldatischen Sozialisation dienen derartige Werte als ihr
Führungshandeln.
Anders verhält es sich mit der Umsetzungsgeschwindigkeit und der Lösungsorientierung im
Friedensbetrieb. In diesen Bereichen wird der privatwirtschaftlichen Lösungsorientierung ein
höherer Wirkungsgrad zugeschrieben als der öffentlichen Verwaltung, was auch auf das ÖBH
Auswirkungen hat. Durch die lösungsorientierte Herangehensweise der Miliz, welche ihre
Angehörigen aus der Wirtschaft in das Militär einbringen, wird die Umsetzgeschwindigkeit von
Aufgaben erhöht.
4.4.2 Wechselseitige Nutzbarmachung von Kenntnissen
Es zeigt sich, dass die militärische Ausbildung und Praxis für MO eine Unterstützung für ihr
ziviles Führungshandeln darstellen. Standardisierte Entscheidungsfindungsverfahren, welche
beim Militär zum Einsatz kommen, werden als Gewinn für das zivile berufliche Umfeld
wahrgenommen. Außerdem können beim ÖBH Erfahrungen in der angewandten Praxis
gesammelt werden, die höher eingestuft werden als etwa jene aus zivilen
Managementseminaren unter Laborbedingungen. An der Entwicklung durch diese
Lernerfahrung profitieren sowohl das Militär als auch das zivile Betätigungsfeld der MO.
Zusätzlich zur praktischen Übung verfügt das ÖBH über ein breites Fortbildungsangebot,
welches durch hochqualifiziertes Führungs- und Managementlehrpersonal mit zivilem und
militärischem Hintergrund gestellt wird. Dieser wesentliche Faktor der Personalentwicklung
wird hoch bewertet, während seine fehlende breitenwirksame Bekanntmachung im Militär und
darüber hinaus konstatiert wird. Personalentwicklung ist insgesamt ein Themenbereich, der im
Zivilen größeren Stellenwert hat als innerhalb des ÖBH, da diese oft von dienstrechtlichen und
bürokratischen Erfordernissen abhängig ist.
Personalentwicklung wird im Zivilen als Führungsinstrument aktiv betrieben. Innerhalb des
ÖBH und innerhalb der Miliz stellt dies jedoch keine offizielle, formal vorgegebene Tätigkeit für
MO dar. Als Teil des organischen Managements, eine Organisation systemisch-evolutionär zu
führen und zu entwickeln, verdeutlichen die empirischen Ergebnisse, dass in Milizeinheiten
dennoch eine aktive Personalentwicklung betrieben wird, weil MO dieses Führungsinstrument
aus ihrer zivilen Tätigkeit übernehmen. Den KommandantInnen kommt bei der Besetzung von
Funktionen ihrer Einheit ein informelles Mitspracherecht zu, welches diesen Effekt unterstützt,
ihren Führungsbereich nach eigener Vorstellung weiterzuentwickeln. Den Annahmen
entsprechend erfolgt diese Personalentwicklung auf informellem Weg, da ein formelles
Prozedere dafür nicht vorgesehen ist.
Auch werden wirtschaftliche Prozesse, wie insbesondere jene der Qualitätssicherung von MO,
in das ÖBH eingebracht, welche ein Mehrwert für das Militär darstellen. Auch technische
Expertise findet über Milizpersonal direkten Eingang ins ÖBH, ein Umstand, der hinsichtlich
des Bedrohungsszenarios Cyber-Warfare einen immer höheren Stellenwert bekommt. Zivile
Führungskräfte bringen zudem bereits auf Ebene Kompanie als KommandantInnen und
FachunteroffizierInnen, hier vor allem in den Funktionen Kommandogruppenkommandant
oder Dienstführender Unteroffizier, zivile (Management-) Kenntnisse in ihre militärische
Funktion ein.
Eine zentrale Frage des Mehrwertes der Miliz für das ÖBH ist die formale Anerkennung ziviler
Kompetenzen für den militärischen Dienst. Dies setzt ein Umdenken innerhalb des ÖBH
voraus, welches auf Ebene des BMLV bereits eingeleitet wurde. Dementsprechend wurden
Arbeitsgruppen eingesetzt, um Parallelstrukturen in Ausbildung und Praxis zu vermeiden und
bestehende zivile Expertise ohne derzeit noch notwendige Übersetzungsschritte direkt in die
militärische Praxis zu integrieren. Umgekehrt sollen erworbene militärische Befähigungen,
- 51 -
Aus- und Fortbildungen durch ein staatliches Anerkennungsverfahren in einen zivilen
Kompetenzkatalog übersetzt werden, welcher in Form eines staatlichen Zertifikats im zivilen
beruflichen Umfeld als Qualifikationsnachweis gilt. Das ÖBH folgt hier dem Beispiel der
Schweiz, wo dies bereits gängige Praxis ist. Dadurch sollen zukünftig Strukturen und Prozesse
durchlässiger werden, sodass zivile und militärische Anpassungsfähigkeit und
Handlungsfreiheit erhöht werden, wodurch ein gesteigertes Potential zur
Komplexitätsbewältigung erreicht werden soll.
4.4.3 Relevanz der Miliz für Komplexitätsbewältigung des ÖBH
Auf Basis der empirischen Studie wird deutlich, dass eine strukturelle Stärkung der Miliz ein
geeignetes Mittel zur Bewältigung von Komplexität ist.
In der Miliz engagieren sich Freiwillige mit hoher Motivation aus allen Bereichen der
Gesellschaft, die ihre Perspektive zum Nutzen des ÖBH einbringen wollen. Die Miliz ist
dementsprechend ein Beispiel von vernetztem Denken innerhalb des Systems ÖBH, das
darauf abzielt, ein Kernziel der Komplexitätsbewältigung zu erreichen, nämlich das
erforderliche Wissen und die erforderliche Kompetenz zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen
Ort zu bringen.
Kritisch wird die Personalsituation der Miliz gesehen. Durch die Abschaffung der „Marke“ EF
(Einjährig Freiwillig), welche historisch die Voraussetzung für eine Offizierslaufbahn war und
der Zusammenlegung mit der Unteroffiziersausbildung, kam es zu einem Rückgang an
Freiwilligenmeldungen und zu einem Mangel an MO. Dieses Ausbildungssystem „neu“
verursachte jedoch auch zusätzlich einen Mangel an MUO. Ein durchgehender
Ausbildungspräsenzdienst in der Dauer von einem Jahr war und ist für die meisten MUO-
Anwärter aus beruflichen oder familiären Gründen nicht möglich. Daher wurde zum vorherigen
modularen Ausbildungssystem für MUO zurückgekehrt. Auch eine Rückkehr zum EF als
Voraussetzung für die Offiziersausbildung ist angedacht.
Die zahlenmäßige personelle Reduktion der Miliz stellt ein ernsthaftes Problem für die
strategische Relevanz dar. Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen, dass mit einem Abbau
an Milizkräften auch ein Kompetenzverlust für das ÖBH insgesamt einhergeht, der bis zu
einem Zweifel an der Erfüllbarkeit des verfassungsmäßigen Auftrages reicht. Als Hauptgründe
werden einerseits die personelle Reduzierung gesehen und andererseits die Tatsache, dass
ab einer gewissen Führungsebene nicht mehr genügend Laufbahnbilder und Verwendungen
für MO zur Verfügung stehen. Zusätzlich führt der Umstand, dass zu wenig Nachwuchs an MO
für die Truppe zur Verfügung steht, dazu, dass erfahrene MO noch auf Ebene Bataillon
eingesetzt werden müssen und daher für die ohnehin zahlenmäßig bereits geringen
Verwendungen für höhere Führungsebenen nicht zur Verfügung stehen, wodurch dort
Expertise ungenutzt bleibt. Eine Zuspitzung der diesbezüglichen Entwicklung wird zeitlich mit
der Diskussion und der Volksabstimmung zur Abschaffung der Wehrpflicht und der Einführung
einer Berufsarmee in Verbindung gebracht, welche zu einer Schwächung der Miliz beigetragen
hat.
Eine Signifikanz der empirischen Analyse ist die Notwendigkeit einer Aufwertung für zukünftige
Anforderungen des ÖBH. Der politische Wille, zukünftig in Assistenzeinsätzen keine
Grundwehrdiener mehr zum Einsatz zu bringen, erfordert diese Aufwertung der Miliz, welche
durch bereits in Umsetzung befindliche bzw. geplante Maßnahmen einen Kulturwandel
innerhalb des ÖBH herbeiführen soll. Zu diesen Maßnahmen zählen die bereits erwähnten
durchlässigeren Strukturen und Prozesse hinsichtlich Kompetenzen und Befähigungen, eine
einheitliche Personalführung für Berufs- und Milizkader (derzeit S1 und S3), die einheitliche
Besoldung in einem Einsatzfall sowie die verstärkte Bewerbung und Rekrutierung von
Milizpersonal.
- 52 -
Die Erfahrungen, die im COVID19-Einsatz gemacht wurden, mehren die Auffassung, dass die
Miliz einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Flexibilität des ÖBH leistet und einen
strategischen Mehrwert für das ÖBH bedeutet, wenn die personellen und materiellen Mittel zur
Verfügung stehen.
Aus der Analyse der Gespräche wird abschließend deutlich, dass das zeitlich relativ junge
Auftreten von MO im Generalsrang als Berater auf strategiescher Führungsebene, wie etwa
von Brigadier Dr. Johannes Kainzbauer als Präsident des Milizverbandes Österreich,
Generalmajor Mag. Erwin Hameseder als Milizbeauftragter oder Brigadier Mag. Erich Cibulka
als Präsident der Offiziersgesellschaft Österreich, als Gewinn für die Miliz und das ÖBH im
Ganzen gesehen wird. Dadurch wird der Miliz eine personalisierte Führungskompetenz
verliehen, welche ihr Ansehen innerhalb und außerhalb des ÖBH erhöht und welche den
gegenseitigen Mehrwert zwischen zivilem und militärischem Einsatzgebiet verstärkt.
4.4.4 Folgerungen
o Existentielle Bedrohung von Leib und Leben sind Alleinstellungsmerkmal
o Soldatische Tugenden leiten sich daraus ab (Werte)
o Vorteil des Militärs in der Corporate Governance / Soldatische Tugenden als Vorläufer
der Corporate Governance
o Höhere Umsetzgeschwindigkeit der MO durch Lösungsorientierung und weniger
Bürokratie
o Führungspraxis und Führungsverfahren sind Mehrwert für zivile Welt
o Managementkenntnisse (Personalentwicklung, Qualitätssicherung) und technisches
Know-How (Cyber-Bedrohung) fließen in ÖBH ein
o TÜV-Verfahren zur wechselseitigen Anerkennung von Kompetenzen zur Erreichung
von höherer Durchlässigkeit und Flexibilität von Strukturen und Prozessen
o Maßnahmen zur Stärkung und Aufwertung der Miliz sind im Gange
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5 Beantwortung der Forschungsfragen
Das ÖBH muss als hierarchische Organisation mit steigender Komplexität im Zuge des
Wandels zur Netzwerkgesellschaft umgehen und seine Strukturen und Organisationsfaktoren
entsprechend ausnutzen bzw. anpassen. Die Managementlehre legt nahe, dass hierarchische
Strukturen nicht hilfreich sind und angepasst werden müssen. Ein wiederum hilfreicher Faktor
bei der Komplexitätsbewältigung ist das Potential, das MO darstellen insofern, als sie für die
Thematik relevante alternative Perspektiven und Zugänge aus zivilen
Systemzusammenhängen in das ÖBH einbringen können. Im Zuge des Forschungsprozesses
wurden die in Kapitel 4 dargelegten empirischen Ergebnisse erzielt, welche folgende
Beantwortung der Forschungsfragen zulassen.
5.1 Forschungsleitende Frage
Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und
zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden
Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?
Die Frage nach der Schnittstelle zwischen Militär und zivilem Arbeitsfeld war der ursächliche
Beweggrund für die Forschungsarbeit, nämlich dass es eine derartige Schnittstelle zwischen
militärischem und zivilem Management / Führung nicht gibt. Wie ließen sich dann aber
Erkenntnisse aus der zivilen Managementlehre auf das ÖBH umlegen? Die Antwort fand sich
in der Position der MO, welche beide Systemzusammenhänge in sich vereinen und daher
selbst diese Schnittstelle verkörpern, als Führungskräfte, die in ihrem Berufsleben ebenfalls
mit den Herausforderungen der entstehenden Netzwerkgesellschaft konfrontiert sind und
diese Erfahrungen in ihre Tätigkeit als KommandantInnen beim ÖBH einbringen.
Zuerst bedurfte es daher der Klärung der Anerkennung der Transformation und ihrer
Auswirkungen in Form von steigender Dynamik und Komplexität innerhalb des
Aufgabenspektrums des ÖBH. Eine diesbezügliche Bestätigung erbrachte bereits die
Recherche zu den Risiko- und Bedrohungsbildern des ÖBH, welche zum Teil direkt aus
strategischen Studien des ÖBH, zum Teil dem wissenschaftlichen Diskurs über
sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen für Österreich und Europa entstammen.
Technischer Fortschritt und Vernetzung der Kommunikations- und Informationstechnologie
sind demnach eine Tatsache, die sich auch in den empirischen Ergebnissen widerspiegeln
und die sich auf das Aufgabenspektrum des ÖBH auswirken. Wie in den theoretischen
Grundlagen dargestellt, verlagert sich dieses zunehmend weg vom militärischen hin in ein
ziviles Umfeld (siehe 2.1.2), wodurch Erfahrungen der MO in diesem Spektrum zusätzlich an
Bedeutung gewinnen.
In weiterer Folge wurde die Anpassung des Bildungssystems der Industriegesellschaft an die
Anforderungen der aufkommenden Netzwerk- und Informationsgesellschaft thematisiert mit
dem Ergebnis, dass sowohl im zivilen Schul- und Bildungssystem als auch in der Aus-, Fort-
und Weiterbildung in der zivilen Arbeitswelt eine derartige Anpassung bisher ausgeblieben ist.
Führungskräfte im Zivilen und mit ihnen MO werden demnach nicht explizit auf die steigende
Komplexität und Dynamik im Sinne einer Sensibilität für nachhaltige Krisensicherheit hin
geschult, sondern agieren in weiten Teilen nach Kriterien betriebswirtschaftlicher
Effizienzsteigerung. Es ist diesbezüglich aber bezeichnend, dass gerade wirtschaftliche
Steuerungssysteme wie Qualitätsmanagement und Controlling Eingang in das Militär
gefunden haben. Eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kybernetik,
Systemtheorie, Management und Steuerung gehen auf diesen jedoch nicht direkt in die
Führungsstruktur des ÖBH ein.
- 54 -
Demgegenüber steht die faktische Evidenz einer komplementären Sichtweise zur
Risikoanalyse von Organisationen durch Konzentration auf Antifragilität und Resilienz des
Systems. Das System ÖBH erfährt demnach durch die Einbindung von MO insgesamt eine
Erhöhung der eigenen Handlungsmöglichkeiten im Sinne von Ashby´s Law und dadurch eine
Verstärkung seiner Lebensfähigkeit durch Varietät, Flexibilität und Resilienz, welche nicht
Widerstandsfähigkeit des Bisherigen, sondern laufende Anpassung und Weiterentwicklung
bedeutet, was wiederum zur Antifragilität des Systems ÖBH beiträgt.
Daraus abgeleitet sind MO nicht primär durch ihr explizites Wissen über Management,
Komplexität oder Kybernetik etc. von entscheidender Bedeutung, sondern durch die Erhöhung
der Flexibilität und der Varietät, welche das ÖBH durch ihre Tätigkeit per se generiert.
5.2 Forschungsfrage 1
Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer
auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21
beschrieben wird?
Der Frage sind mögliche Nachteile von hierarchischen Strukturen bei der Bewältigung von
Komplexität immanent. Und auch wenn für das ÖBH bei der Bewältigung von Routineaufgaben
und bei der Erfüllung seiner Kernkompetenz, der militärischen Landesverteidigung,
Hierarchien hilfreich sind, so handelt es sich dabei doch um Szenarien, die überschaubar und
kompliziert sind, nicht jedoch komplex. Tatsächlich ergeben die empirischen Daten das Bild
von starren hierarchischen Strukturen, die es dem ÖBH erschweren, die nötige strukturelle
und funktionelle Flexibilität zu entwickeln, die für komplexe Szenarien notwendig ist. Personen
werden aufgrund ihres Ranges und ihrer Funktion für Aufgaben herangezogen und nicht
aufgrund ihrer möglicherweise bestehenden Kompetenzen, weshalb auf wechselnde
Situationen nicht flexibel reagiert werden kann. Dieses Bild bestätigt die Annahme zur
Forschungsfrage, dass für das ÖBH Hierarchien in komplexen Szenarien nicht förderlich sind.
Eine Reaktion, wie in der Forschungsfrage angesprochen, besteht im System ÖBH demnach
nicht in einer Anpassung der Strukturen.
Erkennbar wird eine derartige Reaktion jedoch an anderer Stelle und zwar an
Organisationsmerkmalen abseits von Hierarchien und an Führungsattributen. Erstere
manifestieren sich in der tatsächlichen Systemstrukturierung gemäß dem Invarianztheorem
infolge des Aufbaus und der Gliederung als VSM. Letztere wird vor allem in der Erfüllung von
HRO-Prinzipien sichtbar, sowie in eigenverantwortlichem Führungshandeln infolge der
Auftragstaktik, welches trotz hierarchischer Struktur eine dezentrale Steuerung über kleinere
Einheiten ermöglicht. Die Empirie hat gezeigt, dass sich die Charakterisierung als VSM nicht
im Bewusstsein der Systemteilnehmer innerhalb des ÖBH widerspiegelt, dennoch werden die
positiven Aspekte der Gliederung erkannt und auch als Vorteil in komplexer werdenden
Herausforderungen genannt. Dieser Umstand entspricht der theoretischen Darstellung von
Malik, dass das Invarianztheorem keinen normativen, sondern einen faktischen Charakter hat.
Die Annahme zur Forschungsfrage, dass die Organisationsstruktur des ÖBH geeignet ist, um
als lebensfähiges System im Sinne des kybernetischen Managementverständnisses zu gelten,
hat sich demnach bestätigt.
Eine weitere Reaktion auf die komplexer werdende Umwelt des ÖBH liegt in der Kultivierung
von HRO-Prinzipien. Hier insbesondere in der Entwicklung eines positiven Umgangs mit
Fehlern, im Streben nach Resilienz und im Respekt vor Expertise. Wenn auch in diesem
Bereich kein Bewusstsein oder theoretisches Wissen über HROs vorliegen, wird vor allem der
Achtsamkeit für Fehler und der daraus ableitbaren Entwicklung aufgrund der Gefahr für Leib
- 55 -
und Leben eine hohe Bedeutung beigemessen. Die Daten lassen jedoch auch den Schluss
zu, dass Führung im ÖBH durch standardisierte Verfahren zur Vereinfachung neigt, wodurch
schwache Signale in betrieblichen Abläufen in den Hintergrund treten, was den Umgang mit
Unerwartetem erschwert.
Demgegenüber stellt das eigenverantwortliche Führen durch KommandantInnen aller Ebenen
einen Beitrag zur Komplexitätsbewältigung dar. In der Auftragstaktik liegt ein klar erkennbares
Instrument für eine Reaktion des ÖBH auf eine komplexer werdende Umwelt im Sinne der
Forschungsfrage. Dieser Reaktion liegt auch der Gedanke des „Sowohl-als-auch“ zugrunde,
da die Auftragstaktik mit bestehenden standardisierten Entscheidungsfindungs- und
Führungsverfahren gekoppelt wurde, worin ein geeignetes Instrument im Sinne der von der
Theorie geforderten notwendigen Varietät erkannt wurde.
Zum Managementverständnis zeigt sich, dass das ÖBH insgesamt als lebender Organismus
im Sinne eines systemisch-evolutionären Verständnisses wahrgenommen wird, welcher
insbesondere im Falle der militärischen Landesverteidigung als Maschine im Sinne eines
konstruktivistisch-technomorphen Verständnisses funktionieren muss. Inwieweit diese
Grenzen verschwimmen bzw. von standardisierten Prozessen auf aktive Steuerung von
komplexen Situationen gewechselt werden kann, hängt in der jeweiligen Situation von der
Ausbildung und den persönlichen Fähigkeiten der KommandantInnen ab. Das ÖBH reagiert
gemäß der Empirie durch Erhöhung der Qualität und Anpassung der Führungsausbildung in
Richtung systemisch-evolutionärem Ansatz auf die komplexer werdenden Aufgaben für seine
Führungskräfte. Die Annahme zur Forschungsfrage, dass das ÖBH einen eher
konstruktivistisch-technomorphen Ansatz von Management verfolgt, um auf Komplexität zu
reagieren, hat sich demnach nicht bestätigt.
5.3 Forschungsfrage 2
Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und
Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar
machen?
In seinen Maßnahmen zur Werbung von Milizpersonal greift das ÖBH immer wieder den
Nutzen von militärsicher Ausbildung und Führungspraxis für das zivile Berufsleben auf. Und
auch die empirischen Daten zeigen deutlich, dass MO einen hohen Mehrwert darin sehen. Es
zeigt sich auch, dass der umgekehrte Mehrwert für das ÖBH weniger reflektiert wird. Dennoch
können Faktoren genannt werden, welche darauf zutreffen.
Als konkrete Management- und Führungskompetenzen wird die Personalentwicklung erkannt,
welche im Zivilen eine ungleich höhere Rolle spielt als beim ÖBH. Die selbstständigen
strukturierten Milizeinheiten haben auf diesem Gebiet einen im Vergleich zum Berufskader
relativ hohen Handlungsspielraum und wenden diesen aus dem Zivilen eingebrachte
Steuerungsinstrument auch informell an. Auch werden Maßstäbe aus Kontrollsystemen wie
Qualitätsmanagement und Controlling in den militärischen Verantwortungsbereich
eingebracht, der dort zwar ebenfalls institutionalisiert ist, jedoch als weniger wirksam
wahrgenommen wird. Auch hier handelt es sich um eine selbstständige, informelle
Anwendung, was die Annahme zur Forschungsfrage bestätigt, dass MO ihre zivilen
Kenntnisse vor allem auf informellem Weg in das ÖBH einbringen. Weiters wird als Nutzen für
das ÖBH vor allem das technische Know-How in Fachbereichen genannt, was allerdings aus
dem Bereich der Forschungsfrage hinausfällt.
- 56 -
Als wesentlichen Gewinn aus dem Zivilen führt nach den Ergebnissen noch ein geringerer
Anteil an Bürokratie und Verwaltung in Milizeinheiten zu einer höher empfundenen
Umsetzungsgeschwindigkeit und Lösungsorientierung.
Insgesamt kann festgestellt werden, dass, wie in der forschungsleitenden Frage (Kapitel 5.1)
festgestellt, die Nutzbarmachung für das ÖBH nicht in der expliziten Kenntnis von
Managementstrategien aus dem Zivilen liegt, welche MO dann in ihrem militärischen
Aufgabengebiet zur Anwendung bringen. Diese Annahme zur Forschungsfrage bestätigt sich
insofern nicht, als MO in ihren zivilen Berufsfeldern nicht mit derartigen Strategien zur
Komplexitätsbewältigung konfrontiert sind, welche sie bewusst wahrnehmen. Es erfolgt daher
kein aktives Einbringen von Managementstrategien in das ÖBH. Eher ist der umgekehrte
Effekt beobachtbar, dass die Führungserfahrungen aus dem ÖBH in das zivile Berufsleben
transferiert werden, wodurch diese Annahme bestätigt wurde.
Der tatsächliche Nutzen der MO für den Umgang des ÖBH mit Komplexität wurde in der
forschungsleitenden Frage bereits beantwortet.
- 57 -
6 Resümee
Die Transformation von der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft ist ein empirisch
nachweisbarer laufender Prozess, der unser Zusammenleben nachhaltig verändert. Sie führt
unter anderem durch die fortschreitende Entwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnologie zu einem exponentiellen Wachstum der Datenmenge, welche
bestehende Systeme nicht mehr direkt verarbeiten können. Außerdem führt die damit
einhergehende Vernetzung von Systemen zu emergenten Eigenschaften, welche spontan
entstehen und nicht vorhersagbar sind. Exponentielles Wachstum, Vernetzung, Emergenz und
Dynamik verursachen eine wachsende Komplexität der Umwelt, in der sich Organisationen
wie das ÖBH wiederfinden. Die Systemstrukturen und Steuerungsinstrumente, welche
Organisationen dabei zur Verfügung stehen, sind zu einem großen Teil nicht (mehr) geeignet,
um in dieser komplexen Umwelt zu agieren, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten bis hin zu
bestandsbedrohenden Krisen für diese Systeme führt.
Das ÖBH ist als strategische Reserve der Republik Österreich für Einsatz in derartigen
Krisenfällen vorgesehen. Das Forschungsinteresse, ob und wie es sich selbst auf den
ursächlichen Wandel für diese Krisen und wiederum deren veränderte Ausprägungen und
Auswirkungen als System anpasst, war daher naheliegend. Die theoretische Basis dafür
konnte in Form der strategischen Managementlehre für komplexe Systeme von Malik, sowie
in den Forschungen zu HRO von Weick und Sutcliffe gefunden werden. Eine Annäherung an
dieses Thema, sowohl gedanklich als auch praktisch, erleichterte die eigene Position des
Verfassers als MO, wodurch ein Anknüpfungspunkt an das Forschungsfeld gefunden werden
konnte.
Die Miliz hat innerhalb des Militärs einen Sonderstatus, der einen Blick auf das System ÖBH
sowohl von einer Innen- als auch von einer Außenperspektive ermöglicht. Gleichzeitig sind
MO als Führungskräfte in einem zivilen Umfeld zwangsläufig mit der Problematik von
Management komplexer Systeme konfrontiert. Beim Versuch, diese Erfahrungen, Zugänge
und Strategien des zivilen Managements zu ergründen und einen Zusammenhang mit
militärischer Führung herzustellen, hat sich gezeigt, dass ziviles Management in der Praxis oft
intuitiv und erfahrungsbasiert erfolgt, jedenfalls aber stark abhängig von der Persönlichkeit und
den Fähigkeiten der jeweiligen Führungskraft ist. Manifeste Strategien, die auf den mit der
Transformation verbundene Anstieg an Komplexität abzielen, sind im zivilen Umfeld von MO
wenig bis nicht erkennbar, weshalb eine bewusste Anwendung derartiger ziviler
Managementzugänge im ÖBH nur in Randbereichen erfolgt. Im Gegenteil beschreiben MO
ihre Erfahrungen, die sie beim Militär machen, als ungleich wertvoller für ihre zivile
Berufstätigkeit als umgekehrt. Dies liegt zu einem Gutteil daran, dass innerhalb des ÖBH
aufgrund seiner traditionell hierarchischen Strukturierung und aufgrund der Gefahr für Leib und
Leben in einem Einsatzfall eine höhere Sensibilität für Führung an sich besteht. In Ausbildung
und Praxis wird daher Führung und Steuerung explizit thematisiert und entwickelt. Dadurch
findet ein systemisch-evolutionäres Managementverständnis Eingang in das ÖBH, welches
aber nicht als Hindernis bei der Aufrechterhaltung der militärischen Kernkompetenz gesehen,
sondern als Ergänzung aufgefasst wird.
Durch die Kopplung von standardisierten Entscheidungsverfahren mit einer von Vertrauen
getragenen weitgehenden Handlungsfreiheit aller Führungsebenen durch die Auftragstaktik
hat das ÖBH ein geeignetes Mittel für komplexe Szenarien zur Hand. Sie birgt jedoch auch
die Gefahr der Isolierung einzelner Systemteile und dadurch den Verlust von vernetztem
Denken.
Den Vorteilen für die Komplexitätsbewältigung, welche die institutionelle Vertiefung und
Entwicklung der Führungsthematik bringen, stehen die strukturellen Nachteile entgegen,
- 58 -
welche die starre hierarchische Gliederung aufgrund fehlender Flexibilität und
Anpassungsfähigkeit von komplizierten auf komplexe Szenarien mit sich bringt. Hier wird es
neben den bereits bestehenden Möglichkeiten, welche die flexible Truppeneinteilung mit sich
bringt, zukünftig zusätzlicher Lösungen bedürfen, die eine noch leichtere Anpassung der
Struktur erlauben.
Bereits jetzt von Vorteil ist die nachhaltige strukturelle Krisensicherheit in Folge der einem VSM
entsprechenden Lenkungsstrukturen. Hier hat sich gezeigt, dass das Militär als Musterbeispiel
für ein lebensfähiges System angesehen werden kann.
Das Bewusstsein für HRO-Prinzipien ist gegeben, um einen Nutzen für die aktive Steuerung
von Unerwartetem zu erreichen, wird es jedoch weiterer Anstrengungen bedürfen. Zu sehr
wird auf Vereinfachung gesetzt und der Blick für schwache Signale in Prozessen
vernachlässigt.
Insgesamt wird das ÖBH stärker auf die Bewusstseinsbildung hinsichtlich der sich wandelnden
Umfeldbedingungen eingehen müssen. Die Notwendigkeit dafür und für vernetztes Denken
und Flexibilität ist evident, findet jedoch bisher nur Abbildung in der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung durch Studien und Publikationen und ist noch nicht in der Breite
angekommen.
Ein Mittel für Vernetzung ist, wie sich gezeigt hat, die Miliz, deren Stärkung und Aufwertung
durch bereits gesetzte und weitere geplante Maßnahmen als Ziel ausgegeben wurde.
Inwieweit darin die Vorteile zur Komplexitätsbewältigung erkannt wurden ist nicht klar
darstellbar. Jedenfalls finden sich darin Aspekte der Vernetzung, insbesondere die
wechselseitige Anerkennung und verstärkte Nutzbarmachung von zivilen und militärischen
Kompetenzen ist im Sinne des Forschungsgegenstandes ein Schritt in Richtung gelungener
Bewältigung von Komplexität.
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7 Ausblick
Im Zuge des Forschungsprozesses wurden Aspekte offensichtlich, auf die im Rahmen dieser
Arbeit nicht eingegangen werden konnte, die jedoch weiterführende Forschungsoptionen
eröffnen.
Der Umstand, dass sich unter den Interviewpartnern lediglich eine Frau findet und dies
dennoch den Repräsentationsanforderungen entspricht, zeigt, wie männlich dominiert das
Milizoffizierscorps, aber auch die zivilen Führungsetagen nach wie vor sind. Nach einer
zukünftigen Erhöhung des Anteils an militärischen und zivilen weiblichen Führungskräften
würde ein Blick auf neue Ergebnisse Aufschluss geben können, ob und wie sich der Umgang
mit Komplexität dadurch ändert.
Auch wurden nur OffizierInnen in den Forschungsprozess einbezogen. Die Auswirkungen von
steigender Komplexität wirken sich jedoch auch auf die darunter liegenden Ebenen der
UnteroffizierInnen und der Chargen-Dienstgrade aus. Hier wäre der Forschungsgegenstand
erweiterbar auf unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen, zumal die Anzahl der
Führungskräfte auf diesen Ebenen eine höhere ist als auf Offiziersebene.
Die Einschränkung des Forschungsfeldes auf die Miliz lässt den Blick dafür offen, ob und wie
die Ergebnisse im Vergleich zum Berufskader des ÖBH divergieren. Eine Ausweitung der
Fragestellung, wie weit die Anpassung des Berufskaders an die veränderten Umstände
gediehen ist, würde einen vertiefenden Blick in die Bereitschaft des ÖBH für die zukünftigen
Herausforderungen erweitern.
Und zuletzt beschränkt sich diese Arbeit auf nationale Gegebenheiten. Einen
Anknüpfungspunkt bietet daher der Blick auf die Situation in anderen Staaten und Armeen mit
ähnlicher Struktur. Ein Vergleich mit beispielsweise der Schweiz oder den skandinavischen
Ländern, die ebenfalls eine starke Milizkomponente in ihren Streitkräften haben, würde die
Perspektive im Sinne des vernetzten Denkens erweitern.
- 60 -
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- 63 -
9 Abbildungsverzeichnis
ABBILDUNG 1: DAS VIABLE SYSTEM MODEL NACH MALIK 17 ABBILDUNG 2: GLIEDERUNG DES ÖSTERREICHISCHEN BUNDESHEERES 23 ABBILDUNG 3: GLIEDERUNG BMLV 24 ABBILDUNG 4: RISIKOBILD ÖSTERREICH 2021 28 ABBILDUNG 5: ERLÄUTERUNGEN ZUM RISIKOBILD 29 ABBILDUNG 6: HINTERGRUND DER GESPRÄCHSPARTNERINNEN (EIGENE DARSTELLUNG) 38 ABBILDUNG 7: ABLAUFMODELL DER "ZUSAMMENFASSENDEN INHALTSANALYSE" 39 ABBILDUNG 8: FALLVIGNETTE INHALTSANALYSE 67 ABBILDUNG 9: TEILSTREITKRÄFTE UND WAFFENGATTUNGEN DES ÖBH 68
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10 Anhang
10.1 Leitfaden
Dauer des Interviews ca. 60 Minuten
Forschungseinleitende Frage
Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?
Forschungsfrage 1:
Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer auf die steigende Komplexität von Aufgaben wie sie von Malik in der Transformation 21 beschrieben wird?
Forschungsfrage 2:
Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar machen?
I Einleitung:
1) Vorstellung:
• Eigene Vorstellung, eigener militärischer Hintergrund
• Hintergrund der Masterarbeit (FPM)
2) Technisches:
• Dank für die Bereitschaft und Hinweis auf Anonymität auf Wunsch
• Hinweis auf Aufzeichnung des Gesprächs zur Interpretation
• Keine Zitate in der Arbeit
II Stimulus / Leitfrage / Erzählaufforderung
1) Einleitung
Wenn man die Zeitungen aufschlägt, den Fernseher aufdreht oder im Internet recherchiert leben wir offensichtlich gerade in einer Zeit der Transformation, der Globalisierung, der Vernetzung – in einem Informationszeitalter, das von Komplexität, Varietät und Eigendynamik geprägt ist – in dem viel von kybernetischen Modellen, lebensfähigem Systemdesign und Resilienz die Rede ist.
Wirtschafts- und Finanzkrisen werden mit steigender Komplexität begründet, in der Politik wird auf die Globalisierung verwiesen, um zu zeigen, dass man nicht alles regeln kann, in der Verwaltung sehen sich viele nur noch als kleine Rädchen, die das Gesamtbild nicht beeinflussen können. Alles wird angeblich komplexer und dadurch undurchschaubar, unvorhersehbar und dadurch auch unlenkbar, unsteuerbar, unkontrollierbar.
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Sie sind als Manager / Führungskraft in ihrem zivilen Beruf mit diesen Herausforderungen konfrontiert und müssen täglich damit umgehen. Gleichzeitig sind sie Offizier des Österreichischen Bundesheeres und haben damit auch hier als Führungskraft Einblick in die Art und Weise, wie das Militär auf komplexer werdende Herausforderungen reagiert. Sie haben sozusagen eine einzigartige Doppelrolle und sind Teil beider Welten – eine Schnittstelle zwischen diesen Welten.
2) Leitfrage
Wie würden Sie die Erfahrungen beschreiben, die Sie in dieser Doppelrolle machen – mit Ihren Kenntnissen aus Ihrem zivilen Berufsleben im Management und als militärischer Kommandant?
III Konkretisierungsfragen
A Transformation - Komplexität
• A1) Wie stellt sich diese komplexer werdende Welt nach Ihrer Erfahrung dar?
• A2) Welche Mittel hat Management ganz allgemein, um (steigender) Komplexität zu begegnen?
• A3) Mit welchen Mitteln begegnet das Bundesheer der Herausforderung steigender Komplexität?
B Management / Führung
• B1) Welches Verständnis von Management herrscht beim Bundesheer vor?
• B2) Welche Rolle spielt ein Verständnis von Management beim Bundesheer?
• B3) Wie ist es für Sie, in zwei verschiedenen Welten zu führen?
• B4) Welche Gemeinsamkeiten / Unterschiede gibt es dabei?
• B5) Konstr-techn. / syst.-evolut.
Es gibt in der Managementlehre zwei Zugänge, die sich mit jeweils einem Bild vergleichen lassen. Das ist einerseits das Bild der Maschine und andererseits das Bild eines lebenden Organismus.
Wenn Sie sich das Bundesheer vor Ihr geistiges Auge holen, wie würden Sie sagen funktioniert das Bundesheer? Wie eine Maschine, oder wie ein lebender Organismus und warum?
C Organisationsstruktur
• C1) Wie sollten erfolgreiche Organisationen gegliedert sein?
• C2) Was kennzeichnet erfolgreiche, lebensfähige Organisationen?
• C3) Welche strukturellen Merkmale des Bundesheeres gibt es?
• C4) Wie wirken sich diese auf den Erfolg bei der Bewältigung von Komplexität aus?
• C5) Inwieweit sind strenge Hierarchien, wie wir sie beim Bundesheer kennen bei der Erfüllung von Aufgaben in einer komplexer werdenden Welt förderlich oder hinderlich?
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D Nutzbarmachung von Kenntnissen
• D1) Welche Rolle spielen ihre zivilen Kenntnisse von Management bei der Erfüllung ihrer Aufgaben als Offizier?
• D2) Wie kann das Bundesheer von ihren zivilen Managementkenntnissen profitieren?
• D3) In welcher Form / Auf welchem Weg fließen ihre Managementkenntnisse in den Dienst beim Bundesheer ein?
Abschluss: Gibt es noch etwas, das ihnen besonders wichtig ist, über das wir bis jetzt noch
nicht gesprochen haben?
Dank und Verabschiedung
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10.2 Fallvignette
Abbildung 8: Fallvignette Inhaltsanalyse
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10.3 Waffengattungen
Abbildung 9: Teilstreitkräfte und Waffengattungen des ÖBH