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Manchmal helfen kleine Tricks Jessica Hart Julia 1038 14/1 1993 gescannt von Geisha0816 korrigiert von Katja

Manchmal helfen kleine Tricks

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Manchmal helfen kleine Tricks

Jessica Hart

Julia 1038

14/1 1993

gescannt von Geisha0816 korrigiert von Katja

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1. KAPITEL Chris hätte ihn überall wiedererkannt. Die gleiche selbstsichere, arrogante Haltung wie damals, der

gleiche undurchdringliche Blick, der gleiche markante, rücksichtslose Gesichtsausdruck, der nur selten von einem leichten, beunruhigenden Lächeln erhellt wurde. Sie hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, und doch wusste sie sofort, dass er es war: Luke Hardman. Der erste Mann, der sie geküsst hatte.

Er stand auf der anderen Seite des Theaterfoyers und betrachtete die Leute, die sich dichtgedrängt an ihm vorbei zur Bar schoben. Es war seine scheinbar unbeteiligte, fast gelangweilte Haltung, die ihn von den anderen unterschied und die Chris erst auf ihn aufmerksam werden ließ. Der elegante schwarze Abendanzug stand ihm ausgezeichnet, wie sie zugeben musste. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Zeiten, in denen er sich geweigert hätte, etwas anderes als Lederjacken zu tragen. Doch damals hätte er auch nicht im Traum daran gedacht, ins Theater zu gehen. Vielleicht hatte er sich seitdem mehr geändert, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Man konnte ihn nicht unbedingt als gutaussehend bezeichnen, dazu waren seine Gesichtszüge zu hart. Dennoch strahlte er eine äußerst gefährliche Anziehungskraft aus, und Chris war nicht das einzige weibliche Wesen, das auf ihn

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aufmerksam geworden war. Sie beobachtete eine junge Frau, die ihm ein einladendes Lächeln zuwarf. Doch er schien durch sie hindurchzusehen und gab sich keine Mühe, seine Langeweile zu verbergen. Luke Hardman hat sich also doch nicht so sehr geändert, dachte Chris.

Sie drehte sich etwas zur Seite, so dass sie ihn in der Spiegel wand über der Bar sehen konnte. Auf keinen Fall durfte er merken, dass sie ihn beobachtete - obwohl er sie wahrscheinlich ohnehin nicht wahrnahm, ebenso wenig wie vor zehn Jahren.

"Tut mir leid, aber das war alles, was ich auftreiben konnte." Serena stand plötzlich neben ihr und reichte Chris ein Glas

mit warmem Gin-Tonic, in dem eine dünne Zitronenscheibe herumschwamm. "Wir hätten die Drinks lieber vor der Pause bestellen sollen."

Als Chris sich geistesabwesend bedankte, folgte Serena ihrem Bück in den Spiegel. "Er sieht gut aus, nicht wahr?"

"Wer?" "Der Mann, den du im Spiegel beobachtest!" Serena warf

über die Schulter hinweg einen Blick in Lukes Richtung. "In Wirklichkeit sieht er noch besser als sein Spiegelbild aus."

"Ich habe niemanden beobachtet", erwiderte Chris, konnte aber zu ihrem Ärger nicht verhindern, dass sie errötete. Während sie die Zitronenscheibe aus dem Glas fischte und nachdenklich daran saugte, kehrte ihr Blick wieder zu Luke zurück. "Ich glaube, ich kenne ihn."

"Ja?" Serena betrachtete Luke mit wachsendem Interesse. "Wer ist er?"

"Nur jemand,, den ich aus dem Dorf kenne", sagte Chris so gleichmütig wie möglich. "Ich habe ihn seit meinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen."

"Warum hast du ihn mir damals nie vorgestellt, wenn ich bei euch auf Besuch war?" erkundigte sich Serena in gespielt empörtem Ton. "Du weißt doch, dass ich diese rücksichtslosen und gefährlichen Typen schon immer mochte!"

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Chris lachte. "Ich hätte mich nicht getraut, Luke Hardman irgend jemandem vorzustellen! Er war viel älter als ich, und außerdem kannte ich ihn kaum. Und er unterschied sich sehr von den anderen Jungen im Dorf." Sie zögerte. "Er machte mich immer ganz nervös."

"Dich? Nervös?" Serena betrachtete ihre Freundin überrascht. "Ich kenne dich seit unserem ersten Jahr im Internat, und ich glaube nicht, dass ich dich in all der Zeit jemals nervös gesehen habe. Du warst doch immer so ruhig, so kühl und vernünftig."

"Aber nicht in Lukes Gegenwart. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, er könnte meine Gedanken lesen. Ich wusste nie, ob ich mich nun vor ihm fürchten oder von ihm fasziniert sein sollte. Es war eine Mischung aus beidem, glaube ich." Chris lachte verlegen. "In seiner Gegenwart kam ich mir immer unglaublich linkisch und naiv vor. Ich brauchte ihn nur von weitem zu sehen, und schon bekam ich rasendes Herzklopfen - die typische Teenager-Verliebtheit", fügte sie hinzu. Dabei vergaß sie allerdings, dass ihr Herz auch vorhin, als sie Luke nach zehn Jahren zum erstenmal wiedergesehen hatte, wie wild geklopft hatte.

Serena lächelte. "Chris, das ist ja eine nette Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass du jemals verliebt gewesen bist."

"Nun, Verliebtheit kann man es eigentlich nicht nennen", erwiderte Chris in dem verzweifelten Versuch, ihren Stolz zu wahren. "Ich mochte ihn nicht einmal. Er war frech und ungehobelt, und er scherte sich keine Spur um das, was andere Leute von ihm dachten."

"Das klingt geradezu unwiderstehlich!" sagte Serena. "Warum gehst du nicht hinüber und begrüßt ihn?"

"Nein!" protestierte Chris viel zu schnell und hätte sich dafür gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen. "Ich meine, er - er würde sich wahrscheinlich gar nicht an mich erinnern", erklärte sie ausweichend.

"Aber warum denn nicht?"

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"Ich bin nicht gerade der Typ Frau, den man ewig im Gedächtnis behält, oder?" Resigniert betrachtete Chris sich im Spiegel. Aus dem linkischen, schüchternen Teenager war eine Frau geworden, deren Attraktivität erst auf den zweiten Blick ins Auge fiel. Chris hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie niemals eine Schönheit sein würde. Nur ihre ungewöhnlich schönen bernsteinfarbenen Augen ließen vermuten, dass sich hinter ihrer kühlen Zurückhaltung noch mehr verbarg.

"Na, ich weiß nicht", erwiderte Serena nachdenklich, "Du stichst zwar nicht unbedingt aus der Masse hervor, aber du hast ein Gesicht, das sich einem einprägt, obwohl ich nicht sagen könnte, warum. - Egal, wenn du dich so gut an diesen Mann erinnerst, wird er dich wahrscheinlich auch im Gedächtnis behalten haben", behauptete sie.

Chris schüttelte amüsiert den Kopf. "Ich habe einen sehr guten Grund, mich an ihn zu erinnern. Welches Mädchen vergisst schon den ersten Kuss?"

"Chris!" stieß Serena so laut hervor, dass sich einige Leute in ihrer Nähe umdrehten und sie anstarrten. Auch Luke schien etwas gehört zu haben, denn er blickte in ihre Richtung. Chris drehte sich hastig um, damit er ihr Gesicht nicht sah.

"Psst!" "Entschuldige", flüsterte Serena und verfiel damit ins andere

Extrem. "Wirklich, Chris, du bist mir vielleicht eine! Hat er dich wirklich geküsst? Wie romantisch!"

"Es war überhaupt nicht romantisch", widersprach Chris ernsthaft.

"Komm, nun rück schon heraus mit der Sprache", sagte Serena neugierig.

Chris seufzte. Hätte sie doch nur diesen verdammten Kuss nie erwähnt! Jetzt würde Serena keine Ruhe geben, bis sie die ganze Geschichte erfuhr.

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"Erinnerst du dich an den heißen Sommer, bevor wir in die Oberstufe kamen?" Als Serena nickte, fuhr Chris fort: "Ich bin wie üblich nach Hause gefahren, aber da Veronique in dem Jahr in Frankreich war, fühlte ich mich ziemlich einsam. Die anderen Jugendlichen im Dorf wollten nichts mit mir zu tun haben, weil ich im Herrenhaus wohnte und ein Internat besuchte. Sie hielten mich für hochnäsig. Und außerdem war meine Mutter Französin und etwas flatterhaft." Chris lächelte leicht. Heute konnte sie gleichmütig darüber sprechen, doch so jung, wie sie damals war, hatte es ihr sehr weh getan.

"Wie dem auch sei, schließlich freundete ich mich mit einem Mädchen namens Anne an, das einige Meilen entfernt wohnte. Ich mochte sie eigentlich nicht besonders, aber sie war immerhin besser als niemand. Sie hatte eine ältere Schwester, Helen."

Chris schwieg und dachte an Helen und an jenen langen, heißen Sommer.

"Und weiter?" drängte Serena. " Helen war sehr eng mit Luke Hardman befreundet", fuhr

Chris fast widerwillig fort. "Sie wollte nur ein bisschen Spaß haben - so ähnlich drückte sie es aus. Ihre Eltern waren außer sich geraten, wenn sie von dieser Sache erfahren hätten, und so benutzte sie Anne und mich als Alibi. Helen erzählte zu Hause, dass sie mit uns ausreite. Wir nahmen jedes Mal den Weg durch den Wald, wo sie sich mit Luke traf. Und dann wurden Anne und ich für einige Stunden fortgeschickt."

Chris konnte sich noch immer sehr gut an das Kribbeln erinnern, das sie verspürt hatte, wenn Luke zu Helen hinauflächelte, an seinen Gesichtsausdruck, wenn er ihr vom Pferd half. Die offenkundige, unmittelbare Sexualität, die die beiden umgab, hatte Chris ihre eigene Unschuld und Naivität um so deutlicher und unangenehmer bewusst werden lassen, Luke hatte sie, Chris, nicht einmal bemerkt.

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"Helen war ganz furchtbar hinter ihm her", fuhr sie fort. "Doch hinter seinem Rücken machte sie sich über ihn lustig, nannte ihn anderen gegenüber einen Bauerntölpel, weil er ihrer Meinung nach nicht die richtigen Umgangsformen hatte. Ich hasste das."

"Also eine richtige Hexe", stellte Serena fest. "Wusste Luke, wie sie wirklich war?"

Chris hob die Schultern. "Luke ließ nie jemanden merken, was er dachte. Aber er fand bald die Wahrheit über sie heraus. Eines Tages hatten wir uns wieder verabredet, um wie üblich in den Wald zu reiten und Luke zu treffen. Da erschien Helen und verkündete, nicht mitzukommen. Sie habe eine Einladung nach Südfrankreich erhalten, wo die Männer ohnehin viel erfahrener seien. Ich fragte sie, ob sie es Luke sagen wolle, worauf sie lachte und sagte, wir sollten ihn einfach im Wald warten lassen, er werde schon noch früh genug alles erfahren. Die Art, wie sie lachte, werde ich nie vergessen. "

"Und was habt ihr getan?" "Anne wollte alles so machen, wie Helen es vorgeschlagen

hatte, doch ich konnte ihn einfach nicht da sitzen und warten lassen. Es klingt zwar dumm, aber ich wollte nicht, dass er so gedemütigt würde. Deshalb ging ich allein in den Wald und sagte ihm, dass Helen nicht kommen werde."

"Und wie hat er es aufgenommen?" "Er war wütend. Er schrie und tobte zwar nicht, aber in

seinen Augen stand kalte Wut. Es war furchtbar. Ich wünschte, nicht hingegangen zu sein, denn in dem Moment schien er mich zum erstenmal überhaupt wahrzunehmen. Er erkundigte sich, ob Helen mich geschickt habe, um ihr hinterher zu berichten, wie sehr ihn diese Nachricht mitgenommen habe. Und als ich protestierte, fragte er, ob ich gekommen sei, um mich als Ersatz anzubieten." Die Erinnerung daran trieb Chris das Blut in die Wangen. "Es war schrecklich. Ich versuchte, wegzurennen, aber er packte mich am Handgelenk und hielt mich fest."

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Unwillkürlich blickte sie auf ihr Handgelenk hinunter, als seien dort noch die Spuren seiner Finger sichtbar. Seine Hände waren sehr stark gewesen. Es war, als könnte sie immer noch den eisenharten Griff spüren, mit dem er sie gezwungen hatte, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen.

"Und dann hat er dich geküsst?" erkundigte Serena sich neugierig. Beide hatten inzwischen den Lärm und das Gedränge um sie her vergessen.

Chris nickte. Serena blickte zu Luke hinüber und rückte näher an Chris

heran. "Wie war es denn?" flüsterte sie. "Kannst du dich noch daran

erinnern?" Kannst du dich noch daran erinnern? Chris' Augen bekamen

einen seltsamen Glanz. Sie würde es niemals vergessen. Die angstvolle Erwartung, die sie empfunden hatte, als er sie ungestüm in die Arme zog, war immer noch in ihr lebendig. Seine rauen Hände auf ihren nackten Armen, die unerwartete Wärme seiner Lippen, der bittere Zorn in seinen Augen - Chris erinnerte sich an alles. Sie sah den sonnengesprenkelten Schatten der Bäume, roch den würzigen Duft des Waldbodens an jenem heißen, stillen Nachmittag.

Chris war noch nie vorher geküsst worden. Sie hatte nicht gewusst, wie stark der Körper eines Mannes sein konnte oder dass seine Lippen fest und ungestüm und gleichzeitig zärtlich sein konnten. Sie hatte nichts geahnt von der beunruhigenden Erregung, die in ihr aufstieg, als er die Hände über ihre nackten Arme gleiten ließ, oder von der schmerzlichen Begierde, die die Berührung seiner Lippen in ihr auslöste und die alle Angst und Abneigung in ihr auslöschte.

O ja, all das war immer noch in ihr lebendig! Aus den Augenwinkeln konnte sie Luke beobachten. Er sah gelangweilt und gereizt aus, als warte er auf jemanden, der sich verspätet

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hatte. Doch sein Mund war genauso, wie Sie ihn in Erinnerung behalten hatte.

"Es war eben nur ein Kuss", sagte sie. Niemals wieder war sie so geküsst worden.

"Oh." Serena war ganz offensichtlich enttäuscht. "Hat er hinterher noch etwas zu dir gesagt?"

Nachdem er sie schließlich losgelassen hatte, blickte Chris ungläubig zu ihm auf, erschüttert und benommen von der Heftigkeit ihrer eigenen Reaktion. Luke betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, als wäre er überrascht, sie in seinen Armen zu finden, und trat hastig einen Schritt zurück. Der Widerwille in seinem Blick traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, und sie zuckte unter der brennenden Demütigung zusammen.

"Er sagte: ,Geh nach Hause, Christine, und werde erwachsen'", fuhr Chris langsam fort. Im Geist durchlebte sie noch einmal jenen schrecklichen Moment, bevor sie sich umgedreht hatte und vor seinem verachtenden Blick geflohen war.

"Christine? So hat er dich genannt?" Serenas Neugier war erneut geweckt. "Ich dachte, alle nennen dich nur Chris."

"Zu Hause nicht. Meine Mutter rief mich immer Christine, in der französischen Form, und in ganz Chittingdene war ich nur als Christine bekannt. Erst im Internat wurde ich nur Chris genannt." Aha." Serena riskierte einen weiteren Blick auf Luke. "Was passierte, als ihr euch das nächste Mal traft?"

"Ich habe ihn nie wiedergesehen. Kurz darauf hat er das Dorf verlassen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch einmal dort war. Einige Monate später starb Dad, und meine Mutter hatte es eilig, das Haus zu verkaufen und mit uns nach Frankreich zu übersiedeln. Ich bin niemals nach Chittingdene zurückgekehrt. Heute Abend habe ich Luke zum erstenmal wiedergesehen."

"Ich frage mich, ob er dich wohl wiedererkennen würde", sagte Serena nachdenklich.

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"Bestimmt nicht. Erinnerst du dich, wie ich mit sechzehn ausgesehen habe, Serena? Dicke Brillengläser und Haare, die nach allen Seiten abstanden! Zum Glück habe ich mich seitdem verändert. Er würde mich nie wiedererkennen. Schließlich war ich nicht wie Helen."

"Warum - wie hat sie denn ausgesehen?" "Sie war..." Chris schwieg und blickte wie gebannt in den

Spiegel, in dem sie Luke sehen konnte. Sein Gesicht hellte sich auf, als jetzt eine Frau zu ihm trat. Sie legte ihm besitzergreifend eine Hand auf den Arm und nahm das Glas, das er ihr reichte. Es schien ihr überhaupt nicht leid zu tun, dass sie ihn hatte warten lassen.

"Du kannst dir sofort selbst ein Bild von ihr machen", sagte Chris mit merkwürdig ausdrucksloser Stimme. "Die Frau, die neben ihm steht - das ist Helen."

Schon mit achtzehn Jahren war Helen eine strahlende, herausfordernde Schönheit gewesen, und die vergangenen zehn Jahre hatten ihr nur noch mehr Glanz und eine subtile, gekünstelte Exotik verliehen. Sie hatte schräge grüne Augen, und das silberblonde Haar fiel ihr in dichten, glänzenden Wellen bis auf die Hüften. In dem kurzen, schulterfreien Kleid aus türkisfarbener Seide sah sie wirklich atemberaubend aus.

"Aber das ist doch Helen Slayne, nicht wahr?" "Stimmt." Chris sah Serena überrascht an. "Kennst du sie etwa?"

"Wer würde ein berühmtes Fotomodell nicht kennen? In letzter Zeit sieht man ihr Bild in allen Modemagazinen. Ihr Haarschnitt ist in England zu einer Art Markenzeichen geworden. Du kennst sie wahrscheinlich nicht, weil du dich nicht besonders für Mode interessierst und außerdem in Frankreich warst. Sie sieht wirklich fabelhaft aus, findest du nicht?"

"Ja", erwiderte Chris trocken, "noch besser als früher." Ein dumpfer Schmerz brannte in ihrem Innern. Warum

überraschte es sie so, Luke hier mit Helen zu sehen? Wie töricht

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von ihr, enttäuscht zu sein, weil Luke sich offenbar zum zweitenmal von dieser glitzernden Schönheit hatte einfangen lassen! Er besaß anscheinend weniger Stolz, als sie, Chris, angenommen hatte. Und außerdem war es seine eigene Sache, wenn er sich unbedingt wieder zum Gespött der Leute machen wollte.

Da Luke mit Helen an seiner Seite ohnehin niemand anders im Raum bemerken würde, hielt Chris es für ungefährlich, sich umzudrehen und ihn direkt zu beobachten. Wie merkwürdig, dass ihr nach dieser langen Zeit alles an ihm immer noch so vertraut erschien. Seine Haltung, die Art und Weise, wie er den Kopf drehte, die harte Linie seines Mundes - überhaupt sein Mund ... Immer schon hatte ein Hauch von Arroganz Luke umgeben, eine Art von rücksichtslosem Stolz. Aber wie konnte er dann dort stehen und Helen so anlächeln, nach allem, was sie ihm angetan hatte?

Als habe er ihre unausgesprochene Frage verstanden, hob Luke in diesem Moment den Kopf und blickte über Helens Schulter hinweg Chris direkt ins Gesicht, in dem unverhüllte Missbilligung stand.

Chris' Herz tat einen beunruhigenden Satz, als sie in seine schiefergrauen Augen sah. Selbst über diese Entfernung hinweg fühlte sie sich wie hypnotisiert von Lukes hartem, kaltem Blick. Sie wollte sich abwenden, doch seine Augen hielten sie gefangen. Es war, als wären sie beide allein im Raum. Serena und Helen, das Stimmengewirr und Gedränge um sie her, alles war vergessen. Es gab nur noch diese undurchdringlichen grauen Augen und das laute Pochen ihres Herzens.

Plötzlich trat vor ihr ein Paar zurück, um anderen Gästen den Weg zur Bar freizugeben, und schob sich zwischen sie und Luke.

Chris schluckte und schloss die Augen. Zu ihrem Ärger fühlte sie, dass ihr die Wangen brannten.

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"Glaubst du, er hat dich trotz allem erkannt?" fragte Serena aufgeregt. Sie hatte den Blickkontakt zwischen Luke und Chris interessiert beobachtet.

"Nein", erwiderte Chris kurz angebunden, während sie sich verzweifelt bemühte, die Beherrschung zurückzugewinnen. Ihr Herz klopfte immer noch beängstigend schnell und unberechenbar. "Nein, ich glaube nicht", wiederholte sie, diesmal ruhiger. Lukes Blick war so undurchdringlich wie immer gewesen, und sie hätte schwören können, dass keine Spur des Erkennens in ihm gelegen hatte, nur so etwas wie amüsierte Verachtung.

Serena wollte noch etwas sagen, doch da übertönte den Lärm der Leute eine Glocke - sehr zu Chris' Erleichterung.

"Komm schon, trink aus", sagte sie zu Serena und leerte hastig ihr Glas. "Der zweite Akt beginnt."

Sie mischten sich wieder unter die Menge, die geräuschvoll in den Saal zurückkehrte. Serena hatte Luke anscheinend vergessen und erzählte Chris ausführlich über ihre Versuche, ihren gutaussehenden Wohnungsnachbarn für sich zu interessieren. Wahrend des anschaulichen Berichts ihrer Freundin verdrehte Chris die Augen und lachte laut heraus. Dieses Lachen war warm und ansteckend und veränderte ihr sonst so beherrschtes Gesicht - doch dann wurde sie schlagartig wieder ernst. Erneut fand sie sich Luke Hardmans hartem, kaltem Blick ausgeliefert.

Er und Helen leerten ohne Hast ihre Gläser, während die Menge an ihnen vorbeidrängte. Luke Hardman war kein Mann, der seine Zeit damit verschwendete, mit anderen Leuten in einer Schlange anzustehen.

Jetzt hob er sein Glas und prostete Chris zu, und sein leichtes, amüsiertes Lächeln trieb ihr das Blut in die Wangen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und spürte kaum, dass die Leute hinter ihr sie anstießen.

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"Könnten Sie vielleicht weitergehen? Sie versperren die Tür, und das Stück geht gleich weiter!" Die ungeduldige Stimme hinter ihr brachte Chris wieder in die Wirklichkeit zurück, und sie wandte den Blick schnell von Luke ab.

"Oh - tut mir leid", murmelte sie und beeilte sich, Serena einzuholen.

Obwohl Chris das Stück vorher sehr interessant gefunden hatte, saß sie während des zweiten Akts da und hörte kaum ein Wort. Die Begegnung mit Luke nach so vielen Jahren machte sie gereizt und unruhig. Sosehr sie auch versuchte, sich auf das Geschehen auf der Bühne zu konzentrieren, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu jenem heißen Nachmittag im Wald zurück, zu den Gefühlen, die Luke bei ihr geweckt hatte, als er sie in die Arme zog.

Plötzlich merkte sie, dass die Leute um sie aufstanden und begeistert applaudierten. Als Serena ihr einen neugierigen Blick zuwarf, begann Chris, hastig zu klatschen, doch ihre Gedanken waren immer noch bei Luke. Nun hör endlich auf, weiter über die Vergangenheit nachzugrübeln, befahl sie sich schließlich. Ihre Begegnung heute Abend war nichts als merkwürdiger Zufall, und es schien sehr unwahrscheinlich, dass Luke ihr noch einmal über den Weg laufen würde. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie nach ihm Ausschau hielt, als sie das Theater verließen. Sie ging absichtlich langsam, bis Serena darauf aufmerksam wurde und sich erkundigte, was mit ihr los sei.

"Nichts", erwiderte Chris schnell. Warum nur war sie so enttäuscht, dass Luke anscheinend schon gegangen war?

"Du bist plötzlich so still", sagte Serena misstrauisch, "Meine Kontaktlinsen bringen mich halb um", log Chris,

während sie zur nächsten U-Bahnstation gingen. "Das kommt sicher von all dem Rauch in der Bar."

Am Eingang der Station zeigten sie ihre Monatskarten vor und mischten sich dann unter die Menge, die sich vor den Rolltreppen zu den Gleisen drängte. "Wie sieht es eigentlich mit

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deiner Stellungsuche aus?" erkundigte Serena sich und drehte sich zu Chris um, als sie endlich auf der Rolltreppe standen. "Hast du schon etwas Passendes gefunden?"

Chris zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Einen Job brauchte sie im Moment wirklich mehr als alles andere. "Noch nicht, aber ich habe morgen ein Vorstellungsgespräch. Die Anzeige klingt recht vielversprechend." Während sie von der Rolltreppe auf den Bahnsteig traten, kramte sie in ihrer Handtasche. "Hier, was hältst du davon?"

Serena nahm den Zeitungsausschnitt, den Chris ihr reichte. ",Parlez-vous francais'?" las sie laut vor. "Na ja, das kannst du auf alle Fälle, Chris!"

Für den dynamischen Direktor unserer erfolgreichen Firma suchen wir eine zweisprachige Direktionsassistentin. Wir erwarten: perfektes Französisch, ausgezeichnete Fähigkeiten als Sekretärin und vorzugsweise Erfahrungen auf Geschäftsleitungsebene. Sie sollten außerdem sicher im Auftreten und flexibel sein und sich jederzeit auf Auslandsaufenthalte einrichten können.

Wir bieten: eine verantwortungsvolle, abwechslungsreiche Tätigkeit mit überdurchschnittlicher Bezahlung und Aufstiegsmöglichkeiten.

"Chris, das ist wie für dich gemacht!" sagte Serena begeistert. Nach einem Blick auf das Gehaltsangebot am Ende der Annonce, stieß sie einen leisen Pfiff aus. "Himmel, bei einer solchen Bezahlung könnte ich auch nicht widerstehen!"

"Ich weiß." Chris ließ die Anzeige wieder in der Tasche verschwinden, während sie langsam den Bahnsteig entlanggingen. ,Es klingt alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein, findest du nicht? Aber ich muss bald etwas finden. Wenn ich gewusst hätte, wie schwer es ist, in England einen einigermaßen guten Job zu kriegen - ich glaube, ich hätte meine Stelle in Dijon nicht so schnell aufgegeben!"

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"Aber du bereust doch nicht etwa, dass du nach England zurückgekommen bist, oder?"

"Nein." Chris schüttelte den Kopf. "Ich habe den Job dort vier Jahre lang gemacht. Es war ohnehin Zeit, mir etwas anderes zu suchen. Und die Tatsache, dass Michelle in England auf die Schule geschickt werden sollte, machte es mir noch leichter, Frankreich zu verlassen."

"Also, ich finde, es ist ein ziemlich starkes Stück von Veronique und Alain, an die Elfenbeinküste zu gehen und von dir zu verlangen, sich um ihre Tochter zu kümmern". sagte Serena erbost.

"Irgendwann hätten sie Michelle ohnehin auf ein Internat schicken müssen", beschwichtigte Chris sie. "Veronique hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ihre Tochter zweisprachig aufwachsen und deshalb für mindestens ein Jahr auf eine englische Schule gehen müsse, genau wie sie selbst. Und jetzt bietet es sich geradezu an, weil Alain aus beruflichen Gründen nach Afrika gehen muss."

"Nun, es ist ja auch sehr angenehm für die beiden, dass du bereitwillig deinen Job aufgegeben hast, um in Michelles Nähe zu sein", kommentierte Serena trocken

"Oh, Michelle ist eigentlich nur ein Vorwand. Schließlich konnte ich meiner Mutter schlecht erzählen, dass ich ihren neuen Mann nicht leiden kann, oder? Es war wirklich eine sehr unangenehme Atmosphäre. Thierry und ich mussten uns anstrengen, höflich zueinander zu sein, und die arme ,Maman' dazwischen! Andererseits wollte ich ihr nicht das Gefühl geben, ich ginge wegen Thierry fort. Das hätte sie furchtbar aufgeregt. So erzählte ich ihr, nach England gehen zu wollen, um mich ein wenig um Michelle zu kümmern. Übrigens war das wirklich einer der Gründe. Ich habe Mitleid mit Michelle, weil ich mich noch gut daran erinnern kann, wie es ist, wenn man ins Internat kommt und es ist niemand da, der einen am Wochenende abholt und sich um einen kümmert. Irgendwie fühlte ich mich überall

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als Ausländerin: in England als Französin, in Frankreich als Engländerin. Deshalb kann ich Michelle das nachempfinden. Schließlich bin ich ihre Tante - und außerdem war es für mich kein Opfer, nach England zurückzukehren."

Chris steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und lächelte Serena zu. "Meine Mutter, Veronique und Alain finden, ich verhalte mich wunderbar und selbstlos, aber in Wirklichkeit denke ich vor allem an mich. In Dijon habe ich mich nie richtig wohl gefühlt. Ich bin eigentlich nur dort geblieben, weil ich dachte, Maman würde nie allein zurechtkommen - du weißt ja, wie unpraktisch sie ist! Außerdem hatte ich einen guten Job, den ich nicht so ohne weiteres aufgeben wollte. Aber jetzt ist ja Thierry da, der sich um Maman kümmert. Und ich glaube fest, ihr ist es ganz recht, dass ich nicht ständig in seiner Nähe bin - schließlich kann man mich nicht mehr unbedingt als kleines Mädchen bezeichnen!" Chris betrachtete nachdenklich ein großes Plakat an der gegenüberliegenden Wand der U-Bahnstation, das mit riesigen Lettern für den "Frühling in Paris" warb. "Eigentlich hätte ich es gar nicht besser treffen können. In den letzten Jahren habe ich England sehr vermisst. Ich hätte schon früher zurückkommen sollen."

"Nun, ich hoffe jedenfalls, du wirst bleiben." Serena drückte Chris' Arm liebevoll. "Es ist gut, dich wieder hier zu haben. Jetzt brauchst du nur noch diesen Job!"

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2. KAPITEL Der Fahrstuhl war von innen ganz mit Spiegeln verkleidet.

Chris überprüfte noch einmal ihr Aussehen, zog ihre Kostümjacke glatt und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn.

So ungern sie es sich auch eingestand - sie brauchte diese Stelle. Das Leben in London war sehr viel kostspieliger, als sie es sich vorgestellt hatte, ihre Wohnung nicht gerade billig und bald die erste Miete fällig. Überdies hatte sie es satt, von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten zu laufen. Serena und andere Freunde neckten sie oft, weil sie ein ordnungsliebender Mensch war, und tatsächlich vermisste Chris die tägliche Routine des Aufstehens und Arbeitens.

Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Dem Anlass entsprechend hatte sie sich sehr sorgfältig zurechtgemacht und ein graues Kostüm und eine hochgeschlossene weiße Bluse gewählt. Ihr dichtes braunes Haar war streng aus dem Gesicht gekämmt und mit einem Schildpattkamm befestigt.

Sie wirkte gepflegt, tüchtig und - etwas langweilig, wie Chris sich selbstkritisch eingestehen musste. Kein Wunder, dass Luke Hardman sich nicht an sie erinnert hatte! Man konnte sie zwar nicht gerade als unansehnlich bezeichnen, aber es war auch nichts Besonderes an ihr. Sie war eben nur Chris, die kühle, beherrschte, tüchtige Chris, und so wirkte sie auch.

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Ich sehe wie die ideale Sekretärin aus, überlegte sie nüchtern, während die Fahrstuhltüren sich auf einen mit dickem Teppichboden belegten Korridor öffneten. Als Chris den Lift verließ, trat eine nervös wirkende, rothaarige Frau auf sie zu.

"Miss Finch? Ich bin Paula Stephens. Wir haben ja schon telefoniert." Miss Stephens schien sehr erleichtert über Chris' sicheres, sachlich wirkendes Auftreten. "Ich hätte Ihnen gern erst etwas über den Arbeitsplatz erzählt, bevor Sie mit dem Geschäftsführer sprechen, aber er hat heute leider nur wenig Zeit. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie zuerst zu ihm bringe und wir uns dann später unterhalten?"

"Natürlich nicht", erwiderte Chris höflich und fragte sich, ob dieser Geschäftsführer auch die Ursache für Miss Stephens' Nervosität war.

Paula führte sie den Flur entlang in ein Büro, einen großen, hellen Raum, der mit modernsten Textverarbeitungsgeräten ausgestattet war. "Das hier wäre dann Ihr Zimmer", sagte sie, bevor sie die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern senkte: "Und dort ist sein Büro." Sie nickte in Richtung einer Tür auf der anderen Seite des Raums.

Chris beobachtete, wie Paula die Schultern straffte, während sie auf diese Tür zuging und zaghaft klopfte. Ein ungeduldiges "Ja bitte!" war zu hören, worauf die junge Frau die Tür öffnete. "Miss Finch ist jetzt hier", sagte sie nervös zu jemandem im anderen Zimmer.

"Schon gut, schon gut", hörte Chris eine schroffe Stimme sagen, und Paula trat zurück. Chris wunderte sich über den seltsam mitfühlenden Gesichtsausdruck der jungen Frau, als sie ihr winkte, näher zu treten, und die Tür hinter ihr schloss.

Sie stand in einem riesigen, hohen Raum, dessen Fenster auf die elegante Knightsbridge Street hinausgingen. Einen Moment war sie verunsichert, denn sie schien ganz allein im Zimmer zu sein. Doch gleich darauf hörte sie wieder die tiefe Stimme.

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"Setzen Sie sich, wenn Sie unbedingt wollen. Ich habe noch etwas zu erledigen."

Die Stimme kam von einem großen, hochlehnigen Drehstuhl, der weg vom Schreibtisch zum Fenster hin gedreht war, so dass Chris nur die Rückenlehne sehen konnte. Chris zog eine Augenbraue hoch. Der Mann schien überhaupt keine Manieren zu haben. Sie nahm einen der Stühle, die an der Wand aufgereiht waren, und rückte ihn vor den Schreibtisch. Gelassen nahm sie Platz, strich sich den Rock glatt und faltete die Hände im Schoss. Der Stuhl war sehr unbequem, die niedrigen, weichen Ledersessel, die überall herumstanden, sahen dagegen sehr einladend aus. Doch wenn sie sich in einen setzte, wäre sie sicherlich im Nachteil. Und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie sich alles zunutze machen musste, was sich nur anbot, wollte sie mit diesem Mann fertig werden.

Einige Minuten vergingen. Das einzige Anzeichen, das auf die Gegenwart eines anderen Menschen schließen ließ, war das Rascheln von Papier. Chris wartete, zunächst gelassen, dann immer nervöser und ungeduldiger. Einige Male war sie fast versucht, aufzustehen und zu gehen. Doch ihre Vernunft gewann immer wieder die Oberhand. Sie dachte an das großzügige Gehalt, an die fällige Miete und ob es sich lohnte, die Aussicht auf eine gute Stelle zu riskieren, indem sie jetzt einfach hinausstürmte und eine zweifellos peinliche Szene heraufbeschwor.

Schließlich sprach er. "Wie mein Personalchef mir berichtet hat, behaupten Sie also, fließend Französisch zu sprechen?"

Ich behaupte es nicht nur, ich kann es", korrigierte Chris ihn eisig.

"Ich habe schon viele junge Frauen gesehen, die alle sagten, sie sprächen Französisch, am Ende aber kaum ein Wort hervorbrachten. Oh, natürlich war ihr Französisch nur ein wenig eingerostet." Bei den letzten Worten imitierte er verächtlich eine weibliche Stimme. "Ehrlich gesagt, ich habe keine Lust, meine

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Zeit noch weiter an Sie zu verschwenden, wenn Sie nicht wirklich perfekt Französisch können."

"Ich hatte bisher nicht bemerkt, dass Sie Ihre Zeit an mich verschwenden." Chris machte sich keine Mühe, ihre Gereiztheit zu verbergen. "Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich sehr gut Französisch spreche. Ich bin zweisprachig aufgewachsen."

"Beweisen Sie es." "Wie bitte?" "Beweisen Sie es. Sagen Sie etwas auf französisch." "Nun... Was soll ich denn sagen?" erkundigte Chris sich

vorsichtig. "Egal, irgend etwas." Er klang ungeduldig und gereizt.

"Irgendetwas. N'importe quoi." Er sprach Französisch mit einem solch schrecklichen Akzent,

dass es Chris innerlich schüttelte. Plötzlich begannen ihre Augen zu funkeln.

"N'importe quoi?" wiederholte sie amüsiert. Da er so offensichtlich selbst kein Französisch sprach, konnte sie ihrem Ärger endlich Luft machen. "Ich weiß nicht so recht, was ich zu einem Stuhl sagen soll", fuhr sie in fließendem Französisch fort, wobei sie darauf achtete, ruhig und gleichmütig zu klingen. "Bisher bin ich noch nie in diese Verlegenheit gekommen. In Frankreich sind wir nämlich etwas höflicher. Wir stehen auf und begrüßen die Leute, wenn sie ins Zimmer kommen. Aber hier herrschen anscheinend andere Sitten. Um ehrlich zu sein, wenn ich diesen Job nicht sehr vielversprechend finden würde, wäre ich schon vor zehn Minuten aufgestanden und gegangen. Allerdings bin ich mir jetzt nicht mehr sicher, ob ich diese Stelle wirklich will. Schließlich würde es bedeuten, dass ich mit jemandem zusammenarbeiten muss, der sich nicht einmal die Mühe macht, sich umzudrehen, wenn ich mit ihm rede", fügte sie nachdenklich hinzu. ,.Ich finde, für ein so schlechtes Benehmen gibt es einfach keine Entschuldigung, und ..." Sie schwieg, als der Schreibtischstuhl herumschwang. "Das reicht,

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vielen Dank." Der unverbindliche Ton des Mannes überzeugte Chris, dass er wirklich kein Wort verstanden hatte, aber im nachhinein fühlte sie sich doch erleichtert,

Immer noch konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Er hatte den Kopf über einige Schriftstücke gebeugt und machte sich sorgfältig mit einem Bleistift Notizen am Rand. Sie sah nur sein dunkles Haar. Seine Arroganz grenzte an Unverschämtheit, und Chris betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Wie immer er auch in die Stellung eines leitenden Direktors dieser Firma gelangt war - durch seinen Charme bestimmt nicht!

Schließlich legte er die Papiere und den Bleistift auf die Schreibtischplatte und sah auf. Luke Hardman!

Chris hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setzte aus. Und während sie Luke wie erstarrt ungläubig einen langen, unendlich langen Moment in die blaugrauen Augen blickte, konnte sie an nichts anderes denken als daran, ob ihr Herz wohl jemals wieder zu schlagen anfangen würde.

Ihr schien eine Ewigkeit vergangen zu sein - obwohl es wahrscheinlich nicht mehr als einige Sekunden gewesen waren -, als Lukes beunruhigender Blick sie wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte.

"Ist irgend etwas?" fragte Luke misstrauisch, während sie ihn immer noch in ungläubiger Verblüffung betrachtete.

Nach dem ersten Schreck gewann Chris jedoch schnell die Kontrolle über sich zurück. Jetzt bemerkte sie auch, dass in seinen Augen keine Spur von Erkennen lag. Seit ihrer Begegnung im Theater gestern Abend hatte sie sich in Gedanken so sehr mit ihm beschäftigt, dass sie kaum glauben konnte, ihm sei es mit ihr nicht genauso ergangen. Er musste doch erstaunt sein, das linkische, naive Mädchen, das damals nach seinem Kuss davongerannt war, plötzlich hier vor sich zu sehen. Ebenso erstaunt wie sie, die jetzt herausfand, dass der Rebell von Chittingdene sich in einen erfolgreichen Geschäftsmann verwandelt hatte! Das war das letzte, was sie erwartet hatte.

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Doch diese Erkenntnis war einseitig, das merkte sie jetzt, so einseitig wie gestern Abend, so einseitig wie vor zehn Jahren Eigentlich hätte Chris erleichtert sein sollen. Statt dessen stieg plötzlich so etwas wie Gereiztheit in ihr auf. War sie denn wirklich so unauffällig, dass Luke sich überhaupt nicht an sie erinnerte? Doch zumindest half ihr dieses Gefühl, die Fassung zurückzugewinnen.

"Es tut mir leid, dass ich Sie so angestarrt habe. Ich war nur überrascht, plötzlich einen Mann vor mir zu haben anstatt eines Stuhls", sagte sie schließlich, und zu ihrer Befriedigung gelang es ihr, seinem durchdringenden Blick ruhig standzuhalten. Sie war noch immer so damit beschäftigt, sich von dem Schock zu erholen, dass sie ganz vergessen hatte, weshalb sie eigentlich hier war. Luke brachte sie jedoch schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

"Dann braucht es anscheinend nicht viel, um Sie zu überraschen, oder?" sagte er mit leiser Verachtung in der Stimme. Aus einem Stapel von Papieren zog er einen Bogen hervor. Chris erkannte ihren Lebenslauf, den sie zusammen mit ihrer Bewerbung an Paula Stephens geschickt hatte, und fragte sich, ob das Lesen ihres Namens Lukes Gedächtnis wohl beleben würde.

Die Stirn gerunzelt, studierte Luke die Angaben auf dem Papier. Chris wartete. Äußerlich schien sie ganz ruhig, doch insgeheim fürchtete sie den Moment, in dem Luke aufblicken und sie erkennen würde. Doch nach einer Weile stieß er nur einen unverbindlichen Laut aus und warf das Blatt auf den Stapel anderer Papiere zurück.

Schweigend lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und betrachtete sie abschätzend, während er ge istesabwesend mit einem Bleistift spielte. Chris hob kampfbereit das Kinn und zwang sich, seinen Blick ruhig zu erwidern.

"Nun, Französisch sprechen können Sie jedenfalls, das gebe ich zu, Miss . .. Wie ist Ihr Name?" Luke lehnte sich vor und

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warf einen Blick auf ihren Lebenslauf. "Chris.. .Ja, Chris, das muss ich wirklich zugeben. Aber das allein macht noch keine gute Sekretärin aus. Wie ist es mit Schreibmaschine und Steno? Können Sie das auch so gut?"

"Da steht doch, dass ich es kann." Chris deutete auf ihren Lebenslauf. Inzwischen hatte sie sich von ihrer Überraschung erholt und wurde von Minute zu Minute gereizter. Er hatte anscheinend keine Ahnung, wie man mit Menschen umging! Seine zynische Gleichgültigkeit, die sie vor zehn Jahren so eingeschüchtert hatte, wirkte zwar immer noch auf sie. Doch jetzt reagierte sie mit Ärger, anstatt sich gedemütigt zu fühlen. Sie war keine schüchterne Sechzehnjährige mehr, und Luke würde schon noch merken, dass sie sich seine Unverschämtheiten nicht gefallen lassen würde, ob es ihm nun gefiel oder nicht,

"Das weiß ich", sagte Luke. "Und da steht außerdem, dass Sie alle möglichen hervorragenden Fähigkeiten besitzen, wie man sie sieh nur wünschen kann," Er tippte mit einem Finger verächtlich auf ihren Lebenslauf. "Steno und Schreibmaschine in Englisch und Französisch, und noch dazu außergewöhnlich schnell. .. Auf dem Papier sieht das alles sehr gut aus, aber ich möchte wissen, ob Sie wirklich so gut sind, wie Sie behaupten!"

"Wenn ich es nicht wäre, hatte ich es nicht geschrieben", erwiderte Chris, die inzwischen Mühe hatte, ihren Arger unter Kontrolle zu halten.

"Tatsächlich? Ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass Frauen die Wahrheit ein wenig beschönigen, wenn es ihnen gerade passt! Ich bin sicher, dass Sie Maschineschreiben können, aber ich bin nicht überzeugt, dass Sie in Ihrem Lebenslauf die Zahl der Anschläge pro Minute nicht doch ein wenig erhöht haben - vielleicht nur um zehn oder zwanzig -, um Ihre Fähigkeiten noch mehr herauszustellen. "

"Ich habe nichts dergleichen getan!" entgegnete Chris so nachdrücklich, dass Luke überrascht den Kopf hob. Wut blitzte

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in ihren bernsteinfarbenen Augen, ließ sie erstrahlen und machte ihre sonst so ausgeglichene Miene schlagartig lebendig. Luke runzelte die Augenbrauen und betrachtete Chris finster, doch diese war zu ärgerlich, um es zu bemerken.

"Sie können doch nicht mit jemandem zusammenarbeiten, dem Sie von vornherein misstrauen!" fuhr sie außer sich vor Wut fort. "Wenn Sie soviel Wert auf Geschwindigkeit legen, können Sie mich meinetwegen auf die Probe stellen. Aber, ehrlich gesagt, wenn Sie nicht bereit sind, mein Wort zu akzeptieren, dann kann ich ebenso gut gleich gehen!"

"Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich", sagte Luke gereizt und warf seinen Stift auf den Schreibtisch. "Ich glaube Ihnen, dass Sie so unschuldig sind wie frischgefallener Schnee und all diese hervorragenden Fähigkeiten besitzen, die Sie in Ihrem Lebenslauf angeben, wenn Sie das glücklich macht." Er betrachtete sie nachdenklich. "Aber wenn Sie eine so gute Sekretärin sind - warum sind Sie dann so erpicht auf diese Stelle?"

"Dessen bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher", sagte Chris, immer noch ärgerlich.

"Tatsächlich? Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie diesen Job sehr gern hätten - zumindest so gern, dass Sie nicht aufgestanden und hinausgegangen sind, obwohl ich angeblich doch so schlechte Manieren habe."

Chris betrachtete ihn überrascht. Natürlich hatte sie vorhin so etwas gesagt, aber auf französisch - und das konnte er doch unmöglich verstanden haben. Oder?

Luke beantwortete ihre unausgesprochene Frage mit einem spöttischen Lächeln. "Ich glaube, ich sollte Ihnen sagen, dass ich sehr gut Französisch verstehe, auch wenn ich es nicht besonders gut spreche."

"Oh", sagte sie unbehaglich.

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"Oh - tatsächlich", erwiderte er sarkastisch, und Chris wusste, dass er ihre Verwirrung genoss. Zu allem Überfluss errötete sie auch noch.

"Nun?" drängte er. "Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war", sagte sie

widerstrebend. "Sie können unhöflich sein, soviel Sie wollen, aber ich habe

keine Zeit, mich mit einer Sekretärin herumzuplagen, die beleidigt ist, wenn ich unhöflich bin, oder die mich ständig über meine Manieren belehren will. Ich habe zuviel zu tun, um mich mit solchen Nebensächlichkeiten abzugeben!"

"Es sind keine Nebensächlichkeiten", stieß Chris hervor, ohne weiter nachzudenken. "Wenn Sie wollen, dass Ihre Leute gute Arbeit für Sie leisten, dann müssen Sie sie auch wie menschliche Wesen behandeln."

"Ich habe bereits gesagt, dass ich nicht über meine Manieren belehrt werden möchte!" fuhr Luke sie an, doch Chris ließ sich nicht von ihm einschüchtern.

"Das sagen alle Leute mit schlechten Manieren!" Seine Miene verfinsterte sich gefährlich, und er zog drohend

die Augenbrauen zusammen. "Also, wollen Sie diesen Job nun oder nicht?"

Wollte sie den Job? Chris hatte plötzlich das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füssen weggezogen. Sie fragte sich, ob es überhaupt ratsam wäre, für Luke Hardman zu arbeiten. Wie furchtbar peinlich, wenn er sie irgendwann doch erkannte! Obwohl das nicht zu erwarten war. Wenn er sich jetzt immer noch nicht an sie erinnerte, würde er es wahrscheinlich nie mehr tun. Sie dachte an das Telefongespräch mit Paula Stephens. Die Beschreibung dieser Stelle hatte sehr viel interessanter geklungen als die all der anderen Jobs, die sie bisher in Erwägung gezogen hatte.

Chris betrachtete ihre im Schoß gefalteten Hände. Der Gedanke an das großzügige Gehalt war schon sehr verlockend.

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Luke war zwar unhöflich und unangenehm, doch sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Diese Einsicht kam überraschend. Natürlich würde er sie manchmal zur Weißglut treiben, aber merkwürdigerweise war sie sicher, dass sie mit ihm fertig werden würde.

Erstaunt, aber auch leicht schockiert, wurde sie sich bewusst, dass sie die Aussicht, sich mit ihm zu messen, sogar aufregend fand. Die vernünftige, realistische Chris war bisher immer zufrieden gewesen, wenn sie sich sicher gefühlt hatte und ihr Leben in ruhigen Bahnen abgelaufen war. Sie hatte sich nie nach Aufregung gesehnt. Doch plötzlich schien es ihr ganz natürlich, dass sie Luke gegenüber saß und die Aussicht, für ihn zu arbeiten, ihr ein erregendes Kribbeln verursachte. Erst gestern hatte sie ihn zum ersten Mal nach zehn Jahren wiedergesehen, und heute überlegte sie bereite, ob sie fünf Tage in der Woche mit ihm verbringen sollte.

"Nun?" wiederholte Luke ungeduldig. "Entscheiden Sie sich endlich!"

Chris hob den Kopf. "Ja", sagte sie leise, "ich möchte den Job." "Sie scheinen sich aber nicht sehr sicher zu sein." "Ich bin mir sicher."

"Warum?" fragte er brüsk. "In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie eine gute Stelle bei einem Weinexporteur in Dijon hatten. Warum haben Sie dort gekündigt? Sie scheinen mir nicht gerade ein Mädchen zu sein, das sich ohne schwerwiegenden Grund einen neuen Job sucht, oder irre ich mich da?"

"Nein", erwiderte Chris ruhig. "Meine Nichte besucht ein Internat in England, weil ihre Eltern beruflich einige Zeit in Afrika verbringen müssen. Sie hat sonst niemanden hier, und deshalb habe ich mich bereit erklärt, die Wochenenden mit ihr zu verbringen und mich um sie zu kümmern. Also bin ich nach England gekommen, um mir hier eine Stelle zu suchen."

"Wie anständig von Ihnen", sagte Luke spöttisch. "Es gibt sicher nicht viele Tanten, die ihren Job aufgeben und in ein

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anderes Land ziehen wurden, nur um bei ihrer Nichte zu sein. Oder haben Sie noch einen Grund für Ihren Idealismus?"

Sein sarkastischer Ton trieb Chris das Blut in die Wangen. "Ich wollte ohnehin nach England zurück - aus persönlichen Gründen" fügte sie ärgerlich hinzu, als er fragend eine Augenbraue. Warum sollte sie ihm von dem neuen Ehemann ihrer Mutter erzählen? Ihr Privatleben ging ihn schließlich nichts an.

"Hm", sagte er. "Aus persönlichen Gründen also. Etwa Liebeskummer?"

"Nein." Chris verzichtete auf weitere Erklärungen. "Es schien mir nur eine gute Gelegenheit, nach England zurückzukehren", sagte sie in abschließendem Ton.

Luke klopfte mit seinem Stift auf die Schreibtischplatte. "Wie lange haben Sie in Frankreich gelebt? Ihrem Namen nach zu urteilen sind Sie doch sicher Engländerin?"

Mein Vater ist Engländer, meine Mutter Französin. Ich bin in England aufgewachsen, doch nach dem Tod meines Vaters nahm meine Mutter mich mit nach Frankreich. Ich habe die letzten zehn Jahre dort verbracht."

"Ich verstehe. Und wenn Sie eines Tages Heimweh nach Frankreich bekommen und dorthin zurückkehren wollen?"

"Das wird nicht passieren. England ist meine Heimat. Ich bin hier aufgewachsen, habe Freunde hier und fühle mich nicht einsam. Und auf keinen Fall würde ich meine Nichte Michelle allein lassen."

Luke stieß unvermittelt seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zum Fenster hinüber. "Meine letzte Sekretärin ist im Februar gegangen, und inzwischen habe ich genug von diesen Aushilfen, die in Tränen ausbrechen, sobald ich auch nur einmal etwas lauter werde. Nun, zumindest sehen Sie nicht so aus, als wären Sie auch so schreckhaft."

"Bestimmt nicht", erwiderte Chris kühl.

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"Was hat Paula Ihnen über die Arbeit hier erzählt?" fragte er unvermittelt.

"Sie sagte, es sei mehr die Stelle einer persönlichen Assistentin, dass Sie eine Sekretärin brauchen, aber auch jemanden, der bereit sei, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen, wenn Sie auf Geschäftsreisen seien."

"Das trifft den Nagel auf den Kopf. Auf keinen Fall will ich jemanden, der den ganzen Tag da sitzt und sich die Nägel feilt!"

Unwillkürlich blickte Chris auf ihre Hände hinunter. Sie waren schlank und gepflegt, aber aus praktischen Gründen schnitt sie sich die Nägel kurz und benutzte niemals Nagellack.

"Wissen Sie etwas über die Arbeit bei ,LPM'?" "Die Abkürzung steht für London Projekt Management",

begann Chris vorsichtig. "Soweit ich weiß, betreut die Firma im Auftrag ihrer Kunden größere Bauprojekte."

Luke nickte. Er wandte sich vom Fenster ab, steckte die Hände in die Taschen und begann, mit großen Schritten durch den Raum zu wandern, als habe er zuviel Energie, um noch länger stillzusitzen.

"Unseren Kunden gegenüber kleiden wir es in etwas feinere Worte, aber im Grunde sind wir nicht mehr als ein Mädchen für alles. Bei größeren Bauprojekten ist immer eine Vielzahl von Interessenten beteiligt - Architekten, Berater, Bauunternehmer, Lieferanten und Sublieferanten. Wir fungieren als eine Art Verbindung zwischen allen, im Auftrage unserer Kunden. Das bedeutet, dass wir jederzeit überall auf dem laufenden sein, dass wir uns mit allen auftretenden Schwierigkeiten beschäftigen müssen, damit der Kunde auch bekommt, wofür er bezahlt.

Früher habe ich selbst viel Zeit auf den Baustellen verbracht, aber da sich die Firma in den letzten Jahren sehr vergrößert hat habe ich den größten Teil der technischen Arbeit auf meine Ingenieure übertragen. Ich beschäftige mich jetzt vorwiegend damit, neue Aufträge hereinzuholen, besonders jetzt, da wir dabei sind, in den internationalen Markt vorzustoßen. Gerade

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deshalb brauche ich eine fähige, vertrauenswürdige Assistentin, die hier die Stellung hält, während ich nicht da bin. Ab und zu werden Sie mich allerdings auf Geschäftsreisen begleiten müssen." Luke blieb vor seinem Schreibtisch stehen. "Sind Sie ungebunden, um jederzeit reisen zu können?"

"Ja, außer wenn Michelle mich an den Wochenenden besucht."

"Und sonst ist da keiner, der sich aufregt, wenn Sie oft unterwegs sind? Kein Freund, der beleidigt ist, wenn Sie einmal nicht pünktlich um halb sechs nach Hause kommen?"

"Nein", antwortete Chris. Wie merkwürdig, dachte sie, er kommt mir so vertraut vor

und gleichzeitig so fremd. An diesen forschen, aggressiven Geschäftsmann musste sie sich erst gewöhnen. Doch eine Drehung seines Kopfes, ein Zucken seines Mundes brachte sofort die Erinnerung an den Luke zurück, den sie bisher gekannt hatte, einen ungezähmteren, leichtsinnigeren Luke. Der Mann, der jetzt unruhig in seinem Büro herumging, wirkte härter und entschlossener, ehrgeizig und nicht mehr so aufbrausend wie früher. Seine Verletzlichkeit die sie damals erahnt hatte, war selbstbewusster Tüchtigkeit wichen. Es kümmerte ihn nicht, was andere Leute von ihm hielten - er stand jetzt wieder am Fenster und sah auf die Strasse hinunter.

"Sie machen einen vernünftigen Eindruck", gab er fast widerwillig zu. Und Sie sind die erste Bewerberin, die wirklich perfekt Französisch spricht. Wir haben bisher schon einige Projekte in Australien und den USA betreut, aber ich möchte mich jetzt verstärkt auf den europäischen Markt konzentrieren. Auf dem Kontinent eröffnen sich immer mehr interessante Möglichkeiten, und ich möchte dort der erste sein. Im Moment bemühen wir uns um ein großes Projekt in Frankreich, und da ich Französisch zwar sehr gut verstehe, es aber kaum spreche, benötige ich dringend eine Assistentin, die mich in dieser Hinsicht unterstützt . Außerdem brauche ich jemanden, der

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bereit ist, ebenso hart zu arbeiten wie ich, ohne sich ständig zu beschweren oder auf seine Rechte zu pochen. Ist das klar?"

"Sonnenklar", erwiderte Chris trocken. "Es ist nicht leicht, für mich zu arbeiten", warnte er. "Das habe ich schon gemerkt" , murmelte Chris. "Als Gegenleistung biete ich Ihnen ein überdurchschnittliches

Gehalt", fuhr Luke fort, ohne auf ihren Sarkasmus einzugehen. "Und ich erwarte, dass Sie dementsprechend arbeiten. Ich möchte nicht, dass Sie sich irgendwann beschweren, nicht gewusst zu haben, worauf Sie sich eingelassen haben."

"Ich habe die Stelle also?" Chris richtete sich auf und bemühte sich, ein Gefühl der Panik zu unterdrücken.

"Probeweise, für einen Monat", sagte er schnell. "Ich möchte mich erst vergewissern, dass Sie wirklich all diese außergewöhnlichen Fähigkeiten haben, bevor ich Ihnen jeden Monat soviel Geld zahle."

"Sehr schön." Luke zog eine Augenbraue hoch. "Ist das alles, was Sie dazu

zu sagen haben? Sehr schön? Sie könnten schon ein wenig mehr Begeisterung an den Tag legen! "

"Sie klingen ja auch nicht gerade begeistert über Ihre neue Assistentin", erwiderte Chris. Die widerwillige Art, mit der er ihr das Angebot gemacht hatte, ärgerte sie.

Über den Schreibtisch trafen sich ihre Blicke. Chris' Wangen waren leicht gerötet, ihre bernsteinfarbenen Augen wirkten dunkel vor Feindseligkeit. Luke blickte sie finster an. Es war offensichtlich, dass er Widerspruch nicht gewohnt war. Dann, ganz plötzlich, verschwand der zornige Ausdruck von seinem Gesicht.

Langsam ging er um den Schreibtisch auf Chris zu, die hoch aufgerichtet auf ihrem unbequemen Stuhl saß. Sie musste unwillkürlich daran denken, dass sein Gang schon immer etwas Bedächtiges, Vorsichtiges an sich gehabt hatte. Und wieder wurde sie von Erinnerungen überwältigt, die sich wie ein Film

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vor ihren inneren Augen abspulten: Luke, der die verlassene Dorfstrasse hinunterging, Luke, der Helen vom Pferd herunterhalf, Luke, der seine Hand an Helens nackten Arm hinuntergleiten ließ und mit seiner Geste Chris ein Kribbeln über den Rücken jagte.

Jetzt stand er vor ihr und sah ihr forschend ins Gesicht. Chris hatte keine andere Wahl, als seinen Blick so kühl zu erwidern, wie es ihr möglich war. Aus der Nähe gesehen, wirkte er noch größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, schlanker und muskulöser. Die Falten um seine Augen waren früher nicht dagewesen. Obwohl er jetzt erfolgreich war - die letzten Jahre waren für ihn offensichtlich nicht einfach gewesen.

"Stehen Sie auf", befahl er unvermittelt. Als Chris missbilligend die Augenbrauen hochzog, stieß er

hervor: "Bitte!" Sie stand auf. Luke stieß den Stuhl beiseite und ging langsam um sie

herum. Er betrachtete sie so prüfend, dass Chris vor Wut zu zittern begann.

"In Ordnung", sagte er schließlich. "Sie haben schöne Beine und eine gute Figur. Allerdings könnten Sie etwas mehr aus sich machen."

"Wenn ich gewusst hätte, dass ich an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen soll, hätte ich mich nicht beworben!" Chris' Augen sprühten vor Ärger, und Lukes Miene verfinsterte sich.

Er stellte sich vor Chris hin und legte ihr eine Hand unters Kinn, so dass sie ihm direkt in die Augen sehen musste.

"Ich wusste doch, dass ich Sie von irgendwoher kenne", sagte er.

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3. KAPITEL Chris erstarrte. Hilflos blickte sie zu Luke auf. Luke löste behutsam die Spange, die ihr Haar zusammenhielt,

so dass die dichten, glänzenden Locken ihr ins Gesicht und auf die Schultern fielen. Sie fühlte seine Hände, die ihre Wangen streiften, als er in ihr Haar griff und es zwischen den Fingern hindurchgleiten ließ. Und ihr wurde bewusst, wie nah sein schlanker, muskulöser Körper plötzlich war.

Verwirrt senkte sie den Blick und betrachtete Lukes Krawatte, die sich direkt vor ihrem Gesicht befand. Dunkelblaue Seide mit kleinen goldenen Streifen. Warum sagte er nicht endlich irgend etwas? Wieviel würde er noch von dem schüchternen, linkischen Mädchen wissen, dass sie einmal gewesen war? Wurde er sich erinnern, dass er sie geküsst hatte? Und daran, dass sie seinen Kuss so begierig erwidert hatte? Bestimmt hatte er damals sofort gemerkt, dass es für sie der erste Kuss gewesen war.

"Sie waren gestern Abend im Theater." "Im Theater?" wiederholte Chris töricht. Sie war so damit

beschäftigt gewesen, über die Vergangenheit nachzudenken, dass sie den gestrigen Abend völlig vergessen hatte. Und dabei hatte doch erst diese Begegnung all die Erinnerungen ausgelöst.

"Tun Sie nicht so, als würden Sie nicht wissen, wovon ich spreche! Sie haben mich in der Theaterbar die ganze Zeit beobachtet. Als Sie vorhin hereinkamen, hatte ich gleich das

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Gefühl, Ihnen schon einmal begegnet zu sein. Aber erst eben, als Sie mich auf diese merkwürdige Art ansahen, fiel es mir wieder ein. Nun sagen Sie schon: Was habe ich getan, dass ich solche Missbilligung verdiene?"

Chris stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Luke erinnerte sich nicht an damals! Plötzlich erschien es ihr völlig lächerlich, dass sie so etwas auch nur in Erwägung gezogen hatte. Sie trat einen Schritt zurück, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und fühlte die Schreibtischkante an ihren Oberschenkeln.

Die Fülle ihres Haars, die ihr frei ins Gesicht fiel, verunsicherte sie. Hastig strich sie sich die Locken hinter die Ohren zurück.

"Ich muss etwas getan haben, das Sie beleidigt hat", beharrte Luke. "Warum hätten Sie mir gestern sonst einen so wütenden Blick zugeworfen? Das passt überhaupt nicht zu Ihrem spröden Verhalten. Auch die anderen Leute haben Sie nicht so angesehen, nur mich. Für Ihre Freundin zum Beispiel hatten Sie ein sehr nettes Lächeln übrig."

Seine Stimme hatte einen harten Unterton angenommen, und Chris schluckte. "Sie haben mich nicht beleidigt."

"Und warum dann dieser vernichtende Blick?" "Ich ..." Chris suchte verzweifelt nach einer Ausrede, die ihn

zufrieden stellen würde. "Ich - ich hielt Sie für jemanden, den ich kenne", sagte sie schließlich. Und das war noch nicht einmal gelogen.

"Haben Sie mich deshalb die ganze Zeit im Spiegel beobachtet?"

Er hatte es also bemerkt. Das sah ihm ähnlich! Chris errötete leicht. "Ich habe herauszufinden versucht, ob ich Sie kenne oder nicht."

"Dieser unglückliche Mann, der wie ich aussieht, muss wirklich einiges verbrochen haben, um einen solchen Blick zu verdienen!"

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"Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht", erwiderte Chris bestimmt.

Zu ihrer Erleichterung - und zu ihrer Überraschung - wandte er sich ab. "Ich nehme an, deshalb waren Sie vorhin so überrascht, als Sie mich sahen?"

Entging ihm denn nichts? "Nein. Es schien mir einfach ein bemerkenswerter Zufall, Sie wiederzusehen."

Luke warf ihr aus seinen harten blaugrauen Augen einen durchdringenden Blick zu. "Ich glaube nicht an Zufälle", sagte er.

"Du arbeitest für ihn?" Serena hob ungläubig die Stimme. "Für denselben Luke Hardman, von dem du mir gestern Abend erzählt hast? Aber ich dachte, du kannst ihn nicht ausstehen!"

"Man muss seinen Chef nicht unbedingt mögen, oder?" "Es erleichtert die Sache aber ungemein!" "Nun, ich denke, ich werde mich an ihn gewöhnen." Chris

war nach Hause geeilt und hatte Serena angerufen, um ihr die Neuigkeit zu berichten. "Die Stelle ist zu interessant. Ich konnte sie einfach nicht ablehnen, Serena."

"Weiß dieser Luke denn, wer du bist? Oder genauer gesagt: Weiß er, dass du weißt, wer er ist?".

Er hat mich vom Theater her wiedererkannt, aber nicht von Chittingdene."

Wie merkwürdig, dass dein Name nicht irgendwelche Erinnerungen in ihm wachgerufen hat", sagte Serena.

Das ist nicht weiter erstaunlich. Früher kannte er mich nur unter dem Namen Christine Haddington-Finch, und beworben habe ich mich als Chris Finch. Als wir nach Frankreich gingen, habe ich das Haddington weggelassen - die Aussprache war den Franzosen einfach nicht zuzumuten! Und Finch ist kein so ungewöhnlicher Name. Es gibt keinen Grund, weshalb er irgendwelche Verbindungen zu Chittingdene ziehen sollte." "Na, hoffentlich nicht!"

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Chris schnitt ein Gesicht. "Ich bin sicher, er wird es nicht tun. Aber freust du dich denn gar nicht, dass ich die Stelle bekommen

habe?" "Doch, sogar sehr, Chris. Ich hoffe nur, du bereust nicht

irgendwann, dass du dich mit Luke Hardman eingelassen hast." Serenas Worte verfolgten Chris wie ein unheilvoller

Schatten, als sie am folgenden Montag den Fahrstuhl zum vierten Stock nahm. Sie hoffte verzweifelt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. In der Nacht hatte sie sich in ihrem Bett unruhig hin und her geworfen. Die Erinnerungen an Luke hielt sie wach, und sie hatte das Gefühl, dass sie das Schicksal herausforderte, wenn sie sich noch einmal auf Luke Hardman einließ - und sei es auch nur auf rein geschäftlicher Basis.

Doch im hellen Morgenlicht schienen ihre Zweifel lächerlich und unbegründet. Luke würde sich nicht an sie erinnern. Es wäre töricht, sich von einem unbedeutenden Zwischenfall in der Vergangenheit abhalten zu lassen, einen interessanten und gutbezahlten Job anzunehmen. Außerdem dachte sie an Michelle, die am Wochenende bei ihr gewesen war. Ihre Nichte hatte immer noch Heimweh nach Frankreich und sehnte sich nach ihren Eltern. Sie war so dankbar gewesen, eine vertraute Person um sich zu haben, und das hatte Chris in dem Entschluss, in England zu bleiben, nur bestärkt.

An diesem Morgen machte sie sich sehr sorgfältig zurecht und wählte nach langem Überlegen ein einfach geschnittenes Kostüm, das ihr ein geschäftsmäßiges Aussehen verlieh und ihr Selbstvertrauen stärkte. Chris hatte das Gefühl, Selbstbewusstsein würde sie heute noch brauchen.

Luke sah kaum auf, als sie sein Büro betrat und ihm einen guten Morgen wünschte. Er hatte den Kopf über einen Bericht gebeugt, und der Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch ließ vermuten, dass er schon einige Zeit in der Firma war. Sein

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Sakko lag, achtlos hingeworfen, auf einem Stuhl. Er hatte die Krawatte gelockert und die Ärmel seines Hemdes hochgeschoben, so dass die feinen dunklen Härchen auf seinen Armen sichtbar waren.

"Morgen", erwiderte er kurz angebunden. "Gut, dass Sie pünktlich kommen. Es gibt heute morgen nämlich eine Menge zu tun." Er blätterte eine Seite des Berichts um und griff nach einem Bleistift, um sich etwas zu notieren. "Also, sind Sie bereit? Ich habe einige Briefe zu diktieren."

Chris war an ihrem ersten Morgen extra eine halbe Stunde vor der üblichen Arbeitszeit im Büro erschienen. Jetzt wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Wenn sie ihm nicht sofort die Meinung sagte, würde er es für selbstverständlich halten, dass sie jeden Morgen so früh anfing.

"Ich möchte mir erst einen Kaffee machen und mich ein wenig umsehen", sagte sie entschlossen. "Bisher hatte ich nicht einmal die Zeit, einen Notizblock zu finden!"

"Na gut, aber beeilen Sie sich!" Chris unterdrückte ein Seufzen. Es war nutzlos, von Luke

Höflichkeit zu erwarten, und sie konnte nicht einmal behaupten, er habe sie nicht gewarnt. "Möchten Sie auch einen Kaffee?" fragte sie.

Luke stieß einen unverständlichen Laut aus. Chris warf einen Blick auf seinen gebeugten Kopf, bevor sie sich in ihr eigenes Büro zurückzog.

Etwas später kehrte sie zurück, einen Stenoblock in der einen Hand und einen Bleistift und eine Tasse Kaffee in der anderen. Sie stellte alles vor sich auf die eine Seite der Schreibtischplatte, setzte sich und wartete schweigend, dass Luke ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm.

Schließlich sah er auf. "Kriege ich keinen Kaffee?" "Sie haben nicht gesagt, dass Sie einen wollen." "Natürlich habe ich das!"

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"Nein", berichtigte sie ihn geduldig. "Sie haben etwas vor sich hingemurmelt. Und ich fürchte, darauf reagiere ich nicht."

Luke stieß gereizt einen Seufzer aus. "Nun sagen Sie nicht, ich muss jedes Mal vor Ihnen auf die Knie fallen, wenn ich etwas von Ihnen möchte!"

"Ein einfaches ,bitte' würde schon reichen." Luke verzog gequält das Gesicht und betrachtete sie finster. Schließlich stand er auf und ging mit langen Schritten auf die

Tür Dann muss ich mir meinen Kaffee wohl selbst holen!" sagte er, als Chris immer noch keine Anstalten machte, aufzuspringen, sondern ihn nur abwartend ansah.

Seine bisherigen Sekretärinnen hatten es ihm anscheinend durchgehen lassen, dass er den Tyrannen spielte, doch Chris hatte nicht die Absicht, sich damit abzufinden. Es würde Luke Hardman nur gut tun, wenn er zur Abwechslung einmal auf eine feste Opposition traf!

Luke kehrte mit einer Tasse Kaffee zurück, die er mit lautem Knall auf der Schreibtischplatte abstellte. "Könnten wir jetzt vielleicht anfangen?" erkundigte er sich und fügte sarkastisch hinzu: "Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht."

"Ich bin bereit", erwiderte Chris liebenswürdig. Luke warf ihr einen wütenden Blick zu und begann, im Raum

auf und ab zugehen, die Hände in den Taschen vergraben, während er sehr schnell diktierte. Seine Ideen waren kompliziert, aber in sich klar und wohl durchdacht. Nur gelegentlich hielt er inne, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

Chris' Stift wirbelte über das Papier. Grimmig entschlossen versuchte sie, mit Lukes Geschwindigkeit Schritt zu halten. Als er eine kurze Pause machte und nach seiner Tasse griff, nahm sie die Gelegenheit wahr, ihn zu unterbrechen. "Könnten Sie vielleicht etwas langsamer diktieren?"

Luke runzelte die Stirn, weil sie ihn in seinen Überlegungen gestört hatte. "Ich dachte, Sie können Steno?"

"Natürlich, aber nicht in Lichtgeschwindigkeit!"

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Er seufzte und nahm das Diktat wieder auf, dieses Mal etwas langsamer.

Chris kam jetzt besser mit. Doch im Laufe der Zeit fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder ließ sie sich ablenken durch die Art, wie Luke die Schultern hob, durch das Spiel der Muskeln, die sich unter seinem Hemd abzeichneten, von der unterdrückten Spannung in seinen Bewegungen.

Während er diktierte, stand er die meiste Zeit am Fenster und blickte auf die Strasse hinunter. Chris sah auf. Ihr Stift flog wie von selbst über das Papier, und sie betrachtete Lukes breiten Rücken. Ein Hauch von rücksichtsloser Energie umgab ihn, beherrschte, mühsam gezügelte Tatkraft. Wenn es irgend etwas Verletzliches an ihm gab, dann verstand er, es sehr gut zu verbergen, dessen war sie sich sicher. Ob seine harten Gesichtszüge sich jemals entspannten, ob er lächeln konnte? Sie fragte sich, wie er wohl die Frau anblickte, die er liebte.

"Würden Sie mir bitte den letzten Satz wiederholen?" Chris fuhr zusammen. "Wie bitte?"

Luke missverstand ihr Zögern. "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den letzten Satz noch einmal vorlesen würden, falls es Ihnen nicht allzu große Mühe macht", wiederholte er sarkastisch.

Chris hatte seine Worte so automatisch geschrieben, dass sie kaum bemerkt hatte, was er eigentlich sagte. Jetzt tanzten die Stenokürzel vor ihren Augen, während sie einen Sinn in das zu bringen versuchte, was sie als letztes notiert hatte.

"Hm ... ,Die Vertragspartner haben größtes Interesse daran, dass die Herstellerfirmen lieben .. ."Chris schwieg verwirrt. Das Kürzel war ganz unmissverständlich. Sie musste das Wort "lieben" geschrieben haben, ohne nachzudenken.

Luke drehte sich um und betrachtete sie gereizt. "Dass die Herstellerfirmen - was? Können Sie sich denn nicht länger als fünf Minuten am Stück konzentrieren? Wenn ich noch langsamer diktiere, schlafe ich ein!"

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"Es ist nicht so leicht, Ihnen zu folgen, wenn Sie die ganze Zeit herumwandern oder etwas vor sich hinmurmeln", entgegnete Chris und versuchte, ihr Schuldbewusstsein durch einen vorwurfsvollen Ton zu überspielen. "Es wäre sehr viel angenehmer, wenn Sie sich hinsetzen und etwas deutlicher sprechen würden."

"Wer ist hier eigentlich der Boss?" erkundigte Luke sich verdrießlich, doch dann nahm er tatsächlich hinter seinem Schreibtisch Platz. "Nun, ist es so besser?"

Chris zog es vor, die Ironie in seinen Worten zu überhören. "Sehr viel besser, danke", sagte sie, obwohl es nicht stimmte. Auf diese Weise war er ihr viel näher, und die Tatsache, dass er ihr direkt gegenübersaß, lenkte sie noch mehr ab. Verzweifelt versuchte sie, sich auf ihren Stenoblock zu konzentrieren, und bemühte sich, nicht auf seinen zusammengekniffenen Mund zu achten, oder auf seine schlanken Finger, die ungeduldig mit einem Bleistift spielten.

Zwanzig Minuten später war Chris endlich entlassen, nachdem Luke drei weitere Briefe und einige sehr deutliche Aktennotizen für seine Mitarbeiter diktiert hatte. Die Aktennotizen würden im Haus sicher aufgeregte Telefongespräche zur Folge haben, dessen war Chris sich sicher, während sie ihre Aufzeichnungen einsammelte und erleichtert in ihr Büro zurückkehrte.

Da sie von Natur aus gut organisieren konnte, bereitete ihr die Bewältigung des Bergs von Arbeit, mit dem Luke sie an diesem ersten Morgen konfrontierte, keinerlei Sorge. Ohne großes Aufhebens fand sie sich in ihre neue Umgebung ein, machte sich mit dem Computer vertraut und begann, sich durch den Haufen von Briefen zu arbeiten. Sie unterbrach ihre Arbeit nur, um einige Anrufe für Luke entgegenzunehmen. Der hatte sich in sein Büro zurückgezogen und sie informiert, dass er keinesfalls vor Mittag gestört werden wollte.

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Chris versuchte gerade, einige besonders undeutliche Stenokürzel zu entziffern und reagierte deshalb nicht sofort, als die Tür zu ihrem Büro geöffnet wurde. Wahrscheinlich eine der anderen Sekretärinnen mit noch mehr Post, dachte sie und wollte gerade, freundlich lächelnd aufsehen, als ihr der Duft eines exotischen Parfüms in die Nase stieg. Überrascht hob sie den Kopf, um zu sehen, wer da geradewegs auf die Tür zu Lukes Büro zuging.

Es war Helen. Schlagartig wurde Chris bewusst, dass sie über ihren Gedanken an Luke und ihr Wiedersehen gestern Abend Helen völlig vergessen hatte.

Vor allem hatte sie vergessen, wie strahlend schön Helen war. Zu einem sehr kurzen Minirock aus schwarzem Leder trug sie ein enges Oberteil und eine schwarze Lederjacke, die ihr über eine Schulter heruntergerutscht war. Eine äußerst lässige Aufmachung, die sorgfältig vorbereitet zu sein schien und zusammen mit Helens offenem blonden Haar einen verblüffenden Eindruck vermittelte.

Chris kam ihr Kostüm dagegen plötzlich altbacken und langweilig vor. Während sie Helen betrachtete, wurde ihr mit einem Anflug von Bitterkeit klar, dass sie niemals, was immer sie auch trug, so sexy aussehen würde. An ihr würde solche Kleidung eher lächerlich wirken. Noch schlimmer, sie würde sich darin unbehaglich fühlen.

Wenn sie auch nur einen Gedanken an Helen verschwendet hätte, wäre ihr klar gewesen, dass sie irgendwann im Büro auftauchen würde. Wie dumm, dass sie nicht daran gedacht hatte! Helen war damals öfter mit ihr zusammengewesen als Luke, und es wäre immerhin möglich, dass sie sich an die Freundin ihrer kleinen Schwester erinnerte. Wenn sie Chris erkannte, würde das alles verderben.

Chris räusperte sich. Obwohl sie um nichts in der Welt Helens Aufmerksamkeit erregen wollte, konnte sie sie doch nicht einfach zu Luke hineingehen lassen - nachdem er ihr,

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Chris, mehrmals eingeschärft hatte, er wolle von niemandem gestört werden.

Doch ihre Sorge, erkannt zu werden, erwies sich als völlig unbegründet. Helen machte sich prinzipiell nicht die Mühe, ihre Aufmerksamkeit an andere Frauen zu verschwenden, besonders nicht an solche, die langweilig und nichtssagend wirkten und deshalb keine Bedrohung für sie darstellten. Betont gleichgültig drehte sie sich um und bedachte Chris mit einem unverschämten, arroganten Blick aus ihren schrägen grünen Augen.

Chris wusste genau, wie sie auf Helen wirken musste: eine tüchtige aber langweilige Sekretärin in einem langweiligen Kostüm, das langweilige braune Haar streng aus dem Gesicht gekämmt, das so gut wie nicht geschminkt war. Einen größeren Kontrast zwischen zwei Frauen konnte es kaum geben.

"Es tut mir leid, aber Mr. Hardman möchte jetzt nicht gestört werden", sagte Chris schließlich. In diesem Moment hasste sie ihre Rolle als kühle, beherrschte Sekretärin.

Helen lachte selbstbewusst und schüttelte sich die blonde Mähne aus dem Gesicht. "Er hat bestimmt nichts dagegen, von mir gestört zu werden", sagte sie, legte ihre Hand auf die Klinke und öffnete die Tür. "Oder, Liebling?" fragte sie, in Lukes Büro gewandt, und lehnte sich in herausfordernder Pose gegen den Türrahmen. "Dein Hausdrachen hat es zwar nicht gern, Luke, aber du kannst doch sicher fünf Minuten für mich erübrigen, nicht wahr?"

Lukes Antwort war nicht zu verstehen, doch Helen stieß ein heiseres Lachen aus und schloss triumphierend die Tür hinter sich.

Chris blickte starr auf die geschlossene Tür, während eine Vielzahl von Gefühlen in ihr tobte: Abneigung, Eifersucht, Widerwillen. Es war noch nicht so lange her, da hatte sie Lukes Härte und Unverletzlichkeit bewundert. Und dabei brauchte es nur ein Paar lange Beine und provokative Pose, und schon stellte

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sich heraus, dass er ebenso einfältig war wie alle anderen Männer!

Ärgerlich setzte sie sich wieder vor den Computer und begann zu tippen. Es ging sie ohnehin nichts an. Wenn Luke dumm genug war, sich wieder mit einem Mädchen einzulassen, das ihn schon einmal zum Narren gehalten hatte, war das schließlich seine Sache.

Doch insgeheim wünschte sie, es wäre nicht so. Sie konnte sich daran gewöhnen, dass er unhöflich war oder aggressiv oder sogar unverschämt, aber sie hatte etwas dagegen, dass er sich lächerlich machte.

Nachdem sie in dem Brief, den sie gerade tippte, vier Fehler gemacht hatte, gab Chris es auf. Um sich abzulenken, kochte sie sich noch einen Kaffee. Dann riss sie entschlossen das Papier aus dem Drucker und begann den Brief von vorn. Sie würde sich nicht in Lukes Angelegenheiten einmischen.

Sie würde ihn nicht abhalten, wenn er sich unbedingt lächerlich machen wollte.

Sie war die vernünftige, praktische, tüchtige Chris. Wenn sie es sich oft genug sagte, würde sie es am Ende vielleicht sogar selbst glauben.

Als die Tür schließlich wieder geöffnet wurde, saß Chris vor dem Computer und tippte, ganz diskrete, tüchtige Sekretärin.

Ohne Chris zu beachten, begleitete Luke Helen zur Tür. "Wir sehen uns dann später", sagte er und strich ihr über das glänzende silberblonde Haar.

"Ich warte auf dich." Helen hob ihm ihr Gesicht entgegen, und er küsste sie auf die Lippen und gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil, als sie widerwillig das Büro verließ.

Dann drehte er sich um. Chris' Gesicht glich einer Maske, während sie nach einer Mappe auf ihrem Schreibtisch griff.

"Die Briefe. Sie müssen sie noch unterschreiben," Zum erstenmal sah Luke erstaunt aus. "Sie haben all diese

Briefe schon geschrieben?"

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"Natürlich. " Chris sah ihn liebenswürdig an. "Sie haben doch gesagt, dass sie sehr dringend seien, und ich wusste ja, wie beschäftigt Sie heute morgen sein würden."

Luke kniff die Augen leicht zusammen, als er die Mappe entgegennahm. Offensichtlich war ihm ihre Anspielung auf die Tatsache, dass er einige Zeit mit Helen verbracht hatte, nicht entgangen. Doch er sagte nichts.

"Der Bericht muss heute noch raus", sagte er kurz angebunden. "Ich möchte nicht gestört werden."

"Von niemandem?" erkundigte Chris sich unschuldig. "Von niemandem!" fuhr er sie an. Mit langen Schritten ging

er in sein Büro zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Etwas später wurde sie wieder geöffnet.

"Chris?" "Ja?" "Bringen Sie mir eine Tasse Kaffee." Er wollte die Tür schon

wieder schließen, da drehte er sich plötzlich noch einmal um. "Bitte."

Chris hatte sich schnell an die tägliche Arbeitsroutine gewöhnt. Jeden Morgen erschien sie pünktlich um neun Uhr im Büro, doch Luke war jedes Mal schon vor ihr da. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt jemals nach Hause ging.

Luke hatte sie gewarnt, dass es schwierig sei, für ihn zu arbeiten, und Chris musste ihm recht geben. Er überhäufte sie mit Arbeiten, für die er unmögliche Termine setzte, und schien zu erwarten, dass sie sich vom ersten Tag an perfekt in Organisation, Struktur und Aufgaben der Firma auskannte. Mehr als einmal fuhr er Chris heftig an, weil sie nicht in der Lage war, seine Wünsche zu erahnen. Es kam selten vor, dass sie pünktlich nach Hause gehen konnte, und sie lernte schnell, keine Anerkennung von Luke zu erwarten.

Dennoch war Chris zufrieden. Obwohl sie Lukes Benehmen missbilligte, musste sie seinen unzweifelhaften Fähigkeiten widerwillig Bewunderung zollen. Er arbeitete von früh bis spät

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und begriff selbst die schwierigsten technischen Details erstaunlich schnell. Seine Intelligenz, seine Gerissenheit und sein rücksichtsloser Ehrgeiz machten ihn zu einem der erfolgreichsten Männer auf seinem Gebiet und sicherten ihm zwar nicht die Zuneigung seiner Angestellten, aber zumindest ihren Respekt.

Chris bewältigte ihre Arbeit mit solcher Ruhe. Umsicht und Schnelligkeit, dass Luke ihr mit der Zeit einen widerwilligen Respekt nicht versagen konnte. Sie wurde niemals laut, beschwerte sich nie und belästigte ihn auch nicht mit unnötigen Fragen. Wenn sie manchmal in Streit gerieten, dann nur, weil sie unnachgiebig auf Höflichkeit bestand. Luke murrte darüber, dass er die ganze Zeit danke und bitte sagen sollte, aber am Ende gab er doch nach.

"Anscheinend missfällt es dir doch nicht so sehr, wie du vorgegeben hast", sagte Serena. Sie und Chris saßen in einem gemütlichen Bistro, tranken Wein und knabberten Erdnüsse.

"N-nein." Chris zögerte. "Er bemüht sich zwar nicht besonders, meine Zuneigung zu gewinnen, aber wir kommen ganz gut miteinander aus - wenn er mich nicht gerade anschreit und ich ihm nicht seine grässlichen Manieren vorwerfe."

"Sei lieber vorsichtig, sonst erkennt er dich am Ende doch noch!"

Chris schüttelte den Kopf. "Ich bin nur seine Sekretärin", sagte sie, ein unbewusstes, sehnsüchtiges Lächeln auf den Lippen. "Im Büro denkt Luke nur ans Geschäft. Solange ich die Arbeit termingerecht bewältige, würde er nicht einmal merken, wenn ich auf seinem Schreibtisch einen Schleiertanz aufführte - wahrscheinlich würde er sich nur beschweren, dass ich seine Papiere durcheinanderbringe!"

"Er scheint ja ein furchtbarer Mensch zu sein", sagte Serena offen, während sie sich die letzte Erdnuss sicherte. "Ich verstehe nicht, dass du dich damit abfinden kannst."

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So schlimm ist er nun auch wieder nicht." Unbewusst fühlte Chris sich verpflichtet, Luke zu verteidigen. "Er erzählt mir viel über seine Arbeit und ermuntert mich, meine eigene Meinung dazu zusagen."

Wie großzügig von ihm! "Das ist mehr, als er anderen Leuten zubilligt. Er ist eben ein

Einzelgänger, jetzt noch mehr als früher. Er hält die Menschen auf Distanz. Gestern habe ich ihn durch irgendeine Bemerkung zum Lachen gebracht, und ich fühlte mich, als hätte ich gerade den Mount Everest bezwungen!" "Wieso, was hat er denn getan?"

"Nichts. Er hat einfach gelacht. Es kommt zwar vor, dass er lächelt, aber meistens spöttisch oder verächtlich. Doch dieses Mal hat er wirklich gelacht..." Chris schwieg. Sie konnte Serena einfach nicht erklären, wie ungewöhnlich dieser Anblick gewesen war: Luke, der den Kopf zurückwarf und aus vollem Herzen lachte. Chris hatte nur eine trockene Bemerkung über die Schlagzeile in einer Zeitung gemacht, und plötzlich stand ein völlig Fremder vor ihr -sein Gesicht leuchtete vor Vergnügen. Im ersten Moment konnte sie es kaum glauben, und dann durchströmte sie eine tiefe, triumphierende Wärme: Sie hatte ihn zum Lachen gebracht! Es war ihr ungewollt gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.

"Er sieht viel netter aus, wenn er lacht", fügte sie nicht sehr überzeugend hinzu.

"Chris!" Serena stellte ihr Weinglas mit einem Ruck auf dem Tisch ab und betrachtete ihre Freundin in düsterer Vorahnung. "Du willst doch nicht etwa - du bist doch nicht etwa dabei, dich von Luke einwickeln zu lassen?"

Von Luke einwickeln lassen? Chris schüttelte den Kopf, um die leise Erinnerung an vergangene Zeiten zu vertreiben.

"Natürlich nicht", erwiderte sie schroff. Um Serenas forschendem Blick zu entgehen, griff sie nach dem Glas und trank einen Schluck Wein. "Dafür solltest du mich gut genug

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kennen, Serena. Ich gebe zu, dass ich Luke mehr mag, als ich es am Anfang für möglich hielt, aber ich denke, dass ich zu vernünftig bin, um auf ihn reinzufallen. Warum sollte ich mich freiwillig Schwierigkeiten aussetzen, wenn ich es vermeiden kann?"

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4. KAPITEL Als Chris am darauffolgenden Montag in die Firma kam,

fand sie Luke in ihrem Büro vor. Er saß auf der Ecke ihres Schreibtischs und blätterte im Terminkalender.

"Guten Morgen", sagte sie und hängte ihren Mantel auf den Bügel. Das ganze Wochenende über war ihr Serenas lächerliche Bemerkung nicht aus dem Kopf gegangen, und das verstimmte sie. Inzwischen kannte sie Luke gut genug, um sich keine Illusionen mehr über ihn zu machen. Es bestand absolut keine Gefahr, dass sie sich von ihm einwickeln ließ, wie Serena es genannt hatte. Dieser Gedanke war doch völlig absurd! So absurd, dass sie deshalb kaum hatte schlafen können. Nach zwei unruhigen Nächten fühlte sie sich nun gereizt und wie zerschlagen.

Als Erwiderung auf ihren Gruß stieß Luke nur einen unverständlichen Laut aus, während er den Terminkalender auf ihrem Schreibtisch mit seinem eigenen, ledergebundenen verglich, den er ständig bei sich trug.

"Ich sagte ,guten Morgen'!" wiederholte Chris lauter, und er blickte, ungeduldig seufzend, auf.

"Also schön - guten Morgen, Chris." Er warf ihr einen ironischen Blick zu. "Reicht das, oder erwarten Sie noch mehr von mir?"

"Sie können mich zum Beispiel fragen, ob ich ein schönes Wochenende verbracht habe ", schlug Chris vor, fest

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entschlossen, sich nicht von seinem Sarkasmus einschüchtern zu lassen. "Und, haben Sie ein schönes Wochenende verbracht?" "Ja, vielen Dank. Und Sie?"

"Nicht besonders", entgegnete er missgelaunt. "Und da wir nun der Höflichkeit Genüge getan haben, kann ich ja endlich zur Sache kommen. Wir fliegen morgen nach Paris." Er schob ihr den Terminkalender zu. "Nur bis übermorgen. Setzen Sie sich mit einem Reisebüro in Verbindung, und buchen Sie ein Hotel und zwei Flüge erster Klasse."

Sie sagten ,wir' - schließt das mich mit ein?" erkundigte Chris sich vorsichtig.

"Da im Moment nur wir beide im Zimmer sind, hielt ich es für offensichtlich. Warum, gibt es Probleme?" "Es ist ziemlich kurzfristig."

"Ach ja?" "Immerhin könnte ich mir etwas vorgenommen haben",

erwiderte sie betont, während sie in der Handtasche nach ihrem eigenen Terminkalender kramte.

Dann werden Sie wohl oder übel absagen müssen", entgegnete Luke unhöflich. "Es geht hie r um Wichtigeres. Ach übrigens: Nehmen Sie für heute Nachmittag keine Termine an." Werden Sie geschäftlich unterwegs sein?"

"Wir beide werden geschäftlich unterwegs sein", berichtigte er sie. "Ich habe Sie bei einem guten Friseur angemeldet."

Chris war dabei, sich in ihrem Terminkalender etwas zu notieren, doch jetzt hob sie ruckartig den Kopf. "Ich sehe keinen Grund, warum ich zum Friseur gehen sollte!"

"Aber ich. Es ist sehr wichtig, unseren Kunden einen guten Eindruck von LPM zu vermitteln, und ich möchte nicht, dass Sie so in Paris auftauchen."

"So - wie?" erkundigte Chris sich trügerisch sanft, während ihre Augen gefährlich zu funkeln begannen.

Luke hob ungeduldig die Schultern. "Sie wirken immer so verdammt spröde und unnahbar, Sie haben Ihr Haar immer

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streng nach hinten gekämmt und tragen ständig diese förmlichen Kostüme. Man könnte fast denken, Sie seien meine Gouvernante, nicht meine Sekretärin!"

"Ich nehme an, ich sollte mich jetzt geschmeichelt fühlen, weil Sie überhaupt bemerken, wie ich aussehe", fuhr Chris ihn erbost an. Seine Worte hatten sie ziemlich verletzt. "Dabei habe ich immer gedacht, solange ich nur Ihre Briefe anständig tippe und Ihre Anrufe beantworte, könnte ich sogar in Lumpen im Büro erscheinen, und es wäre Ihnen egal!"

"Nun werden Sie doch nicht gleich hysterisch", sagte Luke. Er stand auf und steckte seinen Terrainkalender wieder in die Innentasche seines Jacketts zurück.

Seine gleichgültige, desinteressierte Haltung brachte Chris nur noch mehr in Rage. "Ich bin nicht hysterisch", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Das ist immer das erste, Männern einfällt, wenn eine Frau ihnen zu widersprechen wagt! Typisch!"

"Wenn ich einer von diesen Männern wäre, dann müsste ich Sie ja ständig beschuldigen, hysterisch zu sein", erwiderte Luke gelassen. "Überhaupt, worüber regen Sie sich eigentlich so auf? Ich habe nur eine einfache Bemerkung über Ihre Erscheinung gemacht."

"0 ja, nur eine einfache Bemerkung, nicht wahr? Es ist Ihnen wohl nicht zu Bewusstsein gekommen, dass ich es vielleicht nicht mag, wenn Sie mich als spröde und unnahbar bezeichnen oder durchblicken lassen, ich sehe wie eine Gouvernante aus! Nun, das wäre von Ihnen auch wirklich zuviel verlangt. Wissen Sie überhaupt, dass ich ein menschliches Wesen bin und nicht ein Teil der Büroeinrichtung?"

Lukes Miene verfinsterte sich. "Um Himmels willen, nun hören Sie endlich auf, sich grundlos aufzuregen!"

"Kein Wunder, dass meine Vorgängerinnen es nicht lange bei Ihnen ausgehalten haben!" Auf der Suche nach einem Stift wühlte Chris wütend in den Papierstapeln auf ihrem

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Schreibtisch herum. "Sie treten die Gefühle anderer Leute mit Füssen!"

"Ich verdiene mein Geld nicht, weil ich mir Gedanken über Gefühle mache", erwiderte Luke kalt. "Soweit ich mich erinnere, sind Sie hier, um Ihren Job zu tun. Und ein Teil dieses Jobs ist es, nach außen hin die Firma in angemessener Weise zu vertreten. Also, wenn Sie hier in London wie eine missmutige alte Jungfer aussehen wollen, ist das Ihre Sache. Aber die Konferenz morgen ist meine große Chance, auf dem europäischen Markt Fuß zu fassen. Und diese Chance lasse ich mir nicht verderben, weil Sie es nicht über sich bringen, Ihre äußere Erscheinung dem Anlass anzupassen!"

"Was gefällt Ihnen nicht an meiner Kleidung?" erkundigte Chris sich erbost und sah an ihrem grauen Kostüm herunter. "Sie ist modisch, und sie steht mir. Was wollen Sie noch?"

"Ich möchte Stil!" stieß Luke ungeduldig hervor. "An diesem Kostüm gibt es nichts auszusetzen, aber durch Kleidung und Frisur könnten Sie viel mehr aus sich machen. Das ist alles, was ich damit sagen wollte."

"Alles, was Sie damit sagen wollten, ist also, dass Sie zwar nichts gegen eine tüchtige Sekretärin haben, es Ihnen aber eigentlich lieber wäre, ich würde ganz anders aussehen!"

Luke verzog ärgerlich den Mund. "Hören Sie Chris, wenn Sie so unvernünftig sind, lehne ich es ab, weiter mit Ihnen zu diskutieren."

"Ich und unvernünftig?" Chris stieß ihren Stuhl zurück und sprang auf. Lukes Bemerkung hatte bei ihr einen wunden Punkt getroffen, und sie war so wütend, dass sie alle Vorsicht vergaß. "Ausgerechnet Sie müssen von Vernunft sprechen! Sie haben vielleicht Nerven, erzählen, ich würde in Paris einen schlechten Eindruck machen ,wo Sie es doch sind, der nicht die leiseste Ahnung von guten Manieren hat.

Während sie sprach, hatte Lukas Miene sich gefährlich verfinstert. "Ich rate Ihnen, lieber vorsichtig zu sein mit dem,

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was Sie sagen, Chris", warnte er sie. "Schließlich sind Sie nicht das einzige Mädchen auf der Welt, das Französisch spricht."

Aber wahrscheinlich das einzige, das sich mit Ihren Unverschämtheiten abfindet", erwiderte Chris. "Sie behandeln alle Ihre Mitarbeiter wie Sklaven. Tu dies, tu das, zieh dich so an, lass dir deine Haare so und nicht anders schneiden! Nun, ich bin Ihre Sekretärin, nicht Ihre Sklavin, und ich werde mein Äußeres nicht ändern, nur weil es Ihnen so gefällt!"

"Treiben Sie es nicht zu weit, Chris", stieß Luke hervor, "sonst könnte es sein, dass Sie nicht mehr lange meine Sekretärin sein werden." "Um so besser!" Blind vor Wut griff Chris nach ihrer Handtasche und marschierte zur Garderobe.

"Wohin wollen Sie?" "Was glauben Sie wohl?" fragte Chris hitzig, während sie

sich ihren Mantel überwarf. "Ich werde mir einen Arbeitgeber suchen, der die Fähigkeiten anerkennt, die ich zu bieten habe, und der nichts dagegen hat, dass eine missmutige alte Jungfer in seinem Vorzimmer sitzt!"

Sie hatte die Türklinke schon in der Hand, als Luke mit großen Schritten herüberkam. "Das hab' ich nicht gesagt!"

Er stand sehr dicht vor ihr. Chris ließ die Hand sinken, doch sie war fest entschlossen, nicht nachzugeben. "Für mich klang es aber so."

Luke blickte auf sie herunter. Ihr Gesicht war vor Ärger gerötet, ihre Augen glitzerten gefährlich, und sie hatte das Kinn kampfbereit erhoben.

"Ach, zum Teufel!" Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und seufzte. "Hören Sie, es tut mir leid. Ich weiß, ich hatte das alles nicht zu Ihnen sagen sollen. Aber das Wochenende ist nicht besonders angenehm für mich verlaufen, und da habe ich wohl meine schlechte Laune an Ihnen ausgelassen. Es tut mir leid."

Es war das erste Mal, dass er einen Fehler zugab. Chris war so erstaunt über seine Entschuldigung, dass sie ihn nur verblüfft ansehen konnte.

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"Ich erkenne Ihre Fähigkeiten sehr wohl an", fuhr er fort. "Sie sind die beste Sekretärin, die ich je hatte." Und dann lächelte er was Chris als unfair empfand. "Wirklich!"

Angesichts dieses gewinnenden Lächelns brach ihre Verteidigung in sich zusammen. Unsicher trat sie einen Schritt zurück. Es war wirklich nur ein Lächeln, ein Heraufziehen der Mundwinkel das seine Zähne kaum sehen ließ, ein wenig Wärme in seinen sonst so kalt blickenden Augen. Es war absolut nichts Aufregendes, Und deshalb war es auch gar nicht einzusehen, weshalb ihr Ärger auf einmal wie Schnee in der Sonne dahinschmolz,

Sie versuchte verzweifelt, die letzten Reste ihrer Wut zusammenzuraffen, doch es hatte keinen Zweck, und Luke sah es ihrem Gesicht sofort an. "Kommen Sie", sagte er sanft, "wir setzen uns erst einmal und reden vernünftig über alles."

Chris ließ es zu, dass er ihr aus dem Mantel half und ihn wieder an die Garderobe hängte. Sie erinnerte sich an all die dummen Dinge, die sie vorhin zu Luke gesagt hatte, und plötzlich kam sie sich sehr töricht vor. Was war nur in sie gefahren?

Luke schob sie vor sich her in sein Büro und drückte sie in einen der weichen Ledersessel. "Ich hole uns Kaffee", sagte er.

Sein unerwartet freundliches Verhalten verunsicherte Chris mehr als alles andere. Unbehaglich hockte sie auf der Kante des Sessels und nahm steif die Tasse entgegen, die Luke ihr reichte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit diesem plötzlich so liebenswürdigen Luke umgehen sollte.

"Nun", sagte Luke und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel, "können wir jetzt weiterreden?"

"Entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich dumm benommen", murmelte Chris.

"Ich glaube, wir waren beide unvernünftig. Ihr Wochenende war anscheinend auch nicht viel besser als meins!" Luke rührte nachdenklich in seiner Kaffeetasse. "Ich habe nicht gelogen, als

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ich sagte, Sie seien die beste Sekretärin, die ich je hatte. Es bedeutet für mich eine echte Erleichterung, jemanden zu haben, den ich mit Arbeit überhäufen kann, und trotzdem zu wissen, dass alles perfekt und schnell erledigt wird. Ihnen brauche ich nicht alles zweimal zu erklären oder ständig Briefe zurückzugeben, um sie noch einmal schreiben zu lassen. Ich brauche mich nicht zu sorgen, dass ich für Konferenz nicht alle Dokumente dabeihabe. Ihnen kann ich Vertrauen. Das alles erkenne ich an, glauben Sie mir." Er schwieg. "Vielleicht hätte ich Ihnen das schon viel früher sagen sollen, nun meist bin ich einfach zu beschäftigt. Es ist bestimmt nicht einfach, für mich zu arbeiten, das weiß ich."

"Sie haben mich gewarnt." Chris hatte sich inzwischen wieder unter Kontrolle und bemühte sich, beherrscht und routiniert wie immer zu klingen. "Ich dürfte mich also nicht beschweren."

Luke sah von seiner Kaffeetasse auf und lächelte sie mit einem so gefährlichen, bezwingenden Charme an, dass Chris sein Lächeln erwidern musste, ganz entgegen ihrer Absicht, sich nicht von ihm unterkriegen zu lassen.

Sie erinnerte sich, dass er schon früher diesen trügerischen Charme besessen hatte, der um so wirkungsvoller war, weil er ihn nur sehr selten einsetzte. Sosehr sie sich auch Lukes gefährlicher Anziehungskraft zu entziehen versuchte, sie konnte nichts gegen die eigentümliche Wärme tun, die in ihr aufstieg, als sie das Leuchten in seinen grauen Augen bemerkte.

"Sollen wir uns nicht einfach darauf einigen, dass Sie die beste Sekretärin der Welt sind und ich der unhöflichste Mann und es dabei belassen?" schlug Luke vor. Als Chris nickte, beugte er sich vor und streckte ihr die Hand hin. "Schlagen Sie ein."

Fast widerwillig ergriff Chris seine Hand. Als seine kräftigen, schlanken Finger sich um ihre schlössen, spürte sie, wie ein eigentümliches Prickeln sie überlief.

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"Das bedeutet doch nur, dass alles wieder so sein wird wie vorher: Sie der unhöfliche Chef und ich die tüchtige Sekretärin", sagte sie so gelassen wie möglich.

"Das kann natürlich sein, aber ich verspreche, dass ich mich bessern werde - wenn Sie nur bleiben." Er ließ ihre Hand los und lehnte sich zurück. "Tun Sie das?"

Chris gab auf. "Natürlich." "Gut." Luke betrachtete sie nachdenklich. "Und Sie haben

auch nichts dagegen, wenn ich Ihnen neue Kleider kaufe?" "Ich dachte, es ginge um eine neue Frisur!" "Darum auch." Da sie sich vorhin so willig seinem

bezwingenden Charme unterworfen hatte, versuchte Luke jetzt, soviel wie möglich dabei herauszuschlagen. Chris erriet seine Absicht, und sie missfiel ihr. "Sehen Sie, Chris, Sie sind in Paris sehr wichtig für mich. Sie müssen für mich übersetzen, deshalb werden sich alle auf sie konzentrieren. Ich denke, es würde dem Ansehen von LPM sehr helfen, wenn Sie sich etwas zurechtmachen."

Chris wusste, dass sie geschlagen war. "Wenn Sie das für so wichtig halten, dann werde ich mir selbst neue Kleider kaufen", versuchte sie es noch einmal, doch er schüttelte den Kopf.

"Nein, das geht auf meine Kosten." "Aber ich kann doch nicht zulassen, dass Sie für mich

Kleidung kaufen!" "Warum nicht?" "Nun, es - es ist einfach zu persönlich." "Wenn Sie das so stört, dann betrachten Sie es doch einfach

als eine Art Arbeitskleidung", schlug Luke vor, und Chris bemerkte amüsiert einen Anflug von Ungeduld in seiner Stimme. Es fiel ihm anscheinend schwer, über längere Zeit nett und höflich zu sein.

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Ihr war klar, dass es im Moment keinen Zweck hatte, sich weiter mit ihm zu streiten. So stand sie auf und räumte die leeren Kaffeetassen zusammen.

"Ich gehe heute Nachmittag einkaufen", versprach sie. An diesem Morgen gab es viel zu tun. Doch Chris war froh

darüber, denn die hektische Betriebsamkeit lenkte sie von ihren Gedanken ab. Sie wollte nicht mehr daran denken, was Luke gesagt hatte. Spröde und unnahbar. Missmutige alte Jungfer. Das also dachte Luke von ihr. Oder war sie etwa tatsächlich so?

Das ganze Wochenende hatte sie sich selbst immer wieder vorgebetet, wie gleichgültig Luke ihr war. Und kaum wagte er es, sie zu kritisieren, da verlor sie völlig die Beherrschung. Eine schöne Gleichgültigkeit war das! Sie hätte kühle Beherrschung bewahren müssen, anstatt ihn derart anzuschreien - nur um sich gleich darauf von seinem Lächeln einwickeln zu lassen. Sie hatte sich benommen wie eine Närrin!

Chris war entschlossen, allein loszugehen und sich ein Kleid zu kaufen, das Luke zufrieden stellen würde. Doch sie hatte nicht mit seiner Entschlossenheit gerechnet, sie zu begleiten. Er erwischte sie, als sie gerade still und heimlich das Büro verlassen wollte.

"Es ist wirklich nicht nötig, mitzukommen", protestierte sie heftig, während er sie vor sich her über den Bürgersteig schob, eine Hand um ihren Ellenbogen gelegt. "Sie haben doch heute Nachmittag sicher noch anderes zu tun."

Beinahe boshaft lächelnd, sah Luke auf sie hinunter, "Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann, und das bedeutet, dass ich immer Zeit für wichtige Dinge habe. Und es bedeutet auch, dass ich sehr darauf achte, wie ich mein Geld investiere. Wenn ich Sie allein ließe, Chris, hätten Sie wahrscheinlich nichts Eiligeres tun als sich noch mehr von diesen unauffälligen, praktischen Kostümen zu kaufen. Und gerade das liegt überhaupt nicht in meiner Absicht!"

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Ein fünfminütiger Fußmarsch brachte sie in das Zentrum von Knightsbridge. Trotz des regnerischen Wetters drängten sich die Menschen in den Strassen. Luke bahnte Chris einen Weg durch die Menge und führte sie zu einem kleinen Geschäft in einer der ruhigeren Seitenstrassen gleich hinter Harrods. Der Laden war indirekt beleuchtet und sehr geschmackvoll ausgestattet. Dicke Teppiche dämpften jeden Schritt. Es waren nur wenige Kleidungsstücke ausgestellt. Doch nachdem Luke einer beunruhigend elegant gekleideten Angestellten seine Wünsche geschildert hatte, zauberte sie wie aus dem Nichts plötzlich einen schier unerschöpflichen Vorrat an Kleidern hervor.

Luke nahm auf einem zerbrechlich wirkenden Stuhl Platz und verschränkte die Arme. Unter seinen prüfenden Blicken wurde Chris immer unbehaglicher zumute, während mehrere Angestellte ihr verschiedene Modelle anhielten. Ab und zu nickte Luke oder machte eine abwehrende Handbewegung.

"Sie braucht gedämpftere Farben", erklärte er, als eines der Mädchen ein türkisfarbenes Kleid brachte. "Diese Farben sind viel zu leuchtend für sie." Chris sah dem Kleid sehnsüchtig nach, während es weggetragen wurde. "Das hier zum Beispiel", fuhr Luke fort, griff nach einem rostfarbenen Modell aus weichem, fließendem Stoff und hielt es Chris an. "So etwas steht ihr - sanfte Linien und erdfarbene Töne, die ihre Persönlichkeit widerspiegeln."

Chris wurde hochrot vor Verlegenheit, doch weder Luke noch die Angestellten schienen es zu bemerken. Sie redeten weiter über sie, als wäre sie nicht mehr als eine Schaufensterpuppe, wählten Schuhe und dazu passende Handtaschen aus und hielten ihr Schals und Gürtel an, die plötzlich aus unergründlichen Schubladen auftauchten.

"Entspannen Sie sich doch!" befahl Luke, als Chris unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. "Ich dachte immer, ihr Französinnen habt eine Vorliebe für modische Kleider."

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"Ich glaube, ich schlage mehr nach meinem Vater", erwiderte Chris verdrossen, "Meine Mutter und meine Schwester tun nichts lieber, als einkaufen zu gehen, aber ich habe mich nie besonders für Mode interessiert."

"Das sieht man", stellte Luke offen fest. "Also, jetzt gehen Sie und probieren all das Zeugs an. Und tun Sie wenigstens so, als mache es Ihnen Spaß!"

Die Kleidungsstücke wurden zu einer der Umkleidekabinen gebracht, während Luke ein Funktelefon aus der Tasche zog und mit der ihm charakteristischen Ungeduld eine Nummer einhämmerte. Chris hörte, wie er für denselben Abend einen Tisch für zwei Personen buchte. Wen er wohl ausführen wollte? Helen Slayne? Oder war sie etwa der Grund für sein unangenehmes Wochenende?

Der Gedanke an Helen und ihre strahlende Schönheit erinnerte Chris an den Grund ihres Hierseins, und sie betrachtete ihr Spiegelbild ein wenig missmutig. Keine noch so teuren Kleider würden ihr einen solchen Zauber verleihen.

"Nun kommen Sie schon, und lassen Sie sich ansehen", befahl Luke von draußen.

Seufzend stopfte Chris die olivgrüne Bluse in den Rock und schloss den Reißverschluss. Die Seide fühlte sich auf ihrer Haut weich und kühl an. Schnell strich sie noch einmal über den zarten Stoff, bevor sie den Vorhang öffnete und sich Lukes prüfendem Blick stellte.

Er ging um sie herum und betrachtete ihre Aufmachung so sachlich und leidenschaftslos, dass Chris' bernsteinfarbene Augen allmählich Funken zu sprühen begannen. Wie demütigend, hier stehen und sich besichtigen lassen zu müssen! Lukes Blicke schienen ihr die Haut zu verbrennen - obwohl sie das Gefühl hatte, er sehe sie gar nicht. Ebenso gut hätte sie eine Schaufensterpuppe aus Plastik sein können, die er von allen Seiten betrachtete. Sie dagegen war sich seiner erdrückenden Gegenwart nur allzu bewusst.

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Als Chris wieder in ihre eigene Kleidung geschlüpft war und schließlich beladen mit Kleidern, Röcken und Blusen aus der Umkleidekabine kam, war sie ärgerlich und gereizt, aber entschlossen, sich nicht noch einmal auf einen Streit mit ihm einzulassen. Luke telefonierte wieder. "Helen? Hier ist Luke. Es tut mir sehr leid, aber ich schaffe es nicht, heute Abend vorbeizukommen ... Was sagst du? Nein, absolut nicht", fuhr er schroff fort. "Ich habe heute Abend eine wichtige geschäftliche Verabredung." Er schaltete das Telefon ab und schob die Antenne mit einer ungeduldigen Bewegung in das Gerät zurück. Dann drehte er sich zu Chris um. "Nun, passen die Sachen?" "Ja, aber..." "Dann nehmen wir alle."

Fr reichte seine Kreditkarte einer strahlenden Angestellten, die sich beeilte, Chris die Kleider abzunehmen. "Und nun zu Ihrem Friseurtermin."

Chris verharrte in frostigem Schweigen, als Luke sie zum Friseursalon führte quer durch London, wie es ihr vorkam. Für jemanden, dem jederzeit Fahrer und Wagen zur Verfügung standen, schien er eine unverständliche Vorliebe für lange Fußmärsche zu haben. Missmutig versuchte sie, ihr Tempo seinen langen, ausgreifenden Schritten anzupassen.

Es war ein für die Jahreszeit zu kühler, regnerischer Tag. Chris fröstelte im feuchten Wind und wickelte sich fester in ihren leichten Mantel. Sehnsüchtig dachte sie an den warmen, komfortablen Mercedes, den Luke vom Geschäft aus telefonisch bestellt hatte -aber nur, um die vielen Pakete und Taschen später in Chris Wohnung bringen zu lassen. Er hatte sich strikt geweigert, auf das Auto zu warten

"Warum sollen wir hier noch länger herumsitzen? Es dauert noch eine Weile, bis der Wagen da ist. Zu Fuß sind wir mindestens genauso schnell beim Friseur. Und jetzt beeilen Sie sich, Chris, sonst kommen wir zu spät."

Der Salon "Cadogan" befand sich in einer stillen Nebenstrasse, nicht weit entfernt von der King's Road.

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Unbehaglich betrachtete Chris die eleganten grünen Markisen über den Fenstern. Gleich darauf wurde sie von einer freundlichen Angestellten in Empfang genommen.

"Ich mochte, dass Sie ihr Haar ein ganzes Stück kürzen", erklärte Luke der jungen Frau und hielt seine Hand knapp unter Chris' Kinn. "Bis hierhin ungefähr. Und tun Sie bitte auch sonst alles, was Sie für nötig halten. Machen Sie sie ein wenig zurecht, aber ohne ihren Typ zu verändern." Er wandte sich an Chris. "Ich gehe jetzt ins Büro zurück. Wenn Sie hier fertig sind, nehmen Sie ein Taxi nach Hause. Ich hole Sie um Punkt halb acht dort ab."

Chris, die zwischendurch schon auf einem Stuhl Platz genommen hatte, blickte erstaunt auf. "Aber ich dachte, Sie haben eine wichtige geschäftliche Verabredung?"

"Das stimmt. Ich werde Sie zum Abendessen ausführen." Sie betrachtete ihn ungläubig, während die Friseuse ihr einen

Umhang umlegte. "Mich? Aber warum denn?" "Ich möchte die Reise nach Paris mit Ihnen durchsprechen.

Heute Nachmittag hatten wir ja keine Gelegenheit dazu", erwiderte Luke ungeduldig. "Und versuchen Sie mir nicht vorzumachen, Sie haben etwas anderes vor. Da Sie ein sehr vernünftiges Mädchen sind, werden Sie am Abend vor einer Geschäftsreise sorgfältig ihre Sachen packen und darauf achten, früh ins Bett zu gehen. Wenn Sie also für diesen Abend eine andere Verabredung hatten, haben Sie sie inzwischen abgesagt. Oder irre ich mich da? Steckt vielleicht doch noch mehr hinter dieser Maske kühler Zurückhaltung? Wartet zu Hause etwa ein Dutzend ungeduldiger Liebhaber, um Sie heute Abend auszuführen?" Seine Stimme troff vor Spott, und Chris hob eigensinnig das Kinn. "Nein. Die ungeduldigen Liebhaber waren gestern Abend an der Reihe."

In Lukes Augen zeigte sich so etwas wie Bewunderung. "Gut" sagte er aber nur knapp. "Dann sehen wir uns also später."

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Er zog sein Notizbuch aus der Innentasche seiner Jacke. "Wie war noch Ihre Adresse?"

"Es ist schon gut", sagte Chris schnell. Ihr waren all die Erinnerungsstücke und Fotos aus Chittendene eingefallen, die in ihrem Wohnzimmer herumstanden. Sie wollte nicht riskieren, dass Luke sich vielleicht doch noch auf längst vergangene Zeiten besann. "Warum treffen wir uns nicht einfach im Restaurant?"

Nach kurzem Zögern nickte Luke. "Also schön", sagte er und nannte ihr den Namen des Restaurants. "Wir treffen uns dort gegen acht Uhr. Ziehen Sie das grüne Kleid an, das ich für Sie ausgesucht habe. Und seien Sie pünktlich!"

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon. Chris blickte ihm ungläubig nach, schäumend vor Wut über seinen unverschämten Befehlston. Soviel also zu seinem Vorsatz, in Zukunft höflicher zu sein!

Schließlich ergab sie sich in ihr Schicksal, und das bedeutete zunächst, sich die Haare waschen zu lassen.

Zwei Stunden später saß sie aufrecht da und konnte kaum glauben, was sie im Spiegel sah. Sie war so entschlossen gewesen, nicht zu mögen, was auf Luke Hardmans Anweisung aus ihr werden sollte. Doch jetzt war sie über ihr Spiegelbild verblüfft. War dieses Mädchen da wirklich sie selbst?

In ihrem Haar, das immer nur einfach braun gewesen zu sein schien, tanzten jetzt Lichter, sobald sie den Kopf drehte - Kupfer, -Bronze, Gold. Außerdem hatte die Friseuse unbarmherzig die Schere angesetzt, wie Luke es ihr geraten hatte. Duftige, natürliche Wellen umgaben Chris' Gesicht und betonten ihre feinen Wangenknochen, ihre klare helle Haut und die lange, sanfte Linie ihres

Halses. Es steht Ihnen wirklich gut", versicherte Susan, die Chris'

Schweigen als Enttäuschung missdeutete. Mit der Bürste fuhr sie och einmal durch Chris' Haar, so dass es sanft nach vorn

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schwang. Es stand ihr sogar mehr als gut. Es veränderte sie völlig. Chris drehte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, wobei sie sich aus den Augenwinkeln betrachtete. Ein wenig ärgerte es sie, dass Luke recht behalten hatte. Sie war beinahe bestürzt darüber, wie verändert sie aussah. Würde sie jemals in der Lage sein, diesem strahlenden Äußeren zu entsprechen?

Der Wind blies ihr das kurze Haar ins Gesicht, als sie auf der King's Road nach einem Taxi winkte. Sie fragte sich, was Luke wohl zu ihrem neuen Aussehen sagen würde. Es sah ihm ähnlich, dass er sie dazu getrieben hatte, ihr Äußeres völlig zu verändern! Mit dem Ergebnis, dass sie sich unruhig und verwirrt fühlte und nicht wusste, was sie über Luke denken sollte. Immer, wenn sie gerade glaubte, ihn zu mögen, benahm er sich arrogant und unhöflich. Und im nächsten Moment brachte er sie mit seinem unerwarteten Charme aus dem Gleichgewicht, Was sollte sie nur davon halten?

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5. KAPITEL Gedämpfte Unterhaltung und das leise Klirren von Porzellan

empfingen Chris, als sie den Vorraum des Restaurants betrat und ihren Mantel dem Kellner übergab, der plötzlich vor ihr auftauchte. Plötzlich fühlte sie sich sehr verwundbar und strichnervös ihr Kleid glatt.

Es war jadegrün und raffiniert einfach geschnitten. Der tiefe Ausschnitt bildete einen reizvollen Kontrast zu den langen Ärmeln, und das enganliegende Mieder ging in einen weiten Rock aus feinster Wolle über.

Es war eines der Kleider, die durch ihre Einfachheit den Reiz ihrer Trägerin besonders betonen. Instinktiv hatte Chris keinen Schmuck angelegt, was die Wirkung des Kleids nur noch unterstrich. Sie empfand den leichten, feinen Stoff auf der Haut als sehr angenehm, beinahe erregend und war sich bewusst, dass der einfache Schnitt ihre Brüste und die weichen Linien ihres Halses und ihrer Schultern hervorhob.

Immer noch hatte sie sich nicht an ihre neue Frisur gewöhnt, Unsicher fuhr sie sich mit der Hand durch das kurze, duftige Haar, während sie dem Kellner zu dem Tisch folgte, an dem Luke schon auf sie wartete.

Er hatte sich in die Weinkarte vertieft, so dass er Chris nicht gleich bemerkte. Die dunklen Augenbrauen hatte er zusammengezogen, die Lippen zusammengekniffen. Seine Miene wirkte erschreckend düster. Er sah aus wie jemand, der

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sich immer nur auf sich selbst verlassen und dabei ganz vergessen hatte, dass er bei anderen Menschen Wärme und Trost finden konnte. Chris war gereizt und ärgerlich gewesen, weil er sie immer wieder aus dem Gleichgewicht brachte. Doch bei seinem Anblick wurde sie von einer so unerwarteten Woge der Zärtlichkeit überwältigt, dass sie unsicher den Schritt verlangsamte.

Gerade in diesem Moment hob Luke den Kopf und sah sie. Zuerst verriet sein Blick nur Gleichgültigkeit und eine leichte Ungeduld, weil sie ihn hatte warten lassen. Doch dann kniff Luke die Augen zusammen, als würde es ihm schwer fallen, in der Frau, die da auf ihn zukam seine ruhige, unscheinbare Sekretärin wiederzuerkennen. Chris wusste genau, dass der Rock bei jeder Bewegung sanft und verführerisch ihre Beine umspielte, obwohl sie wünschte, es wäre nicht so. Noch niemals war sie sich ihres Körpers so bewusst gewesen. Sie spürte Lukes Blick auf der Haut und sehnte sich nach ihrem Mantel, nach irgend etwas, das sie schützend um sich legen konnte. Luke hielt noch immer die Weinliste in der Hand. Als Chris vor dem Tisch stehenblieb, legte er die Karte sehr langsam weg. Dann bemerkte er den diskret erstaunten Blick des Kellners und stand schnell auf.

Zu Chris' Erleichterung betrachtete Luke jetzt nicht mehr ihren Körper, sondern sah ihr ins Gesicht. Immer noch schien er nicht ganz überzeugt zu sein, dass sie es wirklich war. Verzweifelt wünschte sie sich, er würde etwas sagen, denn das Schweigen drohte allmählich, peinlich zu werden.

Statt dessen sah er auf seine Armbanduhr. "Ich bin nicht zu spät!" Chris hatte das Gefühl, sich

verteidigen zu müssen. Ihre scharfen Worte brachen den Zauber, der sie beide

gefangen gehalten hatte. Auf seinem Gesicht erschien wieder der gewohnte Ausdruck von Ungeduld. "Habe ich das etwa gesagt?"

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"Nein, aber der Blick auf Ihre Uhr war deutlich genug!" Chris ließ sich vom Kellner einen Stuhl zurechtrücken und

setzte sich. Der Ausdruck in Lukes Augen, während sie auf ihn zuging, hatte sie völlig außer Fassung gebracht. Aber mindestens ebenso verwirrt war sie durch ihre eigene Unsicherheit, die sie sonst gar nicht von sich kannte. Bestürzt wurde ihr klar, dass sie gehofft hatte, Luke würde bei ihrem Anblick an etwas anderes denken als an die Zeit.

Luke lächelte leicht. "Das war nur ein kleiner Trick von mir. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob Sie es wirklich sind - bis Sie mich eben so anfauchten!"

Chris presste die Lippen zusammen. Sie nahm die gestärkte Serviette und schüttelte sie mit einer betonten Handbewegung auseinander, "Natürlich bin ich es. Der neue Haarschnitt kann mich doch wohl nicht so verändert haben!"

"Offensichtlich nicht", entgegnete Luke trocken, und Chris errötete leicht. Er dachte anscheinend, sie habe es auf einen Streit abgesehen. Sie musste sich zusammennehmen. "Die neue Frisur ist schon ein guter Anfang", fuhr er fort. "Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Ihnen kurzes Haar besser steht,"

Nicht gerade ein überschwängliches Kompliment! "Vielen Dank", sagte Chris kurz angebunden. Sie war entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, dass seine Gleichgültigkeit sie enttäuschte.

Es entstand eine kurze Pause. Luke machte den Eindruck, als wollte er noch etwas sagen, besann sich dann aber.

"Ich habe schon für Sie bestellt", sagte er schließlich und griff wieder nach der Weinkarte. "Ich hielt das für das einfachste."

"Ich bin sehr gut in der Lage, mir mein eigenes Menü zusammenzustellen, vielen Dank", erwiderte Chris frostig. "Stellen Sie sich vor, ich war schon einmal in einem französischen Restaurant. Sie brauchen mir die Speisekarte also nicht zu übersetzen."

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Luke runzelte die Stirn, dann reichte er ihr mit einem Schulterzucken die Speisekarte, die neben seinem Teller gelegen hatte. "Ganz wie Sie wollen."

Chris öffnete die Karte und tat, als studiere sie den Inhalt mit großem Interesse. Dabei war es ihr eigentlich gleichgültig, was sie ass. Doch es schien die beste Gelegenheit, ihre Fassung zurückzugewinnen. Für heute hatte Luke sie genug herumkommandiert!

Sie warf einen Blick über die Karte hinweg und sah, dass er sich wieder mit der Auswahl der Weine beschäftigte. In Dinnerjackett und mit Fliege wirkte er noch attraktiver als sonst, und die gedämpfte Beleuchtung milderte seine scharfen Züge. Doch als er plötzlich aufsah und sie seinem Blick über den ledergebundenen Karten begegnete, wirkten seine grauen Augen so hart und durchdringend wie immer.

Schnell senkte Chris den Blick und vertiefte sich wieder in ihre Speisekarte.

Der Kellner erschien an ihrem Tisch. "Haben Sie sich schon entschieden?" fragte Luke. Es klang, als warte er schon eine Ewigkeit auf sie.

"Ich hätte gern die Rouladen von Lachs und Seezunge, und dann die 'magret de canard'", sagte Chris mit einem trotzigen Blick auf Luke und legte die Karte beiseite.

"Sind Sie sicher?" "Ja, vielen Dank." "Zur Vorspeise würde ein Sauvignon recht gut passen, und

für das Hauptgericht habe ich an einen Chateau d'Yquem gedacht", fuhr Luke fort und fügte ironisch hinzu: "Ist Ihnen das recht, oder möchten Sie auch die Weine selbst auswählen?"

"Nein, das klingt sehr gut", entgegnete Chris förmlich und faltete ihre Hände im Schoß. Es kostete sie einige Anstrengung, keine giftige Bemerkung zu machen, doch sie dachte an ihren Vorsatz, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.

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Luke wandte sich an den Kellner. "Wir nehmen vorweg den Lachs und die Seezunge, und als Hauptgericht die Ente - es bleibt also bei meiner Bestellung." Nachdem er auch den Wein bestellt hatte, drehte er sich um und begegnete Chris' vorwurfsvollem Blick. "Was ist denn los?"

"Warum haben Sie mir nicht gesagt, was Sie bestellt haben?" "Damit Sie dann etwas anderes auswählen, nur um mich zu ärgern? Ich habe einfach das bestellt, von dem ich dachte, es gefiele Ihnen. Was ist daran falsch?"

"Ich kann schließlich für mich selbst sprechen", sagte Chris mit einem Anflug von Eigensinn in der Stimme. "Dessen bin ich mir sehr bewusst, Chris."

"Das bezweifle ich, so wie Sie mich heute den ganzen Tag behandelt haben!"

"Was wollen Sie damit sagen?" "Sie haben bestimmt, wie ich mir die Haare schneiden lassen

soll, Sie haben meine Kleider ausgesucht und mein Essen - als wäre ich nicht mehr als eine Schaufensterpuppe!"

"Nun machen Sie sich nicht lächerlich", erwiderte Luke schroff. "Ich dachte, dieses Thema hätten wir schon heute morgen erledigt." "Wir sind übereingekommen, dass Sie meine Arbeit anerkennen und sich bemühen, freundlicher zu sein." "Das tue ich doch!"

"Ich weiß nicht, was Sie unter Freundlichkeit verstehen, aber ich empfand es als ziemlich unangenehm, von Ihnen betrachtet und kritisiert zu werden, als wäre ich ein Stück Vieh, das zum Verkauf steht!"

"Deshalb waren Sie also heute Nachmittag so schlechter Laune", sagte Luke und warf einen Blick auf die Flasche, die der Kellner ihm präsentierte. Er wartete, bis dieser ihm etwas Wein ins Glas gegossen hatte, trank prüfend einen Schluck und nickte dann. "Die meisten Frauen hätten einen Nachmittag beim Friseur genossen, ganz zu schweigen von kostenlosen Kleidern."

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Chris wartete, bis der Kellner ihre Gläser gefüllt und sich mit unbewegter Miene entfernt hatte. "Ich bin nicht wie ,die meisten Frauen!" fauchte sie. "Ich bin ich, und ich mag es nicht, wenn man mich behandelt wie - wie ein dummes Püppchen!"

Sie hatte erwartet, dass Luke beleidigt sein würde, doch zu ihrem Ärger grinste er jungenhaft. "Aber Chris, gerade bei Ihnen würde ich mir das nie erlauben!"

Chris wünschte sich, er würde sie nicht auf diese Art anlächeln. Hastig griff sie nach ihrem Glas und trank einen Schluck Wein, während sie sich von Lukes Anblick loszureißen versuchte.

"Ich halte sehr viel von Ihnen", fuhr Luke fort. " Sie sind eine vernünftige und intelligente Frau, und ich würde nie auf die Idee kommen, Sie als eine Art Sexualobjekt zu betrachten. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Erleichterung es für mich bedeutet, endlich einmal mit einer Frau zu tun zu haben, die sich streng auf das Geschäftliche beschränkt und nicht ständig mit Bewunderung überschüttet werden will."

"Nun, ein Kompliment von Zeit zu Zeit könnte auch nicht schaden!"

"Ich wollte Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft sagen, dass Sie wunderbar aussehen in diesem Kleid, aber dann hätten Sie mir sicherlich vorgeworfen, ein Chauvinist zu sein." Für einen Moment begegnete sie seinem Blick, dann lächelte Luke reumütig. "Es tut mir leid", entschuldigte er sich. "Es war nur ein großer Schock für mich, dass meine sonst so tüchtige und unscheinbare Sekretärin sich in eine ganz andere Frau verwandelt hat." Er legte kurz seine Hand über ihre. "Sie sehen heute Abend ganz bezaubernd aus, Chris. Ist es so besser?"

Chris war froh über die gedämpfte Beleuchtung im Restaurant. So sah Luke nicht, dass sie über und über rot geworden war. Als er sie berührte, tat ihr Herz einige sehr merkwürdige Hüpfer, und sie zog schne ll die Hand zurück.

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"Ich habe nur Spaß gemacht", murmelte sie. "Vernünftig und intelligent' reicht mir als Kompliment."

"Tatsächlich? Dann sind Sie die erste Frau, die sich damit zufrieden gibt!"

"Aber für Sie bin ich schließlich keine Frau", betonte Chris trocken. "Ich bin Ihre Sekretärin, und sonst nichts."

Luke trank einen Schluck Wein. Über den Rand des Glases hinweg betrachtete er sie, und in seinen Augen lag ein sonderbarer Ausdruck. "Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, wenn Sie so aussehen wie heute Abend."

Chris hatte plötzlich das Gefühl, sich auf äußerst unsicherem Boden zu bewegen. Die unerwartete Wärme in seiner Stimme verwirrte sie zutiefst, und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Hastig trank sie einen Schluck Wein, während sie sich den Kopf auf der Suche nach einem unverfänglichen Thema zermarterte.

Sie wollten doch mit mir über unsere Reise nach Paris sprechen", erinnerte sie Luke und fragte sich, ob ihre Stimme auch für ihn so noch und unnatürlich klang. "Wen werden wir dort eigentlich treffen?"

Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Bestimmt würde er ihr ansehen welche törichten, mädchenhaften Gefühle in ihrem Innern tobten. Dabei war sie doch keine unerfahrene Sechzehnjährige mehr. Sie war eine erwachsene Frau und zu vernünftig, um sich von einigen hingeworfenen Komplimenten oder einer flüchtigen Berührung verwirren zu lassen. Dies war ein Geschäftsessen und nicht mehr. Natürlich, Luke war nett und zuvorkommend, aber deshalb brauchte ihr Herz doch nicht so schnell zu klopfen .. .

Luke warf ihr einen kurzen, scharfen Blick zu, bevor er antwortete. "Wir haben eine Verabredung mit Philippe Robard und seinem Sohn, der ebenfalls im Vorstand der Firma sitzt. Robard ist Besitzer der Oasis-Hotelkette. Bestimmt haben Sie davon gehört, während Sie in Frankreich lebten?"

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Als Chris nickte, fuhr er fort: "Seine Firma expandiert schnell, und er hat besonders auf Großbritannien ein Auge geworfen. Sie wissen sicherlich, dass er sich darauf spezialisiert hat, alte Gebäude aufzukaufen - vor allem heruntergekommene Schlösser - und sie in exklusive, mit allem Komfort ausgestattete Hotels umzuwandeln, wobei er aber Wert darauf legt, soweit wie möglich den ursprünglichen Charakter der Gebäude zu bewahren."

Er spielte gedankenverloren mit seiner Gabel. "Bisher war Robard außerordentlich erfolgreich, aber gerade aufgrund der Expansion seiner Firma und der Vielzahl von Bauarbeiten besteht die Gefahr, dass der Qualitätsstandard sinkt. Er kann sich nicht um alles kümmern, und außerdem ist er Hotelier, nicht Ingenieur."

"Und an diesem Punkt kommen wir ins Spiel?" erkundigte Chris sich. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf Lukes Worte zu konzentrieren, nicht auf seinen ausdrucksvollen Mund.

"Genau. Ich biete Robard einen kompletten Beraterservice für seine Bauvorhaben, damit er sich ausschließlich auf die Führung seiner Hotels konzentrieren kann. Eben deshalb ist es so wichtig für uns, morgen den richtigen Eindruck auf ihn zu machen. Er muss das Gefühl haben, dass wir für alles garantieren, worauf er Wert legt: Stil, Leistungsfähigkeit und Qualität."

Chris war erleichtert, als der Kellner mit dem ersten Gang erschien. Jetzt konnte sie sich mit dem Essen beschäftigen und musste Luke nicht mehr ständig ansehen. "Aber all das könnte ihm doch auch eine französische Firma bieten, nicht wahr?" fragte sie und griff nach ihrem Besteck.

"Ja, aber denken Sie daran, dass er auf den britischen Markt möchte, genauso wie ich auf den französischen." Luke schien sich mehr für das Geschäft zu interessieren als für sein Essen, "In England und außerhalb Europas haben wir schon einen guten Ruf, und Sie, Chris werden ein wenig kontinentalen Flair in die Firma bringen."

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"Ich verstehe." Chris hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt. Im sanften Licht glänzte ihr Haar wie schimmerndes Kupfer. "Was soll ich also tun?"

"Sie werden als meine Assistentin fungieren und mich natürlich unterstützen, sobald es bei der Verständigung Probleme gibt, ich denke, die Robards werden von Ihrer Tüchtigkeit beeindruckt sein. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie auch Ihren Charme spielen ließen, den Sie zweifellos besitzen, auch wenn Sie ihn nicht an mich verschwenden!"

Chris blickte erstaunt auf. In ihren großen dunklen Augen spiegelte sich das goldene Licht der Kerze, die auf dem Tisch brannte. Langsam ließ sie das Besteck sinken. "Was, um alles in der Welt, meinen Sie damit?"

Jetzt war es an Luke, sich intensiv mit seinem Essen zu beschäftigen. "Ich habe gesehen, wie Sie mit den anderen Leuten in der Firma umgehen. Alle mögen Sie. Meine Abteilungsleiter erzählen mir von morgens bis abends, wie charmant Sie doch seien. Aber mir machen Sie immer nur Vorwürfe oder erteilen mir Lektionen über meine schlechten Manieren."

Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, und Chris biss sich auf die Lippe. Sie hätte schwören können, dass er sich gekränkt fühlte.

"Das ist nicht fair", protestierte sie. "Manchmal bin ich sehr nett zu Ihnen."

Luke beugte sich vor, um ihre Gläser erneut zu füllen. "Aber nur manchmal", sagte er, und sie sah erleichtert das amüsierte Funkeln in seinen Augen. "Das Schwierige an Ihnen ist, dass Sie sehr ehrlich sind, Chris - oft viel zu ehrlich für meinen Geschmack. Ich bin eben nicht daran gewöhnt. Schon sehr früh habe ich gelernt, dass man von den meisten Frauen nicht viel Ehrlichkeit erwarten kann."

Ein bitterer Unteren lag in seiner Stimme. Chris überlegte, ob er in diesem Moment an Helen dachte. Gleich darauf fragte sie

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sich schuldbewusst, ob sie nicht ebenso unehrlich wie Helen war. Warum hatte sie nicht gleich am Anfang gesagt, dass sie ihn von früher her kannte?

Impulsiv öffnete sie den Mund, um ihm alles zu erzählen. Doch dann erschien wieder der Kellner an ihrem Tisch, füllte die Gläser nach und erkundigte sich nach ihren weiteren Wünschen. Als er sich wieder zurückgezogen hatte, war die Gelegenheit vorbei, und Luke hatte bereits das Thema gewechselt.

Ich nehme an, unsere Reise nach Paris wird für Sie wie eine Heimkehr sein'"

In gewisser Weise, ja", sagte sie. Plötzlich tat es ihr nicht mehr leid, dass sie Luke nichts gesagt hatte. Es wäre nur eine sehr peinliche Situation für sie beide geworden. "Es ist merkwürdig, aber als ich in Frankreich lebte, wollte ich die ganze Zeit immer nach England zurück. Und jetzt, da ich hier bin, denke ich manchmal sehnsüchtig an das Leben in Frankreich. Wenn man zwei Nationalitäten hat, fühlt man sich wahrscheinlich immer hin und her gerissen. "

"Sie sind mir nie wie eine Französin vorgekommen", sagte Luke nachdenklich. "Auf mich wirken Sie immer so kühl und beherrscht -eben typisch englisch."

"Ich bin wohl eher nach meinem Vater geraten." "Was für ein Mensch war er?" Chris fragte sich, was Luke wohl sagen würde, wenn sie ihm

erzählte, dass er ihn gut kannte. Sie erinnerte sich, dass er ihren Vater immer verachtet und ihn für langweilig und arrogant gehalten hatte. Er hatte eben nicht gewusst, wie herzlich und großzügig ihr Vater denen gegenüber gewesen war, die er liebte.

"Er war auch sehr zurückhaltend und sehr englisch", antwortete sie so unbefangen wie möglich.

Luke verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln. "Das klingt, als wäre er in Ordnung gewesen. "

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Für einen Moment schienen Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verschmelzen, und Chris wünschte sich verzweifelt, ihr Vater hätte diesen neuen Luke kennen gelernt.

"Sie bereuen also nicht, nach England zurückgekommen zu sein?"

"Nein." Das weiche, schimmernde Haar streifte ihre Wangen, als Chris den Kopf schüttelte. "Ich wäre schon früher zurückgekommen, aber meine Mutter ist - nun, sie ist sehr lebenslustig und charmant, aber hoffnungslos unpraktisch. Nach dem Tod meines Vaters war es selbstverständlich, dass ich mich um alles kümmerte, zum Beispiel um die finanziellen Angelegenheiten. Meine Halbschwester Veronique war zu dem Zeitpunkt schon verheiratet. Und außerdem war ich immer vernünftiger als sie, schon als Kind." Sie seufzte

"Was ist denn falsch daran, vernünftig zu sein?" "Nichts. Ich frage mich nur manchmal, was passiert wäre,

wenn ich die typische rebellische Phase gehabt hätte. Wahrscheinlich hätte ich mehr Spaß gehabt."

"Sie meinen Auflehnung gegen die Gesellschaft im allgemeinen? Die Phase hatte ich auch", sagte Luke.

"Oh, das .. ." Chris schwieg. Beinahe hätte sie gesagt: Das weiß ich. "Das kann ich mir vorstellen", brachte sie schließlich hervor.

Luke schien ihr Zögern nicht bemerkt zu haben. "Damals hielt ich das alles für einen großen Spaß, aber im nachhinein denke ich, dass ich einfach nur unglücklich war." Er hob gleichgültig die Schultern, und Chris schämte sich plötzlich.

Vorher war ihr nie der Gedanke gekommen, dass die Rücksichtslosigkeit des jungen Luke einfach der Tatsache entsprang, dass er unglücklich war. Alle im Dorf hatten gewusst, dass seine Mutter die Familie Jahre zuvor im Stich gelassen hatte. Seitdem war er mit seinem Vater allein gewesen, einem ziemlich exzentrischen und eigenbrötlerischen Mann. Nein, Luke hatte wahrscheinlich keine glücklichen Erinnerungen an

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Chittingdene. Jetzt war sie froh, dass sie nicht mit ihm über die Vergangenheit gesprochen hatte. Luke machte den Eindruck eines Mannes, der mit seinem früheren Leben längst abgeschlossen hatte.

"Und wie kommt Ihre Mutter jetzt ohne Sie zurecht?" erkundigte er sich.

"Sie hat vor einigen Monaten wieder geheiratet." Chris trank einen Schluck Wein. "Thierry versteht es viel besser, sich um sie zu kümmern, und er kann es sich auch leisten, sie zu verwöhnen, aber..."

"Aber Sie mögen ihn nicht?" "Nein. Ich habe es versucht, aber wir kommen einfach nicht

miteinander aus. Oh, wir waren immer sehr höflich zueinander, doch das machte es irgendwie noch schlimmer. Als meine Schwester ihre Tochter Michelle nach England zur Schule schickte, hatte ich endlich einen guten Vorwand, von zu Hause fortzugehen, ohne die Gefühle meiner Mutter zu verletzen ..." Chris schwieg. Sie hatte Luke all diese Dinge gar nicht erzählen wollen, aber irgendwie waren die Worte ihr herausgerutscht. "Ohne mich können sie endlich so leben, wie es ihnen gefällt", sagte sie abschließend. "Meine Mutter geht furchtbar gern zu Partys und zieht sich immer ganz wunderbar an. Ich fürchte, ich habe leider nichts von ihrem Geschmack geerbt. Außerdem sieht sie viel zu jung aus, um eine Tochter in meinem Alter zu haben."

"Ihre Mutter erinnert mich an jemanden, den ich mal kannte, zumindest vom Sehen. Warten Sie, ihr Name war .. ." Luke kniff die Augen zusammen, während er angestrengt nachdachte. "Nun, der Name tut ohnehin nichts zur Sache, aber sie war auch Französin - viel zu bezaubernd und rassig für Chittingdene."

Mit zitternden Händen legte Chris ihr Besteck nieder. "Chittingdene"

Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin", erklärte Luke. "Ein kleines verschlafenes Nest im tiefsten Somerset. Seit Jahren bin

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ich nicht mehr da gewesen. Ich konnte es gar nicht abwarten, von dort wegzukommen." Erblickte in sein Weinglas. "Merkwürdig, aber ich habe seit Jahren nicht mehr an Chittingdene gedacht. Und ganz gewiss nicht an Mrs... . wie war doch bloß noch ihr Name?"

Wie sind Sie eigentlich ins Projektmanagement gekommen?" erkundigte Chris sich schnell, um ihn von der Vergangenheit abzulenken. Es überraschte sie, dass Luke sich an ihre Mutter erinnerte, die sich fast nie im Dorf hatte sehen lassen, sondern es vorzog, soviel Zeit wie möglich in Frankreich zu verbringen.

Während Luke über seine Arbeit redete, schweiften ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit. Sie verglich den rebellischen Jugendlichen, den sie früher gekannt hatte, mit dem entschlossenen Mann, der ihr jetzt gegenübersaß und von seinem Kampf um Erfolg erzählte. Beide waren sich so ähnlich und dabei doch so verschieden. Oder war sie damals einfach noch zu jung gewesen, um zu sehen, was in ihm steckte? "Es muss harte Arbeit gewesen sein", sagte sie schließlich, als Luke sie, die Brauen hochgezogen, betrachtete, offensichtlich verwundert über ihr Schweigen.

"Das war es auch", gab er zu, "aber es hat sich gelohnt. Ich bin jetzt ein reicher Mann."

"Zumindest in der Hinsicht hat es sich also gelohnt", sagte Chris zweideutig und dachte an den langen, einsamen Kampf, den er geführt haben musste.

"Sie klingen nicht sehr überzeugt, Chris", erwiderte er amüsiert. "Nein, sagen Sie nichts! Sie denken, dass Geld nicht alles ist?"

"Das ist es auch nicht, oder?" "Chris, Sie enttäuschen mich! Ich hätte nicht erwartet, dass

Sie sich auf Klischees versteifen. Ihrer Meinung hat es sich also nicht gelohnt, weil ich mir nicht Frau und Kinder zugelegt habe und einen Hund, der mir abends die Pantoffeln an den Kamin bringt?"

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Chris begegnete offen seinem Blick. Er machte sich natürlich über sie lustig, aber ihr war der verteidigende Unterton in seiner Stimme nicht entgangen. "Ich meine nicht, dass Sie unbedingt hätten heiraten sollen. Ich wundere mich nur, dass Sie es nicht getan haben."

"Ich wollte nie heiraten", erwiderte er schroff. "Ich mag es, wenn Frauen ebenso zynisch sind wie ich. Keine Erwartungen und auch kein Schmerz."

Wirklich nicht? dachte Chris. Und was ist mit dem Jungen, der von seiner Mutter verlassen und von Helen Slayne betrogen wurde? Warum ist aus Zynismus mit den Jahren Bitterkeit geworden?

"Und wie ist es mit Ihnen?" fragte Luke. "Warum sind Sie nicht verheiratet? Warten Sie immer noch auf den Richtigen? Oder trauern Sie einer verlorenen Liebe nach?"

Gegen ihren Willen stiegen Erinnerungen an Chris auf; an einen lange zurückliegenden Sommertag, an den Duft von Gras, an die Berührungen seiner Hände, den Geschmack seiner Lippen. Das war keine Liebe, sagte sie sich entschlossen. Es war nur so etwas wie ein Anfang, ein kurzer Blick auf das, was hätte sein können.

"Ich bin nicht verheiratet, weil mich noch kein Mann gebeten hat, seine Frau zu werden."

"Wahrscheinlich hat Sie auch noch nie jemand so gesehen wie heute Abend."

"Nein", gab Chris, gezwungen lächelnd, zu. Die Gleichgültigkeit, mit der er gesprochen hatte, tat ihr weh. "Sie sind der erste."

Luke spielte gedankenverloren mit einem Löffel, während er sie betrachtete. Dann legte er ihn sorgfältig wieder neben seinen Teller. "Da haben Sie recht", sagte er langsam.

Peinliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Chris trank noch einen Schluck Wein und suchte fieberhaft nach einem neutralen Thema. Schließlich hatten sie über das Geschäft

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reden wollen. Wie waren sie bloß auf Liebe und Ehe gekommen?

"Ist Monsieur Robard . ..?" "Kennen Sie . ..?" Sie hatten gleichzeitig zu sprechen angefangen und

verstummten jetzt, beide verlegen. "Sprechen Sie weiter", sagte Chris schließlich. "Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie Paris gut kennen." Luke

klang förmlich. Chris stürzte sich auf dieses unverfängliche Thema, und es

gelang ihr, das Gespräch für den Rest des Abends unverfänglich und unpersönlich zu halten. Immer neue Platten und Teller wurden gebracht, ihre Gläser immer wieder gefüllt. Chris aß und trank, ohne etwas wirklich zu schmecken. Sie redete über das Geschäft und wich Lukes Blicken aus. Und die ganze Zeit war sie sich seiner Anwesenheit beinahe schmerzhaft bewusst. Sie wünschte, er würde endlich mit dieser höflichen Konversation aufhören. Sie wünschte, er würde unverschämt werden, sie in Wut bringen oder irgend etwas anderes tun, das sie ablenkte von diesem überwältigenden Verlangen, die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, aus Angst, ihren Blick nicht mehr von seinem Mund losreißen zu können. Deshalb beobachtete sie die anderen Gäste, betrachtete das schimmernde Porzellan und seine schlanken Finger, die das Weinglas hielten.

Endlich war es vorbei. Als Luke ihr in den Mantel half, erschauerte sie unter der leichten Berührung seiner Hände.

"Ich rufe Ihnen ein Taxi", sagte er und öffnete die Ausgangstür. "Ich kann von hier aus laufen. "

"Aber ich kann doch auch den Bus nehmen", protestierte Chris, doch Luke beachtete ihre Worte nicht. Ohne sich zu berühren, gingen sie die Strasse hinunter. Es hatte wieder geregnet, und das Straßenpflaster glänzte im Licht der

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Straßenlaternen. Die Reifen der Autos zischten über den nassen Asphalt.

Chris vergrub die Hände tief in den Taschen ihres Mantels und sah starr vor sich auf die Strasse. Hoffentlich tauchte bald ein Taxi auf! Luke dagegen schien das Schweigen zwischen ihnen nichts auszumachen. Außerdem betrachtete er sie so prüfend, dass sie nervös zu werden begann. "Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte sie schließlich.

"Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir uns früher schon einmal begegnet sind", erklärte Luke nachdenklich. "Ich muss mich irren, oder?"

Chris fühlte, wie ihr Puls zu rasen begann. Schnell sah sie weg. "Wenn es so wäre, würde ich mich sicher daran erinnern" , sagte sie. Eine glatte Lüge wollte sie ihm nicht auftischen, doch andererseits hatte sie auch keine Lust auf endlose Erklärungen, die er sicher von ihr verlangen würde, wenn sie ihm die Wahrheit gestände.

"Ich glaube, es kommt daher, dass Sie heute so anders aussehen." Ihre Antwort schien Luke nicht zufriedengestellt zu haben. Als er neben sie an den Bordstein trat, musste Chris sich zusammennehmen, um nicht zurückzuzucken. Er sah die Strasse entlang, als hielte er ebenso ungeduldig nach einem Taxi Ausschau wie sie.

"Ich kann mich immer noch nicht an Ihr neues Aussehen gewöhnen", fuhr er fort und sah auf sie hinunter. "Plötzlich fallen mir Dinge an Ihnen auf, die ich vorher nie bemerkt habe . .." Er schwieg, und Chris hatte das Gefühl, dass seine Worte ihn selbst mehr überraschten als sie selbst. "Es ist wirklich erstaunlich, was eine neue Frisur ausmacht."

Ein sonderbarer Ausdruck lag in seinen Augen. Chris wollte wegsehen, doch sie konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. "Ich hoffe, Sie sind der Meinung, dass sich Ihre Investition gelohnt hat", sagte sie so unbefangen wie möglich.

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Langsam streckte Luke die Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das bin ich", murmelte er. "Meine Investition hat sich mehr als gelohnt."

Bevor Chris noch begriff, was geschah, legte er ihr die Hand unter das Kinn, beugte sich hinunter und küsste sie.

Völlig überrumpelt, die Hände in den Taschen ihres Mantels gefangen, war Chris nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie fiel beinahe gegen seine harte, muskulöse Brust, und dann fühlte sie seine Arme um sich.

Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen. Während sie auf dieser nassen, unwirtlichen Strasse stand und Lukes Lippen auf ihren spürte, hatte Chris das Gefühl, sie sei wieder im sommerlichen Wald von Chittingdene. Es war das gleiche schmerzliche Verlangen, die gleiche Sehnsucht, die gleiche heiße Begierde, als sie seine Lippen schmeckte und den Griff seiner Hände im Nacken spürte.

Chris' Antwort entsprang reinem Instinkt. Sie öffnete die Lippen und ließ sich einfach gegen ihn sinken. In ihrem Inneren kämpften Erregung und Schuldbewusstsein miteinander und die Erkenntnis, dass kein anderer Mann solche Gefühle in ihr wecken konnte.

Sie wollte ihre Hände aus den Manteltaschen befreien, wollte sein Gesicht berühren und die markante Linie seines Kinns unter ihren Fingern spüren. Doch da hob Luke den Kopf und streckte seinen Arm aus, und ein Taxi kam quietschend neben ihnen zum Stehen.

Chris betrachtete es verwirrt, als habe sie noch nie ein Taxi gesehen. "Warum - warum haben Sie das getan?" brachte sie hervor.

"Ich wollte meine Investition nur ein wenig auskosten", sagte Luke. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, denn er wandte sich schnell ab und redete mit dem Fahrer. Dann schob er sie in das Taxi und schloss die Tür hinter ihr, als wäre nie etwas zwischen ihnen geschehen.

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"Wir treffen uns um halb elf Uhr am Flughafen", war alles, was er ihr durch das Fenster zurief. "Seien Sie pünktlich."

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6. KAPITEL In der Abflughalle herrschte reges Treiben, und Chris konnte

Luke zunächst nicht finden. Sie entdeckte ihn erst, als er plötzlich neben dem Gepäckschalter auftauchte. Er sah sich suchend um, warf immer wieder ungeduldige Blicke auf seine Armbanduhr und fragte sich offensichtlich, wo Chris steckte.

Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben, und das gab ihr einen Moment Zeit, ihr übliches beherrschtes Gesicht aufzusetzen, bevor sie auf ihn zuging.

In der Nacht hatte sie stundenlang wachgelegen und versucht, Lukes Kuss aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Doch sobald sie die Augen schloss, wurde die Erinnerung wieder lebendig: seine Hände, sein Mund, sein starker, männlicher Körper, der ihrem so erregend nah war.

Als sie allem in der Dunkelheit lag, war es leicht gewesen, sich selbst zu überzeugen, dass er sie einfach überrumpelt hatte. Nur deshalb hatte sie sich so willig seinen Armen überlassen. Nur deshalb hatten ihre Lippen unter dem festen Druck seines Mundes nachgegeben. Nur deshalb hatte sie seinen Kuss erwidert.

Schließlich beschloss sie, dass Luke sie nicht hätte küssen dürfen. Es war viel einfacher, ihm die Schuld zu geben als sich selbst, weil sie so hemmungslos reagiert hatte. Die angenehmste Erklärung war immer noch, dass es einfach eine Laune von ihm gewesen war, dass dieser Kuss ihm gar nichts bedeutet hatte. Und Chris war entschlossen, es Luke gleichzutun. Es war viel

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weniger peinlich für sie beide, wenn sie ihm gegenüber so tat, als hätte es diesen Kuss niemals gegeben.

Doch als sie Luke jetzt vor sich sah, als ihr Magen sich zusammenkrampfte und das Blut wie flüssiges Feuer durch ihren Körper strömte, da erschien ihr nichts mehr so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Kein Anzeichen ihres inneren Aufruhrs zeigte sich auf Chris' unbewegtem Gesicht, als sie Luke kühl einen guten Morgen wünschte Luke erwiderte ihren Gruß kurz angebunden, und sein Blick war undurchdringlich wie immer. Zu Chris' Erleichterung schien er keinen Wert auf eine Unterhaltung zu legen, während sie eincheckten und durch die Zollkontrolle in den Warteraum gingen. Er sah ziemlich missgelaunt aus, und Chris war froh, dass sie sich hinter der Maske der umsichtigen Sekretärin verstecken konnte.

Sie trug eines der Kostüme, die Luke für sie ausgesucht hatte: eine lässig geschnittene lachsfarbene Jacke über einem weichen, gleichfarbigen Rock und dazu eine cremefarbene Seidenbluse. Sie wusste, dass diese unauffällige Eleganz ihr hervorragend stand, doch Luke sagte nichts. Nachdem sie im Warteraum zwei freie Plätze gefunden hatten, öffnete Luke seinen Aktenkoffer und entnahm ihm einige Papiere, in die er sich vertiefte.

Sie betrachtete aus den Augenwinkeln seine finster zusammengezogenen Brauen und seinen zusammengekniffenen Mund. Luke wirkte hart und verschlossen, und wäre da nicht ihr klopfendes Herz gewesen, sie hätte nicht geglaubt, dass dies derselbe Mann war, der sie gestern Abend geküsst hatte.

Erinnerte er sich überhaupt daran? So, wie Chris ihn kannte, erschien es ihr nicht unmöglich, dass er die ganze Sache völlig aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, sobald sie außer Sicht gewesen war. Ihr erster Kuss damals hatte ihm nichts bedeutet, warum sollte es jetzt anders sein? Während sie ihn betrachtete, lag ein Ausdruck von Wehmut in ihren bernsteinfarbenen Augen, ohne dass es ihr bewusst wurde. Falls er sich an den

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Kuss erinnerte, dann hatte er ganz offensichtlich beschlossen, ihn zu vergessen.

Nun, das geschah ihr nur recht. "Ich nehme an, Sie erwarten von mir, dass ich mich für den

Kuss letzte Nacht entschuldige", sagte Luke plötzlich, ohne von seinen Papieren aufzublicken.

Chris hatte sich gerade in dem angenehmen Bewusstsein zurückgelehnt, dass die ganze Sache vergessen war. Nun fuhr sie zusammen und warf ihm einen nicht sehr freundlichen Blick zu. Sie hätte wissen sollen, dass man bei Luke immer auf der Hut sein musste. Sein Talent, sie in schwachen Momenten zu erwischen, war ihr noch nie ganz geheuer gewesen.

"Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", sagte sie. Obwohl ihre Stimme sich sehr kühl und beherrscht anhörte, konnte sie es nicht über sich bringen, ihn direkt anzusehen. Statt dessen betrachtete sie bewusst gleichgültig die Passagiere, die sich vor dem Duty-free-Shop drängten. "Ich habe es ohnehin nicht als ernst empfunden."

Er hob schlagartig den Kopf. Obwohl sie nicht in seine Richtung sah, konnte sie seinen durchdringenden Blick auf sich gerichtet fühlen.

"Nein? Und wie haben Sie es dann empfunden?" Warum kann er sich nicht damit zufrieden geben? dachte

Chris ärgerlich. Es sah ihm mal wieder ähnlich, die ganze Geschichte auch noch analysieren zu wollen.

"Sie haben doch ganz offensichtlich nicht darüber nachgedacht was Sie taten."

"Und woraus schließen Sie das?" In seiner Stimme lag ein ganz leiser, amüsierter Unterton,

und Chris warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Doch er hatte den Kopf schon wieder über seine Papiere gebeugt und kritzelte mit seinem Bleistift etwas an den Rand eines Blattes, Sie konnte nur sein markantes Profil erkennen.

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Was bildete er sich eigentlich ein, sie auf diese Art auszufragen? Noch dazu, wo er anscheinend nur halb bei der Sache war? Chris' verletzter Stolz meldete sich, und sie antwortete schärfer, als sie es zunächst beabsichtigt hatte.

"Das war doch ganz offensichtlich. Ich weiß, wie Ihre Rechnung aussieht: Mädchen plus Abendessen plus Dunkelheit gleich Kuss. Leider haben Sie vergessen, dass ich als Ihre Sekretärin die Unbekannte in der Gleichung bin."

"Ich habe wirklich etwas vergessen, nämlich, dass sich hinter Ihrem neuen, strahlenden Image immer noch die gleiche, missbilligende Chris verbirgt", sagte Luke trocken, während er eine letzte Bemerkung hinkritzelte und dann den Stift in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

"Es ist nicht mein neues Image. Es ist Ihres", betonte Chris trotzig.

"Oh, ich weiß nicht", sagte Luke nachdenklich. Er legte die Papiere in den Aktenkoffer zurück und ließ das Schloss zuschnappen. "Ich habe eigentlich nur die wunderschöne, reizvolle Frau in Ihnen entdeckt - die Sie sein könnten, wenn Sie es nur zuließen."

Chris fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, und sie suchte fieberhaft nach einer möglichst bissigen Antwort. Doch es fiel ihr nichts ein, und sie konnte nur finster vor sich hinstarren, während sie gegen die aufsteigende Wut ankämpfte. Es war wirklich leichter mit Luke umzugehen, wenn er sich unfreundlich benahm. "Ich will gar nicht schön und reizvoll sein", sagte sie schließlich verzweifelt. "Weil ich nicht so bin."

"Sie waren so, als ich Sie letzte Nacht küsste." "sie haben mich eben in einem schwachen Moment

erwischt", verteidigte Chris sich. Sie holte tief Luft und zwang sich, Luke direkt in die grauen Augen zu sehen. "Gestern noch haben Sie mir gesagt, wie erleichtert Sie seien, dass unser Verhältnis sich auf das rein Geschäftliche beschränkt. Deshalb

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wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich in Zukunft an Ihre Worte erinnern würden. Halten Sie das nicht auch für vernünftig?"

"Sehr vernünftig", sagte Luke spöttisch. "Etwas anderes hätte ich von einer vernünftigen Sekretärin wie Ihnen auch nicht erwartet, Chris." Er warf einen Blick auf die Abflugtafel. Chris war erleichtert, als er aufstand und damit ihre Diskussion beendete. "Kommen Sie, unser Flug wird gleich aufgerufen."

Paris lag unter einem typischen, sanften blaugrauen Schleier, als sie am Flughafen ein Taxi nahmen, das sie in die Innenstadt brachte. Im "0asis Hotel" an der Rue du Faubourg-St.-Honore, dem Stammhaus der Hotelkette Philippe Robards, waren Zimmer für sie reserviert. Chris war überwältigt von der unaufdringlichen Eleganz, die dort herrschte.

Während Luke sie beide in seiner üblichen, energischen Art am Empfang anmeldete, sah sie sich in der beeindruckenden Hotelhalle um. Wenn dies Philippe Robards Standard war, dann hatte Luke recht gehabt, sie zu einem neuen Image zu überreden.

Ein Page führte sie zu ihren Zimmern. Luke schien von der luxuriösen Umgebung unbeeindruckt. Er gab Chris gerade fünf Minuten Zeit, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor sie zum Treffen mit Philippe Robard aufbrachen.

"Hören Sie mir gut zu, Chris", sagte er, während sie vor dem Hoteleingang auf ein Taxi warteten. "Ich möchte, dass Sie liebenswürdig und charmant sind. Und dass Sie sich ja nicht unterstehen, Robard über seine schlechten Manieren zu belehren!"

"Das fiele mir nicht im Traum ein", sagte Chris beleidigt. "Tatsächlich nicht?" stieß Luke hervor. "Lächeln Sie, und

seien Sie freundlich, mehr verlange ich nicht. Nun lassen Sie sich mal anschauen ..." Er drehte sie zu sich herum und unterzog sie einer kritischen Inspektion, von den glänzenden Haaren zu den neuen, eleganten Schuhen. Die weichen Konturen ihres Kostüms verliehen ihr eine Art lässiger Eleganz, und die sanfte

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Farbe des Stoffs unterstrich ihren hellen Teint und ließ ihre bernsteinfarbenen Augen noch dunkler erscheinen.

Chris machte sich schon auf eine kritische Bemerkung gefasst doch Luke wandte sich wortlos ab, als das Taxi neben ihnen hielt' "Sie sehen gut aus", sagte er schließlich nur.

Philippe Robard war ein zierlicher Mann um die sechzig und hatte ein vornehmes, verschlossenes Gesicht. Er begrüßte sie höflich und stellte ihnen seinen Sohn Jacques vor, der Chris mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Jacques war sehr attraktiv mit seiner olivefarbenen Haut und den schmeichelnden dunklen Augen, und Chris konnte Lukes Abneigung fast körperlich spüren Neben den beiden eher zierlichen Franzosen wirkte er groß und hart wie Granit.

Nach dem einleitenden Austausch von Höflichkeiten ging man sehr schnell zum Geschäft über. Schon nach kurzer Zeit wurde klar, dass die Verhandlungen nicht leicht werden würden, denn Philippe Robard war ein ebenso gewiefter Taktiker wie Luke. Es wurde Französisch gesprochen, und das bedeutete, dass Luke zwar alles verstehen und sich in einfachen Worten selbst verständigen konnte, die Übersetzung seiner komplexen Gedankengänge aber Chris überlassen musste.

Während sie Philippe und Jacques die Aufgabe und Arbeitsweise von LPM erklärte, wurde Chris klar, dass es nicht so einfach sein würde, einen Vertrag in dieser Größenordnung abzuschließen. In Erinnerung an Lukes Ermahnungen tat sie ihr Bestes, lächelte und ließ ihren Charme spielen, bis sich selbst Philippes kühles Gesicht aufhellte. Jacques war offensichtlich noch mehr von ihr beeindruckt. Er betrachtete sie ständig mit seinen warm blickenden braunen Augen und erwiderte strahlend ihr Lächeln.

Die ganze Zeit war Chris sich sehr bewusst, dass Luke dicht neben ihr saß. Als er sich vorbeugte, um Philippe und Jacques Fotos von den bekannteren Projekten zu zeigen, an denen LPM beteiligt gewesen war, spürte sie seine unterdrückte

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Anspannung, und sie fragte sich, wieviel ihm dieser Vertrag wohl bedeutete. Obwohl er sehr überzeugend argumentierte, kannte sie ihn inzwischen doch gut genug, um zu wissen, dass er aus irgendeinem Grund ärgerlich war und das nur mühsam unterdrückte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Warum war er wütend? Die Gespräche liefen bisher zu ihrer vollsten Zufriedenheit, besser, als sie es sich vorgestellt hatten.

Als Luke sich schließlich in seinen Stuhl zurücklehnte, fing

Jacques- ihren Blick auf und lächelte ihr zu, und sie erwiderte sein

Lächeln höflich. Insgeheim war sie der Meinung, er solle sich lieber auf Lukes Angebot konzentrieren anstatt auf ihre Figur. Doch Luke hatte sie ermahnt, immer freundlich und liebenswürdig zu sein, und sie wollte ihm nicht alles verderben. In Gedanken immer noch mit ihm beschäftigt, sah sie ihn an, und der Blick, den er ihr zuwarf, war so voller Wut, dass sie ihn erstaunt ansah.

Philippe benutzte die Gesprächspause und stand auf. "Es tut mir leid aber ich habe noch eine Verabredung", sagte er in seinem schwerfälligen Englisch. "Vielleicht haben wir ja später Gelegenheit diese interessante Unterhaltung fortzusetzen?"

"Natürlich." Luke erhob sich ebenfalls. "Ich hoffe, Sie beide werden zum Abendessen meine Gäste sein?" Der Blick, den er Jacques zuwarf, war allerdings alles andere als einladend.

"Miss Finch wird doch auch dabei sein?" erkundigte sich Jacques und bedachte Chris mit einem strahlenden Lächeln.

"Natürlich", sagte Luke kurz angebunden. "In diesem Fall wird es uns ein Vergnügen sein! " In den Strassen drängten sich die Menschen. Luke ging

schnell den Bürgersteig entlang, ohne sich darum zu kümmern, ob Chris ihm folgte. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, und er hatte das Kinn ärgerlich vorgestreckt.

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Chris hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. "Die Gespräche sind doch bisher sehr gut verlaufen" , versuchte sie es aufs Geratewohl.

"Noch haben wir den Vertrag nicht in der Tasche" , erklärte Luke finster.

"Das nicht, aber ich glaube, sie waren beeindruckt. " "Oh, natürlich waren sie beeindruckt, aber wahrscheinlich

mehr von Ihrem Lächeln als von irgend etwas , das ich zu sagen hatte! Ich gebe ja zu, dass ich diesen Vertrag gern hätte, aber das sollte für Sie noch lange kein Grund sein, sich diesen Leuten so auf dem Silbertablett zu servieren! "

Chris blieb wie angewurzelt mitten auf dem Bürgersteig stehen. "Was, um alles in der Welt, meinen Sie denn damit?" erkundigte sie sich verblüfft.

"Ach, spielen Sie doch nicht die Unschuldige, Chris! All diese koketten Blicke in Jacques' Richtung, all diese kleinen Lächeln. Ich muss schon sagen, ich hätte nie gedacht, dass Sie ein solches Talent zum Flirten haben!"

"Flirten?" Sein Vorwurf war so ungerechtfertigt, dass sie Mühe hatte, das Wort hervorzubringen. "Ich habe nur freundlich zu sein und das zu tun versucht, worum Sie mich gebeten hatten - obwohl befehlen wahrscheinlich das bessere Wort wäre!"

"Es gibt einen Unterschied zwischen Freundlichkeit und dem Verhalten, das Sie an den Tag gelegt haben!"

Chris' Augen sprühten goldene Funken, während sie den Bürgersteig entlang stürmte. "Sind Sie eigentlich nie zufrieden? Sie waren es doch, der mich ständig ermahnt hat, charmant zu sein. Und genau das bin ich gewesen. Ich habe gelächelt und war freundlich, und jetzt machen Sie mir genau das zum Vorwurf und beschuldigen mich, geflirtet zu haben! Und wenn ich nicht gelächelt hätte, würden Sie mir jetzt wahrscheinlich vorwerfen, Ihre Chancen absichtlich zunichte gemacht zu haben, oder?"

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"Eine große Hilfe waren Sie für mich aber auch nicht gerade -einfach dazusitzen und diesem schleimigen Jacques schöne Augen zu machen!" entgegnete Luke, während er mit langen Schritten neben ihr herlief. "Lieber Himmel, was muss Robard sich nur gedacht haben!"

"Was sollte er sich schon denken? Dass Sie eine sehr nette und tüchtige Sekretärin haben, die für Sie übersetzt, was sonst?"

"Ja, eine Sekretärin, die ihr Bestes tut, um seinen Sohn von den Einzelheiten unseres Angebots abzulenken. Ich würde mich nicht wundern, wenn Robard glaubt, ich habe Sie dazu angestiftet, weil meine Vorschläge näherer Prüfung nicht standhalten könnten. Sie und Jacques haben soviel Zeit damit verbracht, sich gegenseitig anzulächeln, dass er keine Gelegenheit hatte, sich näher mit dem Angebot zu befassen."

"Er hat mich angelächelt, und ich habe sein Lächeln erwidert. Was hätte ich tun sollen - ihm den Rücken zukehren?"

Die Spannung, die den ganzen Tag schon zwischen ihnen bestanden hatte, entlud sich jetzt in einem Wutausbruch, der in keinem Verhältnis zu den Geschehnissen stand. Chris war außer sich vor Zorn. Sie hatte sich genauso verhalten, wie Luke es von ihr verlangt hatte, und was hatte sie davon? Er benahm sich wirklich unmöglich. So, wie er sich aufführte, konnte man fast glauben, er sei eifersüchtig. Und wenn ihr auch nur ein letztes Quentchen Verstand geblieben war, dann machte sie ihm auf der Stelle klar, dass er sich seinen Job an den Hut stecken konnte, und nahm den nächsten Zug nach Dijon zurück. Sollte er doch allein zusehen, wie er seinen verdammten Vertrag bekam!

Blind vor Wut trat Chris vom Bürgersteig auf die Strasse, ohne weiter nachzudenken. In der nächsten Sekunde fühlte sie eine Hand auf ihrem Arm, die sie mit eisernem Griff zurückriss, während ein verbeulter Renault mit quietschenden Reifen und lautem Hupen an ihr vorbei stieß. Durch das Wagenfenster sah sie gerade noch eine drohend erhobene Faust.

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"Um Himmels willen, passen Sie doch auf!" schrie Luke sie an. "Beinahe wären Sie tot gewesen!"

Chris versuchte, sich aus seinem stählernen Griff zu befreien. Doch Luke hielt sie fest am Arm gepackt, während er betont erst in die eine dann in die andere Richtung sah und Chris dann über die Strasse schob.

"Lassen Sie mich los!" "Wie wäre es mit einem kleinen Dankeschön, weil ich Ihnen

das Leben gerettet habe?" "Um ganz ehrlich zu sein, ich habe im Moment nicht die

geringste Lust, mich bei Ihnen für irgend etwas zu bedanken." Endlich gelang es Chris, ihren Arm zu befreien. "Und ich habe auch keine Lust, überhaupt noch weiter mit Ihnen zu reden, bevor Sie wieder zur Vernunft gekommen sind." Sie bog in eine Seitenstrasse ein. "Wir sehen uns später im Hotel."

Luke folgte ihr. "Sie sind auf Dienstreise hier, nicht zu Ihrem Vergnügen, Chris", sagte er gefährlich leise. "Und das bedeutet, Sie haben mich zu fragen, bevor Sie sich allein auf Erkundungstour begeben."

"Ich bin Ihre Sekretärin, nicht Ihre Sklavin. Ich habe ein Recht auf Freizeit, auch während einer Geschäftsreise."

Ein Muskel in Lukes Wange zuckte, "Na gut, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn Sie in dieser Stimmung sind, kann man ohnehin nicht vernünftig mit Ihnen arbeiten. Aber sehen Sie zu, dass Sie pünktlich wieder im Hotel sind und zwar in besserer Laune!"

Ausgerechnet er muss über Launen reden, dachte Chris erbittert, während sie davon stürmte. In Gedanken war sie so mit Lukes unmöglichem Verhalten beschäftigt, dass sie nicht darauf achtete, wohin sie eigentlich ging. Und so war sie ziemlich überrascht, als sie sich schließlich auf dem Boulevard Haussmann wiederfand. Entschlossen betrat sie eines der großen Kaufhäuser, in der festen Absicht, erst in letzter Minute ins Hotel zurückzukehren.

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Einige Zeit später erschien sie wieder mit einer großen Tragetasche und einem trotzigen Funkeln in den Augen. Wenn Luke dachte, sie habe schon alle ihre Register gezogen, was das Flirten anging, dann sollte er sie jetzt erst richtig kennenlernen!

Als sie ins Hotel zurückkehrte, begann es schon zu dämmern, und die Schaufenster entlang der Rue du Faubourg-St.-Honore glitzerten einladend, eines prächtiger ausgestattet als das andere Chris verlangsamte ihre Schritte, ohne sich um die Menschen zu kümmern, die um sie he r auf dem Weg nach Hause waren. Sie hatte es nicht eilig. Das französische Blut in ihr erfreute sich an der stilvollen Ausstattung der Auslagen.

Luke war nirgends zu sehen, während sie an der Rezeption ihren Schlüssel abholte und zu ihrem Zimmer ging. Doch sie hatte kaum den Schlüssel in das Schloss gesteckt, da wurde seine Tür geöffnet, so dass sie sich des Gefühls nicht erwehren konnte, er habe hinter der Tür auf ihre Rückkehr gewartet.

"Es wird ja auch langsam Zeit, dass Sie zurückkommen! Wo waren Sie denn so lange?" erkundigte er sich, und Chris' Hoffnung, er habe sich inzwischen beruhigt, sank auf den Nullpunkt.

"Ich war einkaufen", erwiderte sie kurz angebunden. "Typisch Frau! Kaum ist sie eine Nacht von zu Hause weg,

da rennt sie auch schon in den nächsten Laden." Luke fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar und betrachtete Chris finster. Offensichtlich war er bei der Arbeit gewesen. Er hatte die Ärmel hochgeschoben und seine Krawatte gelockert. "Ich hoffe, Sie sind rechtzeitig fertig."

Chris biss die Zähne zusammen. "War ich schon ein einziges Mal unpünktlich?"

"Nein. Aber da Sie so schlechter Laune sind, halte ich alles für möglich."

"Ich bin nicht schlecht gelaunt!"

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Zu ihrer Überraschung lächelte Luke. "O doch, das sind Sie. Ich weiß genau, wann Sie ärgerlich sind. Ihre Augen funkeln dann golden, und Sie stecken Ihr Kinn vor - so wie jetzt."

Chris beschloss, seine Worte nicht zu beachten. "Ich werde pünktlich fertig sein, wie immer", sagte sie kühl. "Wann sollen wir also hier losfahren?"

"Da wir die Robards im Restaurant treffen, sollten wir vor ihnen dort sein, meinen Sie nicht? Ich klopfe um sieben Uhr bei Ihnen an oder schaffen Sie es bis dahin nicht mehr, sich zurechtzumachen?"

Seine Augen funkelten boshaft. Und obwohl Chris wusste, sie würde sich sehr beeilen müssen, um pünktlich zu sein, wäre sie lieber gestorben, als es zuzugeben. "Sieben Uhr ist in Ordnung."

Chris duschte schnell, schlang sich ein Handtuch um die nassen Haare und setzte sich im Bademantel an das Toilettentischchen. Während ihres Stadtbummels war sie den Verlockungen einer exklusiven Parfümerie erlegen, und eines der perfekt geschminkten Mädchen hatte ihr gezeigt, wie sie sich in eine so kultivierte und verführerische Frau verwandeln konnte, dass sie sich selbst nicht mehr wiedererkannte.

Wie gut, dass ich immer noch mein französisches Scheckbuch habe dachte Chris, während sie die Ansammlung von Lidschatten, Rouge, Make-up, Puder und Wimperntusche vor sich ausbreitete. Der Einkaufsbummel hatte sie viel gekostet, und dabei waren die Kosmetika noch nicht einmal das teuerste gewesen.

Als sie sich schließlich zurücklehnte, um das Ergebnis zu begutachten, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Ihre Augen wirkten groß und weich, und ihr auffallend rot geschminkter Mund lockte verführerisch. Mit Puder und Rouge war sie sparsamer umgegangen, doch das Resultat war nicht weniger überzeugend.

Sie sah umwerfend aus.

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In einem Anflug von Panik überlegte Chris, dass sie niemals den Mut haben würde, so dieses Zimmer zu verlassen. Doch inzwischen war es zehn Minuten vor sieben, und sie hatte keine Zeit mehr, sich das Gesicht zu waschen und es noch einmal zu versuchen. Schnell fönte sie sich das Haar und schlüpfte in das Kleid, das sie heute gekauft hatte.

Noch nie hatte sie ein so gewagtes Kleid getragen. Es war aus schwarzer Seide, hatte kurze Ärmel und einen runden Ausschnitt. Von der Mitte aus reichte ein schmaler Schlitz noch tiefer, so dass das Tal zwischen ihren Brüsten sichtbar wurde. Der Kontrast zu ihrer hellen Haut war beinahe dramatisch. Versuchsweise lehnte sie sich ihrem Spiegelbild entgegen - und fuhr entsetzt zurück. Im Laden war ihr das Kleid gar nicht so indiskret vorgekommen. Sie würde den ganzen Abend steif wie ein Stock dasitzen müssen!

Fast schockiert betrachtete Chris ihr Spiegelbild. Das Kleid endete ein ganzen Stück über dem Knie, und die hochhackigen Schuhe betonten ihre langen, schlanken Beine. So hatte sie sich noch nie gesehen, mit diesem herausfordernden Blick in den Augen und dieser verführerischen, aufreizenden Figur.

Plötzlich klopfte es hart an die Tür, und sie hörte Lukes fragen;

"Sind Sie fertig?" Mit einemmal verschwanden Chris' letzte Zweifel. Sollte

Luke sie doch entlassen - aber an ihren Anblick würde er sich noch lange erinnern!

Sie nahm Tasche und Jacke und öffnete die Tür in dem Moment in dem Luke gerade die Hand erhoben hatte, um noch einmal zu klopfen.

Sekundenlang betrachtete er sie nur, und dann ließ er langsam die Hand sinken.

"Ich bin soweit", sagte Chris liebenswürdig, zog die Tür hinter sich zu und ging an ihm vorbei.

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Luke ließ seinen Blick langsam von ihren Beinen an ihrem Körper aufwärtsgleiten, bevor er ihr vorwurfsvoll ins Gesicht sah. "Das Kleid habe ich aber nicht gekauft!"

"Diesen alten Fetzen? Nein, ich habe es mitgebracht. Nur für den Fall, dass ich es doch brauchen könnte."

"So, tatsächlich?" Er betrachtete sie finster von Kopf bis Fuß. "Und was ist mit all den Kleidern, die ich Ihnen gekauft habe?"

"Oh, die sind natürlich sehr hübsch, aber Sie werden mir doch wohl erlauben, hin und wieder auch meine eigenen Sachen zu tragen, oder?"

"Nun, ich finde, Ihr Kleid ist für diese Gesellschaft nicht - hm, nicht ganz passend. Immerhin gehen wir zu einem Geschäftsessen, nicht in einen Nachtclub. Vielleicht hätten Sie daran denken sollen. " Lukes Gesichtsausdruck war ein einziger Vorwurf. Und dies war der Mann, der Helen in noch viel gewagterem Aufzug gesehen haben musste!

Doch in Anbetracht ihres neuen Selbstbewusstseins konnte Chris heute nichts erschüttern. "Nun seien Sie doch nicht so langweilig, Luke. Was ist gegen ein schwarzes Kleid zum Abendessen einzuwenden?"

"Es kommt immer darauf an, wie man es trägt! Und außerdem sind Sie reichlich stark geschminkt", sagte Luke mürrisch, während sie zum Fahrstuhl gingen. "Ich nehme an, Sie haben diesen ganzen Aufwand für Jacques betrieben? Erzählen Sie mir nicht, Sie haben sich von seinem falschen Charme einwickeln lassen!"

"Ich bin selbst halb Französin - erinnern Sie sich? Und ich kann Ihnen versichern, es ist nichts Falsches an Jacques' Charme", erwiderte Chris liebenswürdig, denn sie wusste, dass Luke das ärgern würde. "Im Gegenteil, Sie könnten eine Menge von ihm lernen.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und sie trat in den Lift, gefolgt von einem beleidigten Luke. Der Fahrstuhl war innen ganz mit Spiegeln ausgekleidet, die ihre Bilder dutzendfach

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zurückwarfen, Chris riskierte einen Blick in Lukes Richtung. In seinem schwarzen Abendanzug wirkte er irgendwie geheimnisvoll und - sehr gefährlich.

Als sie seinem Blick begegnete, sah sie schnell weg und hob unbewusst das Kinn.

Ich muss zugeben, das ist eine ganz neue Seite an Ihnen, Chris", sagte er. "Ich hätte nie gedacht, dass Sie überhaupt ein solches Kleid besitzen."

"Es gibt vieles, was Sie nicht über mich wissen." " Das scheint mir auch so. Haben Sie dieses Kleid schon oft

getragen?" "0 ja, zu mehreren Gelegenheiten." "In diesem Fall muss ich mich wundern, dass Sie immer noch

nicht dazu gekommen sind, das Preisschild abzunehmen", sagte Luke spöttisch und streckte die Hand aus, um das Schild von ihrem Kragen zu entfernen.

Chris fühlte, wie eine Gänsehaut sie überlief, als er die zarte Haut in ihrem Nacken berührte. Mit hochroten Wangen wehrte sie seine Hand ab, griff hinter sich und riss das Preisschild selbst ab. Wenn sie nur ein wenig mehr Zeit zum Anziehen gehabt hätte, wäre ihr das bestimmt nicht passiert!

Auf Jacques' Empfehlung hin hatte sie einen Tisch in einem Restaurant in der Rue de Buci, einer kleinen Strasse links der Seine, reservieren lassen. Es war schon recht voll, als sie eintrafen. Die Kellner mit ihren langen weißen Schürzen schlängelten sich geschickt zwischen den Tischen hindurch.

Luke sagte kaum ein Wort, doch Chris war in übermütiger Stimmung und bestritt den größten Teil des Gesprächs, während sie auf Philippe und Jacques warteten. Als die beiden schließlich erschienen, begrüßte sie sie herzlich und erntete dafür bewundernde Aufmerksamkeit.

Sie sprachen kurz über geschäftliche Dinge und wandten sich dann allgemeineren Themen zu. Chris erwies sich als unterhaltsame Gesprächspartnerin, und während sie beinahe

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unverschämt offensichtlich mit Jacques flirtete, beobachtete sie Luke aus den Augenwinkeln. Er bemühte sich wirklich nach Kräften, so auszusehen, als amüsierte er sich, doch an seiner Wange zuckte ein kleiner Muskel verräterisch.

Chris wusste später nicht mehr, was sie eigentlich gegessen hat ten. Sie erinnerte sich nur noch an Jacques' bewundernde Blicke die sich auf ihren Ausschnitt hefteten, sobald sie sich vorbeugte' Und an Philippes amüsiertes Gesicht, während er sie beide beobachtete. Als sie sich einmal in einem Spiegel erblickte, erkannte sie sich selbst nicht wieder. War sie das wirklich, diese Fremde mit den geröteten Wangen, den glitzernden Augen und dem mutwilligen Lächeln auf den Lippen? Es musste doch mehr von ihrer Mutter in ihr stecken, als sie bisher angenommen hatte!

Sie erinnerte sich auch an Luke. An seine ausdrucksvollen Gesten, während er mit Philippe redete. An sein leichtes Lächeln, das sie nicht einschloss. An die Art, wie er den Kopf drehte, wenn er mit dem Ober sprach. Als sie einmal aufsah, blickte sie direkt in seine unerbittlichen grauen Augen, bis er sich schließlich gleichgültig abwandte. Plötzlich war ihr sehr heiß, und sie trank schnell einen Schluck aus ihrem Weinglas.

Jacques war von seiner liebenswürdigen Begleiterin entzückt und versuchte, sie zu einem Nachtclubbesuch zu überreden. Doch bevor Chris höflich ablehnen konnte, kam Luke ihr schon zuvor.

"Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen", sagte er kühl. "Aber da Chris morgen einiges für mich zu erledigen hat, muss ich leider Einspruch erheben."

Jacques sah aus, als wollte er protestieren, doch Philippe nickte zustimmend. "Sie haben recht, wir sollten jetzt lieber nach Hause gehen." Er stand auf und streckte Luke die Hand entgegen. "Morgen früh um neun Uhr habe ich eine Unterredung mit meinen Direktoren. Bitte kommen Sie um elf in mein Büro, und ich werde Ihnen unsere Entscheidung mitteilen."

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7. KAPITEL Chris hatte den Robards kaum eine gute Nacht gewünscht, da

ergriff Luke sie auch schon am Arm und zog sie beinahe hinter sich her den Bürgersteig entlang. Vergeblich versuchte sie, sich umzudrehen, um Jacques zum Abschied zuzuwinken.

"Der Taxistand ist aber in der anderen Richtung", protestierte sie schließlich.

"Wir gehen zu Fuß ins Hotel zurück. Die frische Luft wird uns beiden gut tun, besonders Ihnen. Auf die Weise bekommen Sie wenigstens wieder einen klaren Kopf."

"Mir geht es aber sehr gut", wandte Chris eigensinnig ein. "Morgen früh sprechen wir uns wieder. Obwohl Sie das

anscheinend vergessen haben. Sie sind hier, um für mich zu arbeiten. Ich brauche Sie morgen früh, und zwar nüchtern, nicht mit einem Katzenjammer!"

Der Wein und die Bewunderung der Robards hatten Chris in eine übermütige Stimmung versetzt, und sie hob trotzig das Kinn. "Warum sollte ich morgen einen Kater haben? Soviel habe ich gar nicht getrunken."

"Das denken Sie! Ich glaube, ich habe Ihnen klargemacht, dass es sich hier um ein Geschäftsessen handelte?"

"Sehr klar, vielen Dank." "Und warum haben Sie sich dann nicht entsprechend

benommen?" erkundigte Luke sich wütend. "Von Ihrer übertriebenen Aufmachung ganz zu schweigen. Und die Art,

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wie Sie sich ständig zu Jacques hinüberlehnten, damit er auch ja in Ihren Ausschnitt blicken konnte! Es war Ihnen deut lich anzusehen, dass Sie an alles dachten, nur nicht ans Geschäft!"

"Wenn wir schon zu Fuß laufen müssen", unterbrach Chris ihn, dann bitte etwas langsamer. Hochhackige Schuhe eignen sich nicht besonders für ein Wettrennen!"

Erbittert über ihre Gleichgültigkeit, stürmte Luke weiter, ohne ihre Worte zu beachten. "Und dieses Kleid ist einfach - einfach unanständig!"

"Wenn Helen ein solches Kleid trägt, haben Sie wohl kaum etwas dagegen!"

"Helen ist auch nicht meine Sekretärin", erwiderte Luke eisig "Sie sind es aber. Vielleicht sollten Sie sich daran erinnern, wer Ihnen dieses großzügige Gehalt bezahlt."

"Es würde mir auch schwerfallen, es zu vergessen, da Sie mich doch alle fünf Minuten daran erinnern!" fauchte Chris zurück. "Und mein Kleid ist nicht unanständig. Im Gegenteil, ich finde es sehr elegant und diskret."

"Dann erzählen Sie mir mal was an diesem Ausschnitt diskret sein soll. Jacques konnte den ganzen Abend kaum den Blick davon losreißen!"

"Der Ausschnitt ist schon ein wenig gewagt", gab Chris zu, "aber nur, wenn ich mich vorbeuge. Und das habe ich nicht allzu oft getan."

"Jedes Mal, wenn Sie nach Ihrem Glas griffen, hatte man einen sehr schönen Einblick", sagte Luke brutal offen. "Und da Sie anscheinend die Absicht hatten, uns alle unter den Tisch zu trinken, geschah das ziemlich oft!"

"Ach, Unsinn!" entgegnete Chris eigensinnig. Sie befreite ihren Arm aus seinem Griff und blieb unter einer Straßenlaterne stehen. "Könnten wir uns nicht irgendwo hinsetzen? Ich habe schon Seitenstechen."

Luke blieb ebenfalls stehen und betrachtete sie resigniert. "Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist, Chris. Sie waren immer

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so zurückhaltend und haben sich nur für Ihre Arbeit interessiert. Doch seit wir in Paris sind, haben Sie sich in eine ‚femme fatale' verwandelt!"

"Und wessen Schuld ist das?" erwiderte Chris. "Wer hat mich dazu gebracht, mir das Haar abschneiden zu lassen? Wer hat mir neue Kleider gekauft? Ich glaube, Sie sollten sich allmählich entscheiden, was Sie eigentlich wollen, Luke. Sie waren es doch, der darauf bestand, ich solle mich wie eine welterfahrene Frau benehmen. Tue ich das denn nicht?"

Luke hob eine Schulter. "Ja." "Wo liegt dann das Problem?" Er presste wütend die Lippen zusammen und betrachtete sie

finster, während sie unter der Straßenlaterne stand und sich die schmerzenden Beine rieb.

Ich mag es einfach nicht", gab er schließlich widerwillig zu. "Jedes Mal, wenn ich Sie sehe, scheinen Sie eine andere Frau zu sein. "

Chris richtete sich langsam auf. Luke sah ärgerlich und verblüfft aus und bei seinem Anblick schwanden ihre Wut und all ihre großartige Überlegenheit dahin wie Schnee in der Sonne. Schlagartig schien ihr alles so klar und verständlich, als habe sich plötzlich eine Nebelwand über ihren verwirrenden Gefühlen gehoben. Im Lichtkreis der Laterne stand Luke vor ihr und betrachtete sie, und in der Dunkelheit der verschwimmenden Strasse hob er sich deutlich ab und wirkte überwältigend stark.

"Das ist nur äußerlich", versicherte sie ihm leise. "Auch wenn ich vielleicht anders aussehe - im Grunde bin ich immer noch die gleiche unauffällige, langweilige Sekretärin."

Er ließ die Schultern sinken. "Sie waren niemals unauffällig, Chris, und langweilig schon gar nicht. "Er lächelte leicht. "Und ich hoffe, Sie sind immer noch die gleiche Chris wie früher."

Die gespannte, gereizte Atmosphäre, die seit Lukes Kuss zwischen ihnen geherrscht hatte, löste sich plötzlich in nichts

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auf. Statt dessen war da ein ganz neues Gefühl, das schöner, aber vielleicht gerade deshalb um so gefährlicher war.

"Nun, ich bin es immer noch", sagte Chris schließlich so unbefangen wie möglich und versuchte, sich nicht von seinem Lächeln ablenken zu lassen.

"Das klingt schon eher nach der Chris, die wir alle kennen und ..." Luke schwieg den Bruchteil einer Sekunde, bevor er den Satz vollendete, " ... und lieben."

Seine letzten Worte stürzten sie in Verwirrung, und sie spürte, wie ihr Herz sehr langsam und beinahe schmerzhaft klopfte, während Luke sie im Schein der Laterne beobachtete.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. "Es wird kühl", sagte sie, um das lastende Schweigen zu brechen. "Wir sollten lieber gehen."

"Wenn Sie möchten, können wir auch ein Taxi nehmen. Diese Schuhe bringen Ihre Beine zwar wunderbar zur Geltung, sind aber wahrscheinlich nicht gut für Ihre Füße!"

"Nein, ich möchte zu Fuß laufen", wehrte Chris ab. "Es geht schon."

Es war eine klare, mondhelle Nacht, und Chris spürte die laue Luft auf den Wangen, während sie schweigend zur Seine und über Pont St.-Michel auf die Ile de la Cite gingen. Auf der Brücke blieben sie eine Weile stehen und betrachteten die Lichter der Stadt, die sich in den tanzenden Wellen spiegelten.

Menschen gingen schweigend an ihnen vorbei, als wären sie nur Statisten in einem Film, dessen Hauptdarsteller Chris und Luke waren. Chris betrachtete die von Scheinwerfern erhellten, ehrfurchtgebietenden Umrisse von Notre-Dame, die sich gegen den dunklen Himmel abhoben. Doch ihr Denken und Fühlen war ganz auf Luke gerichtet, der dicht neben ihr stand, ohne sie zu berühren.

"Es tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe", sagte er schließlich und blickte in das stille dunkle Wasser unter ihnen.

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Das kam so unerwartet, dass Chris der Atem stockte. "Ich muss mich auch für mein Benehmen entschuldigen", sagte sie leise, immer noch in Richtung Notre-Dame gewandt.

Sie schwiegen beide. Als sie ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zuwarf, merkte sie, dass auch er sie ansah. Es war zu dunkel, um den Ausdruck in seinen Augen zu erkennen, doch in ihnen spiegelten sich die Lichter der Stadt. Schließlich lächelte er sie an, und sie erwiderte sein Lächeln, erfüllt von unbeschreiblichem Glück.

"Kommen Sie", sagte er und nahm sie am Arm. "Wir sollten zum Hotel zurückgehen."

Langsam gingen sie am Louvre vorbei und wanderten durch enge, verlassene Nebenstrassen. Chris hatte das Gefühl, sie beide seien allein in Paris. Es gab nur Luke und die verlässliche Wärme seiner Hand, die sie auf ihrem Arm spürte. Sie sprachen kaum, doch es war kein peinliches Schweigen.

Einmal hielten sie vor einer Fromagerie an, um die appetitlich aussehenden Käsesorten im Schaufenster zu betrachten. Da gab es große Roqueforts und cremige Bries und riesige Stücke Gruyere. Sie sahen kleine Fässchen, in denen verschiedene Schafskäse in Kräuteröl eingelegt waren, und Dutzende von anderen Käsesorten in jeder Größe und Form. Auch das gehörte zu Paris.

Luke deutete auf einen Chevre, doch Chris hörte kaum, was er sagte. Sie betrachtete seine ausgestreckte Hand und erinnerte sich an seine warmen, starken Finger auf ihrem Nacken. Während sie ihren Blick zu seinem Mund wandern ließ, fragte sie sich, wie es wohl sein mochte, wenn er die weiche, empfindliche Haut unter ihrem Ohr küsste. Bei diesem Gedanken erschauerte sie, und ein so wildes Begehren durchflutete ihren Körper, dass sie einen Moment den Atem anhalten musste. Schnell zwang sie sich, wieder in das Schaufenster zu blicken, obwohl sie nichts sah. Mit aller Kraft unterdrückte sie den überwältigenden Wunsch, sich gegen den

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Mann neben ihr zu lehnen, ihre Hände über seine breite Brust gleiten zu lassen, den Puls unter der weichen Haut an seinem Hals an ihren Lippen zu spüren, seinen Kopf zu sich herunterzuziehen, um seinen faszinierenden Mund zu küssen.

"Sind Sie in Ordnung, Chris?" Luke sah besorgt auf sie hinunter.

"Ja", brachte sie mit heiserer Stimme hervor und trat schnell aus dem Lichtkreis des Schaufensters ins Halbdunkel zurück, damit er ihr Gesicht nicht sah. Die Erkenntnis kam ganz plötzlich, und sie brachte Verzweiflung mit sich. Sie, Chris, hatte sich in Luke verliebt.

Luke hatte recht gehabt. Als Chris am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich elend. Nur verschwommen erinnerte sie sich an das, was letzte Nacht passiert war, bis auf einige wenige deutlichere Bruchstücke, das Restaurant, die beleuchtete Kathedrale von Notre-Dame, die Fromagerie - und die entsetzliche Erkenntnis, dass sie Luke hoffnungslos liebte.

Oder hatte sie ihn schon die ganze Zeit geliebt und sich nur geweigert, es sich einzugestehen?

Chris ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. In ihrem Kopf hämmerte es, und sie betrachtete sich widerwillig im Spiegel. Wassertropfen hingen noch an ihren Wimpern, und in ihren übergroßen dunklen Augen spiegelte sich die Qual ihres Herzens.

Wie hatte sie nur ein zweites Mal auf Luke hereinfallen können? Sie hätte diese Stelle niemals annehmen dürfen. Es gab schließlich noch andere Jobs auf der Welt. Sie wusste doch, was für ein Mensch er war!

Mit der Art von Liebe, die sie für ihn empfand, konnte er nichts anfangen. Seine Frauen mussten zynisch und distanziert sein und seine Sekretärinnen kühl und beherrscht. Und da sie nun einmal seine Sekretärin war, würde sie ihr Bestes tun, um seinen Vorstellungen gerecht zu werden. Luke durfte niemals erfahren, was sie für ihn empfand.

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Lautes Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Luke. Während sie den Bademantel enger um sich zog und zur Tür ging, befahl sie sich, ganz ruhig zu bleiben. Er musste glauben, sie sei so kühl und beherrscht wie immer.

"Sie sehen schrecklich aus", sagte Luke nach einem Blick in ihr Gesicht. "Ich habe Sie ja gewarnt, dass Sie heute morgen einen fürchterlichen Kater haben würden!"

"Ich habe keinen Kater", log Chris. "Ich fühle mich nur ein wenig angegriffen."

"Das ist die Strafe, weil Sie ein solches Kleid getragen haben " Luke klang mitleidslos, doch seine Augen funkelten amüsiert während er ihr ungeschminktes Gesicht und die zerzausten Haare betrachtete. "Ich muss schon sagen, es macht mir Spaß, Sie einmal in nicht ganz perfektem Zustand zu sehen!" Er selbst trug einen grauen Anzug und brannte offensichtlich darauf, mit der Arbeit zu beginnen.

Chris fragte sich, wie er fertig brachte, so unverschämt wach und tatendurstig auszusehen. "Ich bin nicht gewohnt, soviel Wein zu trinken", erklärte sie.

"So, wie Sie sich gestern Abend benommen haben, würde Ihnen das keiner glauben." Luke griff in seine Jackentasche und zog eine Schachtel Aspirin hervor. "Hier, nehmen Sie davon zwei", befahl er schroff. "Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Ich habe noch etwas zu erledigen, und danach gehen wir zusammen zu den Robards."

Als Luke zurückkehrte, trug Chris denselben Rock wie am Vortag, doch statt der Bluse einen leichten zartgrünen Pullover. Sie wirkte sehr ruhig und beherrscht, obwohl sie sich überhaupt nicht so fühlte.

In Philippe Robards Vorzimmer ließ man sie fast vierzig Minuten warten. Luke wurde immer gereizter und schlich wie ein gefangenes Raubtier im Raum herum, während er sich selbst zu überzeugen versuchte, dass er den Vertrag bekommen würde- Chris hätte ihn am liebsten tröstend in die Arme genommen.

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Doch seine Nervosität war ansteckend, und so saß sie hoch aufgerichtet auf ihrem Stuhl und hoffte aus tiefstem Herzen, dass ihr Verhalten letzte Nacht ihn nicht um seine Chancen gebracht habe.

"Wo steckt Robard bloß?" Luke warf schon wieder einen Blick auf seine Armbanduhr. "Es kann doch wohl nicht so lange dauern, zu einer Entscheidung zu kommen! 'o

"Philippe sagte doch gestern, dass einige seiner Direktoren den Vertrag lieber einer französischen Firma geben würden."

"Aber unser Angebot ist unschlagbar", gab Luke zurück, als müsse er auch sie überzeugen. "Sie müssen uns den Vertrag einfach geben. Wir haben schließlich die größte Erfahrung und Kompetenz."

"Aber in Verhandlungen mit Franzosen haben Sie keine Erfahrung", gab Chris zu bedenken.

"Nein, aber Sie dafür um so mehr- angesichts der Sachkenntnis, mit der Sie gestern Abend mit Jacques verhandelt haben!" erwiderte Luke bissig.

Chris wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass es nicht gerade die feine Art sei, seine Nervosität an ihr auszulassen, da wurde die Tür geöffnet, und Philippe Robard betrat das Zimmer. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, Monsieur Hardman, Mademoiselle Finch", sagte er, indem er zuerst Luke und dann Chris die Hand schüttelte. "Sie mussten sehr lange warten, doch jetzt hat der Vorstand endlich seine Entscheidung gefällt. Wir akzeptieren Ihr Angebot."

Luke atmete erleichtert auf und lächelte dann- "Vielen Dank", sagte er einfach.

"Ich muss zugeben, dass es einigen Widerstand gegeben hat, eine bei uns noch unbekannte englische Firma mit der Aufgabe zu betrauen. Doch Jacques und mir ist es schließlich gelungen, die anderen Direktoren zu überzeugen, dass es dank Mademoiselle Finch bei der Kommunikation keinerlei Schwierigkeiten geben wird."

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Chris, die ihre Freude kaum verbergen konnte, warf Luke einen gespannten Blick zu. Doch nach jenem ersten, verräterischen Lächeln hatte er seine Beherrschung schnell zurückgewonnen. Während er und Robard sich darauf einigten, die Einzelheiten ihres weiteren Vorgehens zu einem späteren Zeitpunkt zu besprechen, hielt sie es für besser, sich ebenso ruhig und beherrscht zu geben. Philippe begleitete sie persönlich in die Halle hinunter und verabschiedete sie vor dem Eingang.

Luke und Chris gingen schweigend und scheinbar gelassen den Bürgersteig entlang. Doch Philippe war kaum außer Sicht, da blieb Luke unvermittelt stehen.

"Er hat uns den Vertrag gegeben", sagte er, als wäre es ihm gerade erst bewusst geworden.

"Ja, das hat er." Chris lächelte angesichts seines verwunderten Ausdrucks. "Also hat ihm mein Kleid anscheinend doch gefallen."

Luke zog sie, übermütig lächelnd, in die Arme und schwang sie im Kreis herum. "Wir haben es geschafft!" rief er, und Chris lachte laut, von seiner Erregung mitgerissen.

Beide wurden sich im gleichen Moment bewusst, wie eng er sie an sich gedrückt hielt. Dennoch gab Luke sie nicht sofort frei, sondern sah in ihr lachendes Gesicht hinunter. Ganz langsam verschwand sein Lächeln, und in seine Augen trat ein neuer, beunruhigender Ausdruck.

Einen langen, langen Moment sahen sie sich nur an, und dann verstärkte sich Lukes Griff um ihre Hände.

Gleich wird er mich küssen, dachte Chris. Panik stieg in ihr auf denn sie wusste, dass sie ihm nicht würde widerstehen können. Und sie wusste auch, dass ihre Reaktion ihm die Gefühle für ihn verraten würde.

Doch Luke küsste sie nicht. Statt dessen ließ er sie langsam, fast widerstrebend los. "Beinahe hätte ich es vergessen", sagte er.

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"Was?" fragte Chris, selbst erschrocken darüber, wie heiser ihre Stimme sich anhörte.

"Sie wollten unsere Beziehung doch auf das Geschäftliche beschränken, nicht wahr?"

Er betrachtete sie prüfend, als hoffte er, sie würde ihm widersprechen, doch Chris nickte. Es war besser so. "Ja."

"Sie haben gesagt, dass es so am vernünftigsten sei." Das war es. Eine schwere, aber vernünftige Entscheidung.

"Ja", wiederholte sie. Eine kleine Pause entstand. Dann strich Luke seine Jacke

glatt. "Ich glaube, wir haben Grund zum Feiern", sagte er schließlich.

Er führte sie in ein Café, das an einem kleinen, kopfsteingepflasterten Platz im Herzen von Paris lag. Das Wetter präsentierte sich gar nicht frühlingshaft, und da es zu kühl war, um draußen zu sitzen, suchten sie sich im Café einen Platz direkt am Fenster. Luke bestellte eine Flasche Sauvignon, und dazu aßen sie einen herzhaften Ziegenkäse und würziges, hartes Brot. Chris schob ihr Weinglas auf der Plastikdecke herum und hinterließ überall feuchte Kringel, bis Luke ihr befahl, mit dem Unsinn aufzuhören und den Tisch mit einer Papierserviette sauberwischte.

Die momentane Verlegenheit zwischen ihnen war verschwunden. Sie unterhielten sich lebhaft und aufgeregt über den Vertrag, schmiedeten Pläne und überlegten gemeinsam, welche Auswirkungen dieser Erfolg auf die Firma haben würde.

Chris war glücklich. Diese Erkenntnis überraschte sie, denn Luke würde ihr wahrscheinlich eher das Herz brechen als ihre Liebe erwidern. Und dennoch, während sie hier im Café saß und Paris an sich vorüberziehen ließ, war sie zufrieden. Denn er war bei ihr, dieser schroffe, unzugängliche Mann. Er saß ihr gegenüber und redete begeistert über seine Arbeit, und seine bloße Anwesenheit machte, sie glücklich.

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Nachdenklich verschränkte sie die Arme auf der Tischplatte und lehnte sich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Zwei alte Damen, beide ganz in Schwarz gekleidet, standen mitten auf dem Platz und schwatzten miteinander. Neben der einen stand eine große karierte Einkaufstasche, aus der ein riesiges Stangenbrot ragte. Die andere schien sich mit weitschweifigen Gesten und ausdrucksvollem Mienenspiel über etwas zu beschweren.

In Chris' bernsteinfarbenen Augen lag ein weicher Ausdruck, und sie hatte den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen, während sie die Szene beobachtete.

"Worüber freuen Sie sich?" erkundigte Luke sich. "Ich bin einfach glücklich", sagte sie schlicht. "Hmm." Luke betrachtete sie misstrauisch, aber auch

spöttisch. "Ich hätte nie gedacht, dass eine meiner Sekretärinnen sich

jemals als glücklich bezeichnen würde. Die meisten von ihnen waren die halbe Zeit in Tränen aufgelöst und beschwerten sich, dass ich sie tyrannisiere." In der Erinnerung daran verzog er das Gesicht.

Chris lachte, und in ihren Augen tanzten goldene Funken. "Das haben Sie wahrscheinlich wirklich getan."

"Sie tyrannisiere ich auch, aber Sie haben noch nie geweint." "Vielleicht sollte ich das zur Abwechslung mal tun!" "Bitte nicht. Solche Heulsusen sind mir gründlich zuwider.

Ich war immer der Meinung, wenn sie sich nicht mit meiner aufbrausenden Art abfinden konnten, dann hätten sie nicht für mich arbeiten sollen." Er schwieg und betrachtete Chris nachdenklich. "Allein in den letzten zwei Jahren hatte ich nicht weniger als zwölf Sekretärinnen. Und Sie sind die erste, die sich nichts von mir gefallen lässt."

"Nun, ganz so schlimm sind Sie ja auch nicht", erwiderte Chris heiter. Sie fühlte sich ganz lächerlich glücklich. Vorsicht, warnte eine innere Stimme sie. Sie durfte sich ihre Gefühle nicht

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anmerken lassen. Es war verlockend, einfach herauszuschreien, dass sie ihn liebte, doch damit würde sie alles verderben. Wenn sie die Dinge so beließ, wie sie waren, dann konnte sie ihm zumindest tagsüber immer nahe sein. "Immerhin haben Sie mich in dieses Cafe eingeladen. Ich bin ziemlich leicht zufrieden zustellen."

Luke zögerte, bevor er in die Innentasche seiner Jacke griff und eine schmale, kunstvoll verpackte Schachtel zum Vorschein brachte. "Da Sie ja so leicht glücklich zu machen sind, wäre dies hier wahrscheinlich gar nicht nötig, aber ich möchte es Ihnen trotzdem gern geben." Er legte das Päckchen vor sie hin, und Chris betrachtete es erstaunt. "Ich wollte es Ihnen eigentlich erst in London überreichen", setzte er leicht verlegen hinzu. "Es soll ein kleines Dankeschön für Ihre Hilfe sein. Ich weiß, ohne Sie wäre es mir bestimmt nicht gelungen, den Vertrag zu bekommen."

"Aber Luke ..." Chris wusste nicht, was sie sagen sollte. Ganz vorsichtig nahm sie die Schachtel in die Hand. "Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich habe doch nur meine Arbeit getan."

"Wenn Sie diese Vorstellung gestern Abend Arbeit nennen wollen ..." Beide waren plötzlich etwas verlegen, mussten dann aber lachen. "Man hat es mir im Geschäft eingepackt", erklärte Luke als sie vorsichtig an der goldenen Schleife zog.

"Das habe ich mir schon gedacht." Es war unvorstellbar, dass Luke mit seinen großen Händen so etwas Kniffliges wie diese kunstvolle Verpackung zustande bringen sollte.

Unter dem Papier kam eine schmale Schmuckschatulle aus Leder zum Vorschein. Chris warf Luke einen verwunderten Blick zu, während sie die Schachtel langsam öffnete. Auf leuchtender Seide lag eine kunstvoll gearbeitete Brosche, eine einzelne große Perle, die von zwei altmodischen goldenen Ornamenten eingefasst wurde.

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Chris fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. "Das ist wunderschön" , brachte sie leise hervor.

"Ich dachte, Sie könnten sie gut zu Ihrem schwarzen Kleid tragen", sagte Luke ernst und schien gerührt von ihrer Reaktion zu sein. Als er Chris' zitternden Mund bemerkte, fügte er hinzu: "Aber deshalb werden Sie sich doch nicht in eine Heulsuse verwandeln?"

"Nein." Chris schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre schimmernden Haare flogen, und schniefte ganz unromantisch. "Vielen Dank", flüsterte sie. Und bevor ihr so richtig bewusst wurde, was sie tat, hatte sie sich schon vorgebeugt und ihn sanft auf die Wange geküsst. Diese fühlte sich gleichzeitig rau und weich an, und sie roch den sauberen, männlichen Duft, der ihn umgab.

Luke hob die Hand und legte sie über ihre. Als sie sie wegzuziehen versuchte, verstärkte er seinen Griff, und er hielt ihre Hand immer noch, als sie sich in ihren Stuhl zurücklehnte. Plötzlich war sie verlegen.

"Sie tragen nie Schmuck", sagte er, indem er ihre Hand umdrehte und ihre Finger aufmerksam betrachtete. "Warum eigentlich nicht?"

"Ich fürchte, einen sehr teuren Geschmack zu haben", bekannte Chris, immer noch leicht verwirrt. Sie war sich seiner wannen Berührung überwältigend bewusst, spürte seine starken, schlanken Finger rau auf ihrer weichen Haut. "Ich möchte nur etwas tragen, was lohnt, getragen zu werden - wie diese Brosche."

"Wie schade. Sie haben so wunderschöne Hände. Das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung bemerkt. Sie lackieren sich auch nie die Nägel, nicht wahr?" Er ließ den Daumen sacht über ihre Nägel gleiten.

Obwohl nur ihre Fingerspitzen sich berührten, wurde Chris von einer Woge des Verlangens überflutet. Ihre Haut prickelte, und sie fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen stieg und ihr

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Magen sich zusammenkrampfte, während Leidenschaft heiß durch ihre Adern strömte.

"Vielleicht wird Ihnen jemand eines Tages Ringe kaufen", fuhr Luke fort. "Vielleicht." Ihre Stimme klang heiser, und Chris räusperte sich schnell.

Lukes Blick war undurchdringlich. "Aber Sie sollten sich niemals für Diamanten entscheiden. Diamanten sind zu hart für Sie. Steine mit einem warmen Glanz stehen Ihnen besser, Rubine oder Smaragde oder Perlen. Oder Topase, passend zu Ihren Augen."

Es kostete Chris große Anstrengung, ihre Hand wegzuziehen. "Das Problem habe ich im Moment noch nicht", sagte sie kurz angebunden. Es war einfach unfair von ihm. Merkte er denn nicht, wie sie sich danach sehnte, bei ihm zu sein? Spürte er nicht, dass ihr die Haut unter seinen Berührungen brannte?

Sie war seine Sekretärin, daran musste sie immer denken. Kühl. Vernünftig. Tüchtig. Hatte sie nicht beschlossen, so zu sein? War sie nicht tatsächlich so?

Chris ließ den Deckel der Schmuckschatulle zuklappen und drehte sie nachdenklich in den Händen. Sie hielt den Kopf gesenkt, so dass Luke nur ihre dunklen Wimpern sehen konnte.

"Nein, im Moment habe ich dieses Problem noch nicht", sagte sie noch einmal, wie zu sich selbst.

Die freundschaftliche Atmosphäre war verschwunden, und lastendes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Chris merkte, dass sie die Schachtel zu fest umklammerte und ließ sie behutsam los. Ihre Hände versteckte sie unter dem Tisch, damit Luke nicht sah, wie sie zitterten.

Blicklos starrte sie auf den Aschenbecher, der für Gauloises warb. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lukes Gesicht: die gerade Nase, seinen festen Mund, das entschlossen wirkende Kinn. Die Falten um seinen Mund und um seine Augen - sie sah alles genau vor sich. Und sie sehnte sich danach, ihn zu berühren.

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Plötzlich hob Luke sein Weinglas und leerte es in einem Zug. "Kommen Sie", sagte er und stellte das Glas mit einem Ruck auf den Tisch zurück. "Unsere Maschine geht bald. Wir sollten besser gehen."

Der Rückflug nach London verlief schweigsam. Luke hatte sich in seine Papiere vertieft, und Chris betrachtete durch das Fenster wie sich die grauen Wolken gegen den blauen Himmel abhoben' und rief sich all die Gründe ins Gedächtnis, weshalb sie Luke nicht lieben sollte.

Es war zwecklos. Es war töricht. Sie würde nur ihr Leben vergeuden. Und er war noch nicht einmal besonders nett. Sie würde viel besser daran tun, sich in jemanden zu verlieben, der ihr Bewunderung entgegenbrachte, wie zum Beispiel Jacques. Die vernünftigste Erklärung war noch, dass Paris ihr einfach zu Kopf gestiegen war. In Zukunft würde sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren und vergessen, dass Luke irgend etwas anderes war als ihr Chef.

Zumindest würde sie es versuchen.

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8. KAPITEL In den nächsten Wochen gab es noch viel zu tun, bis alle

Vertragsbestandteile festgelegt waren. Chris hatte kaum Zeit zum Nachdenken und war dankbar dafür. Als sie schließlich morgens mit ruhigem Puls ins Büro gehen konnte und ihr Herz nicht mehr schneller schlug, sobald Luke das Zimmer betrat, beschloss sie, dass ihre Gefühle in Paris einfach eine Überreaktion auf all die Aufregungen gewesen sein mussten.

In diesen Wochen leisteten sie und Luke harte Arbeit, und Chris musste oft länger bleiben, um Dokumente zu übersetzen oder zu vergleichen. Die Ruhe dazu fand sie nur abends, wenn das Telefon nicht mehr ständig klingelte. Es machte ihr nichts aus, länger zu arbeiten, denn so musste sie wenigstens nicht darüber nachdenken, wen Luke wohl heute Abend zum Essen ausführte.

Die meiste Zeit wirkte er müde und geistesabwesend. Doch das hielt ihn nicht davon ab, jeden Abend auszugehen, entweder mit Helen oder einem Mädchen namens Lynette, das ständig anrief, vorzugsweise zu Zeiten, in denen Chris sehr beschäftigt war.

Es schien, als hätten sie und Luke zu einer Art Gleichgewicht in ihrer Beziehung gefunden. Von einer oder zwei Gelegenheiten abgesehen, war Luke im allgemeinen höflich zu ihr und behandelte sie respektvoll wie eine geschätzte und tüchtige Mitarbeiterin. Chris redete sich ein, froh darüber zu

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sein. Einige Male, als sie von ihrer Arbeit am Computer aufsah, ertappte sie ihn dabei, dass er sie nachdenklich betrachtete. Für Bruchteile von Sekunden begegnete sie seinem Blick, bevor beide schnell wieder wegsahen.

Als Luke eines Tages ins Büro kam, hielt Chris einen riesigen Strauss roter Rosen in der Hand und war gerade dabei, den dazugehörigen Umschlag zu öffnen.

"Wer hat Ihnen denn die geschickt?" fragte er mürrisch. Chris zog eine Karte aus dem Umschlag. "Sie sind von

Jacques", sagte sie langsam, nachdem sie die Karte gelesen hatte.

"Jacques! Was denkt er sich eigentlich, Ihnen einfach so Blumen zu schicken?" Luke riss ihr die Karte aus der Hand. "'Ich hoffe, Sie bald zu sehen'", las er laut vor, Abneigung in der Stimme. "Hat er etwa vor, hierher zukommen?"

"Ich habe keine Ahnung", sagte Chris. "Am Telefon hat er jedenfalls nichts davon gesagt, und wir sprechen ja recht oft miteinander."

"Ich hoffe, Sie benutzen nicht das Bürotelefon, um Ihr Liebesleben zu organisieren", erklärte Luke unfreundlich. "Ich möchte nicht, dass meine Angestellten den ganzen Tag vom Büro aus Privatgespräche führen."

Chris warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. "Sie wissen sehr gut, dass ich ab und zu mit Jacques telefonieren muss, weil er für den Vertragsinhalt verantwortlich ist. Schließlich beschäftigen Sie mich ja auch deshalb, dass ich mit ihm auf französisch über die Details spreche."

"Dagegen habe ich nichts - solange das das einzige ist, worüber Sie mit ihm reden!" Luke ging in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Den Rest des Tages ließ er Chris immer wieder merken, dass die Blumen ein rotes Tuch für ihn waren. Er war in einer furchtbaren Laune und fand an allem, was sie tat, etwas

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auszusetzen. Mehr als einmal brachte er sie an den Rand des Wahnsinns, indem er die Pläne für eine bevorstehende Geschäftsreise erneut änderte, bis Chris sich nur noch mühsam beherrschen konnte.

Doch es war ein wunderbarer, warmer Frühlingstag. Der Himmel über London war wolkenlos, die Sonne schien durch das Fenster direkt auf Chris' Schreibtisch, und in der Luft hing der zarte Duft der Rosen. Trotz Lukes schlechter Laune ertappte Chris sich dabei, wie sie leise vor sich hinsummte, während sie einige Papiere durchsah.

"Weshalb sind Sie denn plötzlich so fröhlich?" fragte Luke mürrisch. Ohne Vorwarnung war er aus seinem Büro aufgetaucht und ging zu einem der Aktenschränke, in dem er ungeduldig zwischen den Ordnern herumwühlte. "Ich nehme an, Sie sind wegen der Rosen auf Ihrem Schreibtisch so gut gelaunt?"

"Suchen Sie etwas Bestimmtes?" erkundigte Chris sich liebenswürdig, ohne seine Frage zu beachten.

"Ich brauche den Ordner über die David Young GmbH. Sie sollten diese Schränke wirklich mal in Ordnung bringen. Das ist ja ein furchtbares Durcheinander!"

Die Ordner stehen alle an ihrem Platz. Sie suchen einfach im falschen Regal." Chris stand auf und schob Luke entschlossen zur Seite. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie die gesuchte Akte gefunden. "Die Korrespondenz mit der David Young GmbH steht hier", erklärte sie und zog einen dicken Ordner aus dem Regal. "Ich gebe zu, er ist nicht leicht zu finden, weil er irreführenderweise mit David Young GmbH' beschriftet ist."

Als Antwort auf ihren Sarkasmus erhielt sie einen finsteren Blick von Luke. Er riss ihr die Akte aus der Hand, als das Telefon klingelte.

Chris meldete sich. "Es ist für Sie", sagte sie zu Luke. "Helen Slayne. Ich glaube, es handelt sich um eine private Angelegenheit."

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Luke nahm den Hörer entgegen, und seiner Miene war anzusehen, dass Chris' Anspielung ihm nicht entgangen war. "Ja, Helen, was gibt es ... Nein, ich kann nicht freundlicher sein. Dazu habe ich zuviel zu tun." Offensichtlich bereute er, den Anruf in Chris' Gegenwart angenommen zu haben, denn er drehte sich um und senkte die Stimme. "Aber nein, wie kommst du darauf, dass ich dich vernachlässige? Ich habe im Moment nur an sehr viele Dinge zu denken."

Es entstand eine Pause. Chris hatte sich inzwischen pflichtschuldigst wieder ihrer Arbeit zugewandt. Sie konnte sich Helens einschmeichelnde Stimme nur zu gut vorstellen. Luke betrachtete Chris misstrauisch über die Schulter, während er lauschte. Als sein Blick auf die duftenden dunkelroten Rosen fiel, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck.

"Na gut", sagte er schließlich. "Dann komm heute Mittag vorbei. Ich lade dich zum Essen ein."

Er knallte den Hörer auf die Gabel. "Ich werde heute Mittag außer Haus essen", sagte er überflüssigerweise und bedachte die Rosen mit einem weiteren grimmigen Blick.

"Wie schön für Sie", erwiderte Chris freundlich. "Soll ich einen Tisch reservieren lassen?"

An Lukes Wange zuckte ein kleiner Muskel, wie immer, wenn er sich nur mühsam beherrschen konnte. "Das mache ich schon selbst!" sagte er unfreundlich, stürmte in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Chris verdrehte die Augen zum Himmel. Heute konnte sie ihm aber auch nichts recht machen! Es würde eine Erleichterung sein, ihn für einige Stunden aus dem Haus zu haben.

Etwas später versuchte Chris gerade, einige Stenokürzel zu entziffern, als Helen erschien. Wie immer sah sie atemberaubend aus. Zu Leggings im Leopardenlook trug sie ein enganliegendes, provozierend ausgeschnittenes Oberteil in mattgoldener Farbe. Luke soll noch einmal wagen, mein

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schwarzes Kleid als unanständig zu bezeichnen! dachte Chris mit einem Anflug von Gereiztheit.

Helen hatte sich die Sonnenbrille über die Stirn geschoben, und ihre schimmernde silberblonde Mähne aus dem Gesicht zu halten. Ohne Chris eines Blicks zu würdigen, schwebte sie schnurstracks auf Lukes Büro zu.

Einige Minuten später erschien sie wieder, zusammen mit Luke der mürrisch vor sich hinstarrte. Er ging zu Chris hinüber, um ihr die Nummer des Restaurants zu geben, in dem er zu erreichen sein würde.

"Nun erzähl mir nicht, dass du schon wieder eine neue Sekretärin hast, Liebling!" sagte Helen leichthin. Zum ersten Mal schien sie Chris überhaupt wahrzunehmen. "Die letzte hat es aber nicht sehr lange ausgehalten. Was tust du ihnen bloß an?"

"Wieso eine neue Sekretärin?" fragte Luke gereizt, während er immer noch in seinem Adressbuch nach der Nummer des Restaurants suchte.

"Als ich letztes Mal hier war, saß da so ein unauffälliges, missbilligend aussehendes weibliches Wesen."

"Dann muss es Chris gewesen sein. Niemand kann missbilligender aussehen als sie!"

"Tatsächlich?" Helen verengte die grünen Augen, während sie sich mit der Tatsache vertraut machte, dass Chris nicht ganz so unauffällig aussah, wie sie sie in Erinnerung hatte. "Eine ziemliche Verwandlung!" Das klang nicht gerade begeistert.

Chris presste die Lippen zusammen, während Helen sie einer sorgfältigen Inspektion unterzog.

"Ich habe das Gefühl, Sie von irgendwoher zu kennen", sagte Helen schließlich langsam.

Luke hatte die Nummer des Restaurants inzwischen auf einen Zettel gekritzelt und steckte sein Adressbuch in die Innentasche seiner Jacke zurück.

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"Merkwürdig, der Gedanke ist mir auch schon gekommen", bemerkte er nachdenklich. Chris hielt den Atem an, während beide sie mit forschenden Blicken betrachteten.

"Vielleicht erinnert sie uns an jemand vom Fernsehen", erklärte Luke nach einer Weile, und damit schien für ihn dieses Thema erledigt zu sein.

"Da könntest du rechthaben", sagte Helen, aber es klang nicht sehr überzeugt. "Denn ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass wir uns in den gleichen Kreisen bewegen."

Chris betrachtete sie kühl. "Wahrscheinlich komme ich Ihnen bekannt vor, weil Sie mich schon einmal gesehen haben", sagte sie kurz angebunden, in der Hoffnung, ihr gleichmütiger Ton werde Helen vom tieferen Sinn ihrer Worte ablenken. "Luke hatte recht. Ich war hier, als Sie das letzte Mal vorbeikamen."

"Das muss es wohl sein." Helen zuckte die Schultern. Und als Luke ihr die Hand auf den Arm legte, verlor sie endgültig das Interesse an Chris. "Lass uns endlich gehen", sagte er ungeduldig.

Chris wartete, bis die beiden sich abgewandt hatten und auf die Tür zugingen. Erst dann ließ sie sich aufatmend in den Stuhl zurücksinken. Ausgerechnet in diesem Moment warf Helen ihr über die Schulter einen Blick zu und kniff misstrauisch die Augen zusammen, als sie die Erleichterung in Chris' Gesicht sah.

Chris konnte nur hoffen, Luke und Helen würden beim Essen bessere Gesprächsthemen haben als die Tatsache, dass die Sekretärin ihnen merkwürdig bekannt vorkam. Wenn sie lange genug nachdachten, würden sie sich möglicherweise erinnern, und das war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte!

Die nächsten Stunden vergingen in angespannter Nervosität. Gegen zwei Uhr kam Luke zurück. Er sagte nichts, und Chris atmete erleichtert auf, obwohl seine Laune sich nicht gebessert hatte und er sie bis nach halb sieben im Büro festhielt.

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Als Chris am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr in ihrem Büro erschien, fand sie Luke vor, wie er die Aktenschränke durchstöberte und etwas vor sich hinmurmelte. Seine Laune hatte sich während des gestrigen Abends anscheinend nicht verbessert.

Chris hielt es für das beste, ihn nicht weiter zu beachten. Sie hängte ihren Mantel auf den Bügel und wünschte Luke einen guten Morgen. Ihr Gruß wurde jedoch nicht erwidert. Wenn er in einer solchen Laune war, fiel es ihr nicht schwer, sich selbst zu überzeugen, dass ihre Verliebtheit nur Einbildung gewesen war!

Als sie zu ihrem Schreibtisch ging, klingelte das Telefon. Obwohl sie mühelos rechtzeitig hätte abnehmen können, kam Luke ihr zuvor, als wollte er damit beweisen, dass sie ihre Arbeit nicht vorbildlich erledigte.

"Ja?" knurrte er. Es war ihm anzumerken, dass er seine schlechte Laune liebend gern an irgendeinem unschuldigen Angestellten ausgelassen hätte. Doch um einen solchen schien es sich am anderen Ende der Leitung nicht zu handeln. Amüsiert bemerkte Chris wie Luke sich höflich zu klingen bemühte, als er sagte: "Sehr gut, vielen Dank, und wie geht es Ihnen?"

Bestimmt ein Kunde, dachte Chris, während sie sich an ihren Schreibtisch setzte und nach dem Terminkalender griff. Zu anderen war er sonst nie so höflich.

Es entstand eine kurze Pause, und dann sagte Luke förmlich: "Ja, sie ist hier." Er reichte ihr den Hörer. "Es ist Jacques Robard, und er möchte gern meine liebenswürdige Assistentin sprechen." Er betonte die letzten Worte spöttisch. "Ich nehme an, damit sind Sie gemeint."

Strahlend lächelnd nahm Chris ihm den Hörer aus der Hand und begrüßte Jacques sehr viel herzlicher, als sie es normalerweise tat. Luke war so unhöflich, neben ihrem Schreibtisch stehen zubleiben. Und obwohl er so tat, als beschäftigte er sich mit einem Aktenordner, hatte er ganz

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offensichtlich die Ohren gespitzt. Chris sprach sehr schnell französisch, doch sie bezweifelte nicht, dass Luke dem Gespräch zumindest in großen Zügen folgen konnte.

"Also, wann kommt er nach London?" fragte Luke, kaum dass sie den Hörer aufgelegt hatte.

"Oh, ist Ihnen das entgangen?" erkundigte Chris sich honigsüß. "Entschuldigen Sie, ich hätte vielleicht doch etwas langsamer sprechen sollen!"

Funken schienen zu sprühen, als sie seinem Blick begegnete. Seine schiefergrauen Augen hatten einen harten Ausdruck, und ihre blitzten goldbraun, wie immer, wenn sie ärgerlich war.

"Und Sie werden mit ihm essen gehen?" Das war eher eine Feststellung als eine Frage.

"Ja. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?" Luke stieß einen unmissverständlichen Laut aus. "Kommt er

auch ins Büro?" "Davon hat er nichts gesagt. Wollen Sie denn etwas mit ihm

besprechen?" "Ist es so unwahrscheinlich, dass auch ich eventuell einige

Dinge mit ihm bereden möchte?" erkundigte Luke sich missmutig.

"Dann werde ich noch einmal anrufen und einen Termin mit ihm vereinbaren." Chris hatte den Hörer schon in der Hand und wollte gerade die Nummer eintippen, als Luke sie mit einer gereizten Geste unterbrach. "Ach, lassen Sie das! Wenn er schon wie ein liebeskranker Kater hinter Ihnen herreist, wird er sich wohl kaum mit Geschäften abgeben wollen."

Nun, tatsächlich kommt er wegen einer ganz anderen Sache nach London", erwiderte Chris kalt.

Luke schnaubte wütend. "Das sagt er!" Er warf einen Blick auf den Blumenstrauß, der immer noch auf ihrem Schreibtisch stand. Erst schickt er Ihnen Rosen, und dann lädt er Sie zum Essen ein. Es würde mich sehr wundern, wenn dahinter nicht

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noch andere Absichten steckten! Was für Geschäfte könnte er sonst in England abzuwickeln haben?"

"Ich glaube, Sie verkennen die Situation", entgegnete Chris und betrachtete Luke kühl. "Die französischen Männer sind Frauen gegenüber eben sehr charmant - was man von den meisten Engländern nicht gerade behaupten kann."

Luke warf ihr einen hinterhältigen Blick zu. "Eigentlich gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich finde, ich könnte Helen und Lynette auch wieder einmal mit Blumen überraschen." Er klang gleichmütig, doch Chris wusste, dass er sie damit provozieren wollte. "Würden Sie so freundlich sein, beiden einen Strauss zuschicken zu lassen?"

"Was - beiden?" "Warum nicht?" erwiderte er zynisch. "Sie werden sich

darüber freuen, und keine von beiden braucht zu wissen, dass sie nicht die einzige ist."

Chris machte sich auf ihrem Block sorgfältig einige Notizen. Sie war entschlossen, sich von der Tatsache, dass Luke anderen Mädchen Blumen schickte, nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen.

"Hätten Sie gern eine bestimmte Art von Blumen?" erkundigte sie sich sachlich.

"Ach, ich weiß nicht." Luke hob ungeduldig die Schultern. "Es müssen jedenfalls große, prächtige Sträuße sein. Die Auswahl überlasse ich Ihnen."

"Ich finde diese riesigen Bouquets allerdings eher vulgär", erklärte Chris missbilligend. "Ein einfacher Strauss Tulpen ist doch viel romantischer, besonders, wenn er persönlich überbracht wird."

"Manchmal sind Sie wirklich komisch, Chris!" sagte Luke, und eine Spur von Heiterkeit lag in seiner Stimme. "Dennoch denke ich, dass ‚vulgäre' Blumensträuße für Helen und Lynette sehr geeignet sind." Wieder betrachtete er Jacques' Rosen, und

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seine Miene verfinsterte sich. "Schicken Sie ihnen jeweils ein Dutzend Rosen "

"Möchten Sie eine Nachricht hinzufügen?" erkundigte Chris sich mit honigsüßer Stimme. "Oder soll ich mir einen passenden Text für die Karten ausdenken?"

"Mein Name genügt", sagte Luke boshaft. "Sehr romantisch", murmelte Chris, als er sich abwandte. "Ich bin eben nicht romantisch", warf er über die Schulter

zurück, während er auf die Tür seines Büros zustürmte. "Und Helen und Lynette auch nicht."

"Warum schicken Sie ihnen dann Blumen?" "Damit sie etwas zum Vorzeigen haben, das ist alles. Und

solange es sich dabei um etwas handelt, das mit Geld zu kaufen ist, tue ich ihnen gern den Gefallen!"

Nein, Luke war bestimmt nicht der Mann, in den sich eine Frau verlieben sollte.

Während Chris mit dem Floristen telefonierte, wurde ihr die Absurdität ihrer Situation erst richtig bewusst. Sie bestellte Blumen für die Freundinnen des Mannes, den sie hoffnungslos liebte. Hoffnungslos, weil er ihre Liebe nicht erwiderte und es auch niemals tun würde.

Chris erwachte am nächsten Morgen in deprimierter Stimmung, was ganz ungewöhnlich für sie war. Nach dem Duschen kochte sie sich einen starken Kaffee, essen mochte sie nichts. Als es an der Wohnungstür klingelte, zog sie den Bademantel enger um die Schultern und eilte in den Flur. Bestimmt war es der Briefträger mit etwas, das zu groß war, um durch den Briefschlitz zu passen.

Doch es stand niemand vor der Tür, als sie öffnete. Verwirrt sah Chris den Korridor entlang, bis ihr Blick schließlich auf die Türschwelle fiel. Dort lag ein großer Strauss rosafarbener Tulpen.

Langsam hob Chris die Blumen auf. Sie konnte keine Nachricht entdecken.

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Was hatte sie gestern gesagt? Ein einfacher Tulpenstrauß ist doch viel romantischer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, verbarg sie ihr Gesicht in den duftenden Blüten, und ihr Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln. Die Blumen konnten nur von Luke sein. Plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals, obwohl sie sich zu beherrschen versuchte.

"Ich bin eben nicht romantisch" hatte er gesagt - doch diese Blumen sprachen eine andere Sprache. Natürlich konnte es auch nur eine nette Geste von ihm sein, um ihr zu verstehen zu geben, dass er ihre harte Arbeit schätzte und anerkannte. Ja, bestimmt war es so. Chris stellte die Tulpen in eine Glasvase und trat einen Schritt zurück, um sie noch einmal zu bewundern. Es würde Luke sehr ähnlich sehen, sie auf diese Art aus dem Gleichgewicht zu bringen, anstatt ihr persönlich ein Kompliment zu machen! Er war eben ein Mann, der nicht viele Worte machte.

Auf dem Weg zur Arbeit ließ der Gedanke an die Blumen ihr keine Ruhe. Sollte sie einfach auf Luke zugehen und ihm dafür danken? Oder erwartete er, dass sie so tat, als wisse sie nicht, wer ihr den Strauss geschickt hatte?

Die Lösung dieses Problems wurde ihr aus der Hand genommen, denn Luke war den ganzen Morgen außer Haus. Und als er nachmittags ins Büro zurückkehrte, hatte er so schlechte Laune, dass Chris es vorzog, nur das Nötigste mit ihm zu reden. Nachdem er sie zum viertenmal wegen einer Geringfügigkeit angeschrieen hatte, begann sie sich zu fragen, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Auf jeden Fall war sie froh, dass sie ihn nicht auf die Blumen angesprochen hatte.

"Ich nehme an, Sie wollen heute früh gehen, wo Sie doch mit Ihrem Franzosen verabredet sind?" fragte Luke mürrisch, als sie ihm einige Briefe zur Unterschrift vorlegte.

"Ich brauche nicht unbedingt früh zu gehen, aber zumindest heute möchte ich keine Überstunden machen." Chris erwiderte ruhig seinen vorwurfsvollen Blick.

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"Das klingt, als wären Sie eine Märtyrerin. Sie tun ja gerade so, als hielte ich Sie vierundzwanzig Stunden am Tag an Ihrem Schreibtisch fest!"

"Nun, ich komme selten vor halb sieben aus dem Büro", erklärte Chris, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen.

Luke spielte geistesabwesend mit seinem Bleistift. "Wohin hat er Sie denn eingeladen?"

"Er kennt da ein Restaurant irgendwo in Soho - ich weiß nicht genau, wo es ist."

"Jacques ist genau der Typ, der solche Restaurants kennt!" Luke stieß einen verächtlichen Laut aus und betrachtete sie dann misstrauisch. "Und was werden Sie anziehen? Etwa wieder das schwarze Kleid?"

"Ich muss gestehen, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht", erwiderte Chris kühl. Warum fragte er sie so aus? Was konnte ihm ihre Verabredung schon bedeuten? Er hatte sie gebeten, für ihn einen Tisch in einem Restaurant zu reservieren, also hatte er offensichtlich selbst Pläne für diesen Abend.

Im Lauf des Tages hatte sich ihre Gereiztheit gesteigert, und inzwischen erschien ihr ihre anfängliche Begeisterung über die Blumen schon lächerlich. Selbst wenn Luke sie geschickt hatte, hatte er ganz bestimmt keine romantischen Gefühle gehegt, wie sie im ersten Moment angenommen hatte. Er war viel zu beschäftigt, sich mit Helen oder Lynette oder einem der anderen Mädchen zu amüsieren, die ständig anriefen und sie von der Arbeit abhielten, weil sie unbedingt Nachrichten hinterlassen wollten.

"Holt er Sie von zu Hause ab?" Für Luke war das Thema noch nicht erledigt.

Chris seufzte erbittert. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch das würde seine Neugier erst recht anstacheln. "Ich werde ihn wahrscheinlich in der Stadt treffen", sagte sie resigniert. "Er hat

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keinen Wagen hier, und es wäre für ihn sehr umständlich, zu meiner Wohnung zu kommen. Ich wohne ein wenig außerhalb."

"So weit draußen ist es auch nicht", widersprach Luke und schwieg unvermittelt. Offensichtlich war ihm bewusst geworden, dass er sich damit verraten hatte.

"Nanu, woher wissen Sie denn, wo ich wohne?" erkundigte Chris sich kühl und zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Doch insgeheim konnte sie nicht verhindern, dass eine leise Hoffnung in ihr aufkeimte.

"Die Adresse steht schließlich in Ihrem Lebenslauf", brauste Luke auf, doch gleich darauf grinste er verlegen.

Und wie er so lächelte, schmolz Chris' kühle Überlegenheit dahin wie Schnee in der Sonne. Trotz ihrer festen Absicht, nicht zu schnell aufzugeben, musste sie wider Willen auch lächeln.

"Vielen Dank für die Blumen", sagte sie schließlich. "Sie sind wunderschön."

"Nun, ich finde, sie sehen nicht nach sehr viel aus", erwiderte Luke brummig, während er in den Papieren auf seinem Schreibtisch herumstöberte. "Ich verstehe nicht, wie jemand so etwas einem schönen, gebundenen Strauss vorziehen kann."

Chris fragte sich, ob sie ihm sagen sollte, dass sie seinem Geschenk nicht allzu viel Aufmerksamkeit beimaß. Vielleicht erwartete er ja etwas in der Art von ihr.

"Dann habe ich wohl einen merkwürdigen Geschmack", sagte sie so gleichmütig, wie es ihr möglich war. "Und wie ist es mit den Rosen? Hatten sie den gewünschten Erfolg?"

"Ich nehme an, sie wurden mit Entzückensschreien begrüßt", entgegnete Luke gleichgültig und sah zu ihr auf. Zu dem zartgrünen Pullover, den sie auch in Paris angehabt hatte, trug sie einen langen, enggeschnittenen schwarzen Rock, der sie kühl und beherrscht aussehen ließ. "Bei Ihnen kann ich mir das nicht vorstellen, oder irre ich mich?"

Nein, aber mir haben die Tulpen sicher besser gefallen." "Wirklich?"

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"Wirklich", versicherte sie ihm. " Chris ..." begann Luke und wollte gerade aufstehen, als

plötzlich das Telefon klingelte. Mit einem gereizten Ausruf griff er nach dem Hörer. Nach seinen ersten Worten nutzte Chris die Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, dass Helen am anderen Ende sein musste.

Lukes unvermittelte Stimmungsumschwünge brachten sie aus dem Gleichgewicht. Erst war er unverschämt, schroff und zynisch, und im nächsten Moment sah er ihr tief in die Augen, so dass sie hätte schwören können, dass sein Lächeln allein für sie bestimmt war.

Fall nicht noch einmal auf ihn herein, Chris, sagte sie sich entschlossen. Sie hatte sich doch gerade damit abgefunden, nur seine Sekretärin zu sein - sie durfte sich nicht wieder in ihn verlieben. Auf dem Heimweg im Bus zählte sie im stillen immer wieder Lukes sämtliche Fehler auf, als könnte sie sich auf diese Art gegen seine gefährliche Anziehungskraft schützen. Warum war er nur nicht ständig unverschämt und unfreundlich? Dann wäre alles einfacher.

Sie versuchte, ihre Gedanken auf den bevorstehenden Abend zu richten. Doch als sie die Wohnungstür aufschloss, fiel ihr Blick als erstes auf die Tulpen, deren Blüten sich schon zu öffnen begannen. Im Vorübergehen berührte Chris sie sanft mit der Hand. Wie sie diese klaren, einfachen Linien liebte. Tulpen waren viel schöner als Rosen.

Jacques zuliebe machte Chris sich sehr sorgfältig zurecht. Als sie den Kleiderschrank öffnete, fiel ihr Blick zuerst auf das schwarze Kleid, aber dann entschied sie sich doch für das jadegrüne. Das schwarze Kleid war für sie untrennbar mit Luke und jenem unvergesslichen Spaziergang durch die dunklen, stillen Strassen von Paris verbunden.

Jacques freute sich sichtlich, sie zu sehen, und ließ all seinen französischen Charme spielen. Chr is fand ihn sehr liebenswürdig und unterhaltsam, doch sie ertappte sich dabei,

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dass ihre Gedanken ständig abschweiften und um Luke kreisten. Sie fragte sich, wo er in diesem Moment wohl sein mochte, mit wem er zusammen war was er tat. Und sie vermisste seine schroffe, unverschämte Art schmerzlich.

Sei keine Närrin, befahl sie sich, während sie lächelnd vorgab Jacques' amüsantem Geplauder zuzuhören. Warum sollte sie Luke vermissen? Erst vor wenigen Stunden hatte sie ihn gesehen, und morgen würde sie noch lange genug mit ihm Zusammensein. Wahrscheinlich würde er ohnehin wieder schlechte Laune haben und sie nur anschreien.

Und dennoch konnte sie es kaum erwarten, dass der Abend vorüber war.

"Wie geht es Luke?" erkundigte Jacques sich plötzlich. Luke ist unmöglich. Unwiderstehlich. "Es geht ihm gut",

sagte sie laut. "Er klang nicht sehr begeistert, als ich am Telefon sagte, dass

ich Sie gern zum Essen ausführen würde. Um ehrlich zu sein, es kam mir fast vor, als wäre er ein wenig eifersüchtig, oder?"

Eine leichte Röte überzog Chris' Wangen. "0 nein. Er kann es nur nicht leiden, wenn man Geschäftliches und Privates miteinander verbindet."

"Und dabei tut er es selbst die ganze Zeit - indem er mit Ihnen zusammenarbeitet!" erklärte Jacques galant. "Er ist wirklich ein merkwürdiger Mann!"

Chris fuhr mit einem Finger am Rand ihres Glases entlang. "Er ist eben - Luke."

Während sie starr in ihr Weinglas blickte, stieg sein Bild vor ihr auf: die kühlen grauen Augen, die von einem Moment auf den anderen vor Lachen sprühten, der eigensinnige Mund, der sich zu einem warmen, gefährlich charmanten Lächeln verzog, die starken Hände, deren leiseste Berührung ihren Puls in ungeahnte Höhen schnellen ließ.

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Jacques betrachtete sie nachdenklich, ein wenig mit traurigem Lächeln. "Und Sie sind in ihn verliebt", sagte er geradeheraus.

"Ja", gab sie zu.

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9. KAPITEL "Das war der letzte Brief für heute morgen." Luke lehnte sich

in seinen Stuhl zurück und betrachtete Chris, die mit ihrem Stenoblock vor seinem Schreibtisch saß, "Nun, haben Sie und Jacques sich gestern Abend wenigstens richtig amüsiert?"

"Wir haben einen sehr netten Abend verbracht, vielen Dank." Chris zog es vor, seinen sarkastischen Unterton zu überhören, und stand auf. Sie hatte nicht die Absicht, Luke zu erzählen, dass sie den ganzen Abend nur an ihn gedacht hatte.

"Sehr nett? Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?" erkundigte Luke sich spöttisch. "Dann war es bestimmt sehr langweilig!"

"Überhaupt nicht. Es war . .. sehr angenehm." "Angenehm!" Luke legte den Kopf zurück und lachte laut heraus. "Das ist ja noch schlimmer." Er lehnte sich über den Schreibtisch zu Chris hinüber. "Wenn Sie gestern mit mir ausgegangen wären, hätten Sie einen wilden, aufregenden, unvergesslichen Abend erlebt - alles andere als nur angenehm!"

Chris hielt ihren Stenoblock dicht gegen die Brust gepresst, während sie sich bemühte, die Beherrschung zu wahren. "Vielleicht hätte mir das ja gar nicht gefallen."

"Warum nicht? Hätten Sie sich etwa nicht getraut? So, wie Sie sich in Paris benommen haben, kann ich das kaum glauben!"

Der spöttische Unterton in seiner Stimme tat ihr weh. Er hatte also wahrscheinlich mit Helen einen aufregenden Abend

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verbracht. Und er dachte offensichtlich, dass sie, Chris, im Vergleich zu Helen langweilig und nichtssagend war.

"Es kommt immer darauf an, mit wem man den Abend verbringt, finden Sie nicht?" erwiderte sie kalt, "Das Wo oder Wie spielt für mich nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptsache ist doch, dass man mit jemandem zusammen ist, mit dem man sich versteht. Dann hat man es auch nicht nötig, in alle Welt hinauszuposaunen, was für einen unvergesslichen Abend man erlebt hat."

Lukes Miene verhärtete sich. "Wie recht Sie haben!" sagte er und drehte ihr den Rücken zu. Für ihn schien das Gespräch damit beendet zu sein.

Den Rest des Tages wirkte er verschlossen und in sich gekehrt Chris hätte eigentlich froh sein sollen, weil es ihr gelungen war ihre Gefühle so gut vor ihm zu verbergen. Doch statt dessen fühlte sie sich elend und unruhig. Als Serena anrief und vorschlug abends gemeinsam ins Kino zu gehen, sagte sie bereitwillig zu. Der Film war in den Kritiken als oberflächlich verrissen worden, und seichte Unterhaltung war genau das, was sie jetzt brauchte.

Trotz Chris' Bemühungen, heiter und gesprächig zu wirken merkte Serena sofort, dass mit ihrer Freundin etwas nicht in Ordnung war, und es dauerte nicht lange, bis sie die Wahrheit herausgefunden hatte. Chris' Beteuerungen, es gehe ihr ausgezeichnet, wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, und schließlich gab Chris auf.

"Es ist wegen Luke", bekannte sie, während sie sich in die Schlange vor der Kinokasse einreihten.

"Ich wusste es!" sagte Serena triumphierend. "Du hast dich in ihn verliebt, stimmt' s?"

Chris nickte schuldbewusst. "Das war unvermeidlich", erklärte Serena sachlich. "Ich habe

mir gleich so etwas gedacht, als du ständig davon sprachst, wie schwierig er sei. Damit hast du dich verraten. Nicht, dass ich dir

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die Schuld gebe. Er ist wirklich sehr attraktiv, selbst wenn er so schrecklich ist, wie du immer behauptest."

"Er ist nicht schrecklich!" Instinktiv sprang Chris für Luke in die Bresche. Dann besann sie sich. "Na ja, zumindest nicht die ganze Zeit."

Serena betrachtete sie schelmisch von der Seite her. "Hast du mir nicht erzählt, er sei unfreundlich und arrogant und unhöflich und ausgesprochen unangenehm?" erkundigte sie sich unschuldig, in Anspielung auf die unzähligen Telefonate, die sie und Chris in den letzten Wochen über dieses Thema geführt hatten. "Ganz abgesehen davon, dass er auch noch ein Tyrann und völlig unvernünftig ist!"

"Das stimmt, aber . .." Chris schwieg. Es war unmöglich, ihrer Freundin alles zu erklären.

Serena verdrehte die Augen. "O Chris, dich hat es anscheinend schwer erwischt!"

"Na ja", sagte Chris resigniert, "da hast du wohl recht." Serena strich ihr mitfühlend über den Arm. "Und was

empfindet er für dich?" "Ich weiß es nicht." Chris steckte die Hände in die Taschen

ihrer Jacke und blickte missmutig zu Boden. "Manchmal denke ich, er findet mich attraktiv, doch im nächsten Moment ist er wieder unfreundlich zu mir. Wenn er an mir interessiert wäre, würde er doch sicher nicht mit Helen und Lynette ausgehen, oder?"

"Vielleicht doch, wenn er sich nämlich gegen seine Gefühle wehrt", sagte Serena geheimnisvoll. "Er benimmt sich furchtbar besitzergreifend, was dich angeht, nicht wahr? Denk doch nur an den Aufstand, den er gemacht hat, weil du mit Jacques ausgegangen bist! Also auf mich wirkt das, als wäre er eifersüchtig."

"Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn heute morgen gesehen hättest. Er war einfach unmöglich!" erklärte Chris deprimiert. "Ich habe den Fehler begangen, ihm zu erzählen,

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dass ich den Abend mit Jacques sehr nett fand. Daraufhin hat Luke nur verächtlich gelacht und durchblicken lassen, was für aufregende, wilde Stunden er mit Helen verbracht hat!"

"Dann ist er tatsächlich eifersüchtig!" sagte Serena entschieden. "Warum erzählst du ihm nicht von deinen Gefühlen?"

"Nein!" Allein der Gedanke ließ Chris erschauern. "Das kann ich nicht tun." "Warum nicht?"

"An einer festen Beziehung ist er nicht interessiert, soviel habe ich schon herausgefunden. Er hasst emotionale Frauen, die sich an ihn klammern."

"Aber das würdest du doch gar nicht tun", erklärte Serena überzeugt. "Du bist nicht der Typ dafür."

"Nein, aber ich will auch keine lockere Beziehung." Chris hob den Kopf und sah ihrer Freundin direkt in die Augen. "Ich liebe ihn, Serena. So etwas habe ich noch nie empfunden. Wenn ich wüsste, dass es nur eine vorübergehende Laune ist, würde ich versuchen, über dieses Gefühl einfach zu lachen. Dann könnte ich mich sogar auf eine kurze Affäre mit ihm einlassen, denn an mehr ist er ohnehin nicht interessiert. Aber wie die Dinge stehen, ist das nicht genug für mich."

Sie schwieg. Inzwischen hatten sie sich in der Schlange fast bis an die Kasse vorgearbeitet, und Chris' Blick fiel auf ein Szenenfoto aus dem Film. Der Held und die Heldin umarmten sich leidenschaftlich. Das Foto erinnerte sie an den Abend, an dem Luke sie geküsst hatte. "Ich liebe alles an ihm", fuhr sie nachdenklich fort "Ich liebe das Schwierige, Unangenehme an ihm genauso wie die Art, wie er mich manchmal ansieht, oder die Gefühle, die er in mir erweckt. Aber wenn ich ihn schon nicht ganz haben kann, dann behalte ich meine Gefühle lieber für mich und bin weiter nichts als seine Sekretärin. Auf die Weise wird jedenfalls keiner von uns beiden verletzt."

Das war leichter gesagt als getan. Im Lauf der Zeit fiel es Chris immer schwerer, ihre Gefühle hinter der Maske der

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beherrschten Sekretärin zu verbergen. Sie beobachtete Luke mit einer neuen, gesteigerten Empfindsamkeit und zuckte zurück, sobald er sie versehentlich einmal streifte, während er nach einem Ordner griff oder sich neben ihr über den Terminkalender beugte.

Sie hatte ständig Angst, dass er sie durchschaute. Die gespannte Atmosphäre zwischen ihnen, die sie einerseits erregte, andererseits auch verärgert hatte, war allmählich ganz verschwunden. Statt der früheren, oft hitzigen Wortwechsel schleppten sich ihre Gespräche jetzt dahin, und es entstanden immer öfter lange, peinliche Pausen, die sie mit nichtssagender Konversation überbrücken mussten. Eigentlich unterhielten sie sich nur noch über geschäftliche Dinge und vermieden es, sich in die Augen zu sehen.

Chris fühlte sich merkwürdig einsam. Luke war in sich gekehrt, unerreichbarer denn je, und sie vermisste ihre Wortgefechte mehr, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie vermisste sogar seine Unverschämtheiten.

Wollte er sie durch sein Verhalten abschrecken? Sie fürchtete sich vor der Reise nach Paris. Mit den Robards war vereinbart worden, dass der Vertrag am folgenden Dienstagmorgen unterzeichnet werden sollte. Luke hatte vorgeschlagen, schon am Montagabend nach Paris zu fliegen, um pünktlich dort sein zu können. Und er hatte sie sogar gefragt, ob sie damit einverstanden sei! Chris hatte widerwillig zugestimmt. Mit Paris verbanden sich für sie zu viele Erinnerungen. Sie wollte nicht dorthin zurück, nicht mit diesem Fremden an ihrer Seite.

Die Woche schleppte sich endlos dahin. Chris wusste nicht, ob sie sich auf das Wochenende freuen oder sich davor fürchten sollte, weil es die Reise nach Paris näher brachte. Es war nur gut, dass Michelle für das Wochenende zu Besuch kommen sollte. Chris wollte mit ihr viel unternehmen, nicht nur, um ihrer Nichte etwas zu bieten, sondern vor allem, um sich selbst abzulenken. Nachdem sie Michelle dann am Sonntagabend

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wieder ins Internat gebracht hatte war sie völlig erschöpft, hatte sich aber wieder unter Kontrolle.

Nach einem langen, schweigsamen Tag im Büro erschien es ihr unwirklich, dass Luke auf der Fahrt zum Flughafen so dicht neben ihr saß. Chris blickte aus dem Fenster, während er den Wagen durch den dichten Nachmittagsverkehr auf der Autobahn in Richtung Heathrow lenkte.

Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sie sich nach einer neuen Stelle umsehen müssen. Der Gedanke jedoch, Luke zu verlassen, brach ihr fast das Herz. Doch sie spürte, dass er sie absichtlich auf Distanz hielt, als wollte er sie warnen, zu viele Gefühle in ihn zu investieren. Es war demütigend, dass ihre Empfindungen so leicht zu erraten waren. Sie hatte sich so bemüht, ihm vorzutäuschen, dass der plötzliche Umschwung in seinem Verhalten sie nicht berührte.

Es war nach sieben Uhr abends, als sie im Hotel ankamen. "Ich nehme an, Sie haben sich für heute Abend mit Jacques verabredet?" erkundigte Luke sich gleichgültig, während er sie ins Gästebuch eintrug.

"Jacques?" wiederholte Chris verblüfft. Sie war so in Lukes Anblick versunken gewesen, dass sie sich für einen Moment kaum erinnern konnte, wer Jacques eigentlich war. "Nein."

Luke warf ihr einen Blick zu. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte sich seine Miene ein wenig aufgehellt?

"Dann können wir ja zusammen essen gehen", schlug er vor, doch seine Stimme war derart ausdruckslos, dass Chris sicher war, ihn missverstanden zu haben.

"In Ordnung", erwiderte sie ebenso ausdruckslos. "Sollen wir uns in einer halben Stunde hier unten treffen?" "Einverstanden." Es ist einfach schrecklich, dachte sie, während sie sich

schnell das Gesicht wusch und mit dem Kamm durch die Haare fuhr. Alles war so ganz anders als bei ihrem letzten Aufenthalt

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in Paris. Damals hatte sie sich erregt und lebendig gefühlt, selbst wenn sie sich stritten.

Ihr Blick fiel auf das schwarze Kleid, das zuoberst in ihrem Koffer lag. Als sie es das letzte Mal trug, war sie so wütend auf Luke gewesen! Sie wusste selbst nicht, warum sie es wieder mitgenommen hatte. Irgendwie hatte sie es nicht über sich gebracht, es zu Hause zu lassen.

Jetzt nahm sie es nachdenklich aus dem Koffer. Es war wirklich ein wunderschönes Kleid. Wenn sie es trug, fühlte sie sich sicher und selbstbewusst. Kurz entschlossen streifte Chris ihr Reisekostüm ab und schlüpfte in das Kleid. Wenn sie jemals etwas mehr Selbstvertrauen gebraucht hatte, dann war es jetzt!

Sie schminkte sich sehr dezent. In letzter Sekunde fiel ihr die Brosche ein, die Luke ihr geschenkt hatte, und sie steckte sie an, um damit den Schlitz im Ausschnitt zusammenzuhalten. Sie war zwar nicht in solcher Hochstimmung wie beim letzten Mal, als sie dieses Kleid getragen hatte, doch immerhin fühlte sie sich viel besser als bei ihrer Ankunft.

Mit neuem Vertrauen in ihre Fähigkeit, alle Empfindungen vor Luke zu verbergen, machte Chris sich auf den Weg nach unten. Es würde ihnen sicher gelingen, wieder zu der freundschaftlichen Beziehung zurückzukehren, die zwischen ihnen herrschte, bevor ihre Gefühle ihr diesen dummen Streich spielten.

Luke wartete in der Hotelhalle auf sie. In seinem grauen Anzug wirkte er noch distanzierter und verschlossener. Chris blieb vor dem Fahrstuhl kurz stehen, als sie ihn dort stehen sah, und plötzlich überkam sie das Gefühl, ihn schützen zu müssen. Warum war er nur so entschlossen, sich von niemandem abhängig zu machen! Als habe er ihren Blick gespürt, drehte Luke sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in seinen Augen auf, als er sah, dass sie das schwarze Kleid trug. Doch gleich darauf fiel schon wieder die gewohnte starre Maske über sein Gesicht.

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Seine offensichtliche Gleichgültigkeit ärgerte Chris, und sie hob eigensinnig das Kinn und ging ohne Eile auf ihn zu.

"Ich habe keinen Tisch reservieren lassen", sagte Luke, als sie vor ihm stand. "Ich dachte, wir könnten vielleicht einfach losgehen und sehen, was wir finden. Ein wenig frische Luft kann ich ohnehin gut gebrauchen."

Chris willigte gleichgültig ein. Als sie neben Luke die Halle durchquerte und auf die Strasse hinausging, achtete sie darauf, mindestens einen halben Meter Abstand zwischen ihm und ihr zu halten. Es wäre eine zu große Versuchung, ihn dicht neben sich zu spüren.

Lichter blitzten auf und verschwammen ineinander, während sie an Neonreklamen und grellbunten Schildern von Cafes vorbeigingen. Die Fahrer der vor den Ampeln wartenden Autos hupten ungeduldig, Passanten hasteten vorbei. Chris und Luke schienen die einzigen Menschen in Paris zu sein, die es nicht eilig hatten, an ihren Bestimmungsort zu kommen.

Die ganze Zeit vermieden sie es, sich anzusehen. Am Place de l'Opera fasste Luke Chris plötzlich am Arm und hielt sie zurück, als sie gerade vom Bordstein auf die Strasse treten wollte. Chris, warum sind Sie so?" fragte er.

Chris betrachtete seine Hand auf ihrem Arm, bevor sie ihm ins Gesicht sah. "Wie bin ich denn?"

Als würde ihm erst jetzt bewusst werden, dass er sie immer noch festhielt, ließ Luke die Hände sinken und vergrub sie in die Taschen seines Anzugs. "Sie sind in letzter Zeit so kühl und zurückhaltend", murmelte er.

"Ich bin zurückhaltend?" Chris betrachtete ihn erstaunt. "Aber Sie sind doch derjenige, der sich zurückgezogen hat!"

"Nein, das habe ich mich nicht!" "Sie haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie

nur an der Arbeit interessiert sind", sagte sie. "Sie ersticken jeden Versuch, ein Gespräch zu beginnen schon im Keim. Wenn

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ich Ihnen einen guten Morgen wünsche, reagieren Sie, als wollte ich in Ihre Privatsphäre eindringen!"

"Aber genau das habe ich von Ihnen gedacht!" erklärte Luke. "Nachdem Sie mit Jacques ausgegangen waren, schien es mir, als hätten Sie sich hinter eine Art von Mauer zurückgezogen. Es war, als arbeitete ich mit einem Eiswürfel zusammen!" Er betrachtete seine Schuhspitzen. "Ich weiß, dass wir uns oft gestritten haben, aber nach unserer letzten Reise nach Paris dachte ich, wir wären Freunde."

"Wir waren auch Freunde", sagte Chris. "Warum sind wir es dann nicht mehr? Warum haben Sie sich

so von mir zurückgezogen?" "Ich dachte, Sie wollten es so. Ich dachte, Sie wollen unsere

Beziehung auf rein geschäftlicher Ebene halten." "Aber das schließt Freundschaft doch nicht aus, oder?"

erwiderte Luke verstimmt. Nein, aber sie macht es sehr schwierig, zur gleichen Zeit

verliebt zu sein, dachte Chris. Laut sagte sie: "Nein." "Das heißt also: Während ich die ganze Zeit dachte, Sie

ignorieren mich, dachten Sie, ich ignoriere Sie?" "Nun ... Ja." Luke verzog langsam den Mund zu einem Lächeln. "Das war

aber nicht sehr vernünftig von Ihnen, Chris!" "Während Sie sich unfehlbar benommen haben, nicht wahr?" entgegnete Chris. Luke lachte laut auf, und es klang

ungeheuer erleichtert. Und Chris konnte nicht verhindern, dass auch sie plötzlich lachen musste.

"Das habe ich am meisten vermisst: Ihre Bemerkungen, wenn Sie wütend sind", sagte Luke und hielt ihr die Hand hin. "Kommen Sie, schlagen Sie ein. Auf eine freundschaftliche, geschäftsmäßige Beziehung ohne weitere Missverständnisse. Einverstanden?"

Das hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Chris fühlte seine starken Hände, die sich um ihre schlossen, und versuchte,

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nicht auf das wilde Herzklopfen zu achten, das seine Berührung ihr verursachte. Und vor allem nicht auf die innere Stimme, die ihr zuflüsterte, dass eine freundschaftliche, geschäftsmäßige Beziehung nicht genug für sie sei.

"Also, da wir dieses Problem nun aus der Welt geschafft haben - wo waren wir stehengeblieben?" fragte Luke heiter, als sie schließlich die Strasse überquert hatten. Der grimmige Gesichtsausdruck, den er in der letzten Zeit immer gehabt hatte, war verschwunden, und er wirkte unbekümmert, beinahe glücklich.

Chris bemühte sich, es ihm gleichzutun. "Wir wollten irgendwo essen gehen."

"Nun, wie wäre es hiermit?" Sie studierten die Speisekarte im Aushang eines kleinen Restaurants. "Sieht aus, als wäre es genau das richtige für uns."

Im Restaurant war es laut und dunkel. Alle Tische waren besetzt mit lachenden, wild gestikulierenden Menschen, die sich ungezwungen unterhielten. Chris fühlte sich ein wenig unbehaglich in ihrem eleganten schwarzen Kleid, doch keiner schien es überhaupt zu bemerken.

In einer Ecke fand sich noch ein freier Platz, und sie und Luke zwängten sich nebeneinander auf die schmale Holzbank. Ihre Oberschenkel streiften einander, ihre Arme berührten sich immer wieder. Und Luke machte keinen Versuch, von ihr wegzurücken.

Chris hatte überhaupt keinen Appetit mehr. Lustlos stocherte sie in der Forelle herum, die sie bestellt hatte, und nippte nervös an ihrem Wein. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, und Chris hielt den Blick starr auf die Flamme gerichtet, aus Angst, Luke würde das Verlangen erkennen, das ihr ins Gesicht geschrieben stehen musste. Es war ja schön und gut, über eine freundschaftliche Beziehung zu reden. Doch wenn Lukes Körper gegen ihren gepresst wurde, konnte Chris an nichts anderes mehr denken als daran, wie muskulös seine Beine, wie

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stark seine Arme sich anfühlten. Aus den Augenwinkeln sah sie seine schlanken Finger, wenn er sein Glas hob oder nach dem Brot griff. Und sie fragte sich, wie seine Hände sich wohl auf ihrer nackten Haut anfühlen mussten.

Während sie fieberhaft über alles mögliche redete, war sie sich überdeutlich bewusst, dass er sein Bein gegen ihres presste. Als sie schließlich gehen wollten, half Luke ihr, sich hinter dem Tisch hervorzuzwängen, und hielt sie am Arm gefasst, während sie das Lokal verließen. Chris wollte sich aus seinem Griff befreien, doch ihre Knie waren so weich, dass sie fürchtete, zu fallen.

Auf dem Heimweg war Luke sehr still. Chris wusste nicht einmal, in welche Richtung sie gingen. Sie redete die ganze Zeit, um kein peinliches Schweigen aufkommen zu lassen, und verstummte erst, als ihr Mund wie ausgetrocknet war. Nachdenklich blickte sie zu dem schmalen Streifen Himmel empor, der zwischen den hohen Gebäuden von Paris sichtbar war. Es war beinahe Vollmond, und die Sterne waren auf Grund der reflektierten Lichter der Stadt kaum zu erkennen.

Ein unwiderstehliches Verlangen hatte von Chris Besitz ergriffen, machte sie benommen, durchflutete ihren Körper und steigerte sich, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als an Lukes Mund, an Lukes Hände, das Gefühl seines Körpers an ihrem.

Schließlich erreichten sie das Hotel. Schweigend, ohne sich zu berühren, fuhren sie mit dem Lift in den dritten Stock und gingen den Flur entlang, dessen dicker Teppichboden das Geräusch ihrer Schritte verschluckte. Es war so still, dass Chris sicher war, Luke müsse das wilde Klopfen ihres Herzens hören.

Ihre Hand zitterte leicht, als sie ihre Zimmertür aufschloss und sich umdrehte, um sich zu verabschieden.

Luke antwortete nicht. Er sah sie nur an, und dann zog er sie langsam an sich.

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"Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist", brachte Chris hervor, konnte jedoch den Blick nicht von ihm lösen.

"Warum nicht?" "Wir - wir haben doch beschlossen, unsere Beziehung auf

rein geschäftlicher Ebene zu belassen." Ein leises Lächeln umspielte seinen Mund. "Zum Teufel mit

dem Geschäft!" sagte er und zog sie fest in seine Arme. Als er sie hart und leidenschaftlich küsste, gab Chris jeden

Widerstand auf. Was jetzt geschah, hatte sie sich den ganzen Abend vorgestellt: seinen unwiderstehlichen, leidenschaftlichen Mund, der ein Feuer in ihr entzündete, das sie nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Chris ließ die Hände an seinen Armen empor gleiten und umfasste seinen Nacken, während sie seinen Kuss wie im Fieber erwiderte. Ihrer beider Leidenschaft machte sie atemlos, ihre Küsse wurden immer hemmungsloser. Ihr Verlangen, das sie so lange unterdrückt hatte, drohte jetzt, sie unwiderstehlich mit sich fortzureißen.

Luke atmete schwer, als er Chris schließlich von sich stieß und sie in ihr Zimmer drängte. Völlig verwirrt ließ sie sich gegen die Tür fallen, die er hinter ihnen geschlossen hatte. Er stemmte die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes dagegen.

"Seit Wochen habe ich nur daran gedacht, dich zu küssen", sagte er, und seine heisere Stimme ließ sie insgeheim erschauern. "Jedes Mal, wenn du in mein Büro kamst und dich mit deinem Block in der Hand aufrecht vor mich hinsetztest und mich mit deinem kühlen Blick ansahst, wollte ich dich küssen." Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Mundwinkel, bis Chris den Kopf drehte und seinen Mund suchte. "Eigentlich habe ich die ganze Zeit nur daran gedacht, dich zu küssen", murmelte er, den Mund an ihre geöffneten Lippen gepresst, und drückte sie mit seinem Körper gegen die Tür.

Er umfasste ihr Gesicht, spielte mit ihrem Haar, während sie sich leidenschaftlich küssten.

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Und Chris - die vernünftige, praktische, tüchtige Chris - vergaß die Vergangenheit und ließ die Zukunft Zukunft sein. Nichts war für sie mehr wichtig, außer dem Hier und Jetzt. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte Luke keinen Einhalt gebieten können. Jetzt nicht mehr, da das Blut heiß und erregend durch ihre Adern strömte und ihr Körper bebend auf Lukes Liebkosungen antwortete.

Sie ließ die Hände unter seine Jacke und den weichen Stoff seines Hemds gleiten. Sein Rücken war breit und stark, und sie fühlte, wie Luke erschauerte, als sie ihn berührte.

"Hast du auch daran gedacht, mich zu küssen?" murmelte Luke, während er seine Lippen an ihrem Hals entlanggleiten ließ.

Chris zitterte, als sein Mund unterhalb ihres Ohrs angekommen war. Genauso hatte sie es sich vorgestellt, damals vor dem Schaufenster der Fromagerie. "Nein", keuchte sie und ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken.

"Du lügst." Sie spürte, dass er lächelte. "Sag mir, dass du lügst. Sag mir, dass du mich die ganze Zeit küssen wolltest." Er presste sie fester an sich und hob den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.

"Ich lüge. Natürlich lüge ich", gab Chris zu und lächelte langsam, als er sich über sie beugte, um sie wieder zu küssen. Beinahe fieberhaft begann sie, sein Hemd aus dem Gürtel zu ziehen. Sie wollte seine Haut unter den Händen spüren, warm und glatt und fest.

"Chris!" stieß Luke heiser hervor. Er befreite sich aus Chris' Umarmung, und sein Blick fiel auf die Brosche an ihrem Kleid. Mit unsicheren Händen löste er sie aus dem Stoff und legte sie sorgfältig beiseite, bevor er den Kopf senkte und die Lippen auf ihren Busen presste.

Chris hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ihr Inneres voll gespannter Saiten, auf denen Luke spielte und die bei seiner Berührung Wellen des Verlangens durch ihren Körper sandten.

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Er ließ die Lippen langsam über ihren Ausschnitt aufwärts zu ihrem Hals gleiten und verhielt kurz an der Stelle, an der er ihren erregt klopfenden Puls spürte. Getrieben von maßlosem Begehren streifte Chris ihm die Jacke über die Schultern und fingerte ungeduldig an den Knöpfen seines Hemds herum.

Sie war gerade dabei, seinen Gürtel zu öffnen, als er sie umdrehte und quälend langsam den Reißverschluss ihres Kleids herunterzog. Er bedeckte jeden Zentimeter ihres entblößten Körpers mit Küssen, bis sie vor Verlangen bebte. Schließlich fiel der Stoff raschelnd über ihre Schultern zu Boden.

Wie im Traum trat Chris aus dem Kleid. Die Vorhänge waren noch nicht zugezogen, so dass Mondlicht ins dunkle Zimmer flutete und sich in ihren Augen spiegelte, die vor Verlangen glänzten.

Luke presste die Lippen gegen ihre samtweiche Halsbeuge, und Chris ließ den Kopf nach hinten sinken.

Dann begann Luke ihren Körper mit langen, heißen Küssen zu bedecken und streifte ihr dabei die Unterwäsche ab.

Als Luke sich schließlich seiner eigenen Kleidung entledigt und Chris auf das breite Bett gezogen hatte, brannte diese vor Verlangen. Es war wunderschön, ihn endlich berühren und sich in dieser Leidenschaft vergessen zu können. Sie wusste, dass es jetzt kein Halten mehr gab. Sie drängten sich in steigendem Verlangen aneinander, und Chris stöhnte seinen Namen, während er die Hände über ihre samtige Haut gleiten ließ und seiner Bewunderung in leisen Worten Ausdruck gab. Mit Händen und Lippen erkundete er ihren Körper bis zu den geheimsten Stellen, und Chris war nur noch zitternde, stöhnende Leidenschaft.

Schließlich rollte sie sich auf ihn, umfasste sein Gesicht und lächelte, bevor sie sich über ihn beugte und seine Lippen suchte. Sie lag auf ihm und genoss das Gefühl seiner Männlichkeit, das Gefühl ihrer Haut auf seiner.

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Luke hob die Arme, um Chris an sich zu ziehen. Doch sie schob sich langsam abwärts und ließ die Lippen zärtlich über seinen Körper wandern, bis er sich stöhnend wieder auf sie rollte und mit ihr eins wurde. Die Woge der Leidenschaft riss sie endgültig mit sich fort, und Chris' und seine Schreie vermischten sich, als sie zitternd und bebend die Erfüllung erreichten.

Luke hielt sie fest umschlungen. Nichts erinnerte mehr an den schroffen, arroganten Luke, als er jetzt die Hände sanft und liebevoll über ihre Haut gleiten ließ.

"Denkst du immer noch, dies war keine gute Idee?" flüsterte er, während er zärtlich ihr Ohrläppchen küsste.

Chris lächelte leicht, ohne die Augen zu öffnen. "Nun, sehr vernünftig war es bestimmt nicht."

"Wer kümmert sich schon um Vernunft?" "Du." "Dann habe ich meine Meinung geändert. Ich habe meine

Meinung in dem Moment geändert, da Jacques dich betrachtete und unter Maske der kühlen, beherrschten Sekretärin die gleiche lebendige, aufregende Frau entdeckte, die ich sah. Als du in jener Nacht im Restaurant mit ihm geflirtet hast, hätte ich ihn mit größtem Vergnügen verprügelt. Und später, nachdem er dich zum Essen eingeladen hatte und du hinterher so verändert warst, da war ich ganz außer mir vor Eifersucht." Luke strich Chris eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. "Ich habe immer gedacht, du gehörst zu mir, auch wenn ich mir selbst vormachte, du seist nur eine Sekretärin wie alle deine Vorgängerinnen."

"Aber ich bin doch wirklich nur eine Sekretärin", sagte sie scherzhaft, die Art aber, wie sie die Hände über seinen Bauch gleiten ließ, strafte ihre Worte Lügen.

Luke schüttelte den Kopf. "Du bist anders, Chris. Du bist die einzige vollkommen ehrliche Frau, die mir jemals begegnet ist. Wie sollte ich dem Blick aus diesen klaren Augen widerstehen?" Er küsste ihre geschlossenen Lider. Chris lächelte, doch als sie die Augen öffnete, lag etwas wie Besorgnis in ihrem Blick.

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Sie war nicht völlig ehrlich mit ihm gewesen. Nachdenklich legte sie die Arme um Luke und drückte ihn an sich. Sie wusste, dass sie eigentlich mit ihm über ihre Begegnung in Chittingdene sprechen sollte, aber er war so warm, so nah. Sie wollte den Zauber dieses

unvergesslichen Moments nicht zerstören. Trotzdem, sie sollte es ihm sagen ...jetzt gleich. "Luke", begann

sie zögernd. "Was ist denn?" fragte Luke, die Lippen gegen ihren Hals

gedrückt und hob den Kopf. Als er auf sie hinuntersah, lag eine solche Wärme in seinem Blick, dass Chris' Entschluss, ihm alles zu erzählen, gegen ihren Willen zu Staub zerfiel. Sie würde es nicht ertragen können, wenn dieser Ausdruck verschwand, nachdem sie Luke die Wahrheit gesagt hatte. Später war immer noch genug Zeit, ihm alles zu beichten.

"Oh... nichts." Die Art, wie Luke sie anlächelte, ließ ihr den Atem stocken.

Wer hätte gedacht, dass dieser kalte, harte Mann, der sie vor so vielen Jahren geküsst hatte, zu solcher Zärtlichkeit fähig wäre? "Dann küss mich noch einmal!"

"Bitte!" erinnerte sie ihn gespielt ernst. "Chris, Liebling, wenn es dir nichts ausmacht, würdest du

mich bitte noch einmal küssen?" Seufzend zog Chris ihn an sich. "Wenn es unbedingt sein

muss", flüsterte sie und verdrängte all ihre Zweifel, als sie sich erneut in den Taumel der Leidenschaft stürzten.

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10. KAPITEL Am nächsten Morgen erwachte Chris früh von Lukes Küssen.

Während sie sich wohlig und zufrieden reckte, begannen seine Augen wieder zu funkeln. Dennoch erlaubte er Chris nicht, länger im Bett zubleiben. "Wach auf!" sagte er, zog ihr die Decke weg und lächelte nur, als sie schläfrig protestierte. "Wir müssen heute einen Vertrag unterzeichnen, und wenn wir uns nicht sehr beeilen, kommen wir zu spät."

Nach einem Blick auf den Wecker war Chris plötzlich hellwach und setzte sich erschrocken im Bett auf. Sie mussten sich tatsächlich sehr beeilen! Schnell kleideten sie sich an. Zum Frühstücken blieb keine Zeit mehr. Im Taxi rasten sie zu Philippe Robards Büro. Chris hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich zurechtzumachen. Doch das Glück, das ihr Gesicht wie von innen her erleuchtete, machte sie schöner, als Kosmetik und Kleidung es je hätten können.

Jacques entging ihre Verwandlung nicht, und er lächelte traurig. "Luke kann sich sehr glücklich schätzen", sagte er und zog ihre Hand an seine Lippen.

In Gegenwart der Robards verhielt Luke sich ihr gegenüber höflich und distanziert wie immer. Chris hätte beinahe nicht geglaubt, dass dies der gleiche Mann war, der sie letzte Nacht so leidenschaftlich geliebt hatte - wäre da nicht dieses Leuchten in seinen Augen gewesen, sobald er sie ansah. Doch nachdem der Vertrag unterzeichnet war und sie das Gebäude verlassen hatten,

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zog er sie mitten auf der Strasse in die Arme und küsste sie, als wäre er einen Monat lang fortgewesen.

Noch nie hatte sie ihn so übermütig gesehen wie jetzt. Es war Ende April, sie waren in Paris, und die Sonne schien warm. Chris spürte ein unbändiges Glücksgefühl in sich aufsteigen, das ihr prickelnd wie Champagner durch die Adern rann. Buchstäblich über Nacht schien die ganze Welt ein ganz neues, helleres und schöneres Gesicht bekommen zu haben.

In einem Cafe frühstückten sie, warme Croissants mit Butter und heißen Cafe au lait in den hier üblichen großen Tassen. Die Sonne schien durch das Fenster direkt auf ihren Tisch. Chris stützte die Ellbogen auf und umfasste ihre Tasse mit beiden Händen, während sie Luke anlächelte.

Sie empfand es als unvorstellbar schön, ihn offen und ohne Heimlichkeit einfach ansehen zu können, die entschlossen wirkenden, markanten Linien seines Gesichts zu betrachten und sich daran zu erinnern, wie seine Haut sich letzte Nacht unter ihren Händen angefühlt hatte.

Luke hatte ihre Gedanken mühelos erraten. "Sieh mich nicht so an, Chris", sagte er lächelnd. "Zumindest nicht, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Sonst vergesse ich nachher, dass wir heute noch einiges zu arbeiten haben!"

"Da hast du recht." Chris setzte ein gespielt zerknirschtes Gesicht auf. "Wir wollen doch nicht vergessen, dass wir uns auf eine freundschaftliche Beziehung geeinigt haben, oder?"

Luke streckte die Hand aus und berührte zärtlich ihr Haar. "Unsere Abmachung gilt nur für die Tage. Die Nächte sind etwas anderes! Da vergessen wir das Geschäft lieber."

Bisher hatte er mit keinem Wort von Liebe gesprochen. Dennoch, während sie an jenem warmen Frühlingsmorgen in Paris saßen, war Chris vollkommen glücklich.

Es gelang ihnen erstaunlich gut, sich wieder in ihre Rollen als Chef und Sekretärin hineinzufinden. Schon auf dem Flug nach

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London begannen sie einträchtig und konzentriert mit der Arbeit.

"Ich gehe jetzt besser und rede mit Miles". sagte Luke, nachdem sie ins Büro zurückgekehrt waren. "Schließlich ist er für die Finanzen zuständig und sollte etwas über den Vertragsinhalt erfahren, auf den wir uns heute geeinigt haben."

Chris nickte geistesabwesend. Sie war schon dabei, die Post durchzugehen. Als nach einer Weile von Luke immer noch keine Antwort kam, sah sie erstaunt auf und ertappte ihn dabei, dass er sie amüsiert beobachtete. "Du scheinst ja sehr beschäftigt zu sein", sagte er. "Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass du dich so auf die Arbeit konzentrieren kannst - nach allem, was gestern nacht passiert ist! Oder hast du das etwa schon vergessen?"

Chris ließ die Briefe auf den Schreibtisch fallen und erwiderte seinen Blick aus ihren klaren bernsteinfarbenen Augen. "Ich werde es niemals vergessen", entgegnete sie ruhig. "Und das weißt du auch."

Luke nahm sie bei den Händen und zog sie in seine Arme. "Im Büro sollten wir das eigentlich nicht tun", flüsterte er.

"Ich tue ja gar nichts", protestierte Chris, wehrte sich aber nicht als er sie küsste.

"Du stehst einfach da und siehst wunderschön aus. Das allein reicht schon."

"Du klingst aber gar nicht nach einem Geschäftsmann." Chris versuchte, ernst zu klingen. Doch sie strafte ihre eigenen Worte Lügen, als sie ihm die Arme um den Nacken legte und seinen Kuss erwiderte.

"Also gut." Luke befreite sich widerstrebend. "Ab morgen beschränkten wir uns im Büro streng auf das Geschäftliche!"

"Natürlich", stimmte Chris lächelnd zu. "Und jetzt gehe ich wirklich zu Miles." Luke berührte zärtlich

ihre Wange. ..Danach machen wir uns an die Arbeit, und heute Abend gehen wir nach Hause - zusammen!"

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Chris stand immer noch an ihrem Schreibtisch, die Hand auf die Wange gelegt, wo er sie zuletzt berührt hatte, als die Tür plötzlich geöffnet wurde.

Sie hatte Helen vergessen. Beim Anblick ihrer makellosen Schönheit durchfuhr Angst Chris' Herz wie ein kalter Windhauch und trübte ihre Glück. Was für eine Chance hatte sie schon gegenüber Helen? Und wenn sie sich noch so anstrengte, neben dieser strahlenden Blondine würde sie immer blass und nichtssagend wirken.

Chris nahm sich zusammen. "Es tut mir leid, aber Luke ist nicht in seinem Büro", sagte sie höflich und kühl. "Er hat eine Besprechung mit dem Leiter der Finanzabteilung." Sie hoffte, Helen würde nicht darauf bestehen, auf Luke zu warten. Allein der Gedanke, die beiden zusammen zu sehen, machte sie ganz krank.

"Tatsächlich?", Helens grüne Augen wirkten kalt wie Eis. "Nach diesem rührenden Abschied, den ich gerade mit angesehen habe, hätte ich eigentlich erwartet, er sei für mindestens eine Woche auf Dienstreise!"

"Wie bitte?" "Ihre Unschuldsmiene kennen Sie sich sparen! Ich habe euch

beide durch die Scheibe in der Tür beobachtet und verfolgt, wie Luke Sie küsste, und auch Ihren törichten, verliebten Blick gesehen", sagte Helen höhnisch. Als sie Chris' gerötete Wangen bemerkte, fuhr sie unbarmherzig fort: "Und ich dachte, Sie seien die Sekretärin schlechthin! Dabei hätte ich Luke gleich erzählen können, dass Sie am Ende doch wie alle anderen sein würden!"

Chris erstarrte. "Welche anderen?" "Welche anderen?" äffte Helen sie verächtlich nach. "Haben

Sie wirklich angenommen, Sie seien etwas Besonderes? Was glauben Sie denn wohl, weshalb er so viele Sekretärinnen hatte?"

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"Es ist eben nicht leicht, für ihn zu arbeiten." Chris hatte sich jetzt wieder völlig unter Kontrolle. "Meine Vorgängerinnen waren ihm nicht gewachsen."

"Das hat er Ihnen also erzählt? Und Sie haben es auch noch geglaubt?" Mit aufreizender Langsamkeit ging Helen zum Fenster hinüber und zündete sich lässig eine Zigarette an. "Alle seine Sekretärinnen waren energische, tatkräftige Damen, als sie hier anfingen, und am Ende haben sie sich alle in ihn verliebt. Es ist immer nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich ihm an den Hals werfen. Bei Ihnen hat es allerdings länger gedauert als bei den meisten."

Sie drehte sich um und musterte Chris verächtlich. "Wie Sie zweifellos festgestellt haben werden, ist Luke kein Mann, der sich lange ziert, wenn eine Frau ihm auf dem Silbertablett serviert wird. Doch nach einer Weile verliert er das Interesse, und die ganze Sache wird dann ziemlich peinlich. Im Grunde liebt er nur seine verdammte Firma, und das letzte, was er braucht, ist eine Sekretärin, die sich ihm an den Hals wirft. Schließlich kündigen sie alle, in Tränen aufgelöst, und er kommt zu mir zurück. Wir verstehen einander."

"Wie schön für Sie", sagte Chris ruhig, doch ihre Augen flammten vor Abneigung. Helens Worte hatten sie wie Messerstiche ins Herz getroffen, aber sie wäre lieber gestorben, als sich ihren Schmerz anmerken zu lassen.

Als Chris sich ab wandte, zog Helen plötzlich scharf den Atem ein. "Christine Haddington-Finch", sagte sie langsam. "Natürlich, du bist Christine! Deshalb kamst du mir auch gleich so bekannt vor!"

Chris erstarrte. "Ich weiß nicht, wovon Sie reden." "0 doch, das weißt du sehr genau!" Helen drückte ihre

Zigarette im Aschenbecher aus und wandte sich vom Fenster ab. "Ich wusste doch, dass ich dich schon einmal gesehen hatte. Aber erst, als du mich eben so verächtlich ansahst, fiel es mir wieder ein. Du warst Annes hässliche kleine Freundin in

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Chittingdene. Ich fand es immer sehr lustig, dass du, ausgerechnet du, es wagtest, mein Verhalten zu missbilligen. Gesagt hast du zwar nie etwas, aber dein verächtlicher Blick verriet schon genug."

Langsam ging sie um Chris herum und blickte ihr ins Gesicht. "Ja, jetzt sehe ich es. Du hast dich na türlich herausgemacht, aber wenn man sich diese modische Frisur wegdenkt und dir wieder diese dicken Brillengläser aufsetzt, siehst du genauso wie früher aus!" Helen lächelte kalt und boshaft. "Na so etwas, Christine Haddington-Finch. Wer hätte das gedacht? Weiß Luke, wer du bist?"

"Nein", erwiderte Chris ruhig. Es war ohnehin zwecklos, jetzt noch etwas zu leugnen.

"Ich habe mir damals schon gedacht, dass du in ihn verliebt bist" fuhr Helen fort. "Anne hat mir erzählt, du seist tatsächlich zu unserem Treffpunkt gegangen, um ihm zu sagen, dass ich nicht komme. Wie rührend."

Ihr Spott brachte Chris zur Weißglut. "Damals wolltest du ihn nicht, oder?" sagte sie wütend. "Du hast nur mit ihm gespielt. Anne hat mir von all den gemeinen Dingen erzählt, die du hinter Lukes Rücken über ihn verbreitet hast. Warum willst du ihn jetzt unbedingt wiederhaben?"

Helen hob gleichmütig die Schultern. "Damals war er ein wenig ungehobelt, und es gab da noch einige andere interessante Männer. Aber jetzt - nun, Luke ist eben sehr attraktiv."

"Und sehr reich, nicht wahr?" "Für ein so nichtssagendes Wesen hattest du schon immer

eine reichlich scharfe Zunge, Christine", sagte Helen voller Abneigung.

"Zumindest bin ich immer ehrlich gewesen", erwiderte Chris. "Ich habe ihm nicht vorgespielt, in ihn verliebt zu sein, und mich über ihn lustig gemacht, sobald er den Rücken kehrte."

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Helen lachte kurz und spöttisch. "Liebe? Für Luke ist Liebe ein Fremdwort. Er schert sich keinen Deut darum, was andere Leute von ihm halten!"

"Wenn er tatsächlich so denkt, dann nur, weil gedankenlose, grausame Frauen wie du ihn gelehrt haben, dass Liebe bedeutungslos ist. Kein Wunder, dass er so zynisch ist!" Chris' Augen flammten vor Zorn. "Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, er könnte sich vielleicht verletzt gefühlt haben durch die Art, wie du ihn behandelt hast? Aber nein, für dich gab es andere, interessantere Männer. Du fandest es nicht einmal nötig, dich von ihm zu verabschieden!"

"Luke hat mir das nicht übelgenommen", sagte Helen gleichmütig. "Warum wäre er wohl sonst immer wieder zu mir zurückgekehrt?"

"Vielleicht, weil er bei dir zumindest weiß, wie er dran ist", entgegnete Chris mit solcher Verachtung in der Stimme, dass Helens grüne Augen ärgerlich zu funkeln begannen.

"Und das ist mehr, als er bei dir weiß, du Rührmichnichtan! Die ganze Zeit hältst du Vorträge über Ehrlichkeit. Aber was ist ehrlich daran, wenn du aus deiner wahren Identität ein Geheimnis machst?''

"Es ist kein Geheimnis. Luke hat mich nicht erkannt, warum sollte ich ihn also darauf ansprechen? Ich bin sicher, er erinnert sich ohnehin nicht mehr an mich."

"Nein, wahrscheinlich nicht", gab Helen abweisend zu. "Du bist nicht gerade der Typ, den man lange im Gedächtnis behält."

"Aber du hast dich an mich erinnert", sagte Chris. "Und du hast auch festgestellt, dass ich mich verändert habe. Ich bin nicht mehr das nichtssagende, verschüchterte kleine Mädchen von früher. Ich möchte, dass Luke an mich denkt, wie ich jetzt bin, nicht wie ich damals war. Und ich glaube, dass er das auch tun wird - besonders nach der letzten Nacht", fügte sie betont hinzu.

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Helen kniff die Augen zusammen. "Falls du glaubst, dass du Luke mit einer Nacht an dich binden kannst, dann hast du dich gründlich geirrt! Ich gebe dir eine Woche, bis Luke dich bittet, zu kündigen."

"Und ich würde dir nicht einmal so lange geben, wenn Luke jetzt zurückkäme", erwiderte Chris mit einer Beherrschung, die sie selbst erstaunte. "Er verabscheut Szenen im Büro, und ich bin sicher, dass er nach dieser Nacht in einem Streit für mich Partei ergreifen würde. " Sie griff nach dem Stapel Briefe auf dem Schreibtisch und begann, sie zu Öffnen. "Ich halte es für besser, wenn du jetzt gehst - und nicht wiederkommst, bis hier eine andere Sekretärin sitzt!"

"Das wird nicht lange dauern!" sagte Helen bösartig, stürmte aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Erst jetzt, nachdem ihre Gegnerin unerwartet schnell das Feld geräumt hatte, merkte Chris, dass sie am ganzen Körper bebte. Erschöpft ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

War sie tatsächlich nur die neueste in einer langen Reihe von verliebten Sekretärinnen? Bedeutete sie Luke wirklich nicht mehr? Obwohl sie Helen nicht glauben wollte, musste sie zugeben, dass deren Geschichte nicht unwahrscheinlich klang. Luke selbst hatte ihr ihre Vorgängerinnen als Heulsusen geschildert. War es denn so von der Hand zu weisen, dass sich all diese Mädchen in ihn verliebt hatten -da ihr selbst das ja auch passiert war?

Chris zupfte ratlos an einer Strähne herum. Ihr Haar war immer noch so weich und glänzend wie damals, als Luke seine Finger hatte hindurchgleiten lassen und ihren Kopf nach hinten gezogen, um sie zu küssen. Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Nacht stiegen in ihr auf. Sie konnte einfach nicht glauben, dass diese Nacht Luke nichts bedeutet hatte. Es war unmöglich, dass sie seine Blicke, seine zärtlichen Berührungen so missverstanden hatte.

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Nein, sie würde Helens Worte keinen Glauben schenken, aber sie musste Luke nun endlich die Wahrheit sagen. Hätte sie es doch nur letzte Nacht getan! Jetzt, im kalten Tageslicht, fürchtete sie sich davor. Er würde wissen wollen, warum sie es ihm nicht schon früher gesagt hatte. Wie sollte sie es ihm nur erklären, ohne unehrlich oder - noch schlimmer - berechnend zu wirken?

Und dann wurde die Tür geöffnet, und Luke trat ein. Ein Blick in sein Gesicht verriet Chris, dass er alles wusste.

"Ich habe eben Helen getroffen", begann er langsam, und seine Miene war verschlossen und hart. "Sie sagte, du seist Christine Haddington-Finch aus Chittingdene. Stimmt das?" Chris hob den Kopf und sah ihm in die Augen. "Was glaubst du?" "Christine?" sagte er, und es klang, als weigerte er sich, es zu glauben. Er durchforschte ihr Gesicht und seufzte, als er die Wahrheit in ihren Augen erkannte. "Christine." "Chris", verbesserte sie ihn ruhig.

"Warum hast du es mir nicht gesagt?" Er wandte sich schnell ab, doch sie hatte den verbitterten Ausdruck in seinen Augen gesehen. "Irgendwie war nie die richtige Gelegenheit dazu", begann sie, aber er unterbrach sie.

"Gelegenheit! Um mir irgendwelche anderen Dinge zu erzählen, hast du schließlich auch immer eine Gelegenheit gefunden!"

"Dies hier ist etwas anderes. Außerdem glaubte ich nicht, dass du dich an mich erinnern würdest. Warum denn auch?"

"Oh, ich kann mich sehr gut an dich erinnern. Du warst das Mädchen, das in den Wald kam, um mir von Helen zu erzählen."

Chris nickte unglücklich. "Aber du hast mich nicht erkannt. Ich sah keinen Sinn darin, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Du hast mir deutlich genug zu verstehen gegeben, dass du das alles hinter dir gelassen hattest, und ich wollte uns beiden Peinlichkeiten ersparen."

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"Du dachtest also, es könnte mir peinlich sein, dass die Tochter aus dem Herrenhaus meine Angestellte ist? War es das?"

"Nein!" Chris verließ der Mut, als sie Lukes harte Stimme hörte. "Ich dachte an diesen heißen Tag damals im Wald. An das erste Mal, als du mich küsstest. Ich hielt es einfach für eine etwas peinliche Erinnerung, die Chef und Sekretärin gemeinsam hatten, das ist alles." "Und was ist mit all den Gelegenheiten, als ich sagte, dass du mir bekannt vorkommst? Hast du dich da über mich amüsiert? Die Französin, von der ich dir im Restaurant erzählte, das war doch deine Mutter, nicht wahr? Was musst du gelacht haben über mich!"

"Nein! Luke, ich habe niemals über dich gelacht, das müsstest du doch wissen."

"Das Problem ist, ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll." Luke wandte sich ärgerlich ab. "Ich dachte wirklich, du seist anders. In deinen klaren Augen sah ich nichts als Ehrlichkeit. Aber ich habe mich wohl geirrt. Du hast mich zum Narren gehalten, nicht wahr? Du bist genauso falsch wie all die anderen."

Chris hob das Kinn. "Ich habe dich niemals belogen." "Das mag sein, aber dass du mir ausgerechnet das

verheimlicht hast, kommt mir genauso unehrlich vor." "Bei Helen hat dich das nie gestört!" rief Chris. "Denk doch

nur an all die Dinge, die sie dir nie erzählt hat." "Helen ist anders. Von ihr habe ich nie etwas erwartet, aber

du - du warst etwas Besonderes. Oder zumindest glaubte ich das." Luke lachte, aber es klang freudlos.

Chris war jetzt sehr ärgerlich. "Und was ist mit all den anderen Sekretärinnen, die du verführt hast? Ich nehme an, die waren auch alle etwas Besonderes? Es hat dir sicher eine Menge Arbeit erspart, weil du jedes Mal dieselbe Methode anwenden konntest!"

"Welche anderen Sekretärinnen?" Luke fuhr herum.

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"Helen hat mir davon erzählt. Ich bin nur die letzte in einer langen Reihe von Sekretärinnen, die auf deine Masche mit diesem ,Sie sind die Beste von allen' hereingefallen ist!"

"Und du glaubst, was Helen sagt?" "Warum nicht - du tust es ja anscheinend auch!" Sie waren beide so wütend, dass sie das Klopfen an der Tür

nicht hörten. Eine der Nachwuchssekretärinnen stand plötzlich auf der Türschwelle, einen Stapel Akten im Arm, und betrachtete erstaunt und verlegen die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte.

"Nun gehen Sie schon!" fuhr Luke sie an, und das Mädchen drehte sich um und floh.

"Ich merke schon, du hast zu deiner üblichen charmanten Art zurückgefunden!" stieß Chris bissig hervor.

"Und wann findest du wieder zu deinem wahren Ich zurück - zu Christine Haddington-Finch? Ich wundere mich, dass ich mich nicht gleich an dich erinnert habe, als du anfingst, mich herumzukommandieren! Du bist genau wie dein Vater, dieser wichtigtuerische alte Narr, der sich im Herrenhaus als Gutsbesitzer aufspielte."

"Mein Vater war nicht wichtigtuerisch!" stieß Chris hervor. "Er war liebenswert und großzügig - was man von dir nicht gerade sagen kann! Du bist so verdammt empfindlich. Was bedeutet es schon, dass ich Christine genannt wurde und in einem großen Haus lebte? Seitdem sind wir beide erwachsen geworden. Es geht doch darum, wer wir heute sind, oder nicht?"

Luke stand halb abgewandt am Fenster und sah finster auf die Strasse hinunter. An seiner Wange zuckte wieder der kleine Muskel. "Genau das ist es. Ich dachte, dich zu kennen, aber jetzt habe ich herausgefunden, dass du eine ganz andere bist." Über die Schulter warf er einen Blick auf Chris, die hoch aufgerichtet hinter ihrem Schreibtisch saß, die bernsteinfarbenen Augen dunkel vor Zorn. "Heute Abend wollte ich das Mädchen namens Chris bitten, meine Frau zu werden. Klingt witzig, nicht wahr?"

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Seine Miene war bitter. "Ich will Chris heiraten, aber nicht Christine. Wer weiß, wie viele andere Dinge es noch gibt, die sie vor mir verheimlicht."

Chris betrachtete verzweifelt seinen breiten Rücken. "Ich bin nicht Christine, ich bin Chris. Wenn du die Chris, die du in den letzten Monaten kennengelernt hast, so leicht beiseiteschieben kannst, dann will ich dich nicht heiraten! Kannst du die letzte Nacht auch so einfach vergessen? Hattest du da das Gefühl, dass es zwischen uns irgendwelche Geheimnisse gibt, die von Bedeutung sind?" Luke erstarrte, aber er drehte sich nicht um. "Da ist so vieles, das ich von dir nicht weiß", fuhr sie fort. "Zum Beispiel hast du in den letzten zehn Jahren anscheinend ständig Sekretärinnen verführt. Aber für mich ist das bedeutungslos - nach allem, was ich letzte Nacht von dir kennengelernt habe."

Sie stand auf und nahm ihre Handtasche. "Ich bin sicher, du wirst schnell eine andere, ganz besondere Sekretärin finden, die dich tröstet. Aber lass dir vorsichtshalber ihre Geburtsurkunde zeigen, bevor du sie einstellst!" Tränen des Zorns und des Schmerzes standen ihr in den Augen, doch sie war entschlossen, in seiner Gegenwart nicht zu weinen. Als sie zur Garderobe ging und nach ihrem Mantel griff, fuhr Luke herum.

"Was hast du vor?" "Ich kündige." Chris stürmte auf die Tür zu. "Sieh zu, wie du

allein mit deinem verdammten Vertrag zurechtkommst und lern gefälligst selbst Französisch!"

Sie knallte die Tür hinter sich zu, rannte zum Fahrstuhl und drückte ungeduldig auf den Knopf. Der Lift war sicher wieder im Erdgeschoss. "Nun mach schon, mach schon!" sagte sie laut, während sie die beleuchteten Etagenziffern beobachtete, die den allzu langsamen Weg des Fahrstuhls kennzeichneten.

" Chris!" Luke stand auf der Türschwelle seines Büros. "Jetzt auf einmal wieder Chris? Vor einer Minute war ich

noch Christine!" rief Chris wütend zurück. Ihre Stimme hallte

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durch den Korridor und war sicher in allen Büros zu hören, doch das war ihr in diesem Moment gleichgültig.

"Bilde dir nicht ein, dass du einfach so davonrennen kannst!" brüllte Luke. "Schließlich hast du einen Vertrag."

"Weißt du, was du mit deinem verdammten Vertrag machen kannst?" Chris warf einen Blick über die Schulter und schlug in Panik mit der Faust auf den Fahrstuhlknopf, als sie Luke auf sich zukommen sah. Wenn er sie berührte, war sie verloren. "Nun mach doch schon!" Endlich ertönte ein leises Klingeln, und die Fahrstuhltür öffnete sich schwerfällig. Chris fiel fast in den Lift und drückte fieberhaft auf den Knopf für das Erdgeschoss. Sie sah nicht mehr, dass Luke sich umdrehte und auf das Treppenhaus zu rannte.

Als die Tür sich endlich schloss, begannen Chris' Knie zu zittern. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand der Kabine und schlug sich die Hände vor das Gesicht, um die krampfhaften Schluchzer zu unterdrücken, die sie zu zerreißen drohten.

Der Fahrstuhl hielt auf jedem Stockwerk, ohne dass jemand zustieg. Irgend ein Witzbold hatte sich wohl einen Spaß machen wollen und auf alle Knöpfe gedrückt. Chris war erleichtert, dass sie allein in der Kabine blieb. So hatte sie ein wenig Zeit, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis der Lift endlich das Erdgeschoss erreichte und die Tür sich mit einem leisen Seufzen öffnete.

Doch zu Chris' Entsetzen stand Luke vor ihr und versperrte ihr den Weg. Er war erhitzt und völlig außer Atem. Hinter ihm sah sie mehrere Leute, die auf den Fahrstuhl warteten.

Chris versuchte sich an Luke vorbeizudrängen, doch er packte sie am Arm und schob sie in den Fahrstuhl zurück, wo er sie gegen die Wand drückte und heftig küsste. Sie versuchte, sich zu wehren, und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust, doch er war zu stark für sie. Ohne auf ihren Widerstand zu achten, umfasste er ihr Gesicht und küsste sie verlangend,

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beinahe fieberhaft. Seine Küsse entzündeten bei ihr erneut die Flamme der Leidenschaft. Ihre Gegenwehr begann zu erlahmen. Zorn und Bitterkeit verschwanden, und die absolute Gewisshe it, ihn zu lieben, überwältigte sie.

Luke schien ihre Veränderung zu spüren, denn er gab ihr Gesicht frei und ließ die Hände an ihrem Rücken abwärtsgleiten, um sie noch enger an sich zu pressen. Und Chris legte ihm die Arme um den Nacken und erwiderte seine Küsse. Sie hatten kein einziges Wort gesprochen, und dennoch wusste sie, dass alles gesagt und verstanden und vergeben war.

Schließlich hob Luke den Kopf. "Lass uns wieder nach oben fahren" , sagte er. Als er sich umdrehte, um auf den Knopf für den vierten Stock zu drücken, sah er sich einer interessierten Zuschauermenge gegenüber, die sich vor den Fahrstuhltüren drängte.

"Sie werden wohl warten müssen", erklärte er und zog Chris wieder in seine Arme. "Der Fahrstuhl ist schon besetzt."

Vor den Büros in der vierten Etage standen Lukes Angestellte in kleinen Grüppchen zusammen, um über die vorhin erlebte Szene zu diskutieren. Als Luke und Chris aus dem Lift stiegen, breitete sich peinliches Schweigen aus. "Warum sind Sie nicht bei der Arbeit?" erkundigte Luke sich. "Ich bezahle Sie schließlich nicht dafür, den ganzen Tag herumzustehen und zu klatschen!"

Die Angestellten verschwanden auf der Stelle in ihren Büros. Chris konnte sich ihre hochgezogenen Augenbrauen gut vorstellen, während Luke sie so schnell hinter sich her in sein Büro zog, dass sie laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten.

"Also was soll das eigentlich heißen, so einfach davonzurennen?"

"Und was soll das heißen, mich einfach so in dein Büro zu zerren?" fragte Chris. Sie war völlig aus dem Gleichgewicht und nicht sicher, ob sie glücklich oder beleidigt sein sollte.

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Luke sah ihr in die Augen, ergriff ihre Hände und hielt sie fest in seinen. "Es soll heißen, dass es mir leid tut", sagte er einfach. "Es soll heißen, dass ich dich liebe. Und es soll heißen, dass ich dich nie wieder gehen lassen werde. Ist das deutlich genug?"

Chris war die Kehle wie zugeschnürt. Sie konnte nur nicken, und in ihren Augen tanzten goldene Fünkchen der Erleichterung.

"Es tut mir wirklich leid, Chris", fuhr Luke ernst fo rt. "Als ich dich zum Fahrstuhl laufen sah, merkte ich plötzlich, was für ein Narr ich gewesen bin und dass ich es mir niemals verzeihen könnte, wenn ich dich einfach so hätte gehen lassen. Noch nie in meinem Leben bin ich so schnell gerannt wie vorhin die Treppen hinunter. Ich hatte furchtbare Angst, dass du verschwunden bist, wenn ich unten ankomme, und so drückte ich in jedem Stockwerk auf den Fahrstuhlknopf, um dich aufzuhalten. Ich habe es gerade noch rechtzeitig nach unten geschafft."

Er zögerte. "Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich mich vorhin so aufgeregt habe. Nach gestern nacht wusste ich, was ich schon seit einiger Zeit geahnt hatte - dass du die einzige Frau für mich bist. Es war nur so ein Schock, als ich herausfand, dass du eine ganz andere

bist." "Mir tut es auch leid", sagte Chris. "Ich hätte es dir schon

längst erzählen sollen, aber ich hatte solche Angst, alles zu verderben. Ich wollte, dass du mich als die Frau siehst, die ich jetzt bin, nicht als das Mädchen, das ich war. Ich dachte, du wolltest nicht daran erinnert werden, dieses nichtssagende Mädchen damals geküsst zu haben."

"Das wollte ich auch nicht, aber aus einem ganz anderen Grund", erwiderte Luke nachdenklich. "Ich habe mir oft gewünscht, damals meinen Ärger über Helen nicht an dir ausgelassen zu haben. Es fiel mir schwer, den Blick zu vergessen, mit dem du mich ansahst, als ich dich wegschickte.

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Wenn ich in den folgenden Jahren etwas tat, was sich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren ließ, sah ich immer dein Gesicht vor mir."

Chris lächelte. "Ich bin froh, dass du dich an mich erinnerst. Das war mein erster Kuss, Luke. Noch niemals hatte mich jemand so geküsst. Ich glaube, seitdem war ich immer in dich verliebt."

"Und, liebst du mich jetzt auch noch, obwohl ich dich so oft angebrüllt und tyrannisiert habe?"

"Mehr als jemals zuvor", sagte sie. Als Luke sie an sich zog und ihre Lippen suchte, erwiderte sie seinen Kuss leidenschaftlich, in dem großen Glücksgefühl, dass alles in Ordnung kommen würde.

"Luke?" fragte Chris später. Sie saß auf seinem Schoss in dem tiefen, weichen Ledersessel, in den sie sich bei ihrem Vorstellungsgespräch nicht hatte setzen wollen. Ihr Kopf lag an seiner Brust. "Warum hast du dich wieder mit Helen eingelassen? Sie hatte dich so grausam behandelt."

Luke strich ihr mit einer solchen Zärtlichkeit übers Haar, dass ihr Herz vor Glück zu zerspringen drohte. "Warum? Ich glaube, ich hatte das unbestimmte Gefühl, es ihr heimzahlen zu müssen. Sie ist nicht annähernd so kühl, wie sie alle glauben machen möchte, und eigentlich wünscht sie sich nichts sehnlicher, als zu heiraten. Ich muss zugeben, dass es mir eine Art diebisches Vergnügen bereitete, sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, sie in mich verliebt zu machen und sie dann wegen einer anderen sitzen zu lassen. Außerdem hattest du recht, ich war in letzter Zeit wirklich ein wenig empfindlich, und Helen - nun, sie ist sehr schön. Sie war gut für mein Image."

"Ich habe ihr geraten, sich hier nicht wieder sehen zu lassen, solange ich deine Sekretärin bin", beichtete Chris,

"Ich weiß. Sie hat es mir gesagt. Als wir uns auf dem Flur trafen, war sie außer sich vor Wut auf dich und hatte nichts Eiligeres zu tun als mir zu erzählen, wer du seist. Ich glaube, sie

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hatte gemerkt, wieviel du mir bedeutest, denn sie erzählte mir auch, was sie dir über meine vorherigen Sekretärinnen gesägt hatte - das war natürlich alles Unsinn. Es gab da nur eine Sekretärin, die mir vor Augen geführt hat, dass ich mir mit meinem Zynismus und meiner Zurückhaltung nur selbst etwas vorgemacht habe."

"Und was geschah mit ihr?" erkundigte Chris sich unschuldig.

"Oh, ich habe ihr gekündigt." "Du hast - was?" Chris wollte sich erbost aufsetzen, doch

Luke hinderte sie daran. "Ich war der Meinung, dass sie mich im Büro zu sehr von der Arbeit ablenkt. Anderswo könnte sie ihre Talente sehr viel besser einsetzen."

Chris betrachtete ihn neugierig. "Und wo?" "In meinem Haus und in meinem Herzen", sagte Luke und

zog sie fest in seine Arme. "Heirate mich, Chris", fuhr er fort, und es klang flehend. Und dann, mit einem Lächeln, das ihr einen Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ, fügte er hinzu: "Bitte!"

Chris ließ den Kopf gegen seine Brust sinken und seufzte vor Glück. "Wenn du mich schon so nett bittest - ja."

"Ja - was?" fragte Luke und versuchte, ein missbilligendes Gesicht aufzusetzen.

"Ja - bitte."

-ENDE-