17
Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld US Army Interrogation Center in Oberursel, 1945-1952 Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2010

Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Manfred Kopp

Im Labyrinth der SchuldUS Army Interrogation Center in Oberursel,

1945-1952Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis

2010

Page 2: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Sonderdruckaus dem

Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2010Frankfurt am Main, 2010, 345 S., 18. Jg.

Manfred Kopp

Im Labyrinth der SchuldUS Army Interrogation Center in Oberursel,

1945-1952

Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis2010

Dieser Sonderdruck kann als .PDF-Datei kostenlos von

www.CampKing.Org oder

www.Ursella.Org

geladen und ausgedruckt werden

Das Jahrbuch kann im örtlichen Buchhandel oder in denGeschäftsstellen der Taunus Zeitung

bezogen werden

Verein für Geschichte und Heimatkunde Oberursel e.V.61440 Oberurselwww.Ursella.Org

Vorträge und Führungen können bei demAutor gebucht werden:

Manfred Kopp, 06171/581350Mail: [email protected]

Page 3: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Manfred Kopp

Im Labyrinth der Schuld

US Army Interrogation Center in Oberursel, 1945–1952

Besatzung

30. März 1945. Karfreitag. Die Amerikanerkommen nach Oberursel: Panzer mit rasseln-den Ketten, Soldaten mit kugelförmigen Hel-men, mit Gewehren, behängt mit Ausrüs-tungsgegenständen, Jeeps, Military Police,Proklamationen, Beschlagnahmungen.

Unter den Einwohnern kursieren die Ge-rüchte. Ausgangsverbot. Wer nach 19 Uhrauf der Straße angetroffen wird, wird er-schossen. Was soll nun werden?

Zeitzeugen berichten sehr unterschiedlichvon den Erstbegegnungen mit „Amis“: Dagibt’s Chewing Gum geschenkt und Hershey-Chocolate, da werden Wege gesperrt, Fahr-räder requiriert und Souvenirs getauscht. DieSieger werden nun Besatzer.

Kurz vorher waren schon die alliierten Ge-fangenen im Lazarett Hohe Mark befreitworden. Dank des energischen Einsatzeseines deutschen Sanitätsunteroffiziers aus

Bad Homburg waren die Verwundetenentgegen eines Befehls nicht mit einem Ei-senbahntransport nach Thüringen verlegtworden, nicht dem Beschuss durch Tiefflie-ger oder Bombardierung ausgesetzt worden,sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nunwaren sie also frei!

Für gefangene deutsche Soldaten wird aufden Wiesen vor dem verlassenen Durch-gangslager der Luftwaffe an der Hohemark-straße ein provisorisches Lager eingerichtet.Sie sind östlich von Oberursel im BereichWetterau/Vogelsberg in Gefangenschaft gera-ten. Einer von ihnen schreibt in sein Notiz-buch: „Sonntag, 8. April 1945. Auf vier großenWiesen vegetieren Tausende von Gefangenen.Bis zu 15 000 sollen wir gewesen sein. Viermalhabe ich schon hier übernachtet. Die zweiteNacht war am schlimmsten: Regen!! Mit dreiMann in zwei Mänteln kann man ganz schönfrieren. Seit gestern früh scheint die Sonne.Verpflegungsausgabe 8 – 9 Uhr, 16 –17 Uhr.Päckchen mit je 100 g Kekse. 1 Dose Käsebzw. ham and eggs oder meat, 1 Riegel Scho-kolade, 4 Zigaretten, Kaugummi, Kaffee. Büch-sen entweder mit meat and beans oder mitmeat and spaghetti. Der Weitertransport er-folgt mit Trucks in ein Lager zwischen Alzeyund Bad Kreuznach. Die Zustände dort sindeinfach schrecklich. Grund ist lediglich dieÜberfüllung des Lagers. Bis zu 40 000 Mannwaren schon auf engem Raum zusammenge-pfercht. Behandlung wie eine Viehherde. KeinPlatz zum Lagern.“

Bedingt durch das rasche Vordringen deralliierten Truppen nach Osten und Süden

232

Ein Foto von der Gefangenenbefreiung im LazarettHohemark, erschienen in der Zeitschrift „LIFE“,Vol. 18, Nr. 16 vom 16. April 1945

Page 4: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

gab es im Operationsgebiet mehr als zweiMillionen Gefangene und damit nicht zu be-wältigende Probleme der Unterbringung, derVerpflegung und der sanitären Einrichtungen.Die Bedingungen für Kriegsgefangene, die inder Genfer Konvention von 1929 festgelegtwaren, konnten unmöglich eingehalten wer-den. So erklärte der Oberbefehlshaber deralliierten Streitkräfte, General Dwight D.Eisenhower, kurzerhand die Soldaten zu„disarmed enemy forces“ (in Gewahrsam be-findliche entwaffnete feindliche Truppen).Zügige Entlassungen reduzierten dann dieZahl der Gefangenen.

Ein Camp wird eingerichtet

Eine wichtige Grundlage für das Entscheidenund Handeln von Militärverwaltung und Mi-litärregierung bot die „Direktive des General-stabes der Streitkräfte der USA“ (JCS = JointChiefs of Staff 1067) vom April 1945. Darinwurde als ein Hauptziel genannt: „Es mußden Deutschen klargemacht werden, daßDeutschlands rücksichtslose Kriegführungund der fanatische Widerstand der Nazis diedeutsche Wirtschaft zerstört und Chaos undLeiden unvermeidlich gemacht haben, unddaß sie nicht der Verantwortung für das ent-gehen können, was sie selbst auf sich geladenhaben.

Deutschland wird nicht besetzt zum Zwe-cke seiner Befreiung, sondern als ein besiegterFeindstaat. Ihr Ziel ist nicht die Unterdrü-ckung, sondern die Besetzung Deutschlands,um gewisse alliierte Absichten zu verwirk-lichen. Das Hauptziel der Alliierten ist es,Deutschland daran zu hindern, je wieder eineBedrohung des Weltfriedens zu werden. Wich-tige Schritte zur Erreichung dieses Zieles sinddie Ausschaltung des Nazismus und des Milita-rismus in jeder Form, die sofortige Verhaftungder Kriegsverbrecher zum Zwecke der Bestra-fung, die industrielle Abrüstung und Entmilita-risierung Deutschlands …“

In räumlicher Nähe zum Verwaltungsge-bäude des IG – Farbenkonzerns in Frankfurtam Grüneburgpark, in dem das neue undzentrale Hauptquartier der US Streitkräfte inWest Europa eingerichtet wird, entsteht inOberursel ab 1. August 1945 ein Interroga-tion Center. Die mobilen Aufklärungseinhei-ten 1, 2, 3 und 4 sowie das 6824th DetailedInterrogation Center Military Intelligence Ser-vice (DICMIS) werden nach dem Ende derKampfhandlungen in Oberursel stationiertund bilden eine neue Einheit, das UnitedStates Forces European Theater Military In-telligence Center = USFET MISC. Zuständigfür das Lager wird im Stab des Hauptquar-tiers der Chef der militärischen Aufklärungund des Nachrichtendienstes (G 2), Brigade-general Edwin L. Sibert (1897–1977). Nachihm wird das Camp zunächst auch benannt:Camp Sibert.

Das Gelände wird erheblich erweitert umHäuser und Wege des Siedlungshofes imnördlichen Bereich, um die Wiesen im Sü-den bis zur Hohemarkstraße und das Gelän-de bis zum Eichwäldchen- und Ahornweg.Alles wird gründlich eingezäunt, erhälteinen ständig bewachten Eingang mit Wach-haus und Schranke an der Hauptstraße. Das

233

Abtransport von deutschen Gefangenen aus dem pro-visorischen Lager in Oberursel (Sequenz des Films„Welche Farbe hat der Krieg?“ Spiegel TV, 2001, Kapi-tel 11, 55:33)

Page 5: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

bisher nur teilweise genutzte Gemein-schaftshaus des Siedlungshofes wird aus-gebaut und zum Sitz des Kommandantenbestimmt. Dies wird vom August 1945 biszum August 1947 Colonel William R. Philp.Zu seinem Dienstbereich gehören auchverschiedene „Safehouses“ (besonders ge-sicherte große, allein stehende Gebäude).Das Gemeinschaftshaus, das 1938 auf demFrankfurter Messegelände als Muster-Rat-haus an der Muster-Siedlerstraße gestandenhatte und der Stolz der nationalsozialisti-schen Funktionäre und des Reichsorganisa-tionsleiters Dr. Ley gewesen war, war 1940in Oberursel aufgebaut worden. Jetzt wurdees zur „Mountain Lodge“.

Aufgabe von USFET MISC war die sorgfäl-tige Befragung von Gefangenen, vor allemsolchen, die in der Aufklärung und im Nach-richtendienst tätig gewesen waren. Dazukam die Auswertung von Fotoaufnahmenund von Dokumenten der Nationalsozialisti-schen Partei. Die Verwaltung des Counter In-telligence Corps (CIC) und die Überwachungund Ausbildung von Fachkräften für die un-terschiedlichen Aufgaben gehörten ebensodazu. Die Dokumentenauswertung bekamein besonderes Gewicht, als auf Lastwagendas Material der NSDAP aus München ein-traf. Dort war es in einer Papiermühle ent-

deckt worden, wo es zur Vernichtung lagerte.Das waren ca. 11 Millionen Mitgliedskartender NSDAP, Parteikorrespondenz, Personal-unterlagen von SS- und SA-Angehörigen u. a.Es wurde zunächst zur ersten Sichtung nachOberursel gebracht und lagerte in Gebäudender Firmen Motorrad-Bücker in der Hohe-markstraße und Faudi-Feinbau, Im Diezen.Später wurde dann der ganz Bestand nachBerlin gebracht und dort allein von der Be-satzungsmacht weiter benutzt. Seit 1994 ister als BDC (Berlin Document Center) Teil desBundesarchivs.

Als General Sibert im Herbst 1946 eineandere Aufgabe in den USA übernahm, er-hielt das Camp einen neuen und endgültigenNamen: Camp King. Colonel Charles B. Kingwar wenige Tage nach der Landung der Alli-ierten in der Normandie im Abschnitt Oma-ha Beach auf dem Weg zur Befragung gefan-gener deutscher Soldaten unter Beschuss ge-raten. Dabei fand er den Tod. Er war alsOffizier in der Feindaufklärung vor allem fürseine Lagebeurteilungen sehr geschätzt. Post-hum erhielt er die Auszeichnung der „Legionof Merrit“, der Ehrenlegion. Auf dem Solda-tenfriedhof in Colleville sur Mer liegt er be-graben. An diesem Friedhof, auf dem fast10 000 amerikanische Soldaten ihr Grab ge-funden haben, fand im Sommer 2009 dieGedenkfeier zum 65. Jahrestag der Landungin der Normandie statt, in Anwesenheit vonUS-Präsident Obama, Prince Charles undPräsident Sarkozy.

Automatic Arrest

Im Sommer 1945 war zwar das provisorischeGefangenenlager aufgelöst worden. Der Ge-heimdienst hatte in den unterschiedlichenGebäuden, den Siedlungshäusern, Villenund Wohnhäusern in der weiteren Umge-bung seine Arbeit aufgenommen. Da gab esaber auch noch die Baracken des Durch-gangslagers Luft. Sie wurden für den „Auto-

234

Eingang und Sicht auf Camp Sibert, Weihnachtskarte1945, gezeichnet von dem deutschen Kriegsgefange-nen Barkovsky

Page 6: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

matic Arrest“ benötigt. Im Sinne der obengenannten Ziele von JCS 1067 mussten „Na-ziverbrecher“ gefunden, gefangen, verhört,beurteilt, evtl. auch verurteilt werden. Werwar ein Nazi? Was waren seine Merkmale?Wann war er schuldig?

Bereits lange vor Kriegsende hatten Be-auftragte des War Department in den USAbegonnen, Listen mit Namen von Partei-funktionären, Verwaltungsbeamten, leiten-den Mitarbeitern verschiedener Behördenund Organisationen anzulegen. Nach einemSieg über Deutschland sollten die Verant-wortlichen zur Rechenschaft gezogen wer-den. Von Frühjahr 1945 bis Mitte 1948 wares das „Central Registry of War Crimes andSecurity Suspects“ (CROWCASS – Zentral-verzeichnis von flüchtigen Personen, dieverdächtigt werden, Kriegsverbrechen be-gangen zu haben). Die Personen solltenmöglichst genau beschrieben werden, umeine anschließende Entnazifizierung zu er-möglichen. Die Aufgabe war gewaltig, gutgedacht und geplant, aber in der Wirrnis derTage und Wochen nach der Kapitulationkaum umzusetzen.

Vieles wurde improvisiert, qualifiziertesPersonal war kaum vorhanden, dazu kam einerheblicher Mangel an Zivilangestellten,Übersetzern, Kenntnis von Land und Leuten.Die Soldaten waren zum Kriegsdienst einge-zogen und zum Kampf ausgebildet worden,nicht zur Überprüfung von gefangenen Geg-nern. Unter den vier Besatzungsmächten gabes ganz unterschiedliche Auffassungen überdie Art der Behandlung und die Zuständig-keiten. Selbst in verschiedenen Dienststellenund Lagern der US-Streitkräfte differiertendie Vorgehensweisen.

Unter der Vielzahl von Lagern in der US-Zone, z. B. Freising, Augsburg, Ludwigsburg,Mannheim, war das Camp in Oberursel, daseinstige Dulag Luft, berüchtigt. Die Barackenwaren nach dem Abzug der deutschen Sol-daten und Offiziere von den Anwohnern ge-

plündert und danach nicht mehr für eineNutzung hergerichtet worden.

Mobiliar war nur noch in Resten vorhan-den, die Betriebseinrichtungen und -anlagenstark reparaturbedürftig.

Die amerikanischen, teils auch deutschenWächter, Aufseher und Befrager waren über-wiegend feindlich gesinnt, noch ganz erfülltvon dem, was sie an Schrecklichem gehört,gesehen und erlebt hatten, Tod und Verder-ben. Die Gefangenen sollten Vergeltung inaller Härte spüren. In zahlreichen Biogra-phien und Berichten Betroffener erscheinenTage und Wochen im Camp Sibert/CampKing als Zeiten des Schreckens und der Er-niedrigung.

So lesen wir bei Hjalmar Schacht(„76 Jahre meines Lebens“, 1953, S. 565),einst Reichsbankpräsident und zuletzt inGeiselhaft der SS: „Zunächst wurde ichoffenbar als Vorgeschmack für Nürnberg (dasMilitärtribunal) drei Wochen in ein Lager beiOberursel gebracht (Sept./Okt. 1945),welches allgemein als ,Cage‘ (Käfig) bezeich-net wurde. Mit Recht. Die Zellen waren inder Tat Käfige. Die Pritschen waren Holz-bretter, auf denen eine Wolldecke lag. Essen

235

Mit 130 Ein-Personen-Zellen in einem Barackentraktwaren von der deutschen Luftwaffe in der Auswerte-stelle West Oberursel Unterkünfte für alliierte Fliegergebaut worden, die verhört werden sollten. Sie wur-den in erbärmlichem Zustand und kärglich eingerich-tet zur Unterbringung von Gefangenen im „AutomaticArrest“ genutzt. 1951 brannte der ganze Komplex ab.

Page 7: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

wurde uns vormittags und nachmittags umvier Uhr gereicht, wobei die Nachmittags-mahlzeit meist aus halbgar gekochten Erbsenbestand, die unverdaulich waren. Ein Spa-ziergang im Freien wurde täglich für zehn Mi-nuten bewilligt. Es war die scheußlichste Un-terkunft, die ich je in meinen Gefängnissengehabt habe.“

Albert Speer, ebenfalls auf dem Transportvon Kransberg nach Nürnberg, erinnert sich:„Am Abend wurde ich in das berüchtigte Ver-nehmungslager Oberursel bei Frankfurt einge-liefert, vom aufsichtsführenden Sergeantenmit dummen, höhnenden Witzen bedacht,mit einer dünnen Wassersuppe abgespeist. Inder Nacht hörte ich die derben Rufe der ame-rikanischen Wachmannschaften, ängstlicheAntworten und Schreie. Am Morgen wurdeein deutscher General unter Bewachung anmir vorbeigeführt, mit zermürbtem und ver-

zweifeltem Gesicht.“ – Dabei handelt es sichwohl um Generalfeldmarschall Albert Kessel-ring, der dann auch in das Untersuchungsge-fängnis in Nürnberg überführt wurde, alsZeuge in den Verhandlungen gegen Her-mann Göring.

Dr. Paul Schmidt, Chefdolmetscher für Eng-lisch im Außenministerium: „Hier herrschteein strenges Regime. Jeder kam in Einzelhaft(Zellen im Cooler). Nur zweimal am Tag gab esetwas zu essen. Waschen durfte man sich nurunter Aufsicht eines meist ungeduldigen Pos-tens. Das ,let's go‘ der Posten, untermischt mit,damned Nazi‘ und anderen freundlichen Titu-lierungen bildeten den Morgengruß. Das Fens-ter der Zelle war von normaler Größe, aber mitschweren Eisenstangen vergittert.“

Auch von körperlichen Misshandlungenwird berichtet. Dr. August Bender, SS-Arztmit nicht bekannter Funktion im Konzentra-tionslager Buchenwald, sagt in einer eides-stattlichen Erklärung: „In dem langen Bara-ckenkorridor standen zahlreiche Amerikanerund bildeten eine Gasse. Durch diese mußteich bis ans Ende der Baracke hindurch laufen,während man mit Gurten, Besen, Stöcken,Eimern und dergleichen aufs heftigste aufmich einschlug“.

Flugkapitän Hanna Reitsch kam als Gefan-gene zunächst in das Barackenlager undschreibt („Höhen und Tiefen“, S. 43): „Tagum Tag verging, ohne daß ich vernommenoder jemandem vorgeführt wurde. DasSchrecklichste während dieser Zeit waren diegellenden Schreie, die sich oftmals am Tageaus verschiedenen Ecken der Baracke, malnah, mal fern, wiederholten. Wer mochtendie armen Gequälten sein?“ Kurz darauf wur-de sie dann in das Haus Alaska überführt.

Viele Gefangene litten jedoch mehr an derUngewissheit über die konkreten Vorwürfezu ihrer Vergangenheit, über ihre nächsteZukunft, über das Befinden ihrer Angehöri-gen, als an den körperlichen Entbehrungenund Misshandlungen.

236

Colonel Charles B. King (1906 –1944), nach dem dasCamp im September 1946 seinen endgültigen Na-men erhielt

Page 8: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Von herausragendem Interesse

Neben den zahlreichen Lagern für die gefan-genen Soldaten und dem „Automatic Arrest“gab es zunächst zwei für „prisoners of highlevel interest“: Eines im luxemburgischenBad Mondorf, dort im Kur-Hotel, genannt„Ashcan“ (Aschenkasten, auch: sterblicheÜberreste), ein anderes im Schloss Kransbergbei Usingen, genannt „Dustbin“ (Mülleimer).Prominente deutsche Wehrmachtsangehö-rige, Regierungsmitglieder und Parteifunk-tionäre waren dort im Gewahrsam derUS Army. Im Vordergrund standen Verhöreund Befragungen, um das Ausmaß derSchuld festzustellen und Punkte für eine An-klage zu sammeln. Auch der Wert als Zeugezur Be- oder Entlastung von Angeklagten inden vorgesehenen Kriegsverbrecherprozes-sen sollte überprüft werden. Ziel war alsoeine Beurteilung im rechtlichen Sinn.

Das Kriegs- und das Außenministerium inWashington hatten sich aber auch entschlos-sen, historische Kommissionen nach Europazu schicken, deren Aufgabe es sein sollte, vongefangenen deutschen Generälen und natio-nalsozialistischen Führern und Politikern In-formationen zu gewinnen, die zur histori-schen Auswertung der Ära des Nationalsozia-lismus nützlich sein konnten. Ziel war alsoeine Ursachenforschung in historischem Sinn.

Mit der Leitung der Kommission wurde Dr.George N. Shuster, Präsident des Hunter-College in New York beauftragt. Nach ihmwurde sie auch als Shuster-Kommission be-zeichnet. Zu den Mitgliedern gehörtenOron J. Hale, Professor für Geschichte an derUniversität von Virginia, Frank Graham, Pro-fessor für Volkswirtschaft in Princeton, Ken-neth W. Hechler, Militärhistoriker und Poli-tikwissenschaftler, und Harold C. Deutsch,Professor für Geschichte an der Universitätvon Minnesota.

Im Juni 1945 reisten die Kommissionsmit-glieder nach Bad Mondorf. Protokollführer

und Dolmetscher wurden zugeordnet. Befra-gungen und Verhöre wurden zeit- und the-menbezogen durchgeführt. Oft wurden auchvon einzelnen Gefangenen schriftliche Aus-arbeitungen zu eng begrenzten Themen ein-gefordert. Es galt, unter erheblichem Zeit-druck gründliche Kenntnisse zu gewinnenüber das, was sich „auf der anderen Seite desHügels“ zugetragen hatte.

Einige Beispiele können den Personen-kreis und einzelne Themen aufzeigen:General Walter Warlimont: Die Intervention

in Spanien, Aug.-Dez.1936 (7 S.)ders.: Hitlers nichtöffentliche Rede zum Ein-

marsch in Polen (22.8.39) (10 S.)Generaloberst H. Guderian: Der Rußland-

Feldzug im Winter 1941 und Hitlers Kom-

237

Auf dem Weg zum Verhör deutscher Gefangenerwurde Colonel King am 22. Juni 1944 erschossen. Erliegt begraben auf dem Soldatenfriedhof in Collevillesur Mer.

Page 9: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

mentare zu den Grundsätzen militäri-scher Führung (8 S.)

Generalleutnant A. Heusinger: Kritische Ein-schätzung von Hitlers Person und seinermilitärischen Qualifikation, insbes. amBeispiel der Ostfront (7 S.)

Dr. Karl Hettlage: Umgang mit Finanzproble-men in der Nazi-Partei (7 S.)

Kurz darauf, Ende Juli 1945, wurde das Lagerin Mondorf aufgelöst. In einem Rundschrei-ben, das E. Sibert verfasst und General Eisen-hower unterzeichnet hatte, wurde dies allenbetroffenen Dienststellen mitgeteilt. Gleich-zeitig wurde darüber informiert, dass ab9. August 1945 in Oberursel bei Frankfurt dasUSFET MISC (s. o.) die rechtlich und histo-risch orientierten Befragungen weiterführt.Die beigefügte Liste der zu verlegenden Ge-fangenen enthält 36 Namen. Termine undZugang zu den Gefangenen koordinierte dieStabsstelle im Frankfurter Hauptquartier. Dieoben genannten Ausarbeitungen von Gefan-genen und viele weitere entstanden in Ober-ursel.

Ort des neuen Prominenten-Lagers wardas 1903 gebaute Frankfurter Lehrerinnen-Erholungsheim, heute „Agnes-Geering-

Heim“, Hohemarkstraße 166. Im April 1945hatte die US-Army das prächtige Gebäudebeschlagnahmt und es als „Haus Alaska“ demCamp Sibert/King zugeordnet. Nur etwa600 m Luftlinie lagen zwischen der großzügigangelegten Villa mit Park und den Barackenmit den Zellen für die Gefangenen im „Auto-matic Arrest“. Ca. 50 Personen konnten im„Haus Alaska“ untergebracht werden.

Aus verschiedenen publizierten Erinne-rungen erfahren wir über das Leben der In-ternierten, die manchmal nur kurze Zeit,manchmal mehrere Monate im Haus waren.Professor Percy E. Schramm, Historiker ander Universität Göttingen und Verfasser desKriegstagebuchs der Wehrmacht, hielt kennt-nisreiche Vorträge. Für die umfangreicheBibliothek wurde ein Ausleihdienst einge-richtet. Hermann Röchling, 76jähriger Un-ternehmer aus dem Saarland, stellte seinModell einer neuen Walzstraße vor. Derbekannte nationalsozialistische SchriftstellerHanns Johst las aus seinem gerade fertiggestellten Schauspiel „Thomas Paine“. LutzSchwerin von Krosigk, der seit 1932 Reichs-finanzminister war und zuletzt für 23 TageAußenminister der Regierung Dönitz, teiltesein Zimmer mit dem herzkranken Feldmar-schall Maximilian Freiherr von Weichs, seit1943 Befehlshaber der Heeresgruppe F. Siekamen gut miteinander aus, was bis zu gro-tesken Szenen führte: Weichs, der gernehandarbeitete, stopfte die Strümpfe vonKrosigk. Der erzählte dafür unterhaltsameGeschichten.

Prinz Philipp von Hessen versuchte mehr-mals, zu seinen Kindern im Schloss KronbergKontakt aufzunehmen. Der Leibarzt Hitlers,Professor Hanskarl von Hasselbach, arran-gierte einen festlichen Neujahrsabend zuBeginn des Jahres 1946, bei dem er aucheigene Gedichte vortrug. Flugkapitän HannaReitsch sang Duette mit dem amerikanischenJournalisten und Mitarbeiter beim Kurzwel-lensender des Deutschen Reiches für die

238

Das Frankfurter Lehrerinnen-Heim, erbaut 1903,Hohemarkstraße 166, wurde im April 1945 von denAmerikanern beschlagnahmt. Es erhielt die Bezeich-nung „Haus Alaska“ und diente zunächst der Inter-nierung von Gefangenen mit „hervorragender Bedeu-tung.“

Page 10: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Sendungen nach USA, Douglas Chandler.Dieser wurde später in den USA zu lebens-langer Haft verurteilt, aber Jahre danach vonPräsident John F. Kennedy begnadigt. Profes-sor Dr. Hugo Blaschke, Zahnarzt der NS Pro-minenz, z. B. von Adolf Hitler, Eva Braunund Martin Bormann, kümmerte sich nunum die Zähne der Internierten. Im Keller ar-beitete er an einem Gipsmodell des Gebissesvon Hitler, das dann als Beweismittel zurIdentifizierung der Leiche des Führers nachBerlin gebracht wurde.

Fritz Thyssen, seit 1926 Leiter des Thys-sen-Konzerns, der nach dem Bruch mit derHitler-Regierung von 1940 an in mehrerenKonzentrationslagern war, kam aus der Gei-selhaft der SS nach Mondorf und dann in dasHaus Alaska in Oberursel. Konsequent trieber morgens Gymnastik. Sein Äußeres mitStrohhut und gelben Schuhen war in dieserUmgebung nicht zu übersehen.

Das einstige Oberkommando des Heereswar vertreten durch General Adolf Heusinger,1944 als unzuverlässig aller Ämter enthoben,Oberst Bogislaw von Bonin, mutiger Befreierder Geiselhäftlinge aus den Händen der SS-Bewacher in Südtirol, und im Januar 1945wegen Ungehorsams von Hitler entlassen, so-wie Generalleutnant Gerd von Schwerin, zu-letzt Kommandeur einer Panzerdivision imWesten. In langen Gesprächen versuchten siedie verwirrenden Vorgänge in der Wehrmachtund den Einfluss Hitlers zu durchleuchtenund zu beurteilen. Sie dachten auch nachüber eine neu zu konstituierende westlicheStreitmacht mit deutscher Beteiligung, aufge-stellt zur Abwehr eines denkbaren Angriffs ausdem sowjetischen Machtbereich. Sie warenes auch, die in der Folgezeit zusammen mitanderen erste Überlegungen für eine deut-sche „Bundeswehr“ anstellten. An der vonKonrad Adenauer 1950 arrangierten, nicht-öf-fentlichen Konferenz im Kloster Himmerod/Eifel zur Grundlegung einer Wiederbewaff-nung der Bundesrepublik Deutschland waren

sie beteiligt. Bonin war Beauftragter Adenau-ers für militärische Planungen. Heusingerwurde 1957 erster Generalinspekteur derBundeswehr. Im Haus Alaska waren ersteVersuche eines zukünftigen Konzepts erörtertworden.

Die unterschiedlichen Beschäftigungenwurden immer wieder unterbrochen durchdie Befragungen durch Mitglieder der Shus-ter-Kommission, aber auch durch die Verhöreim Zusammenhang mit der Vorbereitung desInternationalen Militärtribunals in Nürnbergund die der folgenden zwölf Nachfolgepro-zesse unter amerikanischer Leitung, Recht-sprechung und Urteilsfindung. Hier nahm Dr.Robert Kempner eine wichtige Rolle ein.Manchen Gefangenen kannte er noch aus derZeit, in der er als junger Beamter im preußi-

239

Dieses private Foto zeigt Flugkapitän Hanna Reitsch,die nach längerem Aufenthalt in „Alaska“ privat inOberursel, Altkönigstraße, untergebracht wird. Siewird schließlich 1951 ohne Formalitäten „entlassen“.

Page 11: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

schen Innenministerium gearbeitet hatte. DerSchwerpunkt seiner Prozess-Vorbereitungenlag in Nürnberg, aber in seinen Lebenserinne-rungen erzählt er, dass er im Speisesaal vonHaus Alaska die letzte Sitzung der (ehemali-gen) Reichsregierung geleitet hat. Daran hatteauch ein alter Bekannter Kempners, Staatsmi-nister Otto Meissner, teilgenommen, Chef derPräsidialkanzlei schon unter ReichspräsidentFriedrich Ebert, dann unter Hindenburg undschließlich unter dem Führer Adolf Hitler.

Wie im nahen Barackenbereich des La-gers, so zeigten sich auch im „Haus Alaska“die erheblichen Schwierigkeiten, die ausge-arbeiteten theoretischen Pläne des „WarCrimes Program“ in die Praxis umzusetzen.In einem Memorandum für den stellvertre-tenden Militärgouverneur, General LuciusD. Clay, vom 7. September 1945 wird ein-drücklich darauf hingewiesen, dass acht ver-schiedene US-Dienststellen zwischen Paris,Wiesbaden und Frankfurt an dessen Ausfüh-rung arbeiten. Elf gravierende Punkte umfasstdie Mängelliste. Allein im Hauptquartier in

Frankfurt, dem Camp Sibert zugeordnet ist,lagen annähernd 150 000 Daten von Ver-dächtigen vor.

Nicht im Haus Alaska, aber in dem für ihnund seine Familie geräumten Verwalterhausdes „Luisenhofes“, heute Teil des Bienen-instituts Im Rosengärtchen, schrieb Dr. EugenKogon ab September 1945 sein bekanntesund immer wieder neu aufgelegtes Buch„Der SS-Staat“ über die Vorgänge im Kon-zentrationslager Buchenwald1.

Im Frühjahr 1946 ging die Kommissionsar-beit zu Ende. Das Haus wurde Quartier fürandere Internierte, insbesondere aus demkommunistischen, sowjetischen Einflussbe-reich. Erst 1955 ging das Gebäude wieder indie Verfügungsgewalt der Eigentümer über.

An dieser Stelle ist eine Korrektur an derherkömmlichen Überlieferung anzubringen.In der Literatur, in der Presse und ebenso inFernseh-Dokumentationen wird immer wie-der behauptet, auch der Stellvertreter desFührers, Generalfeldmarschall HermannGöring, sei einige Zeit in Oberursel als Ge-fangener gewesen. Das ist erwiesenermaßenfalsch! Seine Aufenthaltsorte waren Augs-burg, Wiesbaden (nur eine Woche) und dasLager „Ashcan“ in Mondorf. Von dort wurdeer direkt mit dem Flugzeug nach Nürnberggebracht. Hermann Göring in Oberursel isteine Legende.

Militärische Operationen, Strategieund Taktik

War die Shuster-Kommission auf Initiative vonMinisterien entstanden und hatte sie dorthinihre Arbeitsergebnisse zurückzumelden, soverfolgte die US-Armee eigene Interessen. Siewollte Mitglieder des deutschen Generalsta-bes befragen, mündlich und durch schriftlicheBerichte. Waren es zunächst die von derWehrmacht gegen die US-Armee angewand-ten Strategien und Taktiken zwischen Sommer1944 und dem Kriegsende 1945, die rekon-

240

Eugen Kogon (1903–1987)

Page 12: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

struiert werden sollten, um die Abläufe in ih-rer Wechselwirkung auszuwerten, so waren esspäter die Operationen an der Ostfront, imBlick auf die wachsende Gegnerschaft zursowjetischen Streitmacht.

Die eingesetzte Kommission erhielt dieBezeichnung „Operational History (German)Section“ und bekam das Haus „Florida“, frü-her Siedlerschule, dann Kommandantur desDulag, heute „Kinderhaus“ im Jean Sauer-weg 2, als Dienstgebäude. Ab Spätherbst1945 begann die Suche nach geeignetenund zur Kooperation bereitwilligen Offizie-ren, ebenso die Aufzeichnung der verschie-denen Operationen. Die Beteiligten erhiel-ten gute amerikanische Verpflegung, warenpassabel untergebracht und bekamen einTaschengeld.

Rasch wurde das Gebäude für die wach-sende Zahl der dort arbeitenden Offiziere zuklein, Erweiterungsmöglichkeiten gab es nicht,aber es waren insbesondere die zunehmen-den Verärgerungen und Konflikte zwischenden auf dem gleichen Gelände untergebrach-ten, aber so unterschiedlich behandeltenWehrmachtsangehörigen. Internierte Offiziereund Mannschaften in den Baracken hattenmiserable Bedingungen hinzunehmen, sahenaber täglich auf dem gleichen Gelände Wehr-machtsoffiziere in Uniform, die gut gekleidet,ernährt und entlohnt wurden. Diese wurdenals „Verräter“ und „Kollaborateure“ mit denSiegern beschimpft. Auch eine ganze Reiheamerikanischer Soldaten machte ihrem Ärgerlaut darüber Luft, dass hier mit Militärs, dienoch vor wenigen Monaten Feinde in einemharten Kampf gewesen waren, einträchtig zu-sammen gearbeitet werden sollte. Die Stim-mung war so aufgeladen, dass KommandantW. Philp auf eine Verlegung der „OperationalSection“ drängte.

Im Mai 1946 war dann eine Lösung gefun-den. Alle mitarbeitenden deutschen undamerikanischen Offiziere zogen nach Allen-dorf um in ein geräumtes, aber sehr reparatur-

bedürftiges Gefangenenlager. 328 Offizierewaren beteiligt. Sie wurden aus zehn ver-schiedenen Gefangenenlagern zusammen-geholt. Bis Ende 1948 lagen mehr als 1000Manuskripte vor. Das waren ca. 34 000 be-schriebene Seiten. Die Koordination der Aus-wertung und der Abschluss der Arbeiten lagenauf deutscher Seite in den Händen von Gene-raloberst Franz Halder, der dafür im Novem-ber 1961 von US-Präsident John F. Kennedymit der Freiheitsmedaille ausgezeichnet wur-de. „General Halder hat einen fortdauerndenBeitrag zum taktischen und strategischen Den-ken in der Armee der Vereinigten Staatengeleistet.“ Die Arbeit, die 16 Jahre zuvor inOberursel konzipiert, erprobt und ausgewer-tet wurde, war damit offiziell anerkannt.

Auch in diesem Falle hatte die Kombina-tion der beiden Quellen – sichergestellte Do-kumente auf der einen und persönlicheErlebnisse und Erkenntnisse von Wissensträ-gern auf der anderen Seite – zu wichtigen Er-gebnissen geführt. Wo waren Feindschaftund Hass geblieben? Schon im Durchgangs-lager Luft während des Krieges hatte es gele-gentlich zwischen alliierten – gefangenen –und deutschen Fliegern eine fachlich begrün-dete, begeistert praktizierte „Kollegialität“gegeben, die das Freund-Feind-Denken

241

Eine Arbeitsgruppe deutscher gefangener Offiziere,aufgenommen am 23. Februar 1946 im Haus „Flori-da“, Oberursel. Ganz rechts Generalmajor Freiherrvon Gersdorff im Gespräch mit Leutnant J. F. Scogginvon der „Operation History Section“

Page 13: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

überlagerte. Solche Brücken zwischen Geg-nern gab es auch unter den Militärs bei„Operational History“. Welche Vorgehens-weise war damals und dort erfolgreich, wel-che gegnerische Reaktion hatte welche Wir-kung? Kriegführen als Beruf – hier wie dort!

Ein nicht alltägliches Beispiel bietet FritzBerendsen, bis 1945 Oberst im Generalstab.Von 1936 – 38 besuchte er als Offizier derReichswehr die Kriegsakademie in Berlin.Gleichzeitig studierte dort Albert C. Wede-meyer aus den USA. Der sollte dort so vielwie möglich über militärische Taktik undTechnik lernen, aber auch versuchen, Kennt-nisse über den Nazismus, den Charakter sei-ner Führer und seiner Ziele zu erlangen. Un-ter den Studierenden war es Fritz Berendsen,der zwei Jahre lang neben ihm saß und ihmgeduldig half, die sprachlichen Hürden zunehmen. Nach Kriegsende 1945 stellte We-demeyer, inzwischen General der US-Armeein Südostasien, den Kontakt wieder her undveranlasste, dass Berendsen mit Familie inein Haus auf dem Camp-King-Gelände zie-hen konnte und dort versorgt wurde. Be-rendsen schrieb dort zwei Studien, eine überdie Funktionsweise des deutschen General-stabes und eine zweite über einen denk-baren russischen Angriff auf Westeuropa unddessen Abwehr. Ende 1948 verließ er Ober-ursel und arbeitete in einer Unternehmens-leitung. Elf Jahre lang war er Mitglied desdeutschen Bundestages, sowie mehrere Jah-re lang Brigadegeneral in der Bundeswehr.

Das Unternehmen „Büroklammer“

Die unterschiedlichen Schwerpunkte unterden Aufgaben des US-Geheimdienstes vonUSFET MISC als Teil der Streitkräfte sind nurschwer auf einen gemeinsamen Nenner zubringen. Es waren ganz verschiedene Interes-sengruppen, die ihre Pläne umsetzen woll-ten. Da waren die Juristen, die Historiker

und die Militärs. Von Wissenschaftlern mussnun noch gesprochen werden.

Die Absichten, die mit den Unternehmen„Overcast“ (Bewölkung) ab 1945 und „Paper-clip“ (Büroklammer) ab 1946 verbunden wa-ren, formuliert treffend Generalmajor HughKnerr (stellvertretender Befehlshaber der US-Air-Force in Europa) folgendermaßen:

„Wenn wir nicht die Gelegenheit nutzen,von dem technologischen und medizinischenApparat Besitz zu ergreifen und die Köpfe auf-spüren, die ihn entwickelt haben, und beidezusammen an die Arbeit bringen, dann werdenwir etliche Jahre hinter den bereits erforschtenund entwickelten Ergebnissen zurückbleiben. –Wir müssen deutsche Wissenschaftler bei un-seren Forschungen verwerten und sie gleich-zeitig den Sowjets entziehen.“

So folgen den kämpfenden Soldaten ander Front Suchtrupps, die wissenschaftlich in-teressante Objekte (z. B. Raketentriebwerke)aufspüren und zusammen mit den relevan-ten schriftlichen Unterlagen sicherstellen, –wenn möglich einschließlich der Wissen-schaftler, die an den entsprechenden Projek-ten gearbeitet haben. Die russischen, franzö-sischen und englischen Besatzungsmächteverhalten sich in gleicher Weise.

Abgesehen von den fehlenden äußerenVoraussetzungen in den besetzten Gebietenwar ein sinnvoller Einsatz nur in den USAselbst möglich. Mit „Overcast“ kamen dieersten Gefangenen dorthin. Solange sie untermilitärischer Bewachung standen, waren dieArbeitsmöglichkeiten gegeben. Unsicherheitherrschte jedoch über die Dauer des Aufent-halts und den Umfang der Einbindung in sol-che Projekte von Militär und Aufklärung, dieals „top secret“ eingestuft waren. Zunächstwar entschieden, dass die Gefangenen nachsechs Monaten wieder entlassen werden soll-ten. Danach hätten sie aber von konkurrie-renden Mächten angeworben werden kön-nen oder gar eine Wiederaufrüstung inDeutschland betreiben können. Damit wä-

242

Page 14: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

ren sie ein Sicherheitsrisiko für die USA ge-worden. Das sollte aber keinesfalls sein!

Zum 31. 7. 1946 kehrten planmäßig alledeutschen Gefangenen in ihre Heimat zu-rück. Für die Wissenschaftler musste alsoeine Lösung gefunden werden, die keinerAusnahmeregelung von den geltenden Be-stimmungen über den Aufenthalt bedurfte.Darüber kam es zwischen den Beamten desAußenministeriums und den Verantwortli-chen in der Armee zu einer heftigen Ausein-andersetzung. Einen Weg zeigte erst das Un-ternehmen „Paperclip“.

Die entsprechende Direktive unterzeichne-te US-Präsident H. Truman im September1946. Sie legte fest, dass eine Einreiseerlaub-nis, später sogar eine Einwanderung in dieUSA möglich sein sollte, wenn wissenschaftli-che Qualifikation und konkretes Interesse derUSA gegeben waren. Nur ehemalige Mitglie-der der NSDAP oder aktive Unterstützer desNationalsozialismus oder des Militarismussollten den Boden der USA nicht betretendürfen. Dies aber war eine Hürde, an der dasganze Unternehmen zu scheitern drohte. Ge-rade die hochqualifizierten, leistungsstarkenForscher waren Mitglied der NSDAP, auch derSS gewesen. Sie hatten es hingenommen, dasstausende Zwangsarbeiter zu Tode kamen. EinMann, wie der wohl bekannteste „Paperclip-per“, Wernher von Braun, hätte danach nie-mals einreisen dürfen.

Um diese Hürde zu umgehen, sorgten dieverantwortlichen Militärs dafür, dass die ein-zureichenden Personalunterlagen durch an-geheftete Notizen (deshalb Paperclip) so „fri-siert“ wurden, dass die Genehmigung zurÜbersiedlung ohne Einwände erteilt werdenkonnte. Belastendes Material wurde entfernt,biografische Angaben verändert, manchmalauch Namen ausgetauscht. VorhandenesWissen musste durch erklärtes Nichtwissenausgelöscht werden.

Eine der Stellen, an denen das Unterneh-men „Paperclip“ aktiv gefördert wurde, war

das Camp King in Oberursel. General Sibertund Kommandant Philp und ihre Nachfolgerwaren Pragmatiker. Sie hielten die Politikerfür wirklichkeitsfremd und inkompetent. EinBeispiel soll hier vorgestellt werden, das engmit Camp King verbunden ist:

Professor Dr. med. Walter P. Schreiber(*1893 in Berlin)1937 Leiter des Hygieneinstituts1943 Generalarzt im Oberkommando der

Wehrmacht (biologische Kriegführung)und Professor an der MilitärärztlichenAkademie, Fachgebiet: Seuchenbe-kämpfung

1945 Russische Gefangenschaft, Zeuge derAnklage im internationalen Kriegsver-brecher-Prozess in Nürnberg

1948 aus der UDSSR nach Dresden entlas-sen, Flucht in den US-Sektor/Berlin,dann mit Familie ins Camp King ge-bracht

1949 Anstellungsvertrag als Arzt für das ge-samte Camp King als Doc Fischer

1951 Einreise in die USA, Institut für Luft-fahrt-Medizin in Texas, Enthüllungender entschärften Informationen überseine Nazivergangenheit in der „NewYork Times“ durch einen Journalisten,der ihn zufällig wiedererkannte

1952 nach öffentlicher Empörung Ausreisezu seiner Tochter nach Argentinien

Im Votum des Kommandanten von CampKing zur Einreise in die USA heißt es u. a.:Der Betreffende ist hochintelligent, ein ge-nauer Beobachter, engagiert, sehr gewissen-haft. Er hat feste Wertvorstellungen, die auchunter 3½jähriger kommunistischer Indoktri-nation nicht gelitten haben. Seine medizini-sche Qualifikation ist außerordentlich.

Christopher Simpson schreibt in seinemBuch „Bumerang“ (S. 95) zusammenfassend:

„Das staubige weitläufige Vernehmungszen-trum im Camp King in der Nähe von Oberurselwar offenbar das erfolgreichste Rekrutierungs-

243

Page 15: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

zentrum für ehemalige Nazis, die sich denAmerikanern anschließen wollten. Es ist eingutes Beispiel für die sich verwischendenGrenzen zwischen Jägern und Gejagten.“

Ein neuer Auftrag

Hatten sich schon in der jüngsten Vergangen-heit Veränderungen in der Aufgabenstellungabgezeichnet, so wurden sie im Juni 1950 mitdem Einmarsch kommunistischer Truppenüber die Demarkationslinie nach Südkoreaoffenbar. Die USA und insbesondere die mili-tärische Führung suchten eine stabile Verteidi-gungsgemeinschaft in West-Europa zu schaf-fen unter dem Einschluss der BundesrepublikDeutschland. Der Blick ging nun nicht mehrzurück zu den Gräueln nationalsozialistischerVergangenheit. Fast alle vorher Verurteilten inLandsberg, Werl oder anderen Gefängnissenwurden begnadigt.

Der Geheimdienst im Camp King wurdeumstrukturiert. USFET MISC wurde aufge-

löst. Die 513th Military Intelligence Groupzog auf und übernahm die Aufklärung undSpionage Richtung Osten. Ein Offizier ausdem Camp meinte im Gespräch: „I don’tcare, if he is a Nazi, as long as he is not acommunist!“ (Von mir aus kann er ruhig Nazigewesen sein, Hauptsache, er ist kein Kom-munist!)

Ein neuer, der kalte Krieg hatte begonnen.

Anmerkung

1 Es gilt noch heute als Standardwerk über das Sys-tem der deutschen Konzentrationslager, wurde inmehrere Sprachen übersetzt und allein in deutsch-sprachiger Ausgabe mehr als 500 000 Mal ver-kauft. Eugen Kogon begleitete später den Weg derneuen jungen Bundesrepublik als kritischer Beob-achter, setzte sich für die europäische Bewegungein und engagierte sich in der hessischen Landes-politik. Der bekannte Publizist, Soziologe und Poli-tikwissenschaftler lebte in Königstein, wo er 1987starb. Seit 2002 verleiht die Stadt Königstein denEugen-Kogon-Preis für gelebte Demokratie.

Benutzte Quellen und Literatur in Auswahl

Frei, Norbert: Hitlers Eliten nach 1945, München,20042

Schwerin von Krosigk, Lutz: Persönliche Erinnerun-gen, Selbstverlag, 1975.Hechler, Kenneth: On the Enemy Side of the Hill,Typoscript, 1949Hale, Oron J.: Report on Historical Interrogations,Typoscript, 1945Hanna Reitsch: Höhen und Tiefen, München, 19782

Kempner, Robert: Das Dritte Reich im Kreuzverhör,München, 2005Burdick, Charles: Vom Schwert zur Feder, aus: Mili-tärgesch. Mitteilungen 2/1971Simpson, Christopher: Der amerikanische Bumerang– Im Sold der USA, Wien, 1988Überschär, Gerd: Der Nationalsozialismus vor Ge-richt, Frankfurt/M. 1999Gajdosch, Franz; Stern, Walter: US – Camp King, un-veröffentl. Mskr. 2005Alle Informationen und Materialien zu diesem Auf-satz sind in Findbüchern erschlossen und einzusehenim „Erinnerungsort der Zeitgeschichte – Das GeländeCamp King, 1933–1993“, Im Rosengärtchen 37,Oberursel (Kirchenladen). Auch im Internet unterwww.campking.org ist die Recherche möglich.

244

So stellt sich das Gelände von Camp King 1952 dar.Nach einem Brand sind der Cooler und vier weitereBaracken abgetragen worden. In Kürze werden neueGebäude für Verwaltung, Befragung, Lager, Freizeit-und Dienstleistungseinrichtungen, auch Wohnungenerrichtet werden.

Page 16: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

Über den Autor

Manfred Kopp

(geb. 1933 in Frankfurt/Main)

Pfarrer, Dozent f. Religionspädagogik

1964 Pfarrer für Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen inWiesbaden.

1969 Landesjugendpfarrer und Leiter des Amtes für Jugendarbeit derEv. Kirche in Hessen und Nassau.

1980 Dozent für Religionspädagogik an Berufsbildenden Schulen imStudienzentrum der Ev. Kirche in Hessen und Nassau (Kronberg)

1996 (nach der Ruhestandsversetzung) Geschäftsführer der "Orbishöhegem. GmbH, Pädagogische Hilfen für Kinder und Jugendliche"Zwingenberg

2001 Ende der Berufstätigkeit.Ehrenamtliche Arbeiten zurStadtgeschichte von Oberursel

Seit 1962 Geschichte der Urseler Druckereien (1557 - 1623),Bibliographie und Autopsie sämtlicher nachweisbarer Drucke inhistorischen Bibliotheksbeständen, so bei Reisen nach Wolfenbüttel,Gotha, München Berlin, Wien, London, Sammlung von Archivmaterial,Sonderforschungen zu den Mess-Zeitungen im 16. Jhdt. Konzept undEinrichtung eines Raumes zur "Reformationszeit und Druckgeschichte"im Vortaunussmuseum. Die Bibliographie weist derzeit 491 Titelauf.Nikolaus Henricus und Cornelius Sutor, Bürger und Drucker zuUrsel", "Oberursel, 1964, 111 S. Die Druckerei zu Ursel) 1557 - 1623,Versuch eines Portraits "Oberursel" , 1990, 168 S.

Seit 2003 Ausbildung und Beratung von ehrenamtlichen Stadtführernund Stadtführerinnen in Kooperation mit "Stadttourismus", Konzepteund Themen. Eigene Führungen ( bis jetzt 226)mit verschiedenenThemen und Gruppen

Seit 2003 Vorsitz des "Kuratoriums Vortaunusmuseum e.V.“

Seit 2005 Projekt: "Erinnerungsort der Zeitgeschichte - Das GeländeCamp King 1933 - 1993" Materialsammlung und -bearbeitung inKooperation mit dem Stadtarchiv, Recherchen im Hess.Hauptstaatsarchiv (Wiesbaden), Institut für Zeitgeschichte München),Stasi-Unterlagen-Behörde und Gedenkstättenkonzepte (Berlin),Zeitzeugen-Gespräche, Führungen öffentlich und für Gruppen, Vorträge,Beratung von Unterrichtsprojekten (z.B. Grundschule amEichwäldchen), Veröffentlichung im Jahrbuch des HTK, Mitarbeit bei derKulturregion Frankfurt Rhein Main ("Geist der Freiheit", Topographie"Orte der Freiheit").

2008: Verleihung des Saalburgpreises

Weiterführende Informationen: www.CampKing.Org

Page 17: Manfred Kopp Im Labyrinth der Schuld - campkingoberursel.de · sondern auf der Hohe Mark geblieben. Nun waren sie also frei! Für gefangene deutsche Soldaten wird auf den Wiesen vor

www.Ursella.Org

Verein für Geschichteund

Heimatkunde Oberursel (Taunus) e.V.Postfach 11 46

61401 OberurselGeschäftsstelle: Hospitalstraße 9

Manfred Kopp

Im Labyrinth der SchuldUS Army Interrogation Center in Oberursel,

1945-1952

Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Hochtaunuskreis 2010

Dieser Sonderdruck kann als .PDF-Datei kostenlos von

www.CampKing.Org oder

www.Ursella.Org

geladen und ausgedruckt werden