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Management in Anzug und Uniform MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen zivilem und militärischem Management zur Bewältigung von Komplexität Masterarbeit Zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts in Political Management der Fachhochschule FH Campus Wien Masterlehrgang: Führung, Politik und Management Vorgelegt von: Major Franz Pochendorfer Personenkennzeichen: C1930019006 Betreuer: Brigadier Mag. Erich Cibulka Erstbegutachter: Mag. Dr. Roman Pfefferle Zweitbegutachter: Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Schnider Eingereicht am: 30.08.2021

Management in Anzug und Uniform

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Page 1: Management in Anzug und Uniform

Management in Anzug und Uniform

MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen zivilem und militärischem Management zur

Bewältigung von Komplexität

Masterarbeit

Zur Erlangung des akademischen Grades

Master of Arts in Political Management

der Fachhochschule FH Campus Wien

Masterlehrgang: Führung, Politik und Management

Vorgelegt von:

Major Franz Pochendorfer

Personenkennzeichen:

C1930019006

Betreuer:

Brigadier Mag. Erich Cibulka

Erstbegutachter:

Mag. Dr. Roman Pfefferle

Zweitbegutachter:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Schnider

Eingereicht am:

30.08.2021

Page 2: Management in Anzug und Uniform

Erklärung

Ich erkläre, dass die vorliegende Masterarbeit von mir selbst verfasst wurde und ich keine

anderen als die angeführten Behelfe verwendet bzw. mich auch sonst keiner unerlaubten Hilfe

bedient habe.

Ich versichere, dass ich diese Masterarbeit bisher weder im In- noch im Ausland (einer

Beurteilerin/einem Beurteiler zur Begutachtung) in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit

vorgelegt habe.

Weiters versichere ich, dass die von mir eingereichten Exemplare (ausgedruckt und

elektronisch) identisch sind.

Datum: ……………………… Unterschrift: ……………………….……………………………….

Page 3: Management in Anzug und Uniform

- I -

Danksagung

Berufs- und familienbegleitendes Studieren verlangt der ganzen Familie sehr viel ab. Daher

gilt mein erster und größter Dank meiner Frau Mag. Astrid Pochendorfer BEd für ihre Geduld

und ihre scheinbar unerschöpfliche Energie während der Präsenzphasen und während der

Erstellung dieser Masterarbeit. Sie hat im Alleingang in der Praxis bewiesen, dass unsere

Familie ein Viable System ist, bevor ich VSM buchstabieren konnte. Zu diesem lebensfähigen

und liebenswürdigen System zählen auch meine Kinder Anna, Xaver und Reingard, die sehr

viele Tage und Stunden auf ihren Papa verzichten mussten und die ihn trotzdem noch

anerkennen und als Teil des Systems akzeptieren, wofür ich ihnen sehr dankbar bin und wofür

ich sie – unter anderem – sehr liebe. Ohne meine Familie wäre dieses Projekt nicht möglich

gewesen und ich bin dankbar, stolz und glücklich sagen zu können, dass wir das gemeinsam

geschafft haben.

Vielen Dank an meinen Betreuer Brigadier Mag. Erich Cibulka für die kameradschaftliche und

unkomplizierte Zusammenarbeit. Einen fachkundig versierteren Beistand, der die Schnittstelle

zwischen ziviler Welt und Militär selbst in der Praxis derart persönlich verkörpert und dennoch

unvoreingenommen Raum für den Forschungsansatz zulässt, ist in diesem Feld wohl kaum

zu finden.

Ich bedanke mich auch bei Gerald Forstner, der mit seiner erkenntnisreichen und gleichzeitig

zielorientierten Lehrveranstaltung den theoretischen Grundstein für die praktische Umsetzung

dieser Arbeit gelegt hat und dessen persönlicher Einsatz und praktische Hilfestellungen den

Forschungsprozess um Jahre verkürzt haben.

Größter Dank geht an die Kameradinnen und Kameraden aus dem Offizierscorps für ihre

Bereitschaft, ihre Expertise mit mir zu teilen und in diese Arbeit einfließen zu lassen.

Mein herzlicher Dank gebührt meinem Freund Hermann Brückl MA, der mich überhaupt erst

auf dieses Studium aufmerksam gemacht hat und der vor mir wusste, dass es für mich

maßgeschneidert ist.

Zum Schluss aber nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern Dr. Manfred und Lilli Pochendorfer

für ihre Geduld und ihre Großzügigkeit zu einer Zeit, als mir der Abschluss einer Arbeit wie

dieser noch nicht von der Hand gehen wollte.

Page 4: Management in Anzug und Uniform

- II -

Kurzfassung

Die derzeitige Transformation von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft wirkt sich auf alle

gesellschaftlichen Segmente aus. Hinter dem Begriff der „Globalisierung“ verbirgt sich eine

immer rascher voranschreitende Vernetzung von Systemen, welche vor allem durch die

sprunghafte Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie begründet ist.

Durch die Vernetzung von Systemen kommt es zu einer Erhöhung der Komplexität und

Dynamik innerhalb und zwischen den Systemen. Durch Emergenz entstehen neue, nicht

vorhersehbare Systemeigenschaften, welche wiederum neue Kausalzusammenhänge bilden,

die für die Steuerung von Systemen oder Organisationen tiefgreifende Folgen haben.

Steuerung wird aufgrund der fehlenden Vorhersehbarkeit von Maßnahmen erschwert und

Management und Führung müssen neue Wege und Instrumente finden, um mit dieser

Herausforderung umzugehen.

Das ÖBH ist wie jede andere Institution mit der steigenden Komplexität und Dynamik seines

Umfeldes konfrontiert. Bedrohungsszenarien, welche lange Zeit die Sicherheitslage

bestimmten, haben sich in den letzten Jahren aufgrund der Transformation zur

Netzwerkgesellschaft grundlegend geändert. Die Kernkompetenz der militärischen

Landesverteidigung ist dabei in den Hintergrund gerückt und neue, komplexe Szenarien, wie

hybride Bedrohungen oder Resilienz-gefährdende Ereignisse gewannen an Bedeutung. Die

Corona-Krise in Folge der SARS-Cov-2-Pandemie macht dies derzeit augenscheinlich.

Die vorliegende Arbeit wirft einen Blick darauf, inwieweit es dem Österreichischen Bundesheer

bisher gelungen ist, sich auf diese neuen, komplexen Szenarien einzustellen, um eine

wirksame Führung und Steuerung zu gewährleisten. Dafür wurde die Perspektive von

speziellen Führungskräften innerhalb des Österreichischen Bundesheeres gewählt.

MilizoffizierInnen gehen die meiste Zeit einer „normalen“ zivilen Berufstätigkeit nach und

führen in regelmäßigen periodischen Abständen für kurze Zeit militärische Einheiten, welche

als militärische Reserve und Ersatzeinheiten für das Österreichische Bundesheer

herangezogen werden können. Aufgrund ihrer Doppelrolle als zivile und militärische

Führungskräfte werden sie zur Schnittstelle zwischen ziviler Arbeitswelt und Militär. Sie

können daher Vergleiche ziehen und Aussagen treffen, wie in den beiden

Systemzusammenhängen mit steigender Komplexität und Dynamik der Umwelt und den damit

verbundenen Herausforderungen umgegangen wird.

Als theoretische Grundlagen wurden einerseits die Managementtheorie der Strategie des

Managements komplexer Systeme von Malik herangezogen, welches auf dem von Beer

entworfenen Modell lebensfähiger Systeme basiert und andererseits die Charakterisierung des

Österreichischen Bundesheeres als High Reliability Organization (HRO) berücksichtigt. Hier

dienten die Forschungen von Weick und Sutcliffe zu den HRO-Prinzipien als

forschungsleitende Gedanken.

Den Grundsätzen eines qualitativen Forschungsdesigns folgend wurden Interviews mit

MilizoffizierInnen geführt, deren Ergebnisse mithilfe einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse

nach Mayring ausgewertet und zur Beantwortung der Forschungsfragen herangezogen

wurden. Ergänzend wurden die Expertisen von System- und Komplexitätsforschern eingeholt.

Die Ergebnisse der Forschung zeigen, dass das Österreichische Bundesheer als

lebensfähiges System einzustufen ist, dessen Strukturen komplexe Herausforderungen

bewältigen können. Ebenso ist die Kultivierung von HRO-Prinzipien ein laufender Prozess, der

eine derartige Qualifizierung zulässt. Erschwerend für den Umgang mit Komplexität wurden

Mängel an struktureller Flexibilität und in vernetztem Denken auf formal-institutioneller Ebene

konstituiert. MilizoffizierInnen profitieren dabei in ihrer zivilen Führungstätigkeit mehr von ihren

militärischen Erfahrungen als umgekehrt.

Page 5: Management in Anzug und Uniform

- III -

Abstract

The current transformation from an industrial to a network society is affecting all segments of

society. The term "globalization" refers to the increasingly rapid networking of systems, which

is primarily due to the rapid development of information and communication technology. The

networking of systems leads to an increase in complexity and dynamics within and between

systems. Emergence gives rise to new, unpredictable system properties, which in turn form

new causal relationships that have profound consequences for the control of systems or

organizations. Control becomes more difficult due to the lack of predictability of actions, and

management and leadership must find new ways and tools to deal with this challenge.

The Austrian Armed Forces, like any other institution, are confronted with the increasing

complexity and dynamics of their environment. Threat scenarios, which for a long time

determined the security situation, have changed fundamentally in recent years due to the

transformation to a network society. The core competence of military national defense has

moved into the background and new, complex scenarios, such as hybrid threats or resilience-

threatening events, have gained in importance. The Corona crisis in the wake of the SARS-

Cov-2 pandemic currently makes this obvious.

This paper takes a look at the extent to which the Austrian Armed Forces have so far

succeeded in adapting to these new, complex scenarios in order to ensure effective command

and control. For this purpose, the perspective of specific leaders within the Austrian Armed

Forces was chosen. Militia officers spend most of their time pursuing a "normal" civilian

occupation and, at regular periodic intervals, lead military units for short periods of time, which

can be called upon as military reserve and replacement units for the Austrian Armed Forces.

Due to their dual role as civilian and military leaders, they become the interface between the

civilian working world and the military. Therefore, they can draw comparisons and make

statements on how the two system contexts deal with increasing complexity and dynamics of

the environment and the associated challenges.

On the one hand, the management theory of Malik's strategy of managing complex systems,

which is based on Beer's model of viable systems, was used as a theoretical basis, and on the

other hand, the characterization of the Austrian Armed Forces as a High Reliability

Organization (HRO) was taken into account. Here, the research of Weick and Sutcliffe on HRO

principles served as research guiding thoughts.

Following the principles of a qualitative research design, interviews were conducted with militia

officers, the results of which were evaluated using a summary content analysis according to

Mayring and used to answer the research questions. In addition, the expert opinions of systems

and complexity researchers were obtained.

The results of the research show that the Austrian Armed Forces can be classified as a viable

system whose structures can cope with complex challenges. Likewise, the cultivation of HRO

principles is an ongoing process that allows for such qualification. Complicating the handling

of complexity, deficiencies in structural flexibility and in networked thinking were constituted at

the formal-institutional level. Militia officers benefit more from their military experience in their

civilian leadership activities than vice versa.

Page 6: Management in Anzug und Uniform

- IV -

Abkürzungsverzeichnis

BMLV Bundesministerium für Landesverteidigung

EF Einjährig Freiwillig

HRO High Reliability Organizations

HUAk Heeresunteroffiziersakademie

LVAk Landesverteidigungsakademie

MO MilizoffizierIn(nen)

MUO MilizunteroffizierIn(nen)

ÖBH Österreichisches Bundesheer

TherMilAk Theresianische Militärakademie

VSM Viable System Model

VUCA Akronym, englisch für: Volatility Uncertainty Complexity Ambiguity -

deutsch: Unbeständigkeit Unsicherheit Komplexität Mehrdeutigkeit

Page 7: Management in Anzug und Uniform

- V -

Schlüsselbegriffe

Ambivalenz

Dynamik

Emergenz

Führung

High Reliability Organization

Hierarchie

KommandantIn

Komplexität

komplex – kompliziert

Landesverteidigung

Management

Militär

Miliz

Netzwerkgesellschaft

Österreichisches Bundesheer

OffizierIn

Organisation

standardisiert

sowohl-als-auch

Steuerung

Struktur

Transformation

Viable System Model

Zivil

Page 8: Management in Anzug und Uniform

- VI -

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ................................................................................................................ 1

1.1 Problemstellung ................................................................................................................ 1

1.2 Forschungsfragen ............................................................................................................. 2

1.3 Annahmen ......................................................................................................................... 3

1.3.1 Die Große Transformation21 ................................................................................................. 3

1.3.2 Zivile und militärische Systemunterschiede ........................................................................... 4

1.3.3 MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischem und zivilem Führen .................... 4

1.4 Zielsetzung und Nutzen .................................................................................................... 5

1.5 Gliederung der Arbeit ........................................................................................................ 6

2 Theoretische Grundlagen...................................................................................... 7

2.1 Wandel der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft ............................................ 7

2.1.1 Die Große Transformation ..................................................................................................... 7

2.1.2 Wandel im Aufgabengebiet des Österreichischen Bundesheeres ........................................ 8

2.2 Komplexität und Varietät ................................................................................................... 9

2.3 Management von Komplexität ........................................................................................ 10

2.3.1 Kybernetik............................................................................................................................. 11

2.3.2 Kontrolle von Systemen ....................................................................................................... 12

2.3.3 Managementverständnis bei Malik....................................................................................... 13

2.3.4 Kybernetische Managementsysteme ................................................................................... 14

2.3.4.1 Das Viable System Modell (VSM) ........................................................................................ 16

2.3.5 Komplexität und HRO-Prinzipien ......................................................................................... 18

2.3.5.1 Konzentration auf Fehler ...................................................................................................... 19

2.3.5.2 Abneigung gegen Vereinfachung ......................................................................................... 19

2.3.5.3 Sensibilität für betriebliche Abläufe ...................................................................................... 20

2.3.5.4 Streben nach Resilienz ........................................................................................................ 20

2.3.5.5 Respekt vor Expertise .......................................................................................................... 21

2.4 Das Österreichische Bundesheer ................................................................................... 21

2.4.1 Gliederung und Aufgaben .................................................................................................... 21

2.4.2 Strukturmerkmale des ÖBH ................................................................................................. 24

2.4.3 Das Milizsystem ................................................................................................................... 25

2.5 Komplexität und das Österreichische Bundesheer ........................................................ 28

2.5.1 Komplexe Bedrohungsszenarien ......................................................................................... 28

2.5.2 Militärische Führung und Management ................................................................................ 30

2.5.2.1 Definition............................................................................................................................... 30

2.5.2.2 Auftragstaktik ........................................................................................................................ 31

2.5.2.3 Menschenbilder .................................................................................................................... 31

3 Empirisches Vorgehen und Methodik ............................................................... 33

3.1 Forschungsinteresse....................................................................................................... 33

Page 9: Management in Anzug und Uniform

- VII -

3.1.1 Forschungsfragen ................................................................................................................ 33

3.1.2 Vorannahmen ....................................................................................................................... 34

3.1.2.1 Die Große Transformation ................................................................................................... 34

3.1.2.2 Zivile und militärische Systemunterschiede ......................................................................... 34

3.2 Forschungsfeld ............................................................................................................... 34

3.3 Methodologisches Vorgehen .......................................................................................... 35

3.3.1 Datenerhebung ..................................................................................................................... 36

3.3.2 Auswahl der GesprächspartnerInnen................................................................................... 37

3.3.3 Datenauswertung ................................................................................................................. 38

4 Ergebnisdarstellung............................................................................................. 40

4.1 Einleitung ........................................................................................................................ 40

4.1.1 Flexibilität und Persönlichkeit ............................................................................................... 40

4.1.2 „Sowohl-als-auch“ statt „Entweder-oder“ ............................................................................. 40

4.2 Transformation ................................................................................................................ 41

4.2.1 Transformation und Krise ..................................................................................................... 41

4.2.2 Antifragilität und Risiko ......................................................................................................... 42

4.2.3 Folgerungen ......................................................................................................................... 43

4.3 Vom Umgang des ÖBH mit Komplexität ........................................................................ 43

4.3.1 Führung und Steuerung ....................................................................................................... 43

4.3.1.1 Dezentralisierung und Vertrauen ......................................................................................... 44

4.3.1.2 Hierarchie und Komplexität .................................................................................................. 45

4.3.1.3 Das ÖBH als HRO ................................................................................................................ 46

4.3.2 Folgerungen ......................................................................................................................... 47

4.3.3 Organisationsstrukturen ....................................................................................................... 47

4.3.3.1 Konstruktivistisch-technomorph versus systemisch-evolutionär ......................................... 47

4.3.3.2 Das ÖBH als VSM ................................................................................................................ 48

4.3.4 Folgerungen ......................................................................................................................... 49

4.4 Die Rolle der Miliz ........................................................................................................... 49

4.4.1 Militärische und zivile Systemunterschiede ......................................................................... 49

4.4.2 Wechselseitige Nutzbarmachung von Kenntnissen ............................................................. 50

4.4.3 Relevanz der Miliz für Komplexitätsbewältigung des ÖBH .................................................. 51

4.4.4 Folgerungen ......................................................................................................................... 52

5 Beantwortung der Forschungsfragen ............................................................... 53

5.1 Forschungsleitende Frage .............................................................................................. 53

5.2 Forschungsfrage 1 .......................................................................................................... 54

5.3 Forschungsfrage 2 .......................................................................................................... 55

6 Resümee ................................................................................................................ 57

7 Ausblick ................................................................................................................. 59

8 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 60

Page 10: Management in Anzug und Uniform

- VIII -

9 Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 63

10 Anhang .................................................................................................................. 64

10.1 Leitfaden ......................................................................................................................... 64

10.2 Fallvignette ...................................................................................................................... 67

10.3 Waffengattungen ............................................................................................................. 68

Page 11: Management in Anzug und Uniform

- 1 -

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

„Warum kann man mit einem Milizoffizier nicht Verstecken spielen? – Weil ihn keiner sucht.“1

„Die Große Transformation21 … ist in vollem Gange. Wirtschaft und

Gesellschaft verändern sich in einer Geschwindigkeit, in einem Ausmaß und in

Richtungen, die bis vor kurzem für die meisten nicht vorstellbar waren.“2

„Als Ergebnis der sich gegenwärtig abspielenden Grossen sic! Transformation

21 werden wir eine grundlegende Änderung von fast allem erleben, was wir tun,

wie wir es tun und warum wir es tun Hervorhebung im Original. In gewisser

Weise wird sich sogar ändern, wer wir sind.“3

MilizoffizierInnen sind vielfach Menschen, die in ihrem zivilen Berufsleben als Führungskräfte

tätig sind und parallel eine militärische Führungsfunktion innerhalb des Österreichischen

Bundesheeres innehaben. Sie repräsentieren Führungsexpertise der Wirtschaft, der Industrie,

der Verwaltung, der Politik und des Militärs gleichzeitig. In einer sich wandelnden Gesellschaft

ist diese Expertise von hoher Bedeutung.

Die vorliegende Masterarbeit setzt sich mit der Frage der unterschiedlichen Zugänge von

zivilen und militärischen Organisationen im Umgang mit den von ihnen zu bewältigenden

Aufgaben auseinander. Im Fokus stehen dabei Management, Organisationsstrukturen und

Führungsverhalten im Zusammenhang mit den von Fredmund Malik und der St. Gallener

Schule entwickelten Managementsystemen, die der Kontrolle von komplexen Systemen

dienen sollen. Komplexität ist in diesem Zusammenhang als Vielfalt zu verstehen, die aus

möglichen Unterschieden und Unterscheidungsmöglichkeiten von Faktoren entsteht, deren

Folge Undurchschaubarkeit, Unberechenbarkeit, Nicht-Analysierbarkeit, Nicht-

Vorhersehbarkeit und fortgesetzte Veränderung sind, die aber auch als Voraussetzung für

Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Flexibilität, Responsivität, Evolutionsfähigkeit oder

Kreativität angesehen werden.4

Die Veränderungen, die Malik als „Große Transformation21“ bezeichnet, ereignen sich nach

seiner Forschung auf vier Ebenen: jener der Demografie, des Komplexes von Wissen und

Technologie, der Ökologie und schließlich der Ökonomie. Durch ihr gegenseitiges Zusammen-

und Aufeinandereinwirken befeuern diese eine daraus resultierende exponentiell wachsende

Komplexität5 und vergrößern die Herausforderung ihrer Bewältigung für Organisationen und

deren steuernde Einheiten.

Eine wesentliche Rolle spielen dafür eine ganzheitliche Betrachtungsweise und modulare

Lenkungs- und Steuerungssysteme, die über ein Managementverständnis, welches sich auf

den ökonomischen Faktor allein projiziert, hinausgehen. Dementsprechend sind für das

Bewältigen eines derartigen Wandels auch wesentliche Veränderungen in den

Managementsystemen, Organisationsstrukturen und Strategien notwendig. Diese Systeme,

Strukturen und Strategien, welche also an die neuen Herausforderungen angepasst werden

1 Vgl. Endres, Helge W (1994), S. 107.

2 Malik, Fredmund (2013), S. 17.

3 Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

4 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 346.

5 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 18 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 12: Management in Anzug und Uniform

- 2 -

müssen, sind in den betrachteten Systemzusammenhängen jeweils unterschiedlich

ausgestaltet.

Während militärische Organisationen streng hierarchisch strukturiert sind, ist es in zivilen – im

Sinne von nicht-militärischen – Unternehmen durchaus keine Seltenheit,

Organisationskulturen zu schaffen, die auf eine breite Beteiligung der Mitarbeiter in Prozessen

und Abläufen bauen, also flachere Hierarchien zu etablieren und mehr persönliche

Entscheidungsfreiheit der „Untergebenen“ zuzulassen. Dies kann ebenfalls bereits als

bewusste oder auch indirekte Reaktion mit der von Malik beschriebenen Großen

Transformation21 in Zusammenhang gebracht werden. Organisationen stellen sich auf die

neuen Herausforderungen ein, die der Wandel mit sich bringt, ob sie es im bewussten

Begegnen auf die Transformation21 tun oder ob dies intuitiv aus unternehmerischem Denken

heraus geschieht, ist für diese Betrachtung zweitrangig. Inwieweit sich militärische Strukturen

bereits auf den Wandel eingestellt haben und ob militärische Führungskräfte, also

Offizierinnen und Offiziere, dies innerhalb ihrer Organisationsstrukturen wahrnehmen, wird

darzustellen sein.

Eine besondere Stellung kommt in diesem Zusammenhang jenen militärischen

Führungskräften zu, die diese Funktion nur zeitlich begrenzt und neben ihrer zivilen beruflichen

Tätigkeit erfüllen – den Angehörigen des Milizstandes. Die Österreichische Bundesverfassung

(Artikel 79) weist die militärische Landesverteidigung dem Österreichischen Bundesheer zu

und schreibt vor, es nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.

MilizsoldatInnen sind ZivilistInnen, die sich nach der Ableistung ihres Grundwehrdienstes dazu

verpflichten, ihre erworbenen soldatischen Fähigkeiten über den Grundwehrdienst (bei Frauen

über den freiwillig geleisteten Ausbildungsdienst) hinaus gemäß einem vorgeschriebenen

Laufbahnbild durch regelmäßiges „Üben“ zu erhalten, zu erweitern und in den militärischen

Dienstbetrieb einzubringen, ohne hauptberuflich dem Österreichischen Bundesheer

anzugehören. Eine besondere Stellung kommt diesen insofern zu, als sie nicht selten auch in

der zivilen Berufsrealität in einer Führungsverantwortung, etwa in der Wirtschaft, der Politik

oder im Öffentlichen Dienst stehen. Sie sind sozusagen Führungskräfte in zwei Welten.

Folgt man dieser Ansicht, sind MilizoffizierInnen in ihren Führungsbereichen der jeweiligen

Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen Ansätzen konfrontiert, dem derzeit

stattfindenden Wandel zu begegnen und die zuvor beschriebene wachsende Komplexität zu

bewältigen. Dies lässt sich an Parametern wie Organisationsstrukturen, Management- und

Führungsstrategien, Unternehmenskulturen, Menschenbildern, Sinnkonstruktionen, Werten,

Umgang mit Fehlern und so fort, festmachen. MilizoffizierInnen stehen dabei nicht an einer

Schnittstelle zwischen militärischer und ziviler Welt, sondern sie werden durch die in ihnen

verwirklichte Personalunion als Führungskräfte in beiden Systemkontexten selbst zu dieser

Schnittstelle. Mithilfe ihrer Erfahrungen lassen sich mögliche Vor- und Nachteile erforschen,

welche militärische Organisationsstrukturen, Strategien und Managementsysteme in Hinblick

auf die Bewältigung von wachsender Komplexität haben.

1.2 Forschungsfragen

Management ist nicht nur eine Frage, die sich unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten

stellt. Institutionen benötigen auf verschiedenen Ebenen Lenkungs- und Steuerungselemente,

um eine Zielerreichung zu gewährleisten, die dem Organisationszweck entspricht. In diesem

Sinne gibt es keine Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielsetzungen von

Management. Dennoch werden in den jeweiligen Kontexten unterschiedliche

Herangehensweisen gewählt. In der Regel ist es schwierig für einen Außenstehenden, die

Page 13: Management in Anzug und Uniform

- 3 -

unterschiedlichen Zugänge von Steuerung und Führung einer Institution nachzuvollziehen,

ohne sich intensiv mit den internen Strukturen, Prozessen sowie der Umwelt dieser Institution

auseinanderzusetzen. Dies erfordert einen hohen zeitlichen Aufwand und ein

zugrundeliegendes Bedürfnis.

Das Wissen darüber, wie einzelne Institutionen mit einer immer komplexer werdenden Umwelt

umgehen, die sich durch globale Vernetzung mithilfe der Informationstechnologien ergibt,

bleibt demnach zumeist den Angehörigen dieser Institutionen vorbehalten. Ein Austausch ist

nur möglich, wenn Einzelne einen Wechsel vollziehen, etwa bei einer beruflichen

Veränderung. Wieweit in solch einem Fall die Erfahrungen des Einzelnen von Nutzen und

Interesse sind, ist im jeweiligen Fall zu beobachten.

Wesentlich anders verhält es sich bei den für die Arbeit im Zentrum stehenden

MilizsoldatInnen. Diese sind aufgrund ihrer Doppelfunktion tatsächlich Teile zweier wesentlich

unterschiedlicher Systemzusammenhänge. Auch wenn sie die militärische Funktion nur

zeitlich begrenzt bekleiden, liegt es im Wesen des Milizsystems, dass ihnen rechtlich wie

moralisch dieselbe Verantwortung und dieselben Entscheidungsbefugnisse in ihrem jeweiligen

Verantwortungsbereich zukommen wie ihren hauptberuflich tätigen KameradInnen.

Von Seiten des ÖBH wird zumeist auf die Wirkung hingewiesen, welche die Miliz zur

Verankerung und Anerkennung der Landesverteidigung in der Bevölkerung hat.6 Die Wirkung

in die umgekehrte Richtung, nämlich dahingehend, dass Frauen und Männer, welche die

meiste Zeit ihres Lebens als ZivilistInnen verbringen, ihre Ansichten, ihr Wissen und ihre

Erfahrungen in die Führungstätigkeit des ÖBH einbringen, ist bisher wenig wissenschaftlich

erforscht worden und steht daher im Fokus dieser Arbeit. Sie soll mit folgenden

Fragestellungen erforscht werden:

Forschungseinleitende Frage

Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung

und zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden

Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?

Forschungsfrage 1:

Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer

auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21

beschrieben wird?

Forschungsfrage 2:

Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und

Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar

machen?

1.3 Annahmen

1.3.1 Die Große Transformation21

Wir befinden uns in einer Zeit des Überganges, den Malik mit Bezug auf Peter F. Drucker als

Die Große Transformation21 bezeichnet. In der Wirtschaft und in der Gesellschaft überhaupt

findet ein Paradigmenwechsel statt, der den Übergang von einer alten Welt in eine neue Welt

6 BMLV (2021), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 14: Management in Anzug und Uniform

- 4 -

erkennbar werden lässt. Dieser Wandel ist mit dem Übergang der Agrargesellschaft in die

Industriegesellschaft vergleichbar oder mit der Verdrängung der Feudalgesellschaft durch

Rechtsstaat und Demokratie.7

Durch den Grad der globalen Vernetzung und der Möglichkeiten des digitalen

Informationsaustausches ist dieser Wandel einer zusätzlichen Beschleunigung ausgesetzt

und ereignet sich in einer Größenordnung, die es mit dem bisherigen Verständnis von

Steuerung und Führung unmöglich macht, die exponentiell steigende Komplexität von

Systemen unter Kontrolle zu bringen.

Organisationen stellen sich auf die neuen Herausforderungen, die der Wandel mit sich bringt, ein, indem sie ihre internen Organisationsstrukturen, Strategien und Systeme anpassen, um der steigenden Dynamik in ihren operativen Feldern zu begegnen und um handlungsfähig zu bleiben.

Die Annahme zu Forschungsfrage 1 besteht darin, dass das ÖBH mit einer steigenden

Komplexität seiner Aufgaben konfrontiert ist und darauf reagiert. Es wird weiters

angenommen, dass streng hierarchische Institutionen langsamer auf diesen Wandel reagieren

können.

Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer

zivilen beruflichen Tätigkeit mit Strategien konfrontiert sind, mit denen zivile Organisationen

auf die Große Transformation21 reagieren und dieses Wissen in ihre Führungstätigkeit beim

ÖBH einfließen lassen.

1.3.2 Zivile und militärische Systemunterschiede

Das ÖBH hat aufgrund seiner streng hierarchischen Organisation andere Strategien und

Systemprinzipien wie Kultur, Menschenbild und Werte als zivile Organisationen, in denen

einzelnen Organisationsteilen mehr Autonomie und Freiheit eingeräumt wird. Diese

Unterschiede wirken sich vor- oder nachteilig auf Komplexitätsbewältigung aus.

Die Annahme zur Forschungsfrage 1 besteht darin, dass das ÖBH einen eher

konstruktivistisch-technomorphen Ansatz von Management verfolgt als das in zivilen

Institutionen der Fall ist, um auf Komplexität zu reagieren.

Weiters wird angenommen, dass die Organisationsstruktur des ÖBH, also seine Gliederung,

geeignet ist, um als lebensfähiges System im Sinne eines kybernetischen

Managementverständnisses zu gelten.

Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen ihre im zivilen

Berufsleben erworbenen Kenntnisse über systemisch-evolutionäre Managementansätze nur

informell einbringen können, nicht aber im Zuge des formalen Dienstweges.

1.3.3 MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischem und zivilem Führen

Vielfach sind MilizoffizierInnen in ihrer zivilen beruflichen Tätigkeit ebenfalls Führungskräfte in

Wirtschaft, Politik oder Verwaltung. Zudem werden sie auch in beiden Welten geführt. Das

heißt, sie erfahren als Führungskräfte ebenso wie als Geführte unterschiedliche Zugänge zu

dieser Fragestellung. Sie verinnerlichen ihre Erfahrung und beurteilen bewusst und unbewusst

die Erfolgsaussichten dieser unterschiedlichen Zugänge. Sie sind daher aus Sicht der

Bewältigung von Komplexität die Schnittstelle zwischen zivilem und militärischem

Management und können Aussagen über die beiden sozialen Systemkontexte machen.

7 Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 15: Management in Anzug und Uniform

- 5 -

Die Annahme zu den Forschungsfragen besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer

zivilen beruflichen Tätigkeit und ihrer militärischen Funktion die Folgen des Übergangs zu einer

Komplexitätsgesellschaft in beiden Aufgabenbereichen miterleben. Sie sind dabei mit

Strategien konfrontiert, mit denen Organisationen auf die steigende Komplexität reagieren und

lassen diese Erfahrungen in ihre Führungstätigkeit bei der jeweils anderen Organisation

einfließen.

1.4 Zielsetzung und Nutzen

Dass auch Bedrohungsbilder und die ihnen nachgereihten Ableitungen – also das, was als

das Betätigungsfeld von militärischen Führungskräften bezeichnet werden kann – ebenso als

eine Folge der Großen Transformation21 und damit aus einer steigenden Komplexität der

Umweltbedingungen insgesamt als solche komplexer werden, mag unter anderem

augenscheinlich bereits an der zeitlichen und örtlichen Gleichzeitigkeit festgemacht werden,

mit denen Terrorismus, globale Migrationsbewegungen, weltweite Pandemien, Cyber-War,

bewaffnete Konflikte, um nur einige zu nennen, auftreten. Diese immer schneller mutierenden

gesellschaftlichen Realitäten sind auch für militärische Organisationen Anlass, ihre

Organisationsstrukturen und Strategien hinsichtlich Führung zu beleuchten und anzupassen.

Dieser Entwicklung trägt das ÖBH sowohl auf Ebene der Forschung als auch in der

praktischen Umsetzung Rechnung. Es lassen sich Faktoren festmachen, die bestätigen, dass

das ÖBH hinsichtlich Führung wesentliche Entwicklungsschritte vollzogen hat und immer noch

vollzieht. Für die praktische Anwendung wurde dieser Entwicklungsschritt in Form des

Zentrums für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik institutionalisiert, welches als

Kernaufgabe eine zeitgemäße, wertschätzende, wirklichkeitsgetreue und geschlechter-

/diversitätsgerechte Führung und Ausbildung aller Militärpersonen und Zivilbediensteten des

ÖBH hat.8 Dies lässt den Schluss zu, dass auf der Ebene der individuellen Führung auf die

geänderten Anforderungen reagiert wurde.

Im Rahmen des Fachhochschul-Masterstudienganges Militärische Führung an der

Landesverteidigungsakademie widmen sich zahlreiche Publikationen dem Thema Führung.

Diese beziehen sich wiederum hauptsächlich auf individuelles Führungshandeln in einem

spezifisch militärischen Organisationskontext und Anwendungszusammenhang. Weniger

Bedeutung wurde bisher dem Aspekt beigemessen, dass das ÖBH selbst ein soziales

komplexes System darstellt, wodurch ein ganzheitliches Verständnis von Management und

Führung und die daraus resultierenden Interdependenzen zwischen Management und

Führungshandeln, wie sie bei Malik beschrieben werden, ausgeblendet bleiben.9

Der Umstand, dass das ÖBH Führungskräfte in der Miliz hat, die nicht nur im militärischen

Kontext Erfahrungen mit Management und Führung machen, sondern in der Wirtschaft, im

Öffentlichen Dienst oder der Politik mit der Bewältigung steigender Komplexität konfrontiert

sind, ermöglicht es, die Aussagen dieses Personenkreises im Rahmen einer

wissenschaftlichen Analyse hinsichtlich der zugrunde gelegten Fragestellung zu untersuchen

und etwaige Ableitung für die Ausbildung von Führungskräften des ÖBH insgesamt zu treffen.

Die Ergebnisse der Forschungsarbeit sollen dem ÖBH, konkret dem Zentrum für

menschenorientierte Führung und Wehrpolitik an der LVAk zur Verfügung gestellt werden, um

Ableitungen für die Ausbildung und den Einsatz von MilizoffizierInnen treffen zu können.

Ebenso soll die Österreichische Offiziersgesellschaft, deren derzeitiger Präsident als

8 BMLV (2020), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

9 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 18.

Page 16: Management in Anzug und Uniform

- 6 -

wissenschaftlicher Betreuer dieser Arbeit fungiert, als Interessenvertretung von OffizierInnen

des Präsenz-, des Miliz- und Reservestandes, mithilfe dieser Studien einen tiefergehenden

Einblick in den Zugang zu Führung und Management im militärischen und zivilen

Systemkontext ihrer Mitglieder zur Verfügung gestellt bekommen.

1.5 Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit nähert sich nach einem einleitenden Kapitel zu Problemstellung und

Forschungsinteresse dem Forschungsgegenstand in zwei Hauptteilen.

Der theoretische Teil, zusammengefasst in Kapitel 2, widmet sich der Darstellung des

notwendigen wissenschaftlichen Unterbaus zum besseren Verständnis der Ursachen von

steigender Komplexität unserer Umwelt und den damit verbundenen Auswirkungen auf die

Steuerung von Organisationen. Ebenso werden die Organisations- und Führungsmerkmale

des ÖBH in Grundzügen erläutert, insoweit sie für das Forschungsthema relevant sind.

Der daran anschließende empirische Teil widmet sich zuerst in Kapitel 3 dem

Forschungsprozesses durch die Darstellung des Forschungsfeldes, sowie des

methodologischen Zuganges der Datenerhebung und -auswertung. Im Anschluss daran erfolgt

in Kapitel 4 die Behandlung der Ergebnisse der empirischen Forschung anhand des induktiv

abgeleiteten Kategoriensystems. Kapitel 5 befasst sich mit der Beantwortung der

Forschungsfragen unter Berücksichtigung der hiezu getätigten Annahmen.

Im abschließenden Kapitel 6 erfolgt ein Resümee sowie in Kapitel 7 ein Ausblick auf mögliche

weiterführende Forschungsfelder im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand.

Page 17: Management in Anzug und Uniform

- 7 -

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Wandel der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft

2.1.1 Die Große Transformation

Der Begriff „Great Transformation“ wurde geprägt vom ungarisch-österreichischen

Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi, welcher diesen 1944 erstmals im Zusammenhang mit der

Ausbreitung der Marktwirtschaft als Gesellschaftsordnung verwendete.10 In weiterer Folge

prägte Drucker den Begriff im Zusammenhang mit der Entwicklung vom Kapitalismus zur

Wissensgesellschaft und vom Nationalstaat zum transnationalen Megastaat.11

Malik verwendet den Begriff in dieser Tradition und bezeichnet damit einen fundamentalen

Wandel vom 20. in das 21. Jahrhundert, von einer Wissensgesellschaft hin zu einer

Komplexitätsgesellschaft, der sich mit dem Übergang von der Agrargesellschaft in die

Industriegesellschaft oder mit der Verdrängung der Feudalgesellschaft durch den

demokratischen Rechtsstaat vergleichen lässt. Als letztes historisches Beispiel eines

derartigen Prozesses sieht Malik die Aufklärung, welche auf politischer Ebene in die

Verfassung der USA oder die Französische Revolution mündete, sich technologisch durch die

Erfindung der Dampfmaschine und der dadurch ermöglichten Industrialisierung manifestierte

und gesellschaftlich in den modernen Universitäten, dem Parteiensystem und ihren Ideologien

und schließlich in einer völlig neuen Gesellschaftsstruktur ihre Verwirklichung erfuhr.12

Durch die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen und den damit verbundenen

weltweiten systemischen Vernetzungsgrad hat die Transformation21 jedoch eine globale

Dimension und ein Tempo angenommen, in denen sich der maßgebliche Unterschied zu

bisherigen gesellschaftlichen Veränderungen zeigt. Umwandlungsprozesse derartiger

Größenordnung sind in Schritten von 250 Jahren zu denken und lassen Vergleiche mit der

Erfindung des Buchdrucks, der Entdeckung Amerikas, dem Entstehen der Wissenschaften

oder der Verbreitung des arabischen Zahlensystems zu. Sie stellt den Übergang von einer

alten Welt in eine neue Welt dar, die Ablösung der bisherigen Ordnung durch eine neue

Ordnung.13

Während die alte Welt von Gesetzen der Ökonomie und des Geldes dominiert war, wird die

neue Welt von Gesetzen der Information, Wissen, Erkenntnis, Komplexität und Dynamik

hochvernetzter Systeme geprägt sein, was sich in der Formel „Wissen bricht Geld und

Information bricht Macht“ zusammenfassen lässt. Im Zentrum dieser neuen Welt wird das

beherrschende Merkmal eine proliferierende, exponentiell wachsende Komplexität sein, zu der

sich weitere komplexe „Treiber“ addieren, welche aus ihrem Zusammenwirken wiederum zum

Wachstum von Komplexität beitragen. Dies sind die Demografie, der Komplex von Wissen und

Technologie, die Ökologie und die Ökonomie (auf diesem Gebiet eine historisch angehäufte

Verschuldung).14

Dass dieser Wandel bereits im Gange ist, lässt sich an Phänomenen feststellen, welche mit

diesem einhergehen und die sich etwa in Form der Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten

20 Jahre manifestieren, wofür die Subprime-Krise (2007), die Eurokrise (2010), die

10 Vgl. Reissig, Rolf (2009), S. 93.

11 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 345.

12 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

13 Vgl. ebenda, S. 16.

14 Vgl. ebenda, S. 18.

Page 18: Management in Anzug und Uniform

- 8 -

Migrationskrise (2015) oder die Corona-Pandemie (seit 2020) Beispiele sind. Diese Ereignisse

sind Auswirkungen eines fehlenden Wissens um eine neu funktionierende Ordnung, welche

wesentlich von ganzheitlichem Denken und modularer Steuerung abhängig ist. Voraussetzung

dafür ist vernetztes Denken und eine neue Vorstellung von Steuerung von Organisationen,

durch welches sie als komplexe, zusammenhängende und unüberschaubare Systeme

wahrgenommen werden.15

Da die Große Transformation21 einen Wandel auf allen Ebenen bedeutet, sind alle

Organisationen davon betroffen und müssen ihre Strukturen, Managementsysteme und

Strategien darauf abstimmen. Auch das ÖBH steht vor der Herausforderung, dass

infolgedessen sein Aufgabenspektrum von einer exponentiell steigenden Komplexität

gekennzeichnet ist.

2.1.2 Wandel im Aufgabengebiet des Österreichischen Bundesheeres

Mit dem Ende des Kalten Krieges 1998 endete die bipolare Weltordnung und es setzte eine

Entwicklung ein, die sich immer weiter von einem möglichen zwischenstaatlichen Konflikt, der

mit konventionellen Streitmächten geführt wird, entfernt hat. Das Konfliktbild wurde

unüberschaubarer und unkalkulierbarer.16

Zuvor ließ sich an klar abgrenzbaren und identifizierbaren Merkmalen festmachen, welche

Konfliktparteien, also Kombattanten mit gegnerischen militärischen Handlungsabsichten und

kalkulierbaren Bedrohungslagen, sich gegenüberstanden, um sich als Staat mit Streitkräften

darauf einzustellen und vorzubereiten. In Österreich war das passive

Bedrohungsreaktionskonzept der Raumverteidigung – nach seinem Verfasser General Emil

Spannocchi in den 1960er Jahren auch „Spannocchi-Doktrin“ genannt – bis in die 1980er

Jahre Grundlage des militärischen Strategiekonzeptes.17

Durch die globale Vernetzung der Gesellschaft veränderte sich nach dem Zerfall des

Warschauer Paktes auch das Bedrohungsbild, dem sich ein Staat oder ein Staatenverbund

gegenüberstehen. Technologischer Fortschritt und Entwicklung vor allem auf dem

Informations- und Kommunikationssektor tragen bis heute wesentlich zu dieser Veränderung

bei.18

„Wesentliche Merkmale des künftigen Gefechtsbildes sind (…), Unsicherheit, eine hohe

Agilität und Anpassungsfähigkeit der Akteure. (…) Eine größere Dynamik und

Komplexität von Bedrohungsszenarien und Konfliktpotentialen in der Gesellschaft sind

die Folge. (…) Durch nachhaltige, länger andauernde Angriffe auf kritische

Infrastrukturen und verfassungsmäßige Einrichtungen können die Funktionsfähigkeit

der Grundversorgung der Bevölkerung sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen

Ordnung und Sicherheit derart beeinträchtigt werden, dass bereits nach wenigen Tagen

chaotische und bald darauf anarchische Zustände drohen.“19

Das Betätigungsfeld des Militärs verlagert sich zunehmend weg vom militärischen

Gefechtsfeld hin in ein ziviles Umfeld.

Im militärstrategischen Konzept, das 2017 neu verfasst wurde, wird der neuen

Bedrohungslage entsprechend eine vernetzte Einsatzführung des ÖBH festgeschrieben:

15 Vgl. Malik, Fredmund (2020), S. 16 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

16 Vgl. Dengg, Anton und Schurian, Michael(hrsg) (2015), S. 25.

17 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 24.

18 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 23 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

19 BMLV (2017a), S. 2.

Page 19: Management in Anzug und Uniform

- 9 -

„Die künftigen Einsäte des ÖBH werden zunehmend in der größer werdenden

Schnittmenge von zivilen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen sowie Militär

sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene stattfinden. Die Fähigkeit zur

gemeinsamen – „vernetzten“ – Einsatzführung wird im gesamtstaatlichen Rahmen

weiter an Bedeutung gewinnen.“20

Das ÖBH muss demzufolge seine Einsatzorientierung und seine Fähigkeiten anpassen.

Weiterhin bleiben die Erfordernisse der militärischen Landesverteidigung und damit der Kampf

der verbundenen Waffen Alleinstellungsmerkmal des ÖBH. Zum Erhalt der

Durchsetzungsfähigkeit und der Weiterentwicklung der Reaktionsfähigkeit ist für die

Komplexitätsbewältigung vermehrt die Befähigung in folgenden Bereichen zu stärken:21

1) Autarkie – Unabhängigkeit von Ressourcen zur Stärkung der Resilienz

2) Interoperabilität und Kooperation im In- und Ausland mit zivilen Behörden und anderen

Armeen

3) Vernetzte Einsatzführung von dezentralen, funktionalen kleineren Verbänden

4) Berücksichtigung des erhöhten Anforderungsprofils bei der Personalauswahl und

Ausbildung

Die Stärkung dieser Fähigkeiten entspricht der Anpassung an jene Anforderungen, welchen

sich auch zivile Organisationen zur Steuerung und zum Umgang mit Komplexität in einem

unüberschaubaren Umfeld gegenüberstehen, wie in weiterer Folge dargestellt werden soll.

2.2 Komplexität und Varietät

„Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen

bezeichnen, wenn aufgrund immanenter Beschränkungen der

Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit

jedem anderen verknüpft sein kann.“22

Folgt man Luhmann haben komplexe Systeme folgende Voraussetzungen: 1) Elemente, aus

denen sich das System zusammensetzt 2) Regeln nach denen diese Elemente zueinander in

Beziehung treten und 3) eine Unmöglichkeit des gleichzeitigen Zusammenwirkens dieser

Elemente mit jedem beliebigen anderen Element des Systems. Komplexität bedeutet

demnach, dass ein System mehr Interaktionsmöglichkeiten hat als es gleichzeitig

verwirklichen kann. Je größer die Anzahl dieser Möglichkeiten des Interagierens zwischen den

Systemteilen ist, umso höher ist die Komplexität des Systems.23

Die Interaktion oder auch die Beziehung der Systemteile zueinander bilden also ein

Wirkungsgefüge, das größer ist als die Summe der einzelnen Teile. Je dichter dieses

Wirkungsgefüge in sich vernetzt ist, umso dynamischer und unvorhersehbarer laufen

Prozesse im System ab. Es kommt zu Rückkoppelungen, die diesen Effekt verstärken und zu

exponentiellen Entwicklungen beitragen. Ursache-Wirkungszusammenhänge sind nicht mehr

erkenn- oder nachvollziehbar und die Möglichkeit eines steuernden Eingreifens sinkt.

Mit der Vernetzung steigt auch die Emergenz in einem System. Damit ist eine spontane

Herausbildung von neuen Eigenschaften und Strukturen gemeint, die im Zusammenspiel von

Elementen eines Systems ihren Grund haben. Die jeweiligen Eigenschaften der einzelnen

20 BMLV (2017a), S. 11.

21 Vgl. ebenda, S. 10ff.

22 Luhmann, Niklas (2018), S. 46.

23 Vgl. Liessman, Konrad Paul (2001), S. 7f (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 20: Management in Anzug und Uniform

- 10 -

Elemente ermöglichen dabei keine Rückschlüsse auf die emergenten Eigenschaften des

Systems. Vielmehr kommt es dabei zur spontanen Selbstorganisation, was wiederum zur

Nichtvorhersehbarkeit der Entwicklung beiträgt.24

2.3 Management von Komplexität

Ausgehend von dieser Betrachtung hat sich innerhalb der Managementlehre ein

Komplexitätsbegriff durchgesetzt, der ausgehend vom Gedanken der Steuerbarkeit und der

Steuerung von Systemen den Begriff der Varietät in den Mittelpunkt rückt.

Komplexität ist demnach eine fundamentale Eigenschaft der Realität, die sich auch als

„Vielfalt“ bezeichnen lässt und entsteht aus möglichen Unterschieden und Unterscheidungen.

Sie führt zu Unvorhersehbarkeit, Unberechenbarkeit, Veränderung und Nicht-Analysierbarkeit,

was in der Regel als negativ angesehen wird. Sie ist jedoch auch die Voraussetzung für alle

höheren Eigenschaften wie Lernfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Responsivität, Evolution,

Kreativität, Flexibilität oder Identität, wie sie bei biologischen und sozialen Systemen

auftreten.25

Hilfreich zum Verständnis des Komplexitätsbegriffes ist die Unterscheidung von komplex und

kompliziert. Ein kompliziertes System lässt sich anhand seiner Bestandteile beschreiben, die

man beobachten kann. Ein komplexes System hingegen ist nur über die Interaktionen, die

zwischen den Bestandteilen stattfinden, beschreibbar.26 In diesem Sinne ist ein Schulgebäude

kompliziert, der darin stattfindende Unterricht ist komplex.

Neben diesen Beschreibungen, die sich aus der Alltagserfahrung ergeben, ist Komplexität im

Zusammenhang mit der Problemstellung dieser Arbeit als Managementproblem von

Bedeutung und als solches wie folgt zu beschreiben:

„Komplexität als empirisches Merkmal von soziotechnischen Systemen bezeichnet die

Mannigfaltigkeit von Zuständen und Zustandskonfigurationen von Systemen. Diese

Mannigfaltigkeit resultiert im Prinzip aus der Interaktion von Systemen und

Systemelementen.“27

Das bedeutet, je größer diese Mannigfaltigkeit von Zuständen ist, desto schwieriger ist es für

das Management, das System zu steuern, also in einen gewünschten bestimmten Zustand zu

versetzen. Um den Grad an Komplexität zu messen, ist die Anzahl der unterscheidbaren

Zustände ausschlaggebend. Dieser wird als „Varietät“ bezeichnet. „Varietät ist die Anzahl der

unterscheidbaren Zustände eines Systems bzw. die Anzahl der unterscheidbaren Elemente

einer Menge.“28 Anders gesagt, Varietät ist nach Malik das Maß, mit dem Komplexität

gemessen werden kann.

Anders als Malik sehen etwa Weick/Sutcliffe eine Weiterentwicklung des Begriffs der

„erforderlichen Varietät“ als notwendig an. Wie oben dargestellt, greift für sie der Begriff der

Varietät zu kurz, um Komplexität zu messen, da sie keine Unterscheidung zwischen

komplexen und komplizierten Systemen zulässt. Dementsprechend sprechen sie von der

„erforderlichen Komplexität“ anstatt der „erforderlichen Varietät“.29 Wenn es um die Kontrolle

24 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 25 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

25 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 246.

26 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.

27 Malik, Fredmund (2015), S. 33.

28 Ebenda, S. 168.

29 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.

Page 21: Management in Anzug und Uniform

- 11 -

von Systemen geht, wird die Unterscheidung zwischen einfachen und komplexen Systemen,

wie sie bei Malik beschrieben wird, folglich um die Unterscheidung zwischen komplizierten und

komplexen Systemen erweitert. Die Auswirkungen dieser Unterscheidung zeigen sich im

Umgang mit unerwarteten Situationen.

Eine Gruppe, die dadurch geformt wird, dass einzelne Gruppenmitglieder jeweils

nacheinander beitreten oder hinzugefügt werden, formt sich als Summe der einzelnen Teile

zu einem komplizierten System. Im Falle des Auftretens eines unerwarteten Ereignisses liegen

die Grenzen der Varietät in den jeweils individuellen Fähigkeiten und Herangehensweisen, die

mit jenen der anderen Individuen addiert bzw. verglichen werden. Das kleinste gemeinsame

Vielfache wird dabei als Lösungsansatz gesucht und dadurch Vereinfachung gefördert. Die

unerwartete Situation wird mit unserer bereits vorhandenen Erfahrung in Einklang gebracht

und dadurch normalisiert. Der Handlungsspielraum wird eingeschränkt und Steuerung

erschwert.30

Anders stellt sich die Situation dar, wenn in einem System Teile interagieren, die sich nicht nur

auf die individuelle Erfahrung und die damit verbundenen Fähigkeiten und

Herangehensweisen konzentrieren, sondern der Komplexität der unerwarteten Situation

Raum geben und der Interaktion mit anderen Systemteilen jene Aufmerksamkeit schenken,

die notwendig ist, um eine Herangehensweise zu generieren, die nur durch diese gemeinsame

Interaktion möglich ist und zu der keiner der einzelnen Teile alleine im Stande wäre. Dadurch

werden nicht die bereits in früheren Situationen gemachten Erfahrungen und die daraus

abgeleiteten Lösungsansätze abgerufen, sondern der Situation besser angepasste, neue und

differenzierte Interaktionen zugelassen. Dadurch wird der eigene Handlungsspielraum

erweitert und die gesteigerte Varietät trägt zur Verhinderung von Vereinfachung bei.31

Auch wird dabei ein sogenannter Confirmation Bias, also ein Bestätigungsfehler oder eine

Bestätigungstendenz vermieden. Diese treten immer dann ein, wenn eine getroffene

Entscheidung oder Hypothese gegen neu auftretende Aspekte verteidigt wird, um sie nicht

revidieren zu müssen. Dabei besteht die Tendenz, Informationen, die das eigene Argument

stützen, zu suchen und ihnen mehr Gewicht beizumessen als jenen Informationen, welche die

eigene Ansicht nicht bestätigen. Diese werden eher vernachlässigt.32 Dies führt in der Folge

zu vermeidbaren Fehlern, wenn eine Entscheidung trotz vorliegender Anzeichen ihres

Falschseins aufrechterhalten wird.

2.3.1 Kybernetik

Der Begriff Kybernetik als Wissenschaft von der Kommunikation und Kontrolle von Maschinen

und lebenden Organismen, wurde von Norbert Wiener geprägt und von W. Ross Ashby „als

die Kunst des Lotsens, wie sie ein Steuermann auf dem Schiff ausübt,“33 bezeichnet. Ihre

Hauptthemen sind vor allem Regelungs- und Steuerungsprozesse sowie

Rückkopplungsschleifen, die sich aus der Biologie für die Mechanik ableiten lassen.34 Diese

Forschungen schafften eine Basis für den rasanten technischen Fortschritt im 20. Jhdt. Zur

gleichen Zeit entstand daraus auch das bekannte, kreisförmige Regelungsmodell des Plan-

Do-Check-Act von Deming.35 Es ist aus selbstregulierungsfähigen Feedbackschleifen

30 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61f.

31 Vgl. ebenda, S. 62.

32 Vgl. Schon, Claudia (2008), S. 9 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

33 Ashby, W. Ross (2016), S. 15.

34 Vgl. ebenda, S. 15.

35 Vgl. Brühwiler, Bruno (2016), S. 37.

Page 22: Management in Anzug und Uniform

- 12 -

abgeleitet, wie sie zum Beispiel in der Steuerung von Heizungssystemen oder in der

Nachrichtentechnik angewandt wurden und werden.

Das moderne Verständnis von Komplexität und Varietät entspringt der Wissenschaft der

Kybernetik. Sie ist eng mit den Systemwissenschaften und der Informationstheorie verbunden,

die dazu beigetragen haben, neben den elementaren Größen der Natur, nämlich Materie und

Energie, eine dritte Größe zu verstehen und systematisch zu nutzen – die Information.36 Dem

geht der Gedanke voraus, dass neben dem, woraus ein Lebewesen besteht, vor allem

wesentlich ist, wie diese Bestandteile angeordnet und organisiert sind sowie die Information,

die diese Ordnung, dieses Muster erst hervorruft oder zustande bringt. Demnach ist Leben

nicht nur Materie und Energie, sondern informierte Materie und Energie. Unter dem Blickwinkel

der Kybernetik ist also jene Information wesentlich, welche die Elemente eines Systems ordnet

und organisiert und sie dadurch überhaupt erst zu einem System macht. Grundlegend ist dabei

die Entdeckung, dass es für alle Systeme, egal ob biologische, technische, soziale oder

ökonomische, Gesetzmäßigkeiten gibt, die Kontrolle und Funktionieren aller Systeme

bestimmen. In Bezug auf komplexe Systeme fragt die Kybernetik nach der notwendigen

Beschaffenheit der Struktur und Architektur eines Systems, damit eine Steuerung, also das

Unter-Kontrolle-Bringen seiner Komplexität, überhaupt möglich ist.37

Dabei ist nach Malik ihr Ausgangspunkt nicht ein gegebener vorliegender Sachverhalt,

sondern immer die Menge an möglichen Sachverhalten, wenn sie ihre volle Varietät entfalten

würden. Es erfordert also die gedankliche Gegenüberstellung von dem, was sein könnte und

dem, was tatsächlich ist. Der Vorteil des kybernetischen Zugangs ist ein tieferes Verständnis

des tatsächlich gegebenen Sachverhaltes, weil ein breiterer Blickwinkel für seine

Beschaffenheit notwendig ist, um zu bestimmen, warum aus der Menge an Möglichkeiten

gerade jene eingetreten ist, und nicht eine andere denkbar mögliche. Es geht also in der

Kybernetik nicht um kausale Zusammenhänge – A ist eingetreten und daher musste B folgen

– sondern um das Netzwerk von Einflussmöglichkeiten, das den Kontext eines Sachverhaltes

bestimmt.38 Mit anderen Worten geht es um eine ganzheitliche Betrachtungsweise der

Organisation und der Struktur von Systemen.

Für das Management von Institutionen wie dem ÖBH stellen sich also folgende Fragen: Wie

müssen ihre Struktur oder ihre Organisation beschaffen sein, um sich auf den ständigen

Wandel der Umwelt einzustellen? Zweitens: Ist die derzeitige Beschaffenheit der Organisation

dafür geeignet?

2.3.2 Kontrolle von Systemen

Ein System ist immer nur so weit unter Kontrolle, als es gelingt, es daran zu hindern, Zustände

anzunehmen, die es grundsätzlich annehmen könnte, die aber aus Sicht der Steuerung nicht

wünschenswert sind.39 Wie dargestellt sinkt mit der Varietät eines Systems die Möglichkeit, es

in einen gewünschten Zustand zu versetzen, also es zu kontrollieren oder zu steuern. Dennoch

sind Organisationen gemäß der Annahme einer exponentiell wachsenden Komplexität mit dem

Problem konfrontiert, dieser Herausforderung begegnen zu müssen. Ein Ansatz besteht im

Streben der Reduktion von Komplexität, also einer Spezialisierung und Schwerpunktbildung

von Management und Steuerung. In der Wirtschaft etwa durch Gewinnmaximierung oder die

Konzentration auf das Aktionärsinteresse.40 Ein möglicher anderer Ansatz ist ein

36 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 51.

37 Vgl. ebenda, S. 52f.

38 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 172f.

39 Vgl. ebenda, S. 173.

40 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 55.

Page 23: Management in Anzug und Uniform

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kybernetischer und systemtheoretischer, der sich am Gesetz der erforderlichen Varietät

orientiert. Diesem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein komplexes System nur mithilfe eines

mindestens ebenso komplexen Systems unter Kontrolle gebracht werden kann, oder anders

gesagt, „um ein System unter Kontrolle zu bringen, benötigt man mindestens soviel sic!

Varietät (oder Komplexität), wie das System selbst hat.“41 Das Gesetz der erforderlichen

Varietät geht auf den britischen Neurophysiologen und Kybernetiker W. Ross Ashby zurück

und wird auch als „Ashby´s Law“ bezeichnet. Es lautet in der Originalfassung: Only Variety

can destroy Variety.42 Ein intuitiv nachvollziehbares Beispiel dafür ist, dass eine gesamte

Symphonie von Beethoven, die auf einem komplexen Zusammenwirken von Tönen,

Harmonien und Rhythmen basiert, nur von einem Orchester gespielt werden kann, das selbst

über genügend Instrumente verfügt und genügend MusikerInnen, die wiederum die vielfältigen

Wiedergabemöglichkeiten dieser Instrumente steuern können, um jenen Grad an

Interaktionsmöglichkeiten zu erreichen, der notwendig ist, um diese Symphonie

wiederzugeben. Dieses Beispiel zeigt den Kern des Gesetzes der erforderlichen Varietät,

dessen Verständnis für diese Arbeit notwendig ist. Nämlich, „dass die verfügbare

Lenkungsvarietät relativ zu den beabsichtigten Zielen mindestens so groß sein muss, wie die

Varietät des zu lenkenden Systems.“43

Dieser Gedanke wird zu behandeln sein, wenn es darum geht, die Eigenkomplexität und damit

die Lenkungsvarietät zu erforschen, welche das ÖBH mit Hinblick auf die Komplexität der von

ihm zu kontrollierenden Systeme hat und welche Rolle dieses Bewusstsein bei den

Führungskräften spielt, die in ihm wirken.

2.3.3 Managementverständnis bei Malik

Der Wandel, der sich aufgrund der Großen Transformation21 ereignet, betrifft nicht nur die

Wirtschaft, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Demnach bedarf es für Malik eines neuen

ganzheitlichen Verständnisses von Management, das den Herausforderungen einer

steigenden Komplexität gerecht wird und welches das Gesetz der erforderlichen Varietät

berücksichtigt. Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte lassen sich nach

Malik unter anderem darauf zurückführen, dass Institutionen nicht oder schlecht funktionieren.

Funktionieren bedeutet in diesem Zusammenhang die Reaktion einer Institution auf ihre

„Architektur“, also auf ihre Organisation und ihr davon abhängiges Verhalten. Nicht-

Funktionieren und Schlecht-Funktionieren sind demnach Probleme der Gestaltung und

Lenkung von Institutionen, als Probleme des Managements von Institutionen.44 Daraus ergibt

sich, dass Management als das Meistern von Komplexität verstanden werden kann.45

Malik unterscheidet dabei zwei grundsätzliche Arten von Managementtheorien zur

Komplexitätsbeherrschung. Einerseits eine konstruktivistisch-technomorphe und andererseits

eine systemisch-evolutionäre Art.

Mit dem Begriff „konstruktivistisch-technomorph“ wird das Bild der Maschine und damit der

klassischen Mechanik verbunden. Eine Maschine besteht aus Einzelteilen, deren

Zusammenwirken detailliert geplant ist und deren Funktion einen vorhersehbaren Zweck

erfüllt. Sie muss im Voraus bis ins kleinste Detail durchdacht, danach konstruiert und dann

beherrscht werden, was ein umfassendes Wissen über alle Bestandteile erfordert. Die Erfolge,

gemessen an Zuverlässigkeit und Effizienz, die durch diesen mechanischen Zugang im

41 Malik, Fredmund (2013), S. 59.

42 Vgl. ebenda, S. 59.

43 Malik, Fredmund (2015), S. 175.

44 Vgl. ebenda, S. 32.

45 Vgl. Malik, Fredmund (2013), S. 7.

Page 24: Management in Anzug und Uniform

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Bereich der Technologie gemacht wurden, haben nicht nur zu einer enormen

Technologisierung unseres Alltages, sondern auch zu einer Verallgemeinerung dieses

Denkens und damit zur Anwendung bei der Steuerung von Systemen geführt.46

Der systemisch-evolutionäre Ansatz folgt hingegen der Grundvorstellung einer sich selbst

generierenden Ordnung, wofür das Bild des lebenden Organismus herangezogen werden

kann. Organismen werden von niemandem konstruiert, wie eine Maschine konstruiert wird,

also nach einem im Vorhinein festgelegten Zweck, sondern sie entwickeln sich von selbst hin

zu dieser Ordnung, deren Zweck sich oft erst im Nachhinein zeigt.47 Auch in sozialen Systemen

finden wir diese zweckrationalen Ordnungen, und zwar deshalb, weil Menschen nicht nur von

Zielen geleitet werden, sondern weil die Art und Weise menschlichen Verhaltens wesentlich

auch von Regeln geleitet ist, die unabhängig von den konkreten Zielen des Einzelfalls

bestehen.48 Die Ordnung entsteht dabei dadurch, dass einzelne Individuen allgemeine Regeln

faktisch befolgen, auch wenn sie diese Regeln nicht nennen oder beschreiben können. Die

sich daraus ergebenden Regelmäßigkeiten helfen den einzelnen Individuen dabei, sich

innerhalb des sozialen Systems zu orientieren, weil dadurch stabile Erwartungen über das

Verhalten anderer mit hoher Erfüllungswahrscheinlichkeit gebildet werden. Als Folge davon

kann das Individuum wiederum das eigene Verhalten anpassen und es so mit einer im Prinzip

beliebig hohen Anzahl anderer koordinieren. Diese Orientierungsleistung, die durch Regeln

entsteht, und die daraus ableitbare Koordinierung von Verhalten ermöglichen es, gemäß dem

systemisch-evolutionären Ansatz jene Art von Komplexität zu beherrschen, die entstünde,

wenn die Individuen das Verhalten anderer aufgrund fehlender Regeln – und damit

Regelmäßigkeiten – nicht (mehr) antizipieren und sich nicht daran orientieren können. Daraus

entsteht der Sinn dieser Ordnung, der Verhaltensweisen innerhalb der Ordnung sinnvoll macht

und der umgekehrt erst durch diese Verhaltensweisen für die Ordnung entsteht.49

Zur Erforschung, welche Art von Managementverständnis in den zivilen und militärischen

Systemzusammenhängen vorherrscht und welche Auswirkungen dies auf den Umgang mit

Steuerung von komplexen Systemen hat, wurden MilizoffizierInnen über ihre Erfahrungen

befragt.

Die Trennung von Organisationen in entweder rein systemisch-evolutionär oder rein

konstruktivistisch-technomorph lässt sich aufgrund der Forschungsergebnisse dieser Arbeit

nicht darstellen. Eine solche Spezifikation ist im Zusammenhang mit Abläufen und Strukturen

erkennbar und für eine Analyse hilfreich, jedoch von dem zu erreichenden Ziel und dem

jeweiligen Zusammenhang abhängig. So ist es denkbar, dass dieselbe Organisation in dem

einen Zusammenhang eine konstruktivistisch-technomorphe, in einem anderen eine

systemisch-evolutionäre Prägung annimmt. Konkret auf das ÖBH bezogen heißt das, dass es

etwa Aufgaben der Militärischen Landesverteidigung mit einer stark konstruktivistisch-

technomorphen Prägung im wahrsten Sinne des Wortes „in Angriff nimmt“, während

strategische Aufgaben im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung wiederum eine

mehrheitlich systemisch-evolutionäre Herangehensweise erfordern.

2.3.4 Kybernetische Managementsysteme

Mit Bezug auf den Management-Kybernetiker Stafford Beer beschreibt Malik ein auf der

Kybernetik basierendes Managementsystem, welches als Modell des lebensfähigen Systems

bezeichnet wird. Es dient bei der Erarbeitung der forschungsrelevanten Fragen als Vorbild für

46 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 34.

47 Vgl. ebenda, S. 34f.

48 Vgl. ebenda, S. 36.

49 Vgl. ebenda, S. 37.

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die Untersuchung, inwieweit die Organisationsstrukturen des ÖBH diesem Bild entsprechend

auf die steigende Komplexität durch die Transformation21 angepasst sind. Eine Darstellung

des Systems, welche sich am zentralen Nervensystem des Menschen orientiert, folgt weiter

unten. Grundsätze dieses Modells werden im Folgenden dargelegt.

Die Beziehung zwischen Management und der Wissenschaft der Kybernetik lässt sich anhand

der Aussage von Stafford Beers festmachen: „If cybernetics is the sciene of control,

management is the profession of control – in a certain type of system.“50 Wenn man die Frage

der Kontrolle von komplexen Systemen mit dem systemisch-evolutionären

Managementansatz verbindet, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Regeln benötigt

werden, die eine notwendige Orientierung liefern, um diese Kontrolle zu erreichen. Bleiben wir

beim Bild des Organismus, also einem natürlichen System, und fragen uns, wie die Natur

dieses Problem löst, also wer oder was ihre komplexen Systeme regelt, so stellen wir fest,

dass natürliche Systeme keine Regeln und keine Organisation haben. Sie regeln und

organisieren sich selbst. Selbstregulation und Selbstorganisation sind in allen natürlichen

Systemen enthalten, während sie in von Menschen geschaffenen Systemen bewusst

berücksichtigt und verwirklicht werden müssen. Orientiert man sich also am systemisch-

evolutionären Managementansatz und berücksichtigt die kybernetischen Funktionsprinzipien,

muss demnach Management dafür sorgen, dass sich ein System, eine Institution, ein

Unternehmen selbst organisieren und regeln kann.51 Damit dies der Fall ist, müssen zwei

entscheidende Kriterien vorliegen.

Das erste Kriterium basiert auf der zentralen Erkenntnis der Kybernetik und besagt, „dass alle

lebensfähigen Systeme eine invariante Struktur aufweisen oder mit anderen Worten, dass nur

jene Systeme lebensfähig sind, die diese Struktur besitzen.“52

Der zweite wesentliche Faktor ist, dass die Struktur des Systems derart gegliedert sein muss,

dass es aus Subsystemen besteht, die für sich genommen wiederum selbst lebensfähige

Systeme für sich bilden können. Jeder Teil des lebensfähigen Systems ist demnach selbst ein

eigenständiges lebensfähiges System, das die gleiche Organisation aufweist wie das System

selbst. Jedes Subsystem ist also eine strukturelle Kopie des Gesamtsystems. Man nennt dies

das Prinzip der Rekursion.53

Diese beiden Kriterien von Systemstrukturierung sind Ausdruck des sogenannten

Invarianztheorems,

„das besagt, dass alle komplexen Organisationen zueinander isomorph sind, wenn man

sie als unter Kontrolle befindliche Systeme betrachtet und dass die Lenkungsstruktur, die

sie aufweisen, eine invariante Eigenschaft aller lebensfähigen Systeme ist.“54

Das Invarianztheorem ist keine Anleitung, wie ein lebensfähiges System strukturiert sein soll,

sondern eine Feststellung, dass alle lebensfähigen Systeme derart strukturiert sind. Es kann

also über jede Form von Organisation „gelegt“ und bei genauer Analyse können jene

Strukturen und Mechanismen festgestellt werden, die für die Lebensfähigkeit und

Funktionsfähigkeit im kybernetischen Modell von Bedeutung sind.55

50 Beer zit. nach Malik, Fredmund (2013), S. 57.

51 Vgl. ebenda, S. 57f.

52 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 73.

53 Vgl. ebenda, S. 78f.

54 Ebenda, S. 84.

55 Vgl. ebenda, S. 84f.

Page 26: Management in Anzug und Uniform

- 16 -

2.3.4.1 Das Viable System Modell (VSM)

Die oben dargestellten Kriterien des Invarianztheorems sind Ausfluss aus der

Betrachtungsweise, dass die Lebensfähigkeit eines Systems von seiner Struktur oder seiner

Organisation abhängt. Als Voraussetzung für seine Anpassungsfähigkeit an seine sich

verändernde Umwelt ist jedem lebensfähigen System eine Struktur immanent, die sich in

Systeme und Subsysteme gliedern, die wiederum selbst lebensfähige Systeme sind. Ausdruck

dafür ist das Rekursionsprinzip, ein Systemstrukturierungsprinzip das besagt, dass alle

lebensfähigen Systeme aus Subsystemen und Supersystemen bestehen, die auf ihrer

jeweiligen Ebene die gleiche Struktur aufweisen.56

Als Vorbild für das Modell dient der lebende Organismus, der durch Interaktion mit seiner

Umwelt lernt, sich entwickelt und in ein Fließgleichgewicht kommt. Die Steuerung oder

Lenkung des Systems in diesen Zustand des Fließgleichgewichtes wird dadurch erreicht, dass

das System die möglichen Variablen in gewünschten Verhaltensgrenzen hält. Diesen

Mechanismus der Homöostase übernimmt im lebenden Organismus das zentrale

Nervensystem, welches durch Interaktion und Entwicklung von selber dieses Potential

hervorbringt.57 In Organisationen ist dieser Zustand durch die zu schaffende

Organisationsstruktur zu erreichen.

Das ÖBH kann mit dem Modell insofern beschrieben werden, als die Unterteilung des Viable

System Model in fünf Unter-Systeme und dessen Aufgabenzuteilung der

militärstabsdienstlichen Aufgabenverteilung vergleichsweise nahekommt. Auch findet sich die

Untergliederung der Organisationsstruktur in lebensfähige Untersysteme auf

darunterliegenden Rekursionsebenen im ÖBH und seinen Organisationseinheiten darstellbar

wieder. Eine Darstellung dieser Organisationeinheiten und ihrer stabsdienstlichen

Aufgabenverteilung erfolgt weiter unten.

Das Bezugsobjekt menschliches Zentralnervensystem mit seinen lenkungsvarianten Teilen

und die davon abgeleiteten Lenkungszusammenhänge stellen sich in folgender Abbildung

dar:58

56 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 90.

57 Vgl. ebenda, S. 74.

58 Vgl. ebenda, S. 77.

Page 27: Management in Anzug und Uniform

- 17 -

Abbildung 1: Das Viable System Model nach Malik59

Die einzelnen System 1 bis 5 übernehmen dabei folgende Funktionen:

System 1 steuert alle Untereinheiten eines lebendigen Systems, die operative Tätigkeiten zum

Wohl und zur Funktion des Ganzen leisten. Diese Untereinheiten (1A, 1B, 1C, usw.), die auch

als Divisionen bezeichnet werden, haben bei der Durchführung der Hauptaktivitäten des

Gesamtsystems grundsätzlich freien Handlungsspielraum. Das System 1 findet seine

Entsprechung im menschlichen Körper in den Nervenbahnen des Rückenmarks und Wirbeln

der Wirbelsäule, welche für die Kontrolle bestimmter Organe oder Glieder des menschlichen

Körpers zuständig sind.60 Jedes Subsystem auf Ebene 1 ist direkt für die Erfüllung seiner

spezifischen Aufgaben in seiner jeweiligen Umwelt verantwortlich.61

System 2 ist notwendig, um die unabhängigen Einheiten von System 1 koordinierend

auszubalancieren und Synergieeffekte im Sinne des Gesamtsystems zu ermöglichen.

Darunter sind alle Formen von Instrumenten und Mechanismen zu verstehen, die zur

Koordinierung der ergebnisverantwortlichen Einheiten geeignet sein können, wie etwa

Sitzungen, Beiräte, Jour Fixe, Briefings, Planungs- und Kontrollsysteme oder alle Formen von

formellen und informellen Kommunikationsbeziehungen zwischen MitarbeiterInnen oder

Führungskräften der verschiedenen Divisionen.62

System 3 dient der Sicherstellung der Effektivität der untergeordneten Divisionen (System 1)

und ihrer Koordination (System 2). System 3 hat eine logistische Schnittstellenfunktion und

dient der Erarbeitung eines operativen Gesamtplanes, mit Nutzung der Informationen von

System 4 und 5 sowie System 1 und 2. Es teilt Ressourcen an die einzelnen Divisionen zu

und überwacht die planmäßige Verwendung derselben. Dem System 3 stehen drei große

Kommunikationswege zur Verfügung: Die zentrale vertikale Befehlsachse zu den divisionalen

59 Malik, Fredmund (2015), S. 77.

60 Vgl. ebenda, S. 78.

61 Vgl. ebenda, S. 81.

62 Vgl. ebenda, S. 79f.

Page 28: Management in Anzug und Uniform

- 18 -

Führungsorganen, der operative „sympathische Kanal“ zu System 2, mit Informationen zu den

Koordinationsbemühungen und zum Koordinationserfolg sowie ein informeller

„parasympathischer Kanal“, der direkt mit den realen Geschehnissen in den Divisionen

verbunden ist. System 3 ist damit operativ für die Systemstabilität verantwortlich.63

System 4 liefert generelle Informationen über die Systemumwelt der gesamten Organisation,

die sich von den Teilumweltinformationen auf Divisionsebene unterscheiden. Sämtliche für die

Gesamtunternehmung bedeutsamen Umweltinformationen gelangen ausschließlich über das

System 4 in die Unternehmung. Verglichen mit dem menschlichen Organismus ist System 4

analog den Hauptsinnesorganen, dem Seh- und dem Hörsinn, zu betrachten. Die

Weiterleitung von aufgearbeiteten Informationen erfolgt sowohl an das übergeordnete System

5 wie auch an System 3. Durch das Zusammenwirken von System 3 und System 4, unter dem

Einfluss von System 5, entsteht eine Balance zwischen inneren und äußeren Anforderungen

an das Gesamtsystem. System 4 erfüllt dabei jedoch mehr als eine beratende Funktion und

nimmt strategische, steuernde Aufgaben wahr. Deshalb ist System 4 auf der zentralen

vertikalen Befehlsachse abgebildet.64

Das System 5 ist die oberste normative Entscheidungsinstanz des Gesamtsystems. Es legt

die Regeln und Grundsätze fest, an die alle anderen Systeme gebunden sind. Hier werden

Visionen für die Zukunft begründet und in engster Abstimmung mit System 3 und System 4

wird die Unternehmenspolitik gemacht. Von System 5 werden die für den Fortbestand des

Gesamtsystems relevanten Entscheidungen getroffen.65

Eine prägnante Charakterisierung der Systeme in einem Satz hat Malik folgendermaßen

vorgenommen:

• System 1: Was geschieht jetzt und hier?

• System 2: Fällt aus diesem Schema heraus, da es die Koordination der Systeme 1 ist.

• System 3: Was wird – demnächst im Rahmen der kurzfristig nicht änderbaren

Gegebenheiten – passieren?

• System 4: Was könnte – bei Einbezug gewisser vage erkennbarer

Entwicklungstendenzen und bei Beseitigung von internen Engpässen – geschehen?

• System 5: Was sollte – unter Einbezug aller Überlegungen – geschehen?66

2.3.5 Komplexität und HRO-Prinzipien

„Einfache Erwartungen produzieren einfache Wahrnehmungen, die das meiste, was vor sich

geht, nicht erfassen.“67 Das wiederum schränkt auch die eigene Handlungsweise ein, weil nicht

nur Blick auf die mögliche Vielfalt unerwarteter Ereignisse eingeschränkt werden, sondern

auch der Blick auf die mögliche Vielfalt der eigenen Handlungsmöglichkeiten gegenüber

diesen Ereignissen.68

Mit diesem Grundgedanken widmen sich Weick und Sutcliffe einem Managementansatz, den

sie anhand von Organisationen entwickelt haben, welche sich in sensiblen

Sicherheitsbereichen bewegen und die sich daher mit speziellen Paradigmen auf unerwartete

Ereignisse einstellen, um ihren Handlungs- und Reaktionsspielraum so breit als möglich zu

63 Vgl. Malik, Fredmund (2015), S. 81f.

64 Vgl. ebenda, S. 82f.

65 Vgl. ebenda, S. 82f.

66 Vgl. ebenda, S. 83.

67 Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 61.

68 Vgl. ebenda, S. 61.

Page 29: Management in Anzug und Uniform

- 19 -

halten. Diese sogenannten High Reliability Organizations (HRO) widmen möglichen

Störquellen eine besondere Achtsamkeit, da in ihren Tätigkeitsbereichen unerwartete

Unterbrechungen zu schwerwiegenden Folgen führen können. Weick und Sutcliffe verwenden

dafür den Begriff „achtsames Organisieren“, welcher in seiner Bedeutung mit High Reliabiltiy

Organizing gleichgesetzt wird. Gemeint ist damit eine Infrastruktur achtsamen Organisierens,

die Sensemaking, kontinuierliches Organisieren und adaptives Managen fördert.69

Die fünf HRO-Prinzipien, die dies ermöglichen sollen, sind:

1) Konzentration auf Fehler

2) Abneigung gegen Vereinfachung

3) Sensibilität für betriebliche Abläufe

4) Streben nach Resilienz

5) Respekt vor Expertise

2.3.5.1 Konzentration auf Fehler

Fehler sind unerwartete Ereignisse in alltäglichen Prozessen, die negative Auswirkungen auf

Individuen oder Organisationen haben und meistens auf menschliches Versagen

zurückführbar sind.

Der Umgang mit Fehlern ist entscheidend für das Funktionieren einer Organisation. In HRO

nimmt die Konzentration auf Fehler einen hohen Stellenwert ein, da Anomalien in Abläufen

hier besondere Risiken in sich tragen, im schlimmsten Fall den Verlust von Menschenleben.

Deshalb wird besonderer Wert auf die laufende Beobachtung von Prozessen gelegt,

Abweichungen von der gemeinen Ordnung, Form oder Regel wird größte Aufmerksamkeit

geschenkt: Handlungen werden erst zu Fehlhandlungen, wenn sie bereits fehlgeschlagen

sind. Anomalien können, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, den Moment eines

Falschwerdens bezeichnen und helfen, einen Fehler im Ansatz zu vermeiden. Ein Gefühl des

Zweifelns ist somit für das Managen des Unerwarteten von großer Wichtigkeit.70 Ebenso die

Akzeptanz, dass das zukünftige Auftreten von Fehlern nicht nur möglich, sondern gewiss ist.

Eine grundlegende Anforderung an Organisationen liegt daher darin, die Fähigkeit des

Zweifelns zu entwickeln und konstruktiven Widerspruchsgeist zu kultivieren. Eine solcherart

mobilisierte Varietät erhöht die Fähigkeit zur Anpassungsfähigkeit an Unvorhergesehenes und

an Veränderung.71 Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns wird dadurch reduziert.

2.3.5.2 Abneigung gegen Vereinfachung

Vereinfachung trägt die Gefahr pauschalen Etikettierens in sich. Korrelationen und

Kausalitäten können verwechselt werden und für Konfusion sorgen. Vereinfachungen können

dann unerwünschte, unvorhergesehene und unerklärliche Details verschleiern und das

Erkennen und Lösen eines auftretenden Problems verzögern oder sogar ganz verhindern.

„Achtsamkeit entschleunigt mit ihrem Fokus auf Kontext und Details das Tempo, mit dem

wir etwas als „das Gleiche“ bezeichnen. Und wenn wir mehr Unterschiede wahrnehmen,

können wir uns ein reichhaltigeres und vielfältigeres Bild von möglichen Folgen machen,

69 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 19.

70 Vgl. ebenda, S. 44f.

71 Vgl. ebenda, S. 47.

Page 30: Management in Anzug und Uniform

- 20 -

was wiederum ein breiteres und vielfältigeres Set an Vorsichtsmaßnahmen und frühen

Warnsignalen nahelegt.“72

Es sollte daher so spät als irgend möglich vereinfacht werden, denn die erste

Vereinfachung ist der letzte unvoreingenommene Input. Darin liegt gerade die

Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit komplexen Situationen, dass einerseits

eine Vereinfachung und damit die Reduktion von Komplexität jeder Entscheidung und

jeder Handlung immanent und diese Reduktion auch notwendig ist, gleichzeitig aber

damit die Gefahr einhergeht, der Komplexität und damit der Dynamik von Situationen

nicht die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.73

Eine diverse Zusammensetzung eines Teams, aus MitarbeiterInnen mit verschiedenen

fachlichen Hintergründen und mannigfaltigen Erfahrungen, bedeutet ein verlässlicheres

Sensorium und eine Versicherung gegen Fehleinschätzungen in chaotischen

Situationen.74

2.3.5.3 Sensibilität für betriebliche Abläufe

Sensibilität für betriebliche Abläufe ist die Achtsamkeit auf das, was tatsächlich getan wird,

unabhängig davon, was in Intentionen, Aufgabenbeschreibungen, Plänen und Designs

festgelegt ist. Sensibilität für betriebliche Abläufe ankert in der Gegenwart, weil nur die

gegenwärtige Situation auch gegenwärtige Ereignisse beeinflussen kann. Die schlimmsten

Feinde der vollen Aufmerksamkeit sind Ignoranz, Beiläufigkeit und Ablenkung.75 Negative

Geisteszustände wie Verdrängung und Übermüdung können ebenso dazu gezählt werden.

„Ganz bei dem zu sein, was man tut, bedeute mehr als „Sei mit all deinen Gedanken bei

dem, was du tust.“ Es bedeutet, dass das Bewusstsein die Form eines Denkens beim

Handeln, eines Denkens indem man handelt und eines Denkens durch Handeln annimmt.

Bewusstsein bezieht sich auf eine Art zu handeln.“76

In Teamsituationen kann die erforderliche Aufmerksamkeit als eine Art „kollektives

Bewusstsein“ beschrieben werden, das dafür sorgt, dass auf auftretende

Veränderungen in Echtzeit reagiert werden kann.

2.3.5.4 Streben nach Resilienz

Um in schwierigen Situationen Output aufrecht zu erhalten, ist ein gewisses Maß an

Elastizität notwendig, das die Struktur anpassungsfähig hält. Wesentlich ist hier das „in

Bewegung bleiben“, die Anpassung und die Fähigkeit, bereits vorhandene Muster mit

minimalen gegebenen Mitteln weiter zu improvisieren. „In Momenten der Resilienz

variieren die Bedingungen, die Folgen bleiben jedoch die gleichen.“77 Das Fortführen,

der Fortbestand der Systemfunktionen ist deshalb zentral, weil sich in ihnen der Sinn

des Systems manifestiert. Wird ein System angegriffen, erweitert sich sein Zweck darauf,

zu versuchen, seine Funktionen in vollem Umfang aufrecht zu erhalten. Das Streben

nach Resilienz ermuntert „zu einem Handeln beim Denken bzw. zu einem Handeln, um

klarer denken zu können.“78 Lernerfahrungen erfolgen in Echtzeit und beinhalten ein

unvoreingenommenes, kontrollierendes in Kontakt bleiben mit der Situation und mit

72 Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 59.

73 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 79.

74 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 65ff.

75 Vgl. ebenda, S. 72f.

76 Ebenda, S. 75.

77 Ebenda, S. 90.

78 Ebenda, S. 100.

Page 31: Management in Anzug und Uniform

- 21 -

kontinuierlichen Feedbackprozessen. Resilienz erfordert demnach ein frühzeitiges

Erkennen von und Reagieren auf Fehler, welches als improvisierte Zwischenlösung das

System aufrechterhält und darauffolgende Veränderung absorbiert, damit das System

insgesamt fortbestehen kann.79

2.3.5.5 Respekt vor Expertise

Zuverlässige Systeme sollten so organisiert sein, dass Probleme eine Struktur oder ein

Netzwerk von selbst anziehen, welche die für ihre Lösung nötigen Schritte vorschlagen.

Diese Praktik kann nicht nur als „Respekt vor Expertise“, sondern auch als „Migration

von Entscheidungen“ beschrieben werden. Im Fokus steht demnach die

Entscheidungsfindung. Entscheidungen werden also auf jene Ebene verlagert, wo die

meiste Expertise zur Problemlösung vorhanden ist. Dies erfordert eine Durchlässigkeit

von Hierarchien in beide Richtungen. Expertise kann als Koproduktion gesehen werden;

sie entsteht dort, wo Menschen Informationen, Meinungen und anderen Input zu

Unterhaltungen beitragen, in denen Beiträge angenommen, verändert und auch

zurückgewiesen werden können. Verantwortungsvoller Umgang mit Expertise zeigt sich

auch an ihren Grenzen: ExpertInnen wissen, was sie nicht wissen. Der Respekt vor

Expertise soll einen breiteren Handlungsspielraum ermöglichen und als Instrument

dienen, diesen klarer abzustecken.80

2.4 Das Österreichische Bundesheer

2.4.1 Gliederung und Aufgaben

Das ÖBH hat seine rechtliche Grundlage in der Österreichischen Bundesverfassung in Artikel

9a und in Artikel 79 des Österreichischen-Bundesverfassungsgesetztes (B-VG). Eine

Konkretisierung seiner Aufgaben normiert das Wehrgesetz, hier insbesondere § 2 Abs. 1

Wehrgesetz 2001 (WG 2001). Für Aufgaben, die das ÖBH im Ausland übernimmt, dient ein

eigenes Bundesverfassungsgesetz als Grundlage und Konkretisierung, das

Bundesverfassungsgesetz über die Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von

Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSE-BVG).

Im Wehrgesetz ist festgehalten:

§ 2. (1) Dem Bundesheer obliegen

a) die militärische Landesverteidigung,

b) auch über den Bereich der militärischen Landesverteidigung hinaus der Schutz der

verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit und der demokratischen

Freiheiten der Einwohner sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im

Inneren überhaupt,

c) die Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen

Umfanges und

d) die Hilfeleistung im Ausland bei Maßnahmen der Friedenssicherung, der humanitären Hilfe

und der Katastrophenhilfe sowie der Such- und Rettungsdienste (Auslandseinsatz).

Die Aufgaben nach den lit. b und c (Assistenzeinsätze) sind, sofern hiefür nicht ein

selbstständiges militärisches Einschreiten zulässig ist, nur insoweit wahrzunehmen, als die

gesetzmäßige zivile Gewalt die Mitwirkung des Bundesheeres in Anspruch nimmt. Die

79 Vgl. Weick, Karl E. und Sutcliffe, Kathleen M. (2016), S. 89ff.

80 Vgl. ebenda, S. 104ff.

Page 32: Management in Anzug und Uniform

- 22 -

Aufgabe nach lit. d ist nur insoweit wahrzunehmen, als die jeweils zuständigen Organe die

Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres in das Ausland beschließen.81

Die bereits im zweiten Satz das Artikel 79 B-VG festgeschriebene Organisationsform als

Milizsystem unterstreicht die Bedeutung der Miliz für das ÖBH.

In wie weit das internationale Engagement im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und

Verteidigungspolitik der EU mit der österreichischen Neutralität vereinbar ist, ist in der Lehre

umstritten. So sehen viele Völkerrechtler die Neutralität bereits als derogiert.82

Seinen verteidigungspolitischen Auftrag bezieht das ÖBH aus der Teilstrategie

Verteidigungspolitik, aktuell aus dem Jahr 2014. Daraus leiten sich folgende Zielsetzungen für

das ÖBH ab:

Gewährleistung der staatlichen Souveränität und Integrität

Beitragsleistung zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen

Leistung eines militärischen Solidarbeitrages zum sicherheitspolitischen

Handeln der EU

Förderung von Frieden, Humanität und internationaler Sicherheit

Beitragsleistung zum gesamtstaatlichen Sicherheitsmanagement im Rahmen

der Umfassenden Sicherheitsvorsorge83

Die für diese Aufgaben notwendige Gliederung und die notwendigen Mittel werden durch das

Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV) an- bzw. zugeordnet.

Das ÖBH hat derzeit einen Personalstand von 47.000 Personen, inklusive 8.000

Zivilbedienstete und exklusive 16.000 Grundwehrdiener pro Jahr. Zusätzlich gehören dem

ÖBH 25.000 MilizsoldatInnen an. Das Verteidigungsbudget beträgt 2,61 Milliarden Euro.84

81 Rechtsinformationssystem des Bundes (2021), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

82 Vgl. Cibulka, Erich (2021), S. 5.

83 Vgl. Frank, Johann (2021), S. 3f.

84 Vgl. BMLV (2020b), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 33: Management in Anzug und Uniform

- 23 -

Abbildung 2: Gliederung des Österreichischen Bundesheeres85

Das Bundesministerium für Landesverteidigung selbst wird zurzeit umstrukturiert. Die derzeit

noch insgesamt fünf Sektionen werden zu drei Generaldirektionen – Präsidialdirektion,

Generaldirektion Verteidigungspolitik (beide von Zivilisten geführt), Generaldirektion

Landesverteidigung (von einem Soldaten / Generalstabschef geführt) – umgewandelt mit dem

Ziel einer beweglicheren und moderneren Führungsorganisation. Dem Chef des

Generalstabes kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, der zugleich Teil des

Verteidigungsministeriums und des ÖBH ist. Er wird die Kernkompetenz der militärischen

Landesverteidigung im Ministerium repräsentieren und die Generaldirektion

Landesverteidigung führen, welche dadurch Teil des BMLV und des ÖBH gleichzeitig ist.

Innerhalb des ÖBH obliegt ihm die Führung der Direktionen Einsatz, Luftstreitkräfte,

Ausbildung, Logistik, Beschaffung, IKT & Cyber, Infrastruktur, Militärisches Gesundheitswesen

und Fähigkeiten- und Grundsatzplanung.86

Die neue Struktur des Verteidigungsministeriums wurde von der Bundesministerin für

Landesverteidigung Klaudia Tanner im Juni 2021 vorgestellt, die Geschäftseinteilung wurde

bereits mit 01. Juli 2021 eingenommen. Final soll die Strukturreform mit Umsetzung der

Personalpläne bis April 2022 vollzogen sein.

85 Eigene Darstellung, Vgl. BMLV (2020c), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

86 Vgl. BMLV (2021d), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 34: Management in Anzug und Uniform

- 24 -

Abbildung 3: Gliederung BMLV87

Zur Erfüllung der Aufgaben in den unterschiedlichen Operationsgebieten ist das ÖBH in

Teilstreitkräfte und Waffengattungen unterteilt. Eine Darstellung derselben erfolgt im

Anhang.88

2.4.2 Strukturmerkmale des ÖBH

Die folgenden Darstellungen orientieren sich an der Infanterie, oder „Jägertruppe“, also jener

Waffengattung, welche sowohl von der Organisationsstruktur als auch von der Bewaffnung

und vom Einsatzrahmen als die Basis militärischen Handelns betrachtet werden kann. Eine

„Waffengattung ist die Bezeichnung einer Truppe nach der Eigenart ihrer Verwendung sowie

ihres Hauptgerätes.“89 Auf dieser Grundstruktur bauen andere Waffengattungen, wie etwa die

Panzertruppe, auf und ergänzen diese um Waffentypen, Fahrzeuge oder andere Ausrüstung

und Technologie. Gleich bleibt jedoch die für diese Betrachtung wesentlichen

Organisationsmerkmale.

Die historisch gewachsenen Organisationsstrukturen des ÖBH bilden die für ein oben

dargestelltes lebensfähiges System (VSM) charakteristischen Rekursionsebenen deutlich ab.

In den jeweils selbst lebensfähigen Sub-Systemen finden sich die für das Militär typischen und

für seine Einsatzführung notwendigen Aufgabenbereiche wieder. Als unterste Ebene gilt die

87 Eigene Darstellung, Vgl. BMLV (2021), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

88 Vgl. BMLV (2017a), S. 30.

89 Ebenda, S. 22.

Page 35: Management in Anzug und Uniform

- 25 -

Kompanie, die auch als „Einheit“ bezeichnet wird. Mehrere Kompanien sind in der

Kommandoeinheit Bataillon, dem sogenannten „kleinen Verband“ gebündelt, welches mit

Äquivalenten zusammengefasst in der Brigade, dem „Verband“, ihre nächst höhere

Kommandostruktur findet. Die darüber liegenden Kommandoebenen der Division und der

nächst größeren Armee finden sich im ÖBH aufgrund der Reduktion der Truppenstärke nicht

mehr abgebildet.

In den jeweiligen Kommandostrukturen sind jeweils Funktionen abgebildet, die aus der

stabsdienstlichen Ordnung abgeleitet werden. Das Aufgabenspektrum der jeweiligen

Stabsfunktionen (S1 bis S6) umfasst folgende Bereiche:

S1 – Personalführung

S2 – Intelligence und Militärische Sicherheit

S3 – Einsatzführung, Einsatzplanung und Ausbildung

S4 – Logistik, Budget und Finanzen

S5 – Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation

S6 – Führungsunterstützung90

Von der Kompanie bis zur Brigade (und in Armeen mit entsprechend großer Truppenstärke

darüber hinaus) finden sich jeweils Funktionen mit dieser Entsprechung. Dadurch ist

gewähreistet, dass das jeweilige Subsystem in sich lebensfähig ist und analog in der

entsprechend höheren Rekursionsebene sein Pendant findet.

Die Funktionen der Systeme 1 bis 5 des VSM können ebenfalls über diese militärische

Stabsgliederung gelegt und in ihr abgebildet werden. So ist das System 5 des VSM als das

Kommando-führende Element (KommandantIn plus S3) zu sehen, System 4 ist im jeweiligen

Aufklärungs- und Öffentlichkeitselement (S2 und S5) dargestellt, System 3 finden wir im

Inneren Dienst und in der Einsatzplanung (S1 und S3), System 2 findet sich im formellen sowie

informellen Dienst, Kommunikationsmittel, Koordinierungsplattformen, Stabsbesprechungen,

Befehlsausgaben etc. wieder, und System 1 bilden die jeweiligen Versorgungsfunktionen (S4

und S6) sowie die Teileinheiten, welche den Kampf führen, auf der jeweiligen

Rekursionsebene (Zug, Kampfkompanie, Kampfbataillon, etc.).

Die Organisationsstruktur und die stabsdienstliche Funktionsaufteilung des Militärs

entsprechen demnach sehr genau jenem kybernetischen Modell von lebensfähigen Systemen.

Infolgedessen sind die organisatorischen und funktionellen Voraussetzungen des ÖBH für die

erfolgreiche Bewältigung von Komplexität in der Theorie erfolgreich darstellbar.

2.4.3 Das Milizsystem

Wie oben dargestellt ist gemäß Artikel 79 der Bundesverfassung das ÖBH nach den

Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.

Die Bezeichnung „Miliz“ geht auf das Lateinische Wort „militia“ für „Kriegswesen oder

Kriegsdienst“ bzw. „Gesamtheit der Soldaten“ zurück. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wird

der Begriff im deutschen Sprachraum gebräuchlich, wobei er bis zum 18. Jahrhundert das

Kriegs- bzw. Militärwesen im Allgemeinen bezeichnet.91

In der Neuzeit war es der Republikanismus, der vor den Gefahren eines Söldnerarmee und

ihrer möglichen Instrumentalisierung gegen die eigene Bevölkerung warnte. Montesquieu,

90 Vgl. BMLV (2017b), S. 30ff.

91 Vgl. BMLV (2021a), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 36: Management in Anzug und Uniform

- 26 -

Jean-Jacques Rousseau, David Hume, Immanuel Kant oder Thomas Jefferson traten gegen

ein stehendes Heer auf und setzten sich für eine bewaffnete Volksarmee (Miliz) ein.92

Im 20. Jahrhundert erfuhr der Begriff „Miliz“ einen Bedeutungswandel. Seither werden damit

vor allem drei Phänomene bezeichnet:

1) Teile von regulären Streitkräften, die in Friedenszeiten für den Kriegsfall ausgebildet

werden und die nach einer in der Regel kurzen Dienstzeit (mehrere Monate) zu

periodischen Übungen eingezogen werden (Schweiz, Österreich, Skandinavien).

2) Paramilitärische Einheiten oder Freischärler, die sich aufgrund gemeinsamer

Interessenlagen ethnischer, religiöser, politischer oder sonstiger Natur

zusammenschließen (Südamerika, Afrika).

3) Paramilitärische Polizeieinheiten in Diktaturen (ehem. Ostblock)93.

Die Miliz im Sinne des Art. 79 B-VG entspricht dem Verständnis im Sinne von Punkt 1).

MilizsoldatInnen sind in das ÖBH eingegliedert, werden allerdings nur periodisch zu Übungs-

und Einsatzzwecken zum militärischen Dienst herangezogen. In der übrigen Zeit gehen sie

einer zivilen Tätigkeit nach. Teile ihrer Ausrüstung (mit Ausnahme der Bewaffnung) werden

Ihnen zur Verwahrung überantwortet und es ist ihnen in bestimmten Fällen gestattet, auch

außerhalb des militärischen Dienstes Uniform zu tragen.94 Im Falle einer Einberufung oder

Mobilmachung werden sie in den Präsenzstand gesetzt, wodurch sie rechtlich zu SoldatInnen

werden.

Präsenzdienst bezeichnet den rechtlichen Zustand, dem Personen nach dem Wehrgesetz

angehören, die a) Grundwehrdienst leisten, b) Frauen, die einen freiwilligen Ausbildungsdienst

leisten und c) Männer und Frauen, die dem ÖBH aufgrund eines militärischen

Dienstverhältnisses angehören. Nicht zum Präsenzstand zählen Zivilbedienstete des ÖBH und

des BMLV und Personen, die dem Miliz- oder Reservestand angehören. Nur Personen, die

Präsenzdienst leisten werden als „SoldatInnen“ bezeichnet.95

Der Begriff „Miliz“ wurde offiziell mit der Wehrgesetznovelle 1977 eingeführt und erfuhr danach

nie eine genaue Definition oder Interpretation. So war lange Zeit eine Unterscheidung

zwischen Miliz und Reserve nur dadurch zu treffen, dass Angehörige des Reservestandes zu

keinen periodischen Übungen mehr eingezogen werden, nachdem sie in den Reservestand

„versetzt“ wurden. Im 1975 beschlossenen und 1986 veröffentlichten Landesverteidigungsplan

(Raumverteidigung „Spannocchi-Doktrin“ – siehe oben) wurde das ÖBH neu gegliedert und im

Zuge dessen die Miliz als sogenannte Landwehr aufgebaut. In den Folgejahren wird die Miliz

weiter ausgebaut, der ursprünglich vorgesehene Mobilmachungsrahmen von 300.000 Mann

wird allerdings aufgrund mangelnder Rekrutierung nie erreicht.96

1988 wurde schließlich das Milizprinzip verfassungsrechtlich normiert und das bis dahin

gewachsene Milizsystem durch den rechtlichen Status des Milizstandes neben dem Präsenz-

und Reservestand offiziell in den Rechtsbestand eingeführt.97 Seither zählt die Miliz zu den

Einsatzkräften des ÖBH.

92 Vgl. Kley, Andreas (2009), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

93 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

94 Vgl. BMLV (2021a), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

95 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

96 Vgl. Schmidl, Erwin A. (2005), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

97 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 37: Management in Anzug und Uniform

- 27 -

Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 wird die Mobilmachungsstärke des ÖBH sukzessive

verringert und auch das Milizsystem den neuen Gegebenheiten angepasst.

Seit 2013 wird das Milizsystem neu ausgerichtet. Im Fokus stehen neben der Ausrichtung auf

Ressourcenbedarf und Einsatzwahrscheinlichkeit:

• Eine stärkere Bindung an die militärische Heimat

• Identitätsstiftung durch Regionalbezug

• Klare Aufgabenzuordnung bei Einsatz und Einsatzvorbereitung

• Verstärkte Verschränkung mit der Präsenzorganisation zur Steigerung der

gegenseitigen Integration, Identifikation und Akzeptanz als Mehrwert, sowohl für die

Milizteile als auch für die Präsenzorganisation98

Der zukünftige Schwerpunkt für den Einsatz der Miliz liegt dabei im Schutz kritischer

Infrastruktur, sowie in der Personalsicherstellung für Auslandseinsätze und Assistenzeinsätze

im Inland, die das BMLV für andere Ministerien übernimmt. Der jüngste derartige Einsatz war

im Zuge der Bekämpfung der SARS COVID-19 Pandemie (Corona-Pandemie), wo

MilizsoldatInnen auf allen Ebenen der Einsatzführung eingesetzt waren.

Das ÖBH ist trotz seiner Milizkomponente keine Milizarmee, weil dieses Organisationsprinzip

nur teilweise zum Tragen kommt und nicht im gesamten ÖBH seinen Niederschlag findet. So

ist etwa bei den territorialen (an ein Territorium gebundene) Einheiten, also den neun

Militärkommanden der neun Bundesländer, die Komponente stärker ausgeprägt, während bei

den Einheiten der Einsatzorganisation der Brigaden (in der Regel Kampfeinheiten und

Kampfunterstützungseinheiten) ein geringerer Anteil der Truppe aus der Miliz rekrutiert wird

und den hauptberuflich tätigen Kader zusätzlich auffüllen und unterstützen.99 Je nach

Einbindungsgrad der Milizeinheit in einen bestehenden Truppenkörper spricht man von

selbstständig strukturierter Miliz, das sind zu hundert Prozent aus MilizsoldatInnen bestehende

Einheiten (z.B. Jägerbataillone bei den Militärkommanden) oder eingegliederten Milizteilen,

die einem aktiven Truppenkörper zugeordnet sind (z.B. Personalreserven für

Kommandantenfunktionen). Umgangssprachlich bezeichnen sich SoldatInnen gegenseitig als

„aktiv“ für BerufssoldatInnen oder „Miliz“ für MilizsoldatInnen.

Milizangehörige können in beiden Formen theoretisch in jeder Funktion innerhalb der

Hierarchie ausgebildet und eingesetzt werden und entsprechende Dienstränge erreichen.

Der sogenannte „Milizbeauftragte“ ist eine im Wehrgesetz (§32a) abgebildete

Beratungsfunktion für die BundesministerIn, welche die Interessen der Miliz vertritt. Dabei

muss es sich nicht um eine MilizsoldatIn handeln. Tatsächlich ist Mag. Erwin Hameseder, der

im Generalsrang steht und den Dienstgrad „Generalmajor“ führt, der erste Milizoffizier in dieser

Funktion.

98 Vgl. BMLV (2021b), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

99 Vgl. Strigl, Mario (2008), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 38: Management in Anzug und Uniform

- 28 -

2.5 Komplexität und das Österreichische Bundesheer

2.5.1 Komplexe Bedrohungsszenarien

Wie oben dargestellt trat mit dem Ende des Kalten Krieges ein wesentlicher Wandel der

Bedrohungsbilder ein, von einer bipolaren überschaubaren Welt zu einer sogenannten VUCA

(volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) Welt, die volatil, unsicher, komplex und

ambivalent ist.100

Die Risikoanalyse, welche das BLMV für Österreich erstellt, wird am Institut für

Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der LVAk erarbeitet und in der

„Sicherheitspolitischen Jahresvorschau“ veröffentlicht. Mit nationalen und internationalen,

zivilen wie militärischen Experten wird in einem dafür entwickelten Risikoanalyseprozess,

unterstützt durch ein eigens entwickeltes Computerprogramm, die immer komplexer

werdenden Sicherheitsherausforderungen in fassbare Risikobewertungen für die Bevölkerung

und politische Entscheidungsträger übersetzt.

Abbildung 4: Risikobild Österreich 2021101

100 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 83.

101 Frank, Johann (2021), S. 11.

Page 39: Management in Anzug und Uniform

- 29 -

Zum einfacheren Verständnis der Grafik sollen folgende Erläuterungen dienen:

Abbildung 5: Erläuterungen zum Risikobild102

Daraus ergeben sich für Österreich und dem ÖBH folgende drei Risikogruppen:103

1) Hybride Bedrohungen

Cyberattacken, Desinformation, Subversion, Erpressung und Instrumentalisierung

gewaltbereiter Gesellschaftsgruppen zur Durchsetzung politischer Interessen laufen

unterhalb der Schwelle eines offenen Angriffs und verschleiert ab.

2) Resilienz-gefährdende Ereignisse

Blackout, Großschadensereignisse, Naturkatastrophen und das Auftreten von Pandemien

haben das Potenzial, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zu zerstören und können

unmittelbar die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden.

3) Internationale Krisen und Konflikte

Die Auswirkungen auf Österreich bestehen hier insbesondere in Massenmigration und

Terrorismus. Die Gefahr neuer Konflikte steigt, was internationale Einsätze des ÖBH für

Beratungs- und Ausbildungsaufgaben notwendig macht.

Die steigende Komplexität dieser Bedrohungsszenarien liegt im Wesentlichen in einer

exponentiell steigenden Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien,

102 Frank, Johann (2021), S. 11.

103 Vgl. ebenda, S. 10.

Page 40: Management in Anzug und Uniform

- 30 -

welche seit den 1950er Jahren eine breite gesellschaftliche Durchdringung erfahren haben

und die dadurch eine immer schnellere Entwicklung zur Netzwerkgesellschaft bewirken.104

Mit der Schaffung von technischen Vernetzungen gehen hoch komplexe wechselseitig

abhängige Systeme einher, die bei einem Krisenfall zu nicht vorhersehbaren Wirkungen mit

schwerwiegenden Folgen für das Gesamtsystem führen können. Der sogenannte „Schwarze

Schwan“ also ein Schockereignis, das erstmalig und entgegen früherer Erfahrungen und

Erwartungen auftritt, wird dadurch – im Wortsinn – wesentlich wahrscheinlicher. Infrastruktur,

Versorgungssicherheit von Energie und Lebensmittel oder Telekommunikation sind nur

einzelne Sektoren, die beispielhaft angeführt werden, um auf die fortgeschrittene Abhängigkeit

unseres gesellschaftlichen Systems hinzuweisen. Dominoeffekte über sektorale Grenzen

hinaus mit nicht-linearen, also mit keinen einfachen Ursache-Wirkungsketten, sondern

exponentiellen Auswirkungen sind zu erwarten. Erschwerend hinzu kommt eine systematische

Unterschätzung dieser systemischen Risiken durch Verantwortungsträger.105

2.5.2 Militärische Führung und Management

2.5.2.1 Definition

Das Militär steht als Inbegriff für Hierarchie, Drill, Befehl und Gehorsam. In der öffentlichen

Wahrnehmung wird nur selten der methodische Aufwand beleuchtet, der etwa vom ÖBH

betrieben wird, um seine Führungskräfte, die KommandantInnen aus- und weiterzubilden. Eine

zentrale Rolle spielt dabei die LVAk, die beim BMLV angesiedelt und in der Stiftskaserne in

Wien disloziert ist. Als intellektuelles Zentrum des Verteidigungsressorts106 ist sie die

wissenschaftliche Heimat der sicherheitspolitischen Forschung und der Ausbildung für

OffizierInnen des höheren Dienstes, wie beispielsweise des Generalstabs. Ebenfalls an der

LVAk angesiedelt ist das Zentrum für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik (ZMFW).

Dieses ist verantwortlich für eine „zeitgemäße, wertschätzende, wirklichkeitsgetreue und

geschlechter-/diversitätsgerechte Führung und Ausbildung im ÖBH“.107

„Die (angewandten) Forschungsbereiche des Zentrums umfassen insbesondere

Führungsverhalten, Kulturgüterschutz, empirische Sozialforschung,

Führungskräfteentwicklung, (Führungs-/ Militär-) Ethik, (Führungs-) Pädagogik, (Führungs-

) Psychologie, (Führungs-) Soziologie, Staats- und wehrpolitische Bildung und

Geschichte.“108

Diese Darstellung unterstreicht den Stellenwert, welchem der Bereich „Führung“ im BMLV

beigemessen wird, um das ÖBH und seine Führungskräfte auf die modernen (Führungs-)

Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.

Für alle Angehörige des ÖBH definiert die Dienstvorschrift „Führungsbegriffe“ den Begriff

„Führung“ wie folgt:

„Führung ist ein allgemeines, richtungsweisendes, steuerndes und motivierendes

Einwirken auf Personen oder Organisationselemente, um eine Zielvorstellung zu

verwirklichen und die Organisation zu optimieren. Führung setzt Kräfte, Mittel und

Information zielgerichtet nach Zeit und Raum ein.“109

104 Vgl. Saurugg, Herbert (2015), S. 83.

105 Vgl. ebenda, S. 94f.

106 Vgl. BMLV (2021c), S. o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

107 BMLV (2020a), S. o.s. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

108 Ebenda, S. o.S.

109 BMLV (2005), S. 27.

Page 41: Management in Anzug und Uniform

- 31 -

Pichlkastner führt dazu aus, dass es sich demnach um das Herbeiführen einer Leistung

innerhalb eines hierarchischen Systems von Vorgesetzten und Unterstellten handelt, dem ein

Machtverhältnis zugrunde liegt, zur Erreichung eines Zieles, welches auf die Erfüllung einer

Aufgabe ausgerichtet ist. Es handelt sich also um ein soziales Phänomen, „welches in

Interaktion als Anwendung von Macht zur Erreichung von exogenen Zielen sichtbar wird“. 110

Das explizite Fehlen eines Zwecks im Sinne eines „gemeinsamen Zieles“ oder die „Erfüllung

einer gemeinsamen Aufgabe“ von Führenden und Geführten lässt den Schluss zu, dass

militärische Führung im Sinne der Definition des ÖBH gegebenenfalls auch gegen persönliche

Ziele und gegen den persönlichen Willen von Geführten erfolgt, um eine Auftragserfüllung zu

garantieren.111

2.5.2.2 Auftragstaktik

Gekennzeichnet ist die militärische Führung im ÖBH durch die sogenannte „Auftragstaktik“.

Dabei handelt es sich weniger um eine Technik als um ein grundsätzliches Verständnis von

Führung und ein diesem Verständnis zugrundeliegendes Menschenbild. Kurz gesagt geht es

darum, dass nicht mit Befehl, sondern mit Auftrag geführt wird. Der wesentliche Unterschied

liegt im Freiraum, welcher den Geführten durch die Führenden eingeräumt wird. Ein Befehl

beinhaltet (im Idealfall) detailliert, wer, was, wann, wo und auf welche Weise zu tun oder zu

unterlassen hat („5W-Regel“), während ein Auftrag ein zu erreichendes Ziel oder eine zu

erbringende Aufgabe vorgibt und weitest gehenden Freiraum für die Umsetzung lässt. Diese

Delegation und die dafür notwendigen Freiräume setzen eine Vertrauensbasis voraus und die

Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Zudem wird dadurch den Anforderungen der

Komplexitätsbewältigung in modernen Szenarien Ausdruck verliehen.112

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass dieses Führungsmodell aufgrund der Transformation der

Gesellschaft hin zu einer Netzwerkgesellschaft neu entwickelt wurde. Vielmehr war das

sogenannte „Theresianische Führungsmodell“, welches auf die Zeit der Gründung der

Theresianischen Militärakademie durch die österreichische Herrscherin Maria Theresia

zurückgeht, schon seit Anbeginn auf die Eigenverantwortung der Führungskräfte hin

ausgerichtet. Keine wissenschaftliche Abhandlung über Führung im ÖBH kommt ohne das

Zitat Maria Theresias aus, mit welchem sie ihren Feldmarschall Graf Daun beauftragte und

der die Geburtsstunde der Theresianischen Militärakademie im Jahre 1752 symbolisiert:

„Mach er mir tüchtige Officirs [sic!] und rechtschaffene Männer darauß [sic!]“.113 Und auch die

höchste militärische Auszeichnung, der Militär-Maria-Theresien-Ritter-Orden setzt als

Verleihungskriterium eigenverantwortliches Handeln voraus. Es sollen also im

Theresianischen Führungsmodell seit beinahe 300 Jahren Eigenverantwortung, Initiative und

Selbstständigkeit gefördert werden. Dieser Gedanke spiegelt sich im heutigen ÖBH noch

immer in der Auftragstaktik wider.114

2.5.2.3 Menschenbilder

Eigenverantwortliches Handeln anstatt dumpfem Gehorsam ist eine Tendenz, die sich auf

neue Prioritäten stützt, welche sich in der Wirtschaft und ihrem Management manifestiert

haben. Von den Mitarbeitern werden neben ihren fachlichen vermehrt soziale Kompetenzen

erwartet. Dementsprechend hat sich auch das Menschenbild gewandelt. War es davor noch

ausreichend zur fachlichen Qualifikation, Wertetreue und Loyalität zum Unternehmen

110 Pichlkastner, Karl (2001), S. 24 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

111 Vgl. ebenda, S. 24.

112 Vgl. ebenda, S. 26f.

113 Pichlkastner, Karl (2015), S. 97 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

114 Vgl. ebenda, S. 103.

Page 42: Management in Anzug und Uniform

- 32 -

mitzubringen, wird heute auch Selbstständigkeit, Offenheit, Teamfähigkeit, Zivilcourage und

Kreativität erwartet. Eigenschaften, die das Menschenbild wesentlich weg vom Untergebenen

hin zum Mitarbeiter gewandelt haben.115 Diese Aspekte von zivilem Management finden auch

im Prozess, der innerhalb des ÖBH maßgeblich an der LVAk stattfindet, ihre Abbildung.

Beispielgebend dafür ist die militärwissenschaftliche Publikationsreihe „Armis et Litteris“,

welche sich den Forschungsschwerpunkten „Militärische Führung“ und „Umgang mit

Komplexität – Führung in komplexen Systemen“ und deren Auswirkung und Umsetzung für

die Führungsausbildung im ÖBH widmet.116

Die Tatsache, dass sich die LVAk intensiv mit Führung im modernen Aufgabenspektrum auf

wissenschaftlicher Basis auseinandersetzt, bedeutet jedoch noch nicht, dass das Militär nun

rein auf Management setzt, wie es in zivilen Organisationen zur Anwendung kommt. Nach wie

vor ist die Kernaufgabe des ÖBH die militärische Landesverteidigung, die im sogenannten

„Ernstfall“ mit Töten und Getötet-werden andere Anforderungen an Führende und Geführte

stellt, als das in einem Unternehmen der Fall ist. Dieses Risiko für Leib und Leben erfordert

einerseits ein hohes Verantwortungsbewusstsein der Führung und andererseits eine hohe

Opferbereitschaft seitens der Geführten, was sich auch in einem Menschenbild widerspiegelt,

das sich auch im 21. Jahrhundert nach wie vor an „Autorität, Gehorsam, Pflicht, Leistung, Mut,

Tapferkeit, Treue, Anstand und Ehre“117 orientiert.

In diesem Spannungsfeld zwischen Mitarbeiter und Untergebenen bewegen sich nicht nur

hauptberuflich tätige SoldatInnen, sondern insbesondere Angehörige der Miliz, die sich nur

zeitweise diesem Menschenbild unterordnen.

Der Umstand jedoch, dass beim ÖBH MilizsoldatInnen in Führungsfunktionen Verantwortung

tragen, die den größten Teil ihres Berufslebens in zivilen Organisationen tätig sind, bietet die

Gelegenheit, das Management im ÖBH unter jenen Maßstäben zu betrachten, die in der Regel

an zivile Institutionen, Unternehmen oder die Verwaltung angelegt werden.

Dafür ist es notwendig, ein Managementverständnis als theoretische Grundlage

heranzuziehen, welches über das hinausgeht, was gemeinhin oft unter Management

verstanden wird. Gemeint ist eine Sichtweise, die Management unter rein

betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten einordnet oder es mit Top-Management, also den

obersten Führungsorganen eines Unternehmens, gleichsetzt. Ebenso wenig hilfreich, aber

naheliegend in Zusammenhang mit dem Militär wäre es, Management mit Menschenführung

und Leadership gleichzusetzen. Wie bereits dargestellt greifen auch diese Ansätze zu kurz.

Es werden daher die Maßstäbe von kybernetischen Managementtheorien und Strategien zur

Komplexitätsbewältigung am Beispiel von HROs, wie sie im vorigen Kapitel dargestellt wurden,

herangezogen, um Strukturen und Abläufe, die im ÖBH eingebettet sind, in einen

theoretischen Zusammenhang zu bringen und einer empirischen Analyse zugänglich zu

machen.

115 Vgl. Forstner-Billau, Alois (2001), S. 49 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

116 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 65.

117 Forstner-Billau, Alois (2001), S. 52 (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 43: Management in Anzug und Uniform

- 33 -

3 Empirisches Vorgehen und Methodik

3.1 Forschungsinteresse

Wie oben dargestellt befassen sich wissenschaftliche Publikationen zur Führung im ÖBH, ob

von außen oder aus dem ÖBH selbst, in einer überwiegenden Zahl mit dem Führungshandeln

Einzelner. Ein ganzheitliches Managementverständnis, wie es etwa von Malik dargestellt wird,

welches als Grundlage für eine Darstellung der Organisation ÖBH als eigenes komplexes

System innerhalb einer sich wandelnden Umgebung dienen kann, war hingegen bisher

weniger oft Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.118

Wissenschaftlich gänzlich unbeleuchtet blieb bisher die Rolle, welche der Miliz in diesem

Zusammenhang im System ÖBH zukommt und der Blick auf die Möglichkeiten, die der Einsatz

und die Expertise von Führungskräften bieten, welche sich gleichzeitig in zwei

unterschiedlichen Systemzusammenhängen bewegen.

Die vorliegende Arbeit verfolgt als also zwei Forschungsinteressen:

Erstens einen Beitrag zum vertiefenden Verständnis zu leisten, ob und wie sich das ÖBH auf

eine komplexer werdende Umwelt einstellt. Inwieweit ein ganzheitliches

Managementverständnis vorherrscht, welches vernetztes Denken zulässt und steuerndes

Eingreifen in diesem Umfeld ermöglicht und ob seine gewachsenen Organisationsstrukturen

anpassungsfähig sind.

Zweitens die Schließung der Forschungslücke, welche sich beim Blick auf die Rolle der Miliz

bei dieser Herausforderung des ÖBH auftut. Ob und wie das ÖBH von einem möglicherweise

unterschiedlichen Blick und einer differenzierten Herangehensweise der MilizoffizierInnen

profitieren kann bzw. welche Aspekte des militärischen Führungsverständnisses für

MilizoffizierInnen in ihrem zivilen Handlungsumfeld eine Rolle spielen.

Dieses Forschungsinteresse wird anhand folgender Forschungsfragen erörtert.

3.1.1 Forschungsfragen

Forschungsleitende Frage

Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und

zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden

Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?

Forschungsfrage 1:

Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer

auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21

beschrieben wird?

Forschungsfrage 2:

Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und

Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar

machen?

118 Vgl. Deutenhauser, Rene (2019), S. 88.

Page 44: Management in Anzug und Uniform

- 34 -

3.1.2 Vorannahmen

3.1.2.1 Die Große Transformation

Die Annahme hinsichtlich der Großen Transformation21 zu Forschungsfrage 1 besteht darin,

dass das ÖBH mit einer steigenden Komplexität seiner Aufgaben konfrontiert ist und darauf

reagiert. Es wird weiters angenommen, dass streng hierarchische Institutionen langsamer auf

diesen Wandel reagieren können.

Die Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen haben gezeigt, dass es sich bei dem

Wandel hin zu einer Komplexitätsgesellschaft, wie sie Malik bezeichnet, um ein universelles

Phänomen handelt, das sich auf die gesamte Gesellschaft bezieht und dem sich auch das

ÖBH nicht entziehen kann. Das Militär wird aufgrund seiner historischen Entwicklung

gleichsam als die „Wiege der Hierarchie“ betrachtet und bietet durch die Befehlsstruktur, die

sich an einem strengen Top-down-Schema orientiert, auf den ersten Blick wenig Möglichkeiten

für die Teileinheiten, raschen Einfluss auf Strukturzusammenhänge zu nehmen. Dies erscheint

im Lichte eines kybernetischen Managementverständnisses als träge und nachteilig. Ob dies

tatsächlich der Fall ist, soll durch die empirische Erhebung beantwortet werden.

3.1.2.2 Zivile und militärische Systemunterschiede

Die Annahme zur Forschungsfrage 2 besteht darin, dass MilizoffizierInnen aufgrund ihrer

zivilen beruflichen Tätigkeit mit Strategien konfrontiert sind, mit denen zivile Organisationen

auf die Große Transformation21 reagieren, und dieses Wissen in ihre Führungstätigkeit beim

ÖBH einfließen lassen. Dabei handelt es sich um die Grundannahme der geplanten Arbeit, die

auf die Erforschung der Schnittstellenfunktion von MilizoffizierInnen ausgerichtet ist.

BerufsoffizierInnen bewegen sich üblicherweise den größten Teil ihres beruflichen Lebens in

militärischen Strukturen. Ihre KameradInnen aus der Miliz hingegen sind aufgrund ihrer zivilen

Tätigkeit in Unternehmen, der Politik oder der Verwaltung mit Managementkenntnissen

ausgestattet, welche über das militärische Umfeld hinausgehen, und daher in der Lage,

alternative Lösungsvorschläge für militärische Problemstellungen zu machen. Inwieweit dies

in der Realität tatsächlich möglich ist, soll durch die Arbeit erörtert werden.

3.2 Forschungsfeld

Der Personalstand des ÖBH beträgt derzeit etwa 47.000 Personen. Davon sind rund 14.000

SoldatInnen und 8.000 Zivilbedienstete. Zusätzlich verfügt das ÖBH über rund 25.000

MilizsoldatInnen.119 MilizsoldatInnen sind Männer und Frauen, die dem ÖBH aufgrund einer

freiwilligen Verpflichtung nach Absolvierung eines Präsenzdienstes (siehe dazu oben)

weiterhin zur Verfügung stehen und in regelmäßigen Abständen für einen Zeitraum von in der

Regel zwei Wochen einberufen werden, um die militärischen Kenntnisse aufzufrischen und in

ihrer jeweiligen Funktion für einen Einsatzfall zu üben. Darüber hinaus können sich Angehörige

der Miliz auch auf freiwilliger Basis jederzeit zeitlich begrenzt zum aktiven Dienst in einer ihrem

Dienstrang und ihrer Ausbildung entsprechenden Funktion heranziehen lassen. Dies ist in

großer Zahl bei Assistenz- und Auslandseinsätzen der Fall, wo die Miliz für die sogenannte

„Durchhaltefähigkeit“, also die Fähigkeit, einen Einsatz über einen längeren Zeitraum

aufrechtzuerhalten, unerlässlich ist.

Bei MilizoffizierInnen handelt es sich um sogenannte „feldinterne ReflexionsexpertInnen“. Das

bedeutet, sie verfügen über ausgeprägte Schnittstellenerfahrungen, weil sie aufgrund ihrer

119 Vgl. BMLV (2020b), o.S. (siehe Internet-/Intranetverzeichnis).

Page 45: Management in Anzug und Uniform

- 35 -

Tätigkeit in unterschiedlichen Handlungsfeldern beobachten und dadurch relationales und

reflexives Wissen entwickeln. Es bietet sich daher eine offene Gesprächsführung in

ExpertInnengesprächen an, um die unterschiedlichen Perspektiven dieses Reflexionswissens

zu aktivieren.120

Um eine Erforschung von zivilen und militärischen Strategien, Strukturen und Systemen im

Umgang mit Komplexität und Wandel zu ermöglichen, ist ein möglicher Schritt, Mitglieder

beider Systeme zu ihren diesbezüglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen zu befragen, die

gewonnenen Daten mittels Interpretation zu vergleichen und in einen Zusammenhang zu

bringen. Führungskräfte haben aufgrund ihres Aufgabenbereiches (nämlich die Erreichung

eines Zieles unter charakteristischen Umfeldbedingungen) spezifische Einblicke und Zugänge

in ihr System und dessen Bedingungen. Sie sind dabei, wie in den Vorannahmen dargestellt,

in Folge der Transformation21 mit einer steigenden Komplexität dieser Umfeldbedingungen

konfrontiert. Aus diesem Grund wurden für die Arbeit Führungskräfte, die mit der Bewältigung

von Komplexität in einer sich grundlegend wandelnden Welt konfrontiert sind, als ExpertInnen

herangezogen.

3.3 Methodologisches Vorgehen

Bei dem zu untersuchenden Forschungsgegenstand handelt es sich um gemeinsame oder

unterschiedliche Strategien, Strukturen und Systeme zur Bewältigung von Komplexität, wie sie

von Führungskräften in zwei unterschiedlichen Systemkontexten (zivil und militärisch) erfahren

werden. Durch die Einheit von zwei an sich getrennten Lebenswelten, welche die

Personalunion der MilizoffizierInnen darstellt, können diese ihre subjektiv wahrgenommenen

Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Dadurch kann in Zusammenhang gebracht werden, was

für den jeweiligen Kontext relevant ist. „Im Zentrum qualitativer Interviews steht die Frage, was

die befragten Personen für relevant erachten, wie sie ihre Welt beobachten und was ihre

Lebenswelt charakterisiert.“121 Aus diesem Grund wurde ein qualitatives Forschungsverfahren

gewählt.

„Qualitative Forschung widmet sich der Untersuchung der sinnhaften Strukturierung von

Ausdrucksformen sozialer Prozesse. [...] Im Zuge dessen fokussieren qualitative

Analysen die gesellschaftlichen Verankerungen der Praxis menschlichen Handelns,

sozialer Ereignisse und deren Entwicklungsdynamik und versuchen diese einem

theoretisierenden Verständnis zuzuführen.“122

Im Zuge des Forschungsverfahrens wurde der Versuch unternommen, aus dem in

Einzelinterviews gewonnenen (Kommunikations-) Material im Wege einer

zusammenfassenden Inhaltsanalyse Rückschlüsse darauf zu ziehen, was Führungskräfte in

dem jeweiligen sozialen System als relevant erachten, wenn es um die Kontrolle von

Komplexität geht. Darüber hinaus gibt Kommunikation, welche das Fundament sozialer

Systeme darstellt, auch unabhängig vom transportierten Inhalt durch die Art und Weise, wie

sie im jeweiligen Kontext stattfindet, Auskünfte über soziale Systeme insgesamt.123 Dabei

spielen die sozialen Zusammenhänge, die SoldatInnen und zivile Führungskräfte erleben,

sowie deren Strukturiertheit eine Rolle.

Wäre menschliches Handeln nur von individuellen Überlegungen und subjektiver Planung

abhängig, so läge die Annahme nahe, dass sich MilizoffizierInnen im Umgang mit komplexen

120 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 58.

121 Ebenda, S. 14.

122 Ebenda, S. 15.

123 Vgl. ebenda, S. 90.

Page 46: Management in Anzug und Uniform

- 36 -

Herausforderungen gleich verhalten, egal ob sie sich in ihrer beruflichen zivilen Lebenswelt

bewegen oder aber in ihrer militärischen Funktion. Die qualitative Forschung geht jedoch von

der Annahme aus, dass Phänomene wie menschliches Handeln nur in einem kommunikativen

Prozess der Vergesellschaftung vorkommen, dass also menschliches Handeln über die

subjektive Entscheidung hinaus immer in einem sozialen Kontext eingebettet ist. Dies hat zur

Folge, dass die Strukturierung dieser sozialen Beziehungen und die Bedingungen, nach denen

Verständigung in ihnen funktioniert, beobachtet und charakterisiert werden können.124 Als

Teile beider Systeme sind MilizoffizierInnen also nicht nur Expertinnen der beiden Systeme,

sondern repräsentieren in ihren Aussagen die Systeme selbst und ihre Beziehung zu diesen.

Dadurch ist es möglich, durch ihre Aussagen Sinnkonstruktionen der beiden Systeme zu

erkennen.125

3.3.1 Datenerhebung

Das zu analysierende Material wurde mithilfe von offenen Interviews mit ExpertInnen

gewonnen. Offenheit bedeutet, dass die interviewte Person Raum hat, mit ihren eigenen

Begriffen das zu sagen, was sie sagen möchte und was ihr selbst wichtig ist und dass sich die

interviewende Person – über ihren eigenen Verstehenshorizont hinaus – auf unerwartete und

mit ihrem eigenen Deutungssystem inkompatible Aussagen einlassen kann.126

„Ein besonderer Vorteil inhaltsanalytischen Vorgehens […] ist ihre

kommunikationswissenschaftliche Verankerung.“127 Die Schlussfolgerungen aus der

Materialanalyse beziehen sich demnach immer auf einen konkreten Teil im

Kommunikationsprozess. Im konkreten Fall auf den übergeordneten Gedanken der

forschungsleitenden Frage nach den unterschiedlichen Zugängen bei der Bewältigung von

Komplexität und den daraus abgeleiteten Kategorien und Subkategorien. Das Material wird

dadurch kontextualisiert und auch auf seine Entstehung und Wirkung hin untersucht.128

Wie bereits ausgeführt sind Aussagen bezüglich der unterschiedlichen bzw. gemeinsamen

Organisationsstrukturen, Strategien und Managementsysteme in Hinblick auf die Bewältigung

von Komplexität in zivilen und militärischen Organisationen durch die Schnittstelle

„MilizoffizierIn“ möglich. Die Erfahrungen, die MilizoffizierInnen in ihren jeweiligen

Systemkontexten mit der Kontrolle komplexer Systeme machen, dienen als Grundlage für die

Analyse der jeweiligen Zugänge zu diesem Problem. Es erschien daher sinnvoll, mit einzelnen

ExpertInnen in Form von leitfadengestützten Interviews über diese unterschiedlichen

Erfahrungen zu sprechen und diese im Anschluss mittels zusammenfassender Inhaltsanalyse

auszuwerten. Ein besonderer Vorteil ist dabei, dass das gewonnene Material stets in einen

Kommunikationszusammenhang gebracht wird, welcher sich hier klar abgrenzen lässt,

nämlich auf jenen der militärischen Führung einerseits und auf der zivilen Managementtätigkeit

andererseits.

Voraussetzung bei der Auswahl der ExpertInnen war daher, Führungskräfte zu interviewen,

die sowohl im militärischen Sinne als „KommandantInnen“ tätig sind, als auch im zivilen Beruf

der Management- bzw. Führungsebene ihrer Organisation angehören. Für den militärischen

Bereich erschien es dabei sinnvoll, KommandantInnen unterschiedlicher Ebenen in die

Analyse einzubeziehen. Aufgrund der Zeitspanne der Verwendung der jeweiligen

124 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 16.

125 Vgl. ebenda, S. 18.

126 Vgl. Baur, Nina und Blasius, Jörg(hrsg) (2019), S. 672.

127 Mayring, Philipp (2015), S. 50.

128 Vgl. ebenda, S. 50.

Page 47: Management in Anzug und Uniform

- 37 -

KommandantInnen und ihrer daraus ableitbaren Erfahrung und Aussagekraft wurde hier die

Ebene Kompanie als Grundlage angesetzt.

Die Interviews wurden zur Zeit der Corona-Pandemie erhoben und mussten aufgrund der

behördlichen Auflagen („Lockdown“) und der damit zusammenhängenden Einschränkungen

im persönlichen Kontakt jeweils über ein digitale Videoschaltung geführt werden, welche mit

Zustimmung der Interviewten aufgezeichnet wurde. Das derart gewonnenen Bild-/Tonmaterial

wurde anschließend mit Hilfe eines externen Unternehmens transkribiert und in geglätteter

Form schriftlich analysiert. Die Transkription kann zwar das beim Interview stattfindende

soziale Geschehen nicht abbilden, sie ermöglicht jedoch die Nachvollziehbarkeit der Analyse

auf Basis der relevanten Daten.129

Die GesprächspartnerInnen wurden darüber informiert, dass der Interviewende selbst

ebenfalls Milizoffizier ist, was eine soziokulturelle Gemeinsamkeitsebene des Vertrauens und

der Offenheit begünstigte.

3.3.2 Auswahl der GesprächspartnerInnen

Um eine Personalunion zwischen ziviler und militärischer Führungskraft repräsentativ zu

erfassen, war es nicht nur notwendig, dass die befragten Experten in ihrem Berufsleben in

einer Führungs- bzw. Managementfunktion tätig sind, sondern dass auch eine entsprechende

gesellschaftliche bzw. berufliche Bandbreite abgebildet ist. Die GesprächspartnerInnen sind

daher aus den Bereichen Wirtschaft, Industrie, Politik, öffentliche Unternehmen und

Öffentlicher Dienst (Verwaltung). Gleichzeitig wurde angestrebt, unterschiedliche Stufen der

militärischen Hierarchie und Gliederung abzubilden. Beginnend bei der Kompanie bis zur

ministeriellen Ebene wurden daher KommandantInnen für die Expertengespräche

herangezogen.

Alle Gesprächspartner sind wie dargestellt in einer gehobenen zivilen Managementposition

tätig. Mit „gehobenem Management“ ist in den Bereichen Wirtschaft und Industrie eine

Tätigkeit in der Führung (Vorstand) von Unternehmen gemeint. In den beiden Sektoren Politik

und Öffentliche Verwaltung wurden Führungskräfte der ersten Verfassungs- bzw.

Verwaltungsebene (Nationalrat und Ministerium) befragt.

Für den Bereich „militärische Führungskräfte“ kann bei OffizierInnen eine Führungs-

/Kommandofunktion vorausgesetzt werden, weshalb andere Dienstgrade (Unteroffiziers- und

Chargendienstgrade) nicht in Betracht gezogen wurden. Offiziersdienstgrade finden ab der

Ebene „Zug“ in Kommandantenfunktion Verwendung, das entspricht einem Kommando über

rund 40 SoldatInnen, ab der Ebene Kompanie sind es je nach Waffengattung 60 bis 250

SoldatInnen. Die befragten ExpertInnen sind jedenfalls KommandantInnen ab der Ebene

„Kompanie“ bis hinauf zu Verwendungen in der Generalstabsabteilung beim BMLV.

Abgerundet wurde der Kreis der ExpertInnen mit einem feldinternen Handlungsexperten130,

der aus dem Bereich der Forschung zu Komplexität, Dynamik, Vernetzung und Krisenvorsorge

wissenschaftliche Publikationen, sowie akademische Lehrtätigkeit mitbringt, selbst Absolvent

der Militärakademie ist und vor seinem Ausscheiden aus dem ÖBH Berufsoffizier in

Stabsdienstfunktion war.

129 Vgl. Baur, Nina und Blasius, Jörg(hrsg) (2019), S. 284.

130 Vgl. Froschauer, Ulrike und Lueger, Manfred (2020), S. 58.

Page 48: Management in Anzug und Uniform

- 38 -

Abbildung 6: Hintergrund der GesprächspartnerInnen (Eigene Darstellung)

3.3.3 Datenauswertung

Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse will Kommunikation und fixierte (also in irgendeiner

Form protokollierte) Kommunikation analysieren, dabei systematisch, regelgeleitet sowie

theoriegeleitet vorgehen und Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation

ziehen.131

Nach Mayring können drei Grundformen der Inhaltsanalyse zusammengefasst werden:

Zusammenfassung: Reduktion des Materials auf die wesentlichen Inhalte durch Abstraktion –

ermöglicht einen überschaubaren Blick auf das Gesamtmaterial

Explikation: unklare Textstellen werden durch zusätzliches Material verständlich(er) gemacht

– ermöglicht einen genaueren Blick auf besonders interessante Teile des Materials

Strukturierung: Herausfiltern bestimmter Aspekte des Materials unter vorher festgelegten

Ordnungskriterien – ermöglicht einen Blick auf bestimmte Eigenschaften des Materials

Um einen Überblick über die beiden Lebenswelten der ExpertInnen zu gewinnen und daraus

Ableitungen über die Strukturen, Strategien und Systeme treffen zu können, wurde für diese

Arbeit die zusammenfassende Inhaltsanalyse gewählt, mit deren Hilfe ein überschaubares

Konvolut an Informationen geschaffen werden soll, das ein Abbild des Grundmaterials

darstellt, welches dabei systematisch auf das Wesentliche reduziert wird. Erfasst werden dabei

jene Aspekte, die im Zusammenhang mit der Beantwortung der Forschungsfragen stehen.

Dies erfolgt im Zuge einer schrittweisen Reduktion des Materials durch eine fortschreitende

Erhöhung des Abstraktionsniveaus.132 Das Ziel dieses Prozesses ist die induktive Bildung

eines Kategoriensystems, das es mit Bezug auf die zugrundeliegende Theorie ermöglicht, das

Material thematisch zuordenbar zu machen, um eine Beantwortung der Forschungsfragen

131 Vgl. Mayring, Philipp (2015), S. 11f.

132 Vgl. ebenda, S. 67ff.

Page 49: Management in Anzug und Uniform

- 39 -

darstellen zu können. Dabei darf eine Rücküberprüfbarkeit am Ausgangsmaterial nicht

verloren gehen.133

Abbildung 7: Ablaufmodell der "Zusammenfassenden Inhaltsanalyse"134

Eine Fallvignette zur Veranschaulichung des Prozesses im Rahmen der praktischen

Umsetzung, sowie eine Darstellung des induktiv erstellen Kategoriensystems findet sich

im Anhang.

133 Vgl. Mayring, Philipp (2015), S. 61.

134 Eigene Darstellung, Vgl. Ebenda, S. 70.

Page 50: Management in Anzug und Uniform

- 40 -

4 Ergebnisdarstellung

4.1 Einleitung

Die Bedrohungsszenarien des 21. Jahrhunderts und mit ihnen die Herausforderungen, mit

denen sich das ÖBH konfrontiert sieht, werden aller derzeitigen Voraussicht nach nicht mit

Panzern und Sturmgewehr bewältigt. Die Coronavirus-Krise in Folge der COVID-19-Pandemie

macht dies derzeit augenscheinlich. Im Vordergrund steht für das ÖBH daher nicht die

militärische Landesverteidigung, wenn diese auch weiterhin als Kernkompetenz des ÖBH

betrachtet werden muss, sondern vielmehr komplexe Bedrohungsszenarien, die sich

wesentlich von jenen zur Zeit des Kalten Krieges unterscheiden. Der Hinweis auf diese bereits

30 Jahre zurückliegende bipolare Weltordnung erscheint dennoch bis heute weiter relevant.

Aufgrund der Altersstruktur der strategischen Führungsebene des ÖBH ist nämlich der

Schluss zulässig, dass ein großer Teil der derzeit im Dienst befindlichen höheren militärischen

Führung in der Zeit des Kalten Krieges aufgewachsen ist und damals die militärische

Berufslaufbahn eingeschlagen hat. Diese Prägung wird als relevant erachtet, wenn es um den

Umgang mit einer komplexer werdenden Umwelt geht.

4.1.1 Flexibilität und Persönlichkeit

Zwei relevante Faktoren kommen darin zum Tragen. Erstens die Flexibilität und zweitens die

Persönlichkeit. Erstere spielt bei der Frage der Bewältigung von Komplexität durchgängig eine

entscheidende Rolle. Gemeint ist, dass sowohl soziale Systeme, unabhängig von der Größe

und vom Organisationsgrad, ihre Strukturen und Prozesse flexibel gestalten und dann erhalten

müssen, als auch psychische Systeme, also Individuen, Flexibilität als Grundthema ihres

Denkens und Handelns kultivieren müssen, wenn sie sich in einer dynamischen und

unüberschaubaren Umwelt bewegen und steuernd in diese Organisationen eingreifen wollen.

Dabei wird der Fähigkeit des „Vernetzen Denkens“ eine wesentliche Bedeutung beigemessen,

wie noch darzustellen sein wird. Diese Fähigkeit führt uns zum zweiten Aspekt, nämlich der

Persönlichkeit. Es zeigt sich, dass einzelnen Personen und ihren Fähigkeiten eine hohe

Bedeutung im Zusammenwirken von Organisationen und deren Möglichkeiten, komplexe

Herausforderungen zu bewältigen, zukommt. Ob und wie weit eine Institution mit Komplexität

umgehen kann hängt also von der Fähigkeit seiner Mitglieder ab, flexibel im Sinne von

anpassungsfähig zu sein und vernetzt denken zu können. Wesentlich erscheint, dass diese

Fähigkeit erlern- und trainierbar ist und dass OffizierInnen durch ihre Sozialisierung als

SoldatIn diese Grundsätze vermittelt bekommen.

4.1.2 „Sowohl-als-auch“ statt „Entweder-oder“

Für die bisherige Betrachtung erscheint dies insofern wichtig, als sie aufzeigt, dass der Erwerb

von neuen persönlich(keitsbildend)en Fähigkeiten notwendig ist, um das System ÖBH auf die

sich wandelnden Umfeldbedingungen einzustellen. Es ist jedoch nicht diese Tatsache allein,

die als trivial erscheinen könnte, sondern es ist ein sich daraus ableitender Leitgedanke, der

durchgängig empirisch getragen wird und daher von wesentlicher Bedeutung ist. Es ist das

allgemeine Verständnis einer Handlungsmaxime, die vom Geist eines „Sowohl-als-auch“

anstatt eines „Entweder-oder“ getragen wird. Dieser Geist taucht gemeint als Grundstimmung

durch alle Aspekte der Komplexitätsbewältigung auf und muss daher am Anfang der

Darstellung der Ergebnisse Erwähnung finden. Es handelt sich dabei um eine Grunderkenntnis

der empirischen Auswertung der Gespräche mit den feldinternen Reflexions- und

HandlungsexpertInnen, die sämtliche Entwicklung, jede Anpassung, alles Lernen und jede

daraus abgeleitete Folgerung und jeder Änderung innerhalb des Systems und seiner

Page 51: Management in Anzug und Uniform

- 41 -

Außenwirkung, danach ausrichtet. Um ein Beispiel anzuführen, eine Entscheidung in einem

dynamischen Umfeld zu treffen wird nicht nur allein durch flexible Prozesse ermöglicht,

sondern es zeigen sich ebenfalls standardisierte Verfahren als hilfreiche Mittel. Es sind also

sowohl Flexibilität als auch standardisierte Verfahrensabläufe notwendig, um in einem sich

wandelnden, unüberschaubaren Umfeld zu einer Entscheidung zu kommen.

4.2 Transformation

Es bestätigt sich, dass das Entstehen einer Netzwerkgesellschaft, wie sie im zweiten Kapitel

beschrieben und als Vorannahme formuliert wurde, auch auf das ÖBH Auswirkungen hat.

Diese Auswirkungen betreffen jedoch nicht nur, wie man annehmen könnte, den äußeren

Einfluss, der auf das ÖBH einwirkt, sondern das ÖBH als komplexes soziales System an sich.

Als Hauptauslöser für diese steigende Komplexität außerhalb wie innerhalb des ÖBH wird vor

allem der technische Fortschritt gesehen und die damit verbundene Menge an zu

verarbeitender Information. Die Entwicklung in der Informations- und

Kommunikationstechnologie führt zu einer Flut an Daten, welche die unterschiedlichen

Verantwortungsbereiche betrifft und die dort nicht mehr als Ganzes erfasst und verarbeitet

werden kann. Das beginnt bereits auf der Ebene Kompanie und setzt sich in allen höheren

Kommanden fort. Dabei ist zu beobachten, dass zwar jede Ebene individuell von einem

Transformationsprozess betroffen ist, dieser jedoch nur schwer an konkreten Faktoren

festgemacht werden kann. Durchwegs wird in dem Zusammenhang auf allen Ebenen das

Bedrohungs- und Risikobild, das auf strategischer Ebene für die gesamte Republik erstellt

wird, als Orientierung für ein sich wandelndes Umfeld herangezogen. Praktisch manifestiert

sich dies in weiterer Folge in den Einsatzarten, wie beispielsweise im sogenannten „COVID19-

Einsatz“, im Einsatz zum Schutz von verfassungsmäßigen Einrichtungen (etwa ausländische

Botschaften) oder im sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz an der Staatsgrenze. Dort

werden die theoretischen komplexen Bedrohungsszenarien Pandemie, Terrorismus oder

Migrationsströme zum tatsächlichen Betätigungsfeld des ÖBH und damit für die einzelnen

SoldatInnen erfahrbar. Diese Einsatzszenarien sind zwar planbar und können in einem

gewissen Umfang auch geübt werden, sie erfordern in der Umsetzung jedoch andere

Instrumente und ein höheres Maß an Flexibilität als das in früheren militärischen

Betätigungsfeldern der Fall war. Im Besonderen gilt das für die Abwehr von Cyber-Attacken,

deren Auswirkungen und Langzeitfolgen schwer bis gar nicht vorhersagbar sind. Es stellt sich

heraus, dass gerade in diesem Bereich das Potential der Miliz dringend erforderlich ist und

noch zu wenig genutzt wird. Insgesamt wird durch den Einsatz der Miliz die Flexibilität

innerhalb des ÖBH und seiner Handlungsmöglichkeiten nach außen erhöht. Dazu jedoch

unten mehr.

4.2.1 Transformation und Krise

Um relevante Aspekte sichtbar zu machen, welche den Wandel beschreiben, dem sich das

ÖBH gegenübersieht, ist es zielführend, einen allgemeinen Blick auf Hintergrund und

Regelmäßigkeiten von Anlässen zu werfen, in denen es zum Einsatz kommt. Am klarsten

erkennbar wird dies im Umgang mit Krisen.

Die aktuelle Pandemie, ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2, hat gezeigt, dass

Nationalstaaten bei der Lösung von komplexen Herausforderungen an Bedeutung verlieren.

Es mag gerade aktuell in der Corona-Krise den gegenteiligen Anschein haben, da ja

vornehmlich die Nationalstaaten mit dem Krisenmanagement beschäftigt sind. Gleichwohl

herrscht der Eindruck vor, dass dieses Management ein reaktives ist, welches den Ereignissen

stets einen Schritt hinterherhinkt, als dass es die Entwicklung der Pandemie aktiv steuernd

Page 52: Management in Anzug und Uniform

- 42 -

beeinflussen oder sie gar beenden könnte. Dies liegt zum einen an der einfachen Tatsache,

dass Befindlichkeiten und nationale Interessen einer Gesamtlösung entgegenstehen. Zum

anderen hat das Umdenken hin zur Netzwerkgesellschaft noch nicht umfassend

stattgefunden. Die Verbreitung des Virus und die Reaktionen darauf lassen erkennen, dass

sich das Denken des Industriezeitalters (noch) nicht ausreichend mit exponentiellem

Wachstum auseinandergesetzt hat, weshalb sich die Menschen dieses schlicht gedanklich

nicht vorstellen können. Die Transformation hat technisch bereits stattgefunden, aufgrund der

globalen Vernetzung unserer Verkehrswege kann sich ein Virus weltweit exponentiell

ausbreiten. Die Bildungssysteme der Nationalstaaten sind jedoch noch nicht in der

Vernetzungs- und Informationsgesellschaft angekommen und hinken dieser technischen

Entwicklung, die bereits in den 1950er Jahren mit der Kybernetik und der Computertechnologie

begonnen hat, um mehr als 50 Jahre hinterher. Das Krisenmanagement arbeitet daher mit

Mitteln, die dem Grad an Vernetzung, welche durch die Transformation Realität geworden ist,

nicht gerecht werden und bleibt reaktiv.

4.2.2 Antifragilität und Risiko

Das fehlende Vorstellungsvermögen über exponentielles Wachstum betrifft jedoch nicht nur

die Verbreitung eines Virus, es birgt eine Kernfrage im Umgang mit Krisen und in der

Bewältigung von Komplexität insgesamt. Unser Erfahrungswissen basiert auf den

Erkenntnissen, die wir aus dem Prozess von Versuch und Irrtum gewonnen haben. Innovation,

Anpassung und Lernen brauchen Versuch und Irrtum, im Englischen „Trial-and-Error“, also

Fehler. Neben der Bedeutung von Fehlern für die Steuerung einer Organisation, im

Zusammenhang mit HRO-Prinzipien, die in Kapitel 2.3.5.1 erörtert werden, soll hier kurz die

Wirkung eines betriebswirtschaftlichen Blicks auf Fehler und seine negativen Folgen auf

Entwicklung und Umgang mit Komplexität beleuchtet werden.

Durch den Grundsatz der betriebswirtschaftlichen Effizienzsteigerung wurden Rückfallebenen

und Pufferreserven aus Kostengründen aufgelöst, die jedoch in einem Krisenfall notwendig

wären, um einen Systemabsturz zu vermeiden. Eine derartige Effizienzsteigerung führt zwar

zu Kostenminimierung, gleichzeitig aber auch zu höherer Anfälligkeit für Systemausfälle im

Krisenfall. Problematisch wird dies, wenn sich ein derartiges Handeln mit einem fehlenden

Vorstellungsvermögen und mit der fehlenden Möglichkeit für Trial-and-Error verbindet, weil die

exponentiellen Auswirkungen eines ersten Ausfalls bereits zu einer Katastrophe größeren

Ausmaßes führen würden. Die Folge wäre ein Gesamtausfall des Systems, der ohne

Vorbereitung und ohne Reaktionsmöglichkeit zu nicht vorhersehbaren Schäden führen würde.

Da ein derartiges Risiko seinem Wesen nach nicht vorhersehbar ist, wird eine komplementäre

Betrachtungsweise notwendig, die nicht das Risiko in den Vordergrund von

Sicherheitsüberlegungen stellt, sondern die Antifragilität, also die Robustheit eines Systems.

Diese ist im Gegensatz zum Risiko beobachtbar und messbar.

Ein konkretes Beispiel findet sich in dem in Kapitel 2.5.1 dargestellten Risikobild des ÖBH für

die Republik Österreich. Durch die Vernetzung der Strom-, IT- und Logistiksysteme würde ein

erster großflächiger Blackout, der über mehrere Tage dauert, zu einem Gesamtausfall des

Systems führen, der nicht abschätzbare Schäden für die gesamte Gesellschaft nach sich

ziehen würde. Dementsprechend hoch ist die Einschätzung des Risikos, wie sie beim ÖBH

vorgenommen wird, beobachtbar und messbar sind jedoch ausschließlich die Stabilität des

Netzes bzw. seine Schwankungsausschläge.

Dass bei der Auflösung von Rückfallebenen und Pufferreserven auch ein

betriebswirtschaftlicher Gedanke nicht zum Tragen kommt, zeigt sich letztlich an dem

Umstand, dass die Auswirkungen eines derartigen Ausfalls in kurzer Zeit die

Effizienzsteigerung und Kostenoptimierung von Jahrzehnten zerstören würde.

Page 53: Management in Anzug und Uniform

- 43 -

4.2.3 Folgerungen

o Anerkennung der Transformation und ihrer unmittelbaren Auswirkungen auf die

Dynamik und Komplexität des Aufgabenspektrums des ÖBH

o Anpassungen des Bildungssystems der Industriegesellschaft an die Anforderungen der

Netzwerk- und Informationsgesellschaft durch Intensivierung der Themenbereiche zu

Komplexität und exponentieller Entwicklung in Grundlehr- und Studienplänen

o Sensibilität für nachhaltige Krisensicherheit von Organisationen im Zuge von

betriebswirtschaftlicher Effizienzsteigerung

o Komplementäre Sichtweise zur Risikoanalyse auf Organisationen durch Konzentration

auf Antifragilität und Resilienz des Systems

4.3 Vom Umgang des ÖBH mit Komplexität

Wie zuvor dargestellt bewegt sich das ÖBH in einem Umfeld, das sich im Umbruch befindet

und dadurch volatil, unsicher, komplex und ambivalent (VUCA) ist. Die Transformation von der

Industrie- zur Netzwerkgesellschaft, welche auf der Entwicklung der Informations- und

Kommunikationstechnologie fußt und eine exponentiell wachsende technische Vernetzung

verursacht, stellt eine sicherheitspolitisch relevante Entwicklung dar. Die neu auftretenden

Querschnittsmaterien im Sicherheitsbereich erfordern eine Anpassung des Denkens und

Handelns an die neuen Rahmenbedingungen. Die hohe Varietät an möglichen Szenarien

schließt das Schaffen von Musterlösungen für einzelne Institutionen aus. Der Weg kann daher

nur über die Vernetzung von Institutionen, Organisationen und Fächern und über das

Überwinden von derzeit noch bestehendem „Silo-Denken“ und Abbau von Bürokratie führen.

Dies setzt wiederum einerseits Flexibilität in den Organisationsstrukturen und Hierarchien

innerhalb dieser Institutionen voraus und andererseits Flexibilität im Denken und

Führungshandeln der Verantwortlichen auf allen (Rekursions-) Ebenen.

Die nachfolgende Darstellung befasst sich daher mit den beiden Bereichen, Führung und

Steuerung, sowie Organisationsstrukturen, um die diesbezügliche Entwicklung beim ÖBH zu

verfolgen. Abschließend wird in einem letzten Teil der Frage nach der Einbindung der Miliz in

diesen Bereichen nachgegangen.

4.3.1 Führung und Steuerung

Das ÖBH agiert in weiten Bereichen mit standardisierten Verfahren. „Führungsverfahren“ und

„Befehlsschema“ lassen schon ihrem Namen nach erkennen, dass das Ziel ihrer Anwendung

ein strukturierter Weg zur Entscheidungsfindung und Auftragserfüllung ist. Sie sind im oben

dargestellten Sinne komplizierte Instrumente für komplizierte Anforderungen. Aus dieser Sicht

widersprechen sich Militär und Komplexität auf den ersten Blick aufgrund der Anwendung

standardisierter Führungsinstrumente. Hinter diesen Führungsinstrumenten stehen allerdings

Führungsgrundsätze, die darauf schließen lassen, dass das Militär durchaus in der Lage ist,

die nötige Flexibilität zu entwickeln und vernetzt zu denken, um sich in einem komplexen

Umfeld zu bewegen.

So kann etwa das Führungsverfahren nicht als stures Abarbeiten einer Punktation gesehen

werden, das einem unverrückbaren Schema folgt. Vielmehr handelt es sich bei genauerer

Betrachtung um einen Plan-Do-Check-Act Regelkreis, wie er dem kybernetischen Verständnis

von Steuerungsprozessen entspricht, der beim ÖBH in erster Linie auf einen Zeitgewinn

ausgerichtet ist, welcher Handlungsspielraum und damit Initiative gewährleisten soll. Ein aus

einem militärischen Grundsatz gewonnenes Verfahren also, dem die Erfahrung zugrunde liegt,

dass in den meisten historischen und aktuellen militärischen Auseinandersetzungen derjenige

Page 54: Management in Anzug und Uniform

- 44 -

überlegen war, welcher schneller und besser auf das Gefecht vorbereit war, während der

andere nur reagieren konnte und daher unterlag. Ähnliches ist uns bei der

Auseinandersetzung mit Krisen bereits begegnet. Es zeigt sich auch hier der Grundsatz, dass

für komplexe Szenarien sowohl flexibles Denken als auch einfache standardisierte Prozesse

notwendig sind.

Eine ähnliche Wirkung hat die Auftragstaktik. Sie ist ein Produkt des laufenden Regelkreises,

welchen das Führungsverfahren darstellt. Während im Gegenstück, der Befehlstaktik, kein

Freiraum bei der Durchführung eines Befehls gegeben ist, setzt die Entwicklung zum „Führen

mit Auftrag“ voraus, dass der Geführte seine eigene Umsetzung innerhalb seines

Handlungsspielraumes ständig überprüft und an eine sich ändernde Lage anzupassen

vermag. Erst dadurch kommt der Plan-Do-Check-Act Regelkreis zum Tragen und umgekehrt

ermöglicht dieser Prozess erst das Führen mit Auftrag und gewährtem Handlungsspielraum.

Für die Erreichung des Gesamtzieles wird die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt,

die Steuerung nicht zentral von einer einzigen Führungsstelle aus, sondern von mehreren

kleineren, dezentralen, funktionalen Einheiten übernommen. Durch eine übergeordnete

Steuerung wird die Handlungsfreiheit der Subsysteme gewährleistet. Dieses Prinzip der

Subsidiarität stellt einen zentralen Faktor der Steuerung in einem komplexen Szenario mit

hoher Dynamik und Veränderungsgeschwindigkeit dar. Das ÖBH erfüllt mit seiner

Führungsmaxime der Auftragstaktik diese wesentliche Voraussetzung.

Die Grenzen der Auftragstaktik liegen in der Unmittelbarkeit der militärischen Gefechtstechnik,

welche Führung sowohl durch Auftrag als auch durch Befehl erfordert, und in mangelndem

Vertrauen zwischen Geführten und KommandantInnen.

4.3.1.1 Dezentralisierung und Vertrauen

Handlungsfreiheit und die Delegation von Verantwortung setzen eine hohe

Vertrauensbeziehung voraus. Das Bild der Geführten wandelt sich von Untergebenen zu

Mitarbeitern, welchen durch die Führungskraft Vertrauen in die auftragsgemäße Zielerfüllung

entgegengebracht wird und welche umgekehrt im Führungshandeln Sinn erkennen müssen,

um ihrerseits Vertrauen in dieses Führungshandeln zu entwickeln. Dazu hat sich gezeigt, dass

dieses auf Vertrauen basierende Führungsverständnis innerhalb der Miliz gelebte Praxis ist.

Inwieweit dies auf das gesamte ÖBH zutreffend ist, kann aufgrund der Datenerhebung im

Milizkreis nur vermutet werden. In Milizeinheiten wird der Weitergabe von Information und

damit der Transparenz eines Entscheidungsprozesses eine hohe Bedeutung beigemessen.

Die sprichwörtliche militärische Begründung mit vier Buchstaben „isso“ („So ist es eben!“), die

in der Vergangenheit berüchtigt war, hat ausgedient. Vielmehr hat heute interne

Kommunikation einen hohen Stellenwert, sie erleichtert Akzeptanz für Entscheidungen, den

Blick für das Große Ganze und Führungsmaßnahmen insgesamt. Dies drückt sich auch in

einem wertschätzenden Umgangston aus, der innerhalb von Milizeinheiten oftmals anders

wahrgenommen wird als in Einheiten des Berufskaders.

Einen Beitrag dazu leistet die Führungsmethodik-Ausbildung für MilizoffizierInnen, welche

diesbezügliche Schwerpunkte setzt und in der Wahrnehmung der OffizierInnen an Qualität und

Stellenwert gewonnen hat. Auch, oder gerade, weil Führungsverhalten von Charakter und

Persönlichkeit abhängig ist, wird diese persönlichkeitsbildende Komponente der Ausbildung

durch das Zentrum für menschenorientierte Führung dem ursprünglichen Sinn des

theresianischen Auftrags „tüchtige Offiziers und rechtschaffene Männer zu machen“

buchstäblich gerecht. Dies ist insofern von Bedeutung, als auch Fähigkeiten, welche für die

Bewältigung von Komplexität nötig sind, wie etwa vernetztes Denken, als erlern- und

trainierbar eingestuft werden. Im Rückschluss müssen diese persönlichen Fertigkeiten geübt

und gefestigt werden, um nicht wieder verloren zu gehen. Ebenso von Bedeutung in dem

Page 55: Management in Anzug und Uniform

- 45 -

Zusammenhang ist die Erkenntnis, dass das Bestehen einer Organisation unter Belastung von

den Fähigkeiten und den Vorbereitungen Einzelner, also vom sprichwörtlichen schwächsten

Glied in der Kette, abhängig ist. Eine Erfahrung, die in der militärischen Praxis seit

Jahrhunderten besteht, welche durch die exponentiellen Folgewirkungen von Ausfällen aber

an zusätzlicher Brisanz gewonnen hat.

Wesentliches Merkmal für das Vertrauen, das in der Miliz der Führung entgegengebracht wird,

sind Erfahrung und soziale Kompetenz. Eine Eigenart des Militärs liegt darin, dass aufgrund

von Laufbahnbildern oftmals an Lebensjahren jüngere KommandantInnen Vorgesetze für

ältere SoldatInnen sind, welche zusätzlich oft auch längere militärische Erfahrung haben. Das

bedeutet, fehlende Erfahrung und damit möglicherweise verbundene fehlende fachliche

Kompetenz müssen durch höhere soziale Kompetenz wettgemacht werden, um Akzeptanz

und Führungsautorität zu erhalten. Fehlt diese, kommt es aufgrund der formell bestehenden

hierarchischen und funktionellen Kommandostruktur zu Führungskonkurrenz und

Parallelstrukturen aufgrund informeller Führungsrealitäten.

4.3.1.2 Hierarchie und Komplexität

Das ÖBH ist strukturell und funktionell eine hierarchisch gegliederte Organisation. Dienstgrade

und Funktionsebenen sind sichtbare Abbilder dieser Ordnung. Nicht nur in den gerade

dargestellten Situationen informeller (Parallel-) Führung wird diese strenge hierarchische

Gliederung problematisch gesehen.

Hierarchien sind für die Steuerung des ÖBH sowohl förderlich, als auch hinderlich, weil es

sowohl komplexe, als auch komplizierte Szenarien gibt, in denen es sich bewegt.

Insbesondere in der Kernkompetenz des ÖBH, der militärischen Landesverteidigung, zeigt

sich, dass strenge Hierarchien unerlässlich sind. Ein militärisches Gefecht, das unter

Einbeziehung der Einschätzung aller Beteiligten, deren Leib und Leben dabei auf dem Spiel

steht, geführt werden sollte, erscheint absurd. Dass unter Druck die formelle Hierarchie mehr

an Bedeutung gewinnt, ist aber kein alleiniges Merkmal des Militärs. Auch im Zivilen werden

Führungsmaßnahmen, die in zeitlichen oder finanziellen Belastungssituationen getroffen

werden, weniger auf einen gemeinschaftlichen Prozess, als eher auf hierarchische Strukturen

gegründet.

Aber nicht nur in Extremsituationen können Hierarchie und standardisierte Abläufe hilfreich

sein, auch tägliche Routineabläufe können dadurch erleichtert werden. Hinderlich sind sie

jedoch im militärischen Alltag überall dort, wo sie zur Begründung für das Abschieben von

Verantwortung herangezogen werden, was oftmals unter dem Sammelbegriff „Bürokratie“

zusammengefasst wird.

Nicht erwartete Szenarien verlangen hingegen einen bewussten Wechsel zu aktiver Steuerung

und ein „Aufweichen“ der funktionellen Hierarchie hin zu Aufwertung von Expertise. Moderne

Bedrohungsszenarien verlangen mehr Netzwerkdenken und weniger Hierarchie. Am Beispiel

der Organisation „Anonymus“ wird aufgezeigt, wie flexible Hierarchien unter Einbeziehung von

Expertise erfolgen kann. Derartige Organisationen haben grundsätzlich keine Hierarchie,

nehmen aber für konkrete Aktionen kurzfristig hierarchische Strukturen unter Führung der

Bestqualifizierten ein, welche sie nach Beendigung der Aktion wieder auflösen. Diese

Kombination aus sowohl flexiblen Strukturen als auch Hierarchien ist in einem komplexen

Umfeld höchst erfolgreich. Entscheidend sind die jeweilige Situation und die grundsätzliche

Flexibilität. Das ÖBH als von Grund auf streng hierarchische Organisation lässt diese

Flexibilität vermissen, die empirische Auswertung zeigt, dass selbst die Vorstellung, die

gegebene hierarchische Struktur zu verlassen, bzw. situationsbedingt anzupassen, innerhalb

des ÖBH und der Miliz nicht vertretbar ist.

Page 56: Management in Anzug und Uniform

- 46 -

Insgesamt wird Hierarchie innerhalb des ÖBH als funktionales Mittel zur Erreichung eines Ziels

betrachtet. Sie entbindet den Vorgesetzen nicht von der Schaffung eines

Vertrauensverhältnisses. Im Gegenteil wird gerade in Extremsituationen mit der Gefahr für

Leib und Leben, sowohl ein hierarchisches, als auch ein vertrauensgeprägtes Verhältnis als

zwingend notwendig erachtet. Das Schlagwort vom „Führen durch Vorbild“ wird im ÖBH trotz

streng hierarchischer Gliederung als Idealtypus von Führung vertreten.

4.3.1.3 Das ÖBH als HRO

Das Betätigungsfeld des ÖBH ist in letzter Konsequenz mit der Gefahr für Leib und Leben

seiner Mitglieder verbunden. Und wie dargestellt sind seine zukünftigen Einsätze in einer

VUCA-Umwelt nicht zur Gänze plan- und vorbereitbar, da die Komplexität und Dynamik der

Bedrohungsszenarien zu Unerwartetem führen. Das ÖBH erfüllt daher zumindest in der

Theorie die Voraussetzungen einer HRO.

Das Bewusstsein dafür, dass HRO-Prinzipien ein Schlüssel zum Umgang mit Komplexität sein

können, ist im ÖBH noch nicht in der Form ausgeprägt, wie man es aufgrund der Beachtung

der einzelnen Prinzipien annehmen könnte. Es hat sich nämlich gezeigt, dass gerade die

Sensibilität für Fehler eine für MO durchaus relevante Rolle in der Praxis spielt. So werden die

Auswirkungen von Fehlern in einem zivilen Umfeld als zumeist finanzieller Natur, welche in

weiterer Folge zu Personalabbau und dadurch zu Arbeitslosigkeit führen können, dargestellt,

während das Bewusstsein für die Konsequenzen für Leib und Leben der anvertrauten

SoldatInnen im militärischen Aufgabenbereich für das Führungshandeln der MO von

Bedeutung ist. Von den fünf HRO-Prinzipien ist dementsprechend auch die Sensibilität für

Fehler am deutlichsten ausgeprägt, was sich auch in der Führungsausbildung an der

TherMilAk und an der HUAk widerspiegelt. Dies geht soweit, dass sich die Fehlerkultur im

ÖBH in den letzten Jahrzehnten deutlicher und bewusster in Richtung höhere Fehlertoleranz

entwickelt hat, als das in der zivilen Arbeitswelt erlebt wird. Dort werden Fehler eher vertuscht

und aufgrund eines fehlenden „Skin in the Game“-Effektes, also dem Umstand, dass

Entscheidungsträger zumeist nicht persönlich oder mit ihrem eigenen Vermögen für ihre

Entscheidungen einstehen müssen, werden aus Fehlern nicht die notwendigen

Konsequenzen gezogen. Dagegen schildern gerade MO im Rahmen von Einsätzen und

Übungen eine offene, reflektierte und intensiv betriebene Fehlerkultur im Rahmen von

Evaluierungsprozessen zur Fehleridentifikation und -vermeidung und eine konsequente

Konzentration auf Fehler auch unter Vernachlässigung hierarchischer Strukturen.

Der Respekt vor Expertise findet im ÖBH seine alltägliche Ausprägung in der Stabsarbeit,

welche die Grundlage für Entscheidungen darstellt. StabsoffizierInnen fügen als ExpertInnen

aus ihren jeweiligen Fachbereichen den erforderlichen Input für das Gesamtbild bei. Bei

diesem Respekt vor der Expertise handelt es sich jedoch zum größten Teil um Routineabläufe,

bzw. um komplizierte und vorhersehbare Abläufe. Abseits davon zeigt sich das ÖBH weniger

durchlässig für Expertise außerhalb der vorgegebenen Strukturen. Im Zusammenhang mit

dem Wandel von Bedrohungsszenarien werden dementsprechende Wahrnehmungen

schlagend, welche aufgrund fehlender Einbindung in vorgegebene Strukturen kein Gehör

finden.

Die Ergebnisse zur (Ab-) Neigung, zur Vereinfachung und zur (fehlenden) Sensibilität für

betriebliche Abläufe lassen darauf schließen, dass das ÖBH zwar eine Fehlerkultur entwickelt,

jedoch das Erkennen von schwachen Signalen strukturell (noch) keine Rolle spielt. Einzelne

KommandantInnen sind hier die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel, ein institutionelles

Bewusstsein für die Wirkung und die Möglichkeit des Beachtens von Abläufen und des

frühzeitigen Erkennens von schwachen Signalen kann allerdings nicht festgestellt werden.

Page 57: Management in Anzug und Uniform

- 47 -

Das Streben nach Resilienz ist dem ÖBH schon aufgrund der existentiellen Ausrichtung seines

Betätigungsfeldes immanent. So werden die Wirkungsarten von militärischen Maßnahmen mit

den Begriffen Vernichten, Zerschlagen oder Niederhalten bezeichnet, welche es im

umgekehrten Falle zu vermeiden gilt. Dabei ist die sogenannte laufende Lagebeurteilung im

wahrsten Sinne überlebenswichtig. Resilienz bedeutet demnach nicht die Widerstandskraft

des Bestehenden, sondern laufende Anpassung und Weiterentwicklung. Das Militär hat

demnach das Streben nach Resilienz als seine Hauptaufgabe stets im Fokus.

4.3.2 Folgerungen

o Sowohl Führungsverfahren (standardisiert) als auch Auftragstaktik (flexibel)

charakterisieren Führung im ÖBH

o Hierarchien sind sowohl hilfreich als auch hinderlich

o Flexibilität, Hierarchien anzupassen ist im ÖBH nicht gegeben - „starre Hierarchie“

o Wesentliche Aspekte für evolutionäre Weiterentwicklung der Institution ÖBH sind:

Senkung des Ressourcenbedarfs und Abhängigkeiten

Dezentrale Steuerung und Vertrauen (Stärke der Miliz)

Fehlerfreundlichkeit

o ÖBH ist sich der Stellung als HRO bewusst

o HRO-Prinzipien werden zum Teil kultiviert

insb. Fehlerkultur wurde weiterentwickelt

Expertise wird in kompliziertem Umfeld anerkannt, zur

Komplexitätsbewältigung aber nur teilweise genutzt

Sensibilität für schwache Signale und Abläufe wird unterschätzt

Streben nach Resilienz ist als Metathema immanent

o Institutionelles Bewusstsein des Nutzens der HRO-Prinzipien für

Komplexitätsbewältigung fehlt

4.3.3 Organisationsstrukturen

4.3.3.1 Konstruktivistisch-technomorph versus systemisch-evolutionär

Dieser Unterscheidung geht die Fragestellung voraus, ob das ÖBH eher als Maschine oder

als lebender Organismus betrachtet wird. Dabei hat sich gezeigt, dass auch dieser Bereich

nicht ohne „Sowohl-als-auch“ auskommt.

Es herrscht jedoch das systemisch-evolutionäre Bild vom ÖBH als einem lebenden

Organismus vor. Das Produkt „Sicherheit“ wird durch das Zusammenwirken von Menschen

erzeugt. Dafür sind einerseits Funktionen und andererseits Personen wesentlich. Die

Funktionen innerhalb des Militärs sind historisch gewachsen und es hat sich dabei insgesamt

weiterentwickelt, was einem evolutionären Gedanken Rechnung trägt. Die existentielle

Ausrichtung des militärischen Handelns setzt das soziale Zusammenwirken in den

Vordergrund, wodurch in der Praxis Personen mehr Bedeutung bekommen als Funktionen.

Unbestritten dabei bleibt die Ansicht, dass die militärische Kernaufgabe, die

Landesverteidigung und mit ihr das militärische Gefecht, eine konstruktivistisch-technomorphe

Herangehensweise erfordert. Je „näher am Feind“, desto mehr muss das Militär wie eine

Maschine funktionieren, deren einzelne Zahnräder ineinandergreifen. Gerade in

Führungsebenen bis Bataillon und darunter ist es daher wichtig, ein derartiges

Führungsverständnis zu etablieren und für einen Einsatz zu üben.

Dieser Zugang hat das ÖBH auch in seiner gesamten Friedensorganisation geprägt und tut es

zum Teil bis heute. Komplexitätsbewältigung braucht jedoch beide Ansätze. Dass diese

Sichtweise Eingang in die Organisationsstruktur des ÖBH gefunden hat, wird stark der

Page 58: Management in Anzug und Uniform

- 48 -

Weiterentwicklung der und durch die Führungsausbildung an LVAk, TherMilAk und HUAk

zugeschrieben. Weil vernetztes Denken erlern- und trainierbar ist und dem Gedanken folgend,

dass das Wirksamwerden Einzelner einen Effekt auf das Gesamtsystem haben kann, greift

das Bewusstsein des ÖBHs als lebendem Organismus und dadurch ein systemisch-

evolutionäres Verständnis des ÖBH immer mehr Platz, ohne die Notwendigkeit von

konstruktivistisch-technomorphen Organisationsmerkmalen aus den Augen zu verlieren.

4.3.3.2 Das ÖBH als VSM

Wie bereits in Kapitel 2.4.2 dargestellt, findet das VSM prinzipiell seine Abbildung im ÖBH

hinsichtlich Rekursionsebenen, Kompetenzzuteilung und Lebensfähigkeit. Offensichtlich wird

dies in seiner Gliederung, welche aus jeweils lebensfähigen (Sub-)Systemen besteht und in

den einzelnen Stabsfunktionen, welche die Systeme 1-5 des VSM gut abbilden (siehe dazu

Seite 24). Das VSM hat jedoch nur insoweit einen Mehrwert, als sich seine Teilnehmer dessen

auch bewusst sind und aktiv zwischen standardisierten Abläufen und Strukturen umschalten

können. Dieser aktive Wechsel zwischen Routineabläufen und aktiver Steuerung muss den

Systemmitgliedern bewusst gemacht und trainiert werden. Hier zeigen Ergebnisse, dass sich

die MO der positiven Auswirkung der Gliederung bewusst sind, aber nicht die volle Tragweite

für Komplexitätsbewältigung abschätzen können.

Es zeigt sich jedenfalls, dass die Struktur von der strategischen Führungsebene bis hinunter

zur Kompanie durchgetragen wird und innerhalb des ÖBH und der Miliz auch bekannt ist. Die

Rekursionsebenen sind klar in der Gliederung abgebildet und jede Ebene für sich ist ein

lebensfähiges System, das aus lebensfähigen Subsystemen besteht. Die Kompanie wird

demnach mit dem Namen „Einheit“ bezeichnet, das Bataillon als „kleiner Verband“ und die

Brigade als „großer Verband“ und so weiter. Diese Namen zeigen nach außen, dass diesen

(Sub-)Systemen die jeweilige Eigenständigkeit und Lebensfähigkeit immanent ist. In der Praxis

sind die jeweiligen Ebenen durch einen eigenen Corpsgeist gekennzeichnet, mit dem die

jeweiligen Mitglieder ihre Zugehörigkeit zu einem der Systeme nach Außen zeigen und ihre

persönliche Identifikation als Teil des (Sub-)Systems demonstrieren. Ein weiteres Indiz für die

Eigenständigkeit in sich.

Ebenfalls für die notwendige Flexibilität des ÖBH im Umgang mit Komplexität und Dynamik

liegt im Grundsatz, dass die Gliederung dem Auftrag folgt. Dahinter steht das

Organisationsmerkmal der Truppeneinteilung, welche durch die Organisationsstruktur als

Führungsmittel zur Verfügung steht. Die Truppeneinteilung ermöglicht es dem

einsatzführenden Kommando, je nach Rekursionsebene, die eigenen Verbände je nach

Auftrag mehr oder weniger flexibel und divers zusammenzusetzen. Als Beispiel wird für einen

Angriff in gebirgigem Gelände ein Truppenkörper anders zusammengesetzt werden als für

einen Ordnungseinsatz nach einem Blackout in einer Landeshauptstadt. Die

Truppeneinteilung ermöglicht es KommandantInnen auf allen Ebenen, ihren Verband flexibel

zusammenzustellen und in der Truppeneinteilung festzulegen. Auch können dafür

Teileinheiten aus anderen Verbänden zum Einsatz kommen, die nach Erfüllung des Auftrages

wieder zu ihrer Stammtruppe zurückkehren. Dass die einzelnen Subsysteme dem VSM

folgend prinzipiell die gleiche Gliederung und die gleichen Fähigkeiten haben, macht dies

möglich und stellt einen wesentlichen Beitrag zur Flexibilität des ÖBH und zu seiner

Charakterisierung als VSM dar. MO nehmen dieses Organisationsmerkmal als gewichtigen

Vorteil gegenüber ihren zivilen Betätigungsfeldern wahr.

In modernen Bedrohungsszenarien und Krisen ist es notwendig, Strukturen einzunehmen, die

unter Störungsbedingungen weiter funktionieren. Das sind, dem VSM folgend, kleinere

dezentrale Einheiten, die zellulär organisiert sind. Diese zelluläre Organisationsstruktur

stabilisiert regional mit Kernkompetenzen, die an die jeweilige Situation angepasst zur

Page 59: Management in Anzug und Uniform

- 49 -

Anwendung kommen. Eine Problematik besteht darin für das ÖBH insofern, als es aufgrund

seiner geringen Personalstärke nicht dazu in der Lage ist, genügend derartige kleinere

dezentrale Einheiten zu bilden, um im Großen stabilisierend zu wirken. Die Einschätzungen

zielen daher auf regionale Unterstützungsleistungen des ÖBH auf einen begrenzten Zeitraum

ab. Eine großräumige und längerfristige Krisensituation würde das ÖBH personell und

materiell überfordern. Die Miliz leistet in diesem Fall einen Beitrag zur personellen Nähr- und

Ersatzrate und damit zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit des ÖBH.

4.3.4 Folgerungen

o Sowohl Organismus (komplexe Szenarien), als auch Maschine (militärische

Kernkompetenz) sind notwendig

o Führungsausbildung hat Entwicklung hin zu systemisch-evolutionär stark gefördert

o VSM prinzipiell im ÖBH abgebildet

o Bewusstsein für Vorteile in komplexen Szenarien fehlt (noch), Bewusstsein für Vorteile

in komplizierten (standardisierten) Szenarien vorhanden

o Flexibilität durch Truppeneinteilung gegeben

o Personalstruktur für großräumige und längerfristige Krisensituationen zu gering

4.4 Die Rolle der Miliz

4.4.1 Militärische und zivile Systemunterschiede

Anforderungen an zivile Unternehmen oder das Militär verschwimmen trotz unterschiedlicher

Betätigungsfelder und Herangehensweisen bisweilen, wenn beispielsweise staatliches

Krisenmanagement an militärische Stabsstrukturen und -funktionen angelehnt ist oder im

Sprachgebrauch beispielsweise von „in Stellung bringen“, „feindlicher Übernahme“ oder

„Reservenbildung“ die Rede ist. Jedoch lässt sich eine klare Trennlinie zwischen zivil und

militärisch ziehen. Das Operationsgebiet des Militärs beginnt dort, wo die zivile Normalität

endet. Auch wenn sich außerhalb der zivilen Normalität Grundsätze herausgebildet haben, die

rückwirkend wieder in das zivile Management Eingang gefunden haben, wie etwa der Blick für

das Wesentliche, eine ständige Prüfung der bestehenden Situation und die Weitergabe von

Information an Untergebene / MitarbeiterInnen.

Die wesentlichste Abgrenzung des Militärs ist die potentielle Beeinträchtigung der körperlichen

Integrität, der Verlust von Leib und Leben, also die tatsächliche Bedrohung der Existenz der

Systemmitglieder. Diese existentielle Ausrichtung stellt ein Alleinstellungsmerkmal dar,

welches das soziale Zusammenwirken im wörtlichen Sinne zur Überlebensfrage macht und

einen hohen ethischen Maßstab an die Führungsverantwortlichen in den Vordergrund rückt.

Daraus abgeleitet werden soldatische Tugenden wie Treue, Gehorsam, Pflichtbewusstsein

oder Verantwortung, welche im Zivilen erst in der sogenannten Corporate Governance

formuliert werden müssen. Dass dabei der etwas aus der Mode gekommene Begriff Gehorsam

im Militär dennoch eine zentrale Funktion hat, liegt wiederum an der existentiellen Ausrichtung

des militärischen Handelns. Würde beispielsweise in einem Gefecht dem Befehl, einen

Geländeteil „weißen Birken“ in Besitz zu nehmen, der Gehorsam verweigert und stattdessen

der Geländeteil „grünen Tannen“ angegriffen, kann dies zu Verlusten von Menschenleben

führen. Im ÖBH sind aufgrund der drastischen Auswirkungen derartiger Abweichungen Werte

wie Pflicht und Gehorsam historisch tief verwurzelt und haben für seine Mitglieder einen

ungleich höheren Stellenwert als das im zivilen Umfeld durch die Formalisierung von

Page 60: Management in Anzug und Uniform

- 50 -

Verhaltensregeln in einem Corporate Governance Kodex eines Unternehmens normierbar

wäre. Für MO mit einer derartigen soldatischen Sozialisation dienen derartige Werte als ihr

Führungshandeln.

Anders verhält es sich mit der Umsetzungsgeschwindigkeit und der Lösungsorientierung im

Friedensbetrieb. In diesen Bereichen wird der privatwirtschaftlichen Lösungsorientierung ein

höherer Wirkungsgrad zugeschrieben als der öffentlichen Verwaltung, was auch auf das ÖBH

Auswirkungen hat. Durch die lösungsorientierte Herangehensweise der Miliz, welche ihre

Angehörigen aus der Wirtschaft in das Militär einbringen, wird die Umsetzgeschwindigkeit von

Aufgaben erhöht.

4.4.2 Wechselseitige Nutzbarmachung von Kenntnissen

Es zeigt sich, dass die militärische Ausbildung und Praxis für MO eine Unterstützung für ihr

ziviles Führungshandeln darstellen. Standardisierte Entscheidungsfindungsverfahren, welche

beim Militär zum Einsatz kommen, werden als Gewinn für das zivile berufliche Umfeld

wahrgenommen. Außerdem können beim ÖBH Erfahrungen in der angewandten Praxis

gesammelt werden, die höher eingestuft werden als etwa jene aus zivilen

Managementseminaren unter Laborbedingungen. An der Entwicklung durch diese

Lernerfahrung profitieren sowohl das Militär als auch das zivile Betätigungsfeld der MO.

Zusätzlich zur praktischen Übung verfügt das ÖBH über ein breites Fortbildungsangebot,

welches durch hochqualifiziertes Führungs- und Managementlehrpersonal mit zivilem und

militärischem Hintergrund gestellt wird. Dieser wesentliche Faktor der Personalentwicklung

wird hoch bewertet, während seine fehlende breitenwirksame Bekanntmachung im Militär und

darüber hinaus konstatiert wird. Personalentwicklung ist insgesamt ein Themenbereich, der im

Zivilen größeren Stellenwert hat als innerhalb des ÖBH, da diese oft von dienstrechtlichen und

bürokratischen Erfordernissen abhängig ist.

Personalentwicklung wird im Zivilen als Führungsinstrument aktiv betrieben. Innerhalb des

ÖBH und innerhalb der Miliz stellt dies jedoch keine offizielle, formal vorgegebene Tätigkeit für

MO dar. Als Teil des organischen Managements, eine Organisation systemisch-evolutionär zu

führen und zu entwickeln, verdeutlichen die empirischen Ergebnisse, dass in Milizeinheiten

dennoch eine aktive Personalentwicklung betrieben wird, weil MO dieses Führungsinstrument

aus ihrer zivilen Tätigkeit übernehmen. Den KommandantInnen kommt bei der Besetzung von

Funktionen ihrer Einheit ein informelles Mitspracherecht zu, welches diesen Effekt unterstützt,

ihren Führungsbereich nach eigener Vorstellung weiterzuentwickeln. Den Annahmen

entsprechend erfolgt diese Personalentwicklung auf informellem Weg, da ein formelles

Prozedere dafür nicht vorgesehen ist.

Auch werden wirtschaftliche Prozesse, wie insbesondere jene der Qualitätssicherung von MO,

in das ÖBH eingebracht, welche ein Mehrwert für das Militär darstellen. Auch technische

Expertise findet über Milizpersonal direkten Eingang ins ÖBH, ein Umstand, der hinsichtlich

des Bedrohungsszenarios Cyber-Warfare einen immer höheren Stellenwert bekommt. Zivile

Führungskräfte bringen zudem bereits auf Ebene Kompanie als KommandantInnen und

FachunteroffizierInnen, hier vor allem in den Funktionen Kommandogruppenkommandant

oder Dienstführender Unteroffizier, zivile (Management-) Kenntnisse in ihre militärische

Funktion ein.

Eine zentrale Frage des Mehrwertes der Miliz für das ÖBH ist die formale Anerkennung ziviler

Kompetenzen für den militärischen Dienst. Dies setzt ein Umdenken innerhalb des ÖBH

voraus, welches auf Ebene des BMLV bereits eingeleitet wurde. Dementsprechend wurden

Arbeitsgruppen eingesetzt, um Parallelstrukturen in Ausbildung und Praxis zu vermeiden und

bestehende zivile Expertise ohne derzeit noch notwendige Übersetzungsschritte direkt in die

militärische Praxis zu integrieren. Umgekehrt sollen erworbene militärische Befähigungen,

Page 61: Management in Anzug und Uniform

- 51 -

Aus- und Fortbildungen durch ein staatliches Anerkennungsverfahren in einen zivilen

Kompetenzkatalog übersetzt werden, welcher in Form eines staatlichen Zertifikats im zivilen

beruflichen Umfeld als Qualifikationsnachweis gilt. Das ÖBH folgt hier dem Beispiel der

Schweiz, wo dies bereits gängige Praxis ist. Dadurch sollen zukünftig Strukturen und Prozesse

durchlässiger werden, sodass zivile und militärische Anpassungsfähigkeit und

Handlungsfreiheit erhöht werden, wodurch ein gesteigertes Potential zur

Komplexitätsbewältigung erreicht werden soll.

4.4.3 Relevanz der Miliz für Komplexitätsbewältigung des ÖBH

Auf Basis der empirischen Studie wird deutlich, dass eine strukturelle Stärkung der Miliz ein

geeignetes Mittel zur Bewältigung von Komplexität ist.

In der Miliz engagieren sich Freiwillige mit hoher Motivation aus allen Bereichen der

Gesellschaft, die ihre Perspektive zum Nutzen des ÖBH einbringen wollen. Die Miliz ist

dementsprechend ein Beispiel von vernetztem Denken innerhalb des Systems ÖBH, das

darauf abzielt, ein Kernziel der Komplexitätsbewältigung zu erreichen, nämlich das

erforderliche Wissen und die erforderliche Kompetenz zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen

Ort zu bringen.

Kritisch wird die Personalsituation der Miliz gesehen. Durch die Abschaffung der „Marke“ EF

(Einjährig Freiwillig), welche historisch die Voraussetzung für eine Offizierslaufbahn war und

der Zusammenlegung mit der Unteroffiziersausbildung, kam es zu einem Rückgang an

Freiwilligenmeldungen und zu einem Mangel an MO. Dieses Ausbildungssystem „neu“

verursachte jedoch auch zusätzlich einen Mangel an MUO. Ein durchgehender

Ausbildungspräsenzdienst in der Dauer von einem Jahr war und ist für die meisten MUO-

Anwärter aus beruflichen oder familiären Gründen nicht möglich. Daher wurde zum vorherigen

modularen Ausbildungssystem für MUO zurückgekehrt. Auch eine Rückkehr zum EF als

Voraussetzung für die Offiziersausbildung ist angedacht.

Die zahlenmäßige personelle Reduktion der Miliz stellt ein ernsthaftes Problem für die

strategische Relevanz dar. Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen, dass mit einem Abbau

an Milizkräften auch ein Kompetenzverlust für das ÖBH insgesamt einhergeht, der bis zu

einem Zweifel an der Erfüllbarkeit des verfassungsmäßigen Auftrages reicht. Als Hauptgründe

werden einerseits die personelle Reduzierung gesehen und andererseits die Tatsache, dass

ab einer gewissen Führungsebene nicht mehr genügend Laufbahnbilder und Verwendungen

für MO zur Verfügung stehen. Zusätzlich führt der Umstand, dass zu wenig Nachwuchs an MO

für die Truppe zur Verfügung steht, dazu, dass erfahrene MO noch auf Ebene Bataillon

eingesetzt werden müssen und daher für die ohnehin zahlenmäßig bereits geringen

Verwendungen für höhere Führungsebenen nicht zur Verfügung stehen, wodurch dort

Expertise ungenutzt bleibt. Eine Zuspitzung der diesbezüglichen Entwicklung wird zeitlich mit

der Diskussion und der Volksabstimmung zur Abschaffung der Wehrpflicht und der Einführung

einer Berufsarmee in Verbindung gebracht, welche zu einer Schwächung der Miliz beigetragen

hat.

Eine Signifikanz der empirischen Analyse ist die Notwendigkeit einer Aufwertung für zukünftige

Anforderungen des ÖBH. Der politische Wille, zukünftig in Assistenzeinsätzen keine

Grundwehrdiener mehr zum Einsatz zu bringen, erfordert diese Aufwertung der Miliz, welche

durch bereits in Umsetzung befindliche bzw. geplante Maßnahmen einen Kulturwandel

innerhalb des ÖBH herbeiführen soll. Zu diesen Maßnahmen zählen die bereits erwähnten

durchlässigeren Strukturen und Prozesse hinsichtlich Kompetenzen und Befähigungen, eine

einheitliche Personalführung für Berufs- und Milizkader (derzeit S1 und S3), die einheitliche

Besoldung in einem Einsatzfall sowie die verstärkte Bewerbung und Rekrutierung von

Milizpersonal.

Page 62: Management in Anzug und Uniform

- 52 -

Die Erfahrungen, die im COVID19-Einsatz gemacht wurden, mehren die Auffassung, dass die

Miliz einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Flexibilität des ÖBH leistet und einen

strategischen Mehrwert für das ÖBH bedeutet, wenn die personellen und materiellen Mittel zur

Verfügung stehen.

Aus der Analyse der Gespräche wird abschließend deutlich, dass das zeitlich relativ junge

Auftreten von MO im Generalsrang als Berater auf strategiescher Führungsebene, wie etwa

von Brigadier Dr. Johannes Kainzbauer als Präsident des Milizverbandes Österreich,

Generalmajor Mag. Erwin Hameseder als Milizbeauftragter oder Brigadier Mag. Erich Cibulka

als Präsident der Offiziersgesellschaft Österreich, als Gewinn für die Miliz und das ÖBH im

Ganzen gesehen wird. Dadurch wird der Miliz eine personalisierte Führungskompetenz

verliehen, welche ihr Ansehen innerhalb und außerhalb des ÖBH erhöht und welche den

gegenseitigen Mehrwert zwischen zivilem und militärischem Einsatzgebiet verstärkt.

4.4.4 Folgerungen

o Existentielle Bedrohung von Leib und Leben sind Alleinstellungsmerkmal

o Soldatische Tugenden leiten sich daraus ab (Werte)

o Vorteil des Militärs in der Corporate Governance / Soldatische Tugenden als Vorläufer

der Corporate Governance

o Höhere Umsetzgeschwindigkeit der MO durch Lösungsorientierung und weniger

Bürokratie

o Führungspraxis und Führungsverfahren sind Mehrwert für zivile Welt

o Managementkenntnisse (Personalentwicklung, Qualitätssicherung) und technisches

Know-How (Cyber-Bedrohung) fließen in ÖBH ein

o TÜV-Verfahren zur wechselseitigen Anerkennung von Kompetenzen zur Erreichung

von höherer Durchlässigkeit und Flexibilität von Strukturen und Prozessen

o Maßnahmen zur Stärkung und Aufwertung der Miliz sind im Gange

Page 63: Management in Anzug und Uniform

- 53 -

5 Beantwortung der Forschungsfragen

Das ÖBH muss als hierarchische Organisation mit steigender Komplexität im Zuge des

Wandels zur Netzwerkgesellschaft umgehen und seine Strukturen und Organisationsfaktoren

entsprechend ausnutzen bzw. anpassen. Die Managementlehre legt nahe, dass hierarchische

Strukturen nicht hilfreich sind und angepasst werden müssen. Ein wiederum hilfreicher Faktor

bei der Komplexitätsbewältigung ist das Potential, das MO darstellen insofern, als sie für die

Thematik relevante alternative Perspektiven und Zugänge aus zivilen

Systemzusammenhängen in das ÖBH einbringen können. Im Zuge des Forschungsprozesses

wurden die in Kapitel 4 dargelegten empirischen Ergebnisse erzielt, welche folgende

Beantwortung der Forschungsfragen zulassen.

5.1 Forschungsleitende Frage

Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und

zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden

Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?

Die Frage nach der Schnittstelle zwischen Militär und zivilem Arbeitsfeld war der ursächliche

Beweggrund für die Forschungsarbeit, nämlich dass es eine derartige Schnittstelle zwischen

militärischem und zivilem Management / Führung nicht gibt. Wie ließen sich dann aber

Erkenntnisse aus der zivilen Managementlehre auf das ÖBH umlegen? Die Antwort fand sich

in der Position der MO, welche beide Systemzusammenhänge in sich vereinen und daher

selbst diese Schnittstelle verkörpern, als Führungskräfte, die in ihrem Berufsleben ebenfalls

mit den Herausforderungen der entstehenden Netzwerkgesellschaft konfrontiert sind und

diese Erfahrungen in ihre Tätigkeit als KommandantInnen beim ÖBH einbringen.

Zuerst bedurfte es daher der Klärung der Anerkennung der Transformation und ihrer

Auswirkungen in Form von steigender Dynamik und Komplexität innerhalb des

Aufgabenspektrums des ÖBH. Eine diesbezügliche Bestätigung erbrachte bereits die

Recherche zu den Risiko- und Bedrohungsbildern des ÖBH, welche zum Teil direkt aus

strategischen Studien des ÖBH, zum Teil dem wissenschaftlichen Diskurs über

sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen für Österreich und Europa entstammen.

Technischer Fortschritt und Vernetzung der Kommunikations- und Informationstechnologie

sind demnach eine Tatsache, die sich auch in den empirischen Ergebnissen widerspiegeln

und die sich auf das Aufgabenspektrum des ÖBH auswirken. Wie in den theoretischen

Grundlagen dargestellt, verlagert sich dieses zunehmend weg vom militärischen hin in ein

ziviles Umfeld (siehe 2.1.2), wodurch Erfahrungen der MO in diesem Spektrum zusätzlich an

Bedeutung gewinnen.

In weiterer Folge wurde die Anpassung des Bildungssystems der Industriegesellschaft an die

Anforderungen der aufkommenden Netzwerk- und Informationsgesellschaft thematisiert mit

dem Ergebnis, dass sowohl im zivilen Schul- und Bildungssystem als auch in der Aus-, Fort-

und Weiterbildung in der zivilen Arbeitswelt eine derartige Anpassung bisher ausgeblieben ist.

Führungskräfte im Zivilen und mit ihnen MO werden demnach nicht explizit auf die steigende

Komplexität und Dynamik im Sinne einer Sensibilität für nachhaltige Krisensicherheit hin

geschult, sondern agieren in weiten Teilen nach Kriterien betriebswirtschaftlicher

Effizienzsteigerung. Es ist diesbezüglich aber bezeichnend, dass gerade wirtschaftliche

Steuerungssysteme wie Qualitätsmanagement und Controlling Eingang in das Militär

gefunden haben. Eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kybernetik,

Systemtheorie, Management und Steuerung gehen auf diesen jedoch nicht direkt in die

Führungsstruktur des ÖBH ein.

Page 64: Management in Anzug und Uniform

- 54 -

Demgegenüber steht die faktische Evidenz einer komplementären Sichtweise zur

Risikoanalyse von Organisationen durch Konzentration auf Antifragilität und Resilienz des

Systems. Das System ÖBH erfährt demnach durch die Einbindung von MO insgesamt eine

Erhöhung der eigenen Handlungsmöglichkeiten im Sinne von Ashby´s Law und dadurch eine

Verstärkung seiner Lebensfähigkeit durch Varietät, Flexibilität und Resilienz, welche nicht

Widerstandsfähigkeit des Bisherigen, sondern laufende Anpassung und Weiterentwicklung

bedeutet, was wiederum zur Antifragilität des Systems ÖBH beiträgt.

Daraus abgeleitet sind MO nicht primär durch ihr explizites Wissen über Management,

Komplexität oder Kybernetik etc. von entscheidender Bedeutung, sondern durch die Erhöhung

der Flexibilität und der Varietät, welche das ÖBH durch ihre Tätigkeit per se generiert.

5.2 Forschungsfrage 1

Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer

auf die steigende Komplexität von Aufgaben, wie sie von Malik in der Transformation21

beschrieben wird?

Der Frage sind mögliche Nachteile von hierarchischen Strukturen bei der Bewältigung von

Komplexität immanent. Und auch wenn für das ÖBH bei der Bewältigung von Routineaufgaben

und bei der Erfüllung seiner Kernkompetenz, der militärischen Landesverteidigung,

Hierarchien hilfreich sind, so handelt es sich dabei doch um Szenarien, die überschaubar und

kompliziert sind, nicht jedoch komplex. Tatsächlich ergeben die empirischen Daten das Bild

von starren hierarchischen Strukturen, die es dem ÖBH erschweren, die nötige strukturelle

und funktionelle Flexibilität zu entwickeln, die für komplexe Szenarien notwendig ist. Personen

werden aufgrund ihres Ranges und ihrer Funktion für Aufgaben herangezogen und nicht

aufgrund ihrer möglicherweise bestehenden Kompetenzen, weshalb auf wechselnde

Situationen nicht flexibel reagiert werden kann. Dieses Bild bestätigt die Annahme zur

Forschungsfrage, dass für das ÖBH Hierarchien in komplexen Szenarien nicht förderlich sind.

Eine Reaktion, wie in der Forschungsfrage angesprochen, besteht im System ÖBH demnach

nicht in einer Anpassung der Strukturen.

Erkennbar wird eine derartige Reaktion jedoch an anderer Stelle und zwar an

Organisationsmerkmalen abseits von Hierarchien und an Führungsattributen. Erstere

manifestieren sich in der tatsächlichen Systemstrukturierung gemäß dem Invarianztheorem

infolge des Aufbaus und der Gliederung als VSM. Letztere wird vor allem in der Erfüllung von

HRO-Prinzipien sichtbar, sowie in eigenverantwortlichem Führungshandeln infolge der

Auftragstaktik, welches trotz hierarchischer Struktur eine dezentrale Steuerung über kleinere

Einheiten ermöglicht. Die Empirie hat gezeigt, dass sich die Charakterisierung als VSM nicht

im Bewusstsein der Systemteilnehmer innerhalb des ÖBH widerspiegelt, dennoch werden die

positiven Aspekte der Gliederung erkannt und auch als Vorteil in komplexer werdenden

Herausforderungen genannt. Dieser Umstand entspricht der theoretischen Darstellung von

Malik, dass das Invarianztheorem keinen normativen, sondern einen faktischen Charakter hat.

Die Annahme zur Forschungsfrage, dass die Organisationsstruktur des ÖBH geeignet ist, um

als lebensfähiges System im Sinne des kybernetischen Managementverständnisses zu gelten,

hat sich demnach bestätigt.

Eine weitere Reaktion auf die komplexer werdende Umwelt des ÖBH liegt in der Kultivierung

von HRO-Prinzipien. Hier insbesondere in der Entwicklung eines positiven Umgangs mit

Fehlern, im Streben nach Resilienz und im Respekt vor Expertise. Wenn auch in diesem

Bereich kein Bewusstsein oder theoretisches Wissen über HROs vorliegen, wird vor allem der

Achtsamkeit für Fehler und der daraus ableitbaren Entwicklung aufgrund der Gefahr für Leib

Page 65: Management in Anzug und Uniform

- 55 -

und Leben eine hohe Bedeutung beigemessen. Die Daten lassen jedoch auch den Schluss

zu, dass Führung im ÖBH durch standardisierte Verfahren zur Vereinfachung neigt, wodurch

schwache Signale in betrieblichen Abläufen in den Hintergrund treten, was den Umgang mit

Unerwartetem erschwert.

Demgegenüber stellt das eigenverantwortliche Führen durch KommandantInnen aller Ebenen

einen Beitrag zur Komplexitätsbewältigung dar. In der Auftragstaktik liegt ein klar erkennbares

Instrument für eine Reaktion des ÖBH auf eine komplexer werdende Umwelt im Sinne der

Forschungsfrage. Dieser Reaktion liegt auch der Gedanke des „Sowohl-als-auch“ zugrunde,

da die Auftragstaktik mit bestehenden standardisierten Entscheidungsfindungs- und

Führungsverfahren gekoppelt wurde, worin ein geeignetes Instrument im Sinne der von der

Theorie geforderten notwendigen Varietät erkannt wurde.

Zum Managementverständnis zeigt sich, dass das ÖBH insgesamt als lebender Organismus

im Sinne eines systemisch-evolutionären Verständnisses wahrgenommen wird, welcher

insbesondere im Falle der militärischen Landesverteidigung als Maschine im Sinne eines

konstruktivistisch-technomorphen Verständnisses funktionieren muss. Inwieweit diese

Grenzen verschwimmen bzw. von standardisierten Prozessen auf aktive Steuerung von

komplexen Situationen gewechselt werden kann, hängt in der jeweiligen Situation von der

Ausbildung und den persönlichen Fähigkeiten der KommandantInnen ab. Das ÖBH reagiert

gemäß der Empirie durch Erhöhung der Qualität und Anpassung der Führungsausbildung in

Richtung systemisch-evolutionärem Ansatz auf die komplexer werdenden Aufgaben für seine

Führungskräfte. Die Annahme zur Forschungsfrage, dass das ÖBH einen eher

konstruktivistisch-technomorphen Ansatz von Management verfolgt, um auf Komplexität zu

reagieren, hat sich demnach nicht bestätigt.

5.3 Forschungsfrage 2

Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und

Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar

machen?

In seinen Maßnahmen zur Werbung von Milizpersonal greift das ÖBH immer wieder den

Nutzen von militärsicher Ausbildung und Führungspraxis für das zivile Berufsleben auf. Und

auch die empirischen Daten zeigen deutlich, dass MO einen hohen Mehrwert darin sehen. Es

zeigt sich auch, dass der umgekehrte Mehrwert für das ÖBH weniger reflektiert wird. Dennoch

können Faktoren genannt werden, welche darauf zutreffen.

Als konkrete Management- und Führungskompetenzen wird die Personalentwicklung erkannt,

welche im Zivilen eine ungleich höhere Rolle spielt als beim ÖBH. Die selbstständigen

strukturierten Milizeinheiten haben auf diesem Gebiet einen im Vergleich zum Berufskader

relativ hohen Handlungsspielraum und wenden diesen aus dem Zivilen eingebrachte

Steuerungsinstrument auch informell an. Auch werden Maßstäbe aus Kontrollsystemen wie

Qualitätsmanagement und Controlling in den militärischen Verantwortungsbereich

eingebracht, der dort zwar ebenfalls institutionalisiert ist, jedoch als weniger wirksam

wahrgenommen wird. Auch hier handelt es sich um eine selbstständige, informelle

Anwendung, was die Annahme zur Forschungsfrage bestätigt, dass MO ihre zivilen

Kenntnisse vor allem auf informellem Weg in das ÖBH einbringen. Weiters wird als Nutzen für

das ÖBH vor allem das technische Know-How in Fachbereichen genannt, was allerdings aus

dem Bereich der Forschungsfrage hinausfällt.

Page 66: Management in Anzug und Uniform

- 56 -

Als wesentlichen Gewinn aus dem Zivilen führt nach den Ergebnissen noch ein geringerer

Anteil an Bürokratie und Verwaltung in Milizeinheiten zu einer höher empfundenen

Umsetzungsgeschwindigkeit und Lösungsorientierung.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass, wie in der forschungsleitenden Frage (Kapitel 5.1)

festgestellt, die Nutzbarmachung für das ÖBH nicht in der expliziten Kenntnis von

Managementstrategien aus dem Zivilen liegt, welche MO dann in ihrem militärischen

Aufgabengebiet zur Anwendung bringen. Diese Annahme zur Forschungsfrage bestätigt sich

insofern nicht, als MO in ihren zivilen Berufsfeldern nicht mit derartigen Strategien zur

Komplexitätsbewältigung konfrontiert sind, welche sie bewusst wahrnehmen. Es erfolgt daher

kein aktives Einbringen von Managementstrategien in das ÖBH. Eher ist der umgekehrte

Effekt beobachtbar, dass die Führungserfahrungen aus dem ÖBH in das zivile Berufsleben

transferiert werden, wodurch diese Annahme bestätigt wurde.

Der tatsächliche Nutzen der MO für den Umgang des ÖBH mit Komplexität wurde in der

forschungsleitenden Frage bereits beantwortet.

Page 67: Management in Anzug und Uniform

- 57 -

6 Resümee

Die Transformation von der Industriegesellschaft zur Netzwerkgesellschaft ist ein empirisch

nachweisbarer laufender Prozess, der unser Zusammenleben nachhaltig verändert. Sie führt

unter anderem durch die fortschreitende Entwicklung der Informations- und

Kommunikationstechnologie zu einem exponentiellen Wachstum der Datenmenge, welche

bestehende Systeme nicht mehr direkt verarbeiten können. Außerdem führt die damit

einhergehende Vernetzung von Systemen zu emergenten Eigenschaften, welche spontan

entstehen und nicht vorhersagbar sind. Exponentielles Wachstum, Vernetzung, Emergenz und

Dynamik verursachen eine wachsende Komplexität der Umwelt, in der sich Organisationen

wie das ÖBH wiederfinden. Die Systemstrukturen und Steuerungsinstrumente, welche

Organisationen dabei zur Verfügung stehen, sind zu einem großen Teil nicht (mehr) geeignet,

um in dieser komplexen Umwelt zu agieren, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten bis hin zu

bestandsbedrohenden Krisen für diese Systeme führt.

Das ÖBH ist als strategische Reserve der Republik Österreich für Einsatz in derartigen

Krisenfällen vorgesehen. Das Forschungsinteresse, ob und wie es sich selbst auf den

ursächlichen Wandel für diese Krisen und wiederum deren veränderte Ausprägungen und

Auswirkungen als System anpasst, war daher naheliegend. Die theoretische Basis dafür

konnte in Form der strategischen Managementlehre für komplexe Systeme von Malik, sowie

in den Forschungen zu HRO von Weick und Sutcliffe gefunden werden. Eine Annäherung an

dieses Thema, sowohl gedanklich als auch praktisch, erleichterte die eigene Position des

Verfassers als MO, wodurch ein Anknüpfungspunkt an das Forschungsfeld gefunden werden

konnte.

Die Miliz hat innerhalb des Militärs einen Sonderstatus, der einen Blick auf das System ÖBH

sowohl von einer Innen- als auch von einer Außenperspektive ermöglicht. Gleichzeitig sind

MO als Führungskräfte in einem zivilen Umfeld zwangsläufig mit der Problematik von

Management komplexer Systeme konfrontiert. Beim Versuch, diese Erfahrungen, Zugänge

und Strategien des zivilen Managements zu ergründen und einen Zusammenhang mit

militärischer Führung herzustellen, hat sich gezeigt, dass ziviles Management in der Praxis oft

intuitiv und erfahrungsbasiert erfolgt, jedenfalls aber stark abhängig von der Persönlichkeit und

den Fähigkeiten der jeweiligen Führungskraft ist. Manifeste Strategien, die auf den mit der

Transformation verbundene Anstieg an Komplexität abzielen, sind im zivilen Umfeld von MO

wenig bis nicht erkennbar, weshalb eine bewusste Anwendung derartiger ziviler

Managementzugänge im ÖBH nur in Randbereichen erfolgt. Im Gegenteil beschreiben MO

ihre Erfahrungen, die sie beim Militär machen, als ungleich wertvoller für ihre zivile

Berufstätigkeit als umgekehrt. Dies liegt zu einem Gutteil daran, dass innerhalb des ÖBH

aufgrund seiner traditionell hierarchischen Strukturierung und aufgrund der Gefahr für Leib und

Leben in einem Einsatzfall eine höhere Sensibilität für Führung an sich besteht. In Ausbildung

und Praxis wird daher Führung und Steuerung explizit thematisiert und entwickelt. Dadurch

findet ein systemisch-evolutionäres Managementverständnis Eingang in das ÖBH, welches

aber nicht als Hindernis bei der Aufrechterhaltung der militärischen Kernkompetenz gesehen,

sondern als Ergänzung aufgefasst wird.

Durch die Kopplung von standardisierten Entscheidungsverfahren mit einer von Vertrauen

getragenen weitgehenden Handlungsfreiheit aller Führungsebenen durch die Auftragstaktik

hat das ÖBH ein geeignetes Mittel für komplexe Szenarien zur Hand. Sie birgt jedoch auch

die Gefahr der Isolierung einzelner Systemteile und dadurch den Verlust von vernetztem

Denken.

Den Vorteilen für die Komplexitätsbewältigung, welche die institutionelle Vertiefung und

Entwicklung der Führungsthematik bringen, stehen die strukturellen Nachteile entgegen,

Page 68: Management in Anzug und Uniform

- 58 -

welche die starre hierarchische Gliederung aufgrund fehlender Flexibilität und

Anpassungsfähigkeit von komplizierten auf komplexe Szenarien mit sich bringt. Hier wird es

neben den bereits bestehenden Möglichkeiten, welche die flexible Truppeneinteilung mit sich

bringt, zukünftig zusätzlicher Lösungen bedürfen, die eine noch leichtere Anpassung der

Struktur erlauben.

Bereits jetzt von Vorteil ist die nachhaltige strukturelle Krisensicherheit in Folge der einem VSM

entsprechenden Lenkungsstrukturen. Hier hat sich gezeigt, dass das Militär als Musterbeispiel

für ein lebensfähiges System angesehen werden kann.

Das Bewusstsein für HRO-Prinzipien ist gegeben, um einen Nutzen für die aktive Steuerung

von Unerwartetem zu erreichen, wird es jedoch weiterer Anstrengungen bedürfen. Zu sehr

wird auf Vereinfachung gesetzt und der Blick für schwache Signale in Prozessen

vernachlässigt.

Insgesamt wird das ÖBH stärker auf die Bewusstseinsbildung hinsichtlich der sich wandelnden

Umfeldbedingungen eingehen müssen. Die Notwendigkeit dafür und für vernetztes Denken

und Flexibilität ist evident, findet jedoch bisher nur Abbildung in der wissenschaftlichen

Auseinandersetzung durch Studien und Publikationen und ist noch nicht in der Breite

angekommen.

Ein Mittel für Vernetzung ist, wie sich gezeigt hat, die Miliz, deren Stärkung und Aufwertung

durch bereits gesetzte und weitere geplante Maßnahmen als Ziel ausgegeben wurde.

Inwieweit darin die Vorteile zur Komplexitätsbewältigung erkannt wurden ist nicht klar

darstellbar. Jedenfalls finden sich darin Aspekte der Vernetzung, insbesondere die

wechselseitige Anerkennung und verstärkte Nutzbarmachung von zivilen und militärischen

Kompetenzen ist im Sinne des Forschungsgegenstandes ein Schritt in Richtung gelungener

Bewältigung von Komplexität.

Page 69: Management in Anzug und Uniform

- 59 -

7 Ausblick

Im Zuge des Forschungsprozesses wurden Aspekte offensichtlich, auf die im Rahmen dieser

Arbeit nicht eingegangen werden konnte, die jedoch weiterführende Forschungsoptionen

eröffnen.

Der Umstand, dass sich unter den Interviewpartnern lediglich eine Frau findet und dies

dennoch den Repräsentationsanforderungen entspricht, zeigt, wie männlich dominiert das

Milizoffizierscorps, aber auch die zivilen Führungsetagen nach wie vor sind. Nach einer

zukünftigen Erhöhung des Anteils an militärischen und zivilen weiblichen Führungskräften

würde ein Blick auf neue Ergebnisse Aufschluss geben können, ob und wie sich der Umgang

mit Komplexität dadurch ändert.

Auch wurden nur OffizierInnen in den Forschungsprozess einbezogen. Die Auswirkungen von

steigender Komplexität wirken sich jedoch auch auf die darunter liegenden Ebenen der

UnteroffizierInnen und der Chargen-Dienstgrade aus. Hier wäre der Forschungsgegenstand

erweiterbar auf unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen, zumal die Anzahl der

Führungskräfte auf diesen Ebenen eine höhere ist als auf Offiziersebene.

Die Einschränkung des Forschungsfeldes auf die Miliz lässt den Blick dafür offen, ob und wie

die Ergebnisse im Vergleich zum Berufskader des ÖBH divergieren. Eine Ausweitung der

Fragestellung, wie weit die Anpassung des Berufskaders an die veränderten Umstände

gediehen ist, würde einen vertiefenden Blick in die Bereitschaft des ÖBH für die zukünftigen

Herausforderungen erweitern.

Und zuletzt beschränkt sich diese Arbeit auf nationale Gegebenheiten. Einen

Anknüpfungspunkt bietet daher der Blick auf die Situation in anderen Staaten und Armeen mit

ähnlicher Struktur. Ein Vergleich mit beispielsweise der Schweiz oder den skandinavischen

Ländern, die ebenfalls eine starke Milizkomponente in ihren Streitkräften haben, würde die

Perspektive im Sinne des vernetzten Denkens erweitern.

Page 70: Management in Anzug und Uniform

- 60 -

8 Literaturverzeichnis

Ashby, W. Ross (2016): Einführung in die Kybernetik, 3. Auflage 2016, Frankfurt am Main,

Suhrkamp, 2016, ISBN: 978-3-518-27634-1.

Baur, Nina und Blasius, Jörg(hrsg) (2019): Handbuch Methoden der empirischen

Sozialforschung, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden, Springer

VS, 2019, ISBN: 978-3-658-21307-7.

BMLV (2005): Dienstvorschrift für das Bundesheer, Führungsbegriffe, GZ.: S92011/107-

FGG7/Vor/2005, Wien, 2005.

BMLV (2017a): Österreichisches Bundesheer. Militärstrategisches Konzept 2017, GZ.:

S92000/183-Gstb/2017, 2017.

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9 Abbildungsverzeichnis

ABBILDUNG 1: DAS VIABLE SYSTEM MODEL NACH MALIK 17 ABBILDUNG 2: GLIEDERUNG DES ÖSTERREICHISCHEN BUNDESHEERES 23 ABBILDUNG 3: GLIEDERUNG BMLV 24 ABBILDUNG 4: RISIKOBILD ÖSTERREICH 2021 28 ABBILDUNG 5: ERLÄUTERUNGEN ZUM RISIKOBILD 29 ABBILDUNG 6: HINTERGRUND DER GESPRÄCHSPARTNERINNEN (EIGENE DARSTELLUNG) 38 ABBILDUNG 7: ABLAUFMODELL DER "ZUSAMMENFASSENDEN INHALTSANALYSE" 39 ABBILDUNG 8: FALLVIGNETTE INHALTSANALYSE 67 ABBILDUNG 9: TEILSTREITKRÄFTE UND WAFFENGATTUNGEN DES ÖBH 68

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10 Anhang

10.1 Leitfaden

Dauer des Interviews ca. 60 Minuten

Forschungseinleitende Frage

Welche Rolle spielen MilizoffizierInnen als Schnittstelle zwischen militärischer Führung und zivilem Management in Zusammenhang mit einem stetig komplexer werdenden Aufgabenbereich für das Österreichische Bundesheer?

Forschungsfrage 1:

Wie reagiert eine hierarchisch strukturierte Organisation wie das Österreichische Bundesheer auf die steigende Komplexität von Aufgaben wie sie von Malik in der Transformation 21 beschrieben wird?

Forschungsfrage 2:

Inwiefern kann das Österreichische Bundesheer zivile Management- und Führungskompetenzen für die eigene Führungstätigkeit im Umgang mit Komplexität nutzbar machen?

I Einleitung:

1) Vorstellung:

• Eigene Vorstellung, eigener militärischer Hintergrund

• Hintergrund der Masterarbeit (FPM)

2) Technisches:

• Dank für die Bereitschaft und Hinweis auf Anonymität auf Wunsch

• Hinweis auf Aufzeichnung des Gesprächs zur Interpretation

• Keine Zitate in der Arbeit

II Stimulus / Leitfrage / Erzählaufforderung

1) Einleitung

Wenn man die Zeitungen aufschlägt, den Fernseher aufdreht oder im Internet recherchiert leben wir offensichtlich gerade in einer Zeit der Transformation, der Globalisierung, der Vernetzung – in einem Informationszeitalter, das von Komplexität, Varietät und Eigendynamik geprägt ist – in dem viel von kybernetischen Modellen, lebensfähigem Systemdesign und Resilienz die Rede ist.

Wirtschafts- und Finanzkrisen werden mit steigender Komplexität begründet, in der Politik wird auf die Globalisierung verwiesen, um zu zeigen, dass man nicht alles regeln kann, in der Verwaltung sehen sich viele nur noch als kleine Rädchen, die das Gesamtbild nicht beeinflussen können. Alles wird angeblich komplexer und dadurch undurchschaubar, unvorhersehbar und dadurch auch unlenkbar, unsteuerbar, unkontrollierbar.

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Sie sind als Manager / Führungskraft in ihrem zivilen Beruf mit diesen Herausforderungen konfrontiert und müssen täglich damit umgehen. Gleichzeitig sind sie Offizier des Österreichischen Bundesheeres und haben damit auch hier als Führungskraft Einblick in die Art und Weise, wie das Militär auf komplexer werdende Herausforderungen reagiert. Sie haben sozusagen eine einzigartige Doppelrolle und sind Teil beider Welten – eine Schnittstelle zwischen diesen Welten.

2) Leitfrage

Wie würden Sie die Erfahrungen beschreiben, die Sie in dieser Doppelrolle machen – mit Ihren Kenntnissen aus Ihrem zivilen Berufsleben im Management und als militärischer Kommandant?

III Konkretisierungsfragen

A Transformation - Komplexität

• A1) Wie stellt sich diese komplexer werdende Welt nach Ihrer Erfahrung dar?

• A2) Welche Mittel hat Management ganz allgemein, um (steigender) Komplexität zu begegnen?

• A3) Mit welchen Mitteln begegnet das Bundesheer der Herausforderung steigender Komplexität?

B Management / Führung

• B1) Welches Verständnis von Management herrscht beim Bundesheer vor?

• B2) Welche Rolle spielt ein Verständnis von Management beim Bundesheer?

• B3) Wie ist es für Sie, in zwei verschiedenen Welten zu führen?

• B4) Welche Gemeinsamkeiten / Unterschiede gibt es dabei?

• B5) Konstr-techn. / syst.-evolut.

Es gibt in der Managementlehre zwei Zugänge, die sich mit jeweils einem Bild vergleichen lassen. Das ist einerseits das Bild der Maschine und andererseits das Bild eines lebenden Organismus.

Wenn Sie sich das Bundesheer vor Ihr geistiges Auge holen, wie würden Sie sagen funktioniert das Bundesheer? Wie eine Maschine, oder wie ein lebender Organismus und warum?

C Organisationsstruktur

• C1) Wie sollten erfolgreiche Organisationen gegliedert sein?

• C2) Was kennzeichnet erfolgreiche, lebensfähige Organisationen?

• C3) Welche strukturellen Merkmale des Bundesheeres gibt es?

• C4) Wie wirken sich diese auf den Erfolg bei der Bewältigung von Komplexität aus?

• C5) Inwieweit sind strenge Hierarchien, wie wir sie beim Bundesheer kennen bei der Erfüllung von Aufgaben in einer komplexer werdenden Welt förderlich oder hinderlich?

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D Nutzbarmachung von Kenntnissen

• D1) Welche Rolle spielen ihre zivilen Kenntnisse von Management bei der Erfüllung ihrer Aufgaben als Offizier?

• D2) Wie kann das Bundesheer von ihren zivilen Managementkenntnissen profitieren?

• D3) In welcher Form / Auf welchem Weg fließen ihre Managementkenntnisse in den Dienst beim Bundesheer ein?

Abschluss: Gibt es noch etwas, das ihnen besonders wichtig ist, über das wir bis jetzt noch

nicht gesprochen haben?

Dank und Verabschiedung

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10.2 Fallvignette

Abbildung 8: Fallvignette Inhaltsanalyse

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10.3 Waffengattungen

Abbildung 9: Teilstreitkräfte und Waffengattungen des ÖBH