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B. Maggi • Zürich Manualtherapie unter der Geburt Zusammenfassung Kasuistische Beobachtungen von geburtser- leichternden Effekten manueller Therapie sub partu werden vor dem Hintergrund der hierzu recherchierten Literatur vorgestellt. Die funktionelle Therapie der unter der Ge- burt auftretenden vertebragenen Störungen kann den Geburtsverlauf erleichtern und verkürzen. Schlüsselwörter Iliosakralgelenk • Manipulation unter der Geburt B. Maggi Manual therapy during birth Abstract Casuistic observations of birth facilitating ef- fects by manual therapy sub partu, are pre- sented on the background of a literature re- search. The treatment of functional problems of the pelvic ring can alleviate birth pain and facilitate labor. Keywords Sacroiliacal joint • Manual Medicine • Labour • Birth Eine der größten Belastungen der Funktionskapazität unseres Bewe- gungsapparats stellt die Geburt dar. Dies gilt in erster Linie für das Kind, dessen Geburtsweg von mehreren Auto- ren als „die gefährlichste Strecke, die wir im Leben durchqueren müssen“ be- zeichnet wurde. Auch die Gebärende selbst kommt an die Grenzen ihrer Kräfte und Belastbarkeit. Jede Hilfe zur Erleichterung dieses Vorgangs wird des- halb von der Betroffenen sehr geschätzt. Bei Hausgeburten ist die gleiche Hebamme stundenlang bei der Gebä- renden. Sie ruft den Arzt bei Problemen oder am Ende der Eröffnungsphase, da- nach bleibt auch der Arzt meistens 2–3 h anwesend. Man hat Zeit zur Beob- achtung: In der Hausgeburtshilfe neh- men die Gebärenden in der Eröffnungs- phase meist wechselnde Stellungen ein, um in der Austreibungsphase eine Kau- erstellung am Boden oder auf dem Ge- bärstuhl einzunehmen [5, 8]. Sowohl den mitarbeitenden Heb- ammen und auch mir selber fiel auf, daß die letzten Eröffnungswehen häufig als die heftigsten empfunden werden und daß danach eine kleine Wehen- pause eintritt, worauf dann die Presswe- hen beginnen. Hierzu ändern die mei- sten Gebärenden die Körperstellung: Von zuerst liegender, stehender oder hängender Stellung zum Sitzen mit in den Hüftgelenken gebeugten Beinen, die Knie selber unterfassend, die Wir- belsäule gebeugt. Bereits 1854 beschrieb Duncan die erhöhte Beweglichkeit der ISG in der Schwangerschaft und im Wochenbett. Walcher maß 1899 palpatorisch eine Vergrößerung der Conjugata vera um 8mm beim Wechsel von der Stein- schnittlage in die kombinierte Exten- sion von Stamm und Hüftgelenken (spä- ter als „Walchers position“ bezeichnet). Dieser Gewinn an Mobilität im Becken- ring ist zum Durchtritt des kindlichen Schädels durch das Becken notwendig, da hier nur ganz geringe Raumreserven vorliegen. Eine Erhöhung der Beweg- lichkeit führt aber auch zu einer erhöh- ten Störanfälligkeit im Sinne von Fehl- funktionen und Blockierungen. Treten diese in der Schwanger- schaft auf, so sind sie unangenehm (Kreuz- oder Symphysenschmerz der Schwangeren), haben aber keinen we- sentlichen Einfluß auf die Schwanger- schaft und können manualtherapeu- tisch gut behandelt werden. Treten diese nun aber unter der Ge- burt auf, können sie diese auf mehreren Ebenen stören und verzögern: • Manualtherapeutisch: Das blockierte ISG erschwert den Anpassungs-, oder besser Modellierungsprozeß des kindlichen Kopfes an das mütterliche Becken (Verlust an Spielraum). • Geburtsphysiologisch: Durch die Fehlstellung im Beckenring entsteht ein anderer Rezeptoreninput, welcher die Schmerzverarbeitung während der Wehen beeinflußt. Bereits 1944 beschrieb Martius in seinem Buch „Die Kreuzschmerzen der Frau“, Die Verknüpfung der viszeralen uterinen Schmerzempfindung (vorwiegend wegen der dortigen größten Rezepto- rendichte am inneren Muttermund) mit der spinalen der Schmerzrezepto- ren an den Ansätzen der uterinen und parametranen Bändern am Becken- ring. 114 Manuelle Medizin 3·97 Manuelle Medizin 1997 · 35:114–117 © Springer-Verlag 1997 B. Maggi Dennlerstraße 24, CH-8047 Zürich Originalien

Manualtherapie unter der Geburt

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B. Maggi • Zürich

Manualtherapie unter derGeburt

Zusammenfassung

Kasuistische Beobachtungen von geburtser-leichternden Effekten manueller Therapiesub partu werden vor dem Hintergrund derhierzu recherchierten Literatur vorgestellt.Die funktionelle Therapie der unter der Ge-burt auftretenden vertebragenen Störungenkann den Geburtsverlauf erleichtern undverkürzen.

Schlüsselwörter

Iliosakralgelenk • Manipulation unter derGeburt

B. Maggi

Manual therapy during birth

Abstract

Casuistic observations of birth facilitating ef-fects by manual therapy sub partu, are pre-sented on the background of a literature re-search. The treatment of functional problemsof the pelvic ring can alleviate birth pain andfacilitate labor.

Keywords

Sacroiliacal joint • Manual Medicine• Labour • Birth

Eine der größten Belastungen derFunktionskapazität unseres Bewe-gungsapparats stellt die Geburt dar.Dies gilt in erster Linie für das Kind,dessen Geburtsweg von mehreren Auto-ren als „die gefährlichste Strecke, diewir im Leben durchqueren müssen“ be-zeichnet wurde. Auch die Gebärendeselbst kommt an die Grenzen ihrerKräfte und Belastbarkeit. Jede Hilfe zurErleichterung dieses Vorgangs wird des-halb von der Betroffenen sehr geschätzt.

Bei Hausgeburten ist die gleicheHebamme stundenlang bei der Gebä-renden. Sie ruft den Arzt bei Problemenoder am Ende der Eröffnungsphase, da-nach bleibt auch der Arzt meistens2–3 h anwesend. Man hat Zeit zur Beob-achtung: In der Hausgeburtshilfe neh-men die Gebärenden in der Eröffnungs-phase meist wechselnde Stellungen ein,um in der Austreibungsphase eine Kau-erstellung am Boden oder auf dem Ge-bärstuhl einzunehmen [5, 8].

Sowohl den mitarbeitenden Heb-ammen und auch mir selber fiel auf,daß die letzten Eröffnungswehen häufigals die heftigsten empfunden werdenund daß danach eine kleine Wehen-pause eintritt, worauf dann die Presswe-hen beginnen. Hierzu ändern die mei-sten Gebärenden die Körperstellung:Von zuerst liegender, stehender oderhängender Stellung zum Sitzen mit inden Hüftgelenken gebeugten Beinen,die Knie selber unterfassend, die Wir-belsäule gebeugt.

Bereits 1854 beschrieb Duncan dieerhöhte Beweglichkeit der ISG in derSchwangerschaft und im Wochenbett.Walcher maß 1899 palpatorisch eineVergrößerung der Conjugata vera um8 mm beim Wechsel von der Stein-schnittlage in die kombinierte Exten-sion von Stamm und Hüftgelenken (spä-

ter als „Walchers position“ bezeichnet).Dieser Gewinn an Mobilität im Becken-ring ist zum Durchtritt des kindlichenSchädels durch das Becken notwendig,da hier nur ganz geringe Raumreservenvorliegen. Eine Erhöhung der Beweg-lichkeit führt aber auch zu einer erhöh-ten Störanfälligkeit im Sinne von Fehl-funktionen und Blockierungen.

Treten diese in der Schwanger-schaft auf, so sind sie unangenehm(Kreuz- oder Symphysenschmerz derSchwangeren), haben aber keinen we-sentlichen Einfluß auf die Schwanger-schaft und können manualtherapeu-tisch gut behandelt werden.

Treten diese nun aber unter der Ge-burt auf, können sie diese auf mehrerenEbenen stören und verzögern:

• Manualtherapeutisch: Das blockierteISG erschwert den Anpassungs-,oder besser Modellierungsprozeß deskindlichen Kopfes an das mütterlicheBecken (Verlust an Spielraum).

• Geburtsphysiologisch: Durch dieFehlstellung im Beckenring entstehtein anderer Rezeptoreninput, welcherdie Schmerzverarbeitung währendder Wehen beeinflußt. Bereits 1944beschrieb Martius in seinem Buch„Die Kreuzschmerzen der Frau“, DieVerknüpfung der viszeralen uterinenSchmerzempfindung (vorwiegendwegen der dortigen größten Rezepto-rendichte am inneren Muttermund)mit der spinalen der Schmerzrezepto-ren an den Ansätzen der uterinen undparametranen Bändern am Becken-ring.

114 Manuelle Medizin 3·97

Manuelle Medizin1997 · 35:114–117 © Springer-Verlag 1997

B. MaggiDennlerstraße 24,CH-8047 Zürich

Originalien

• Geburtsmechanisch in bezug auf dieWeichteile: Gelegentliches „Einklem-men“ der vorderen Muttermundlippezwischen kindlichem Kopf und derSymphyse, könnte durch den vermin-derten Spielraum zwischen kindli-chem Kopf und der Symphyse, könntedurch den verminderten Spielraumzwischen kindlichem Kopf und Sym-physe bei blockiertem ISG bedingtsein.Eine Diagnostik in bezug auf den Bek-kenring ist bei der Gebärenden nur inder Wehenpause und im Stehen mög-lich und kann deshalb nur sehr grobgerastert sein. Eine verminderte Be-weglichkeit der ISG ist aber als solchediagnostizierbar und einfach zu be-handeln [6].

Wenn ein blockiertes ISG eine Geburtbeeinflussen kann, sollte eigentlichauch die Geburtsbelastung auf den Bek-kenring in seiner Funktion zurückwir-ken. Gerade die typischen ligamentärenKreuzschmerzen bei Frauen zeigen im-mer wieder anamnestische Hinweiseauf einen Beginn oder Verstärkungnach Entbindungen. In einfacheren Fäl-len genügt dann eine manualtherapeuti-sche Beseitung der Funktionsstörung.In chronisch verlaufenden Fällenbraucht es meist physiotherapeutischeMaßnahmen oder eine Rückenschule.In Fällen von protrahiertem Geburts-verlauf lohnt sich schon wegen der we-nig aufwendigen Methode eine manual-medizinische Diagnostik und gegebe-nenfalls eine darauf aufbauende Thera-pie.

Kasuistische Beobachtungen

Die beiden hier folgenden Kasuistikensollen als Anregung dienen, diese Situa-tionen bewußter wahrzunehmen undaufzuarbeiten. Viele Fragen könnenerst angegangen werden, wenn manüber größere Fallzahlen verfügt. Hierzuist aber wichtig, daß man überhaupt aneine manualtherapeutisch beeinfluß-bare Problematik unter der Geburtdenkt und diese auch diagnostiziert.

1. Fall

C. T., 28 jährige Erstpara:

• Äußere Beckenmasse: Distantia spi-narum 27/D. cristarum 30/D. trochan-

tanterica 33/Conjugata externa 22 cm.Die innere Beckenaustastung zeigtekeine Besonderheiten. In der 34. SSWISG-Blockierung rechts. Hier konntemit einer Manualtherapie geholfenwerden.

• Geburtsverlauf: 1 Woche vor dem er-rechneten Termin begannen die re-gelmäßigen starken Wehen um7.30 Uhr. Um 15 Uhr war der MM4 cm eröffnet, die kindliche Leitstelle(hier Kopf) war auf Höhe der Inter-spinallinie. Die Gebärende erhält einAnalgeticum (Tramadol). In der Folgeöffnete sich der MM auf 8–9 cm bis aufeinen ventralen Saum. Um 18.15 be-suchte ich die Gebärende. Die Herz-töne des Kindes waren gut, der Pulslag bei 120–140. Ich fand einen bis aufeinen ventralen Saum (hinter derSymphyse) vollständig eröffnetenMuttermund, die kindliche Leitstellewar auf interspinaler Höhe. Die kleineFontanelle vorne links.

Die Harnblase der Gebärenden wurdekatheterisiert, in der Annahme daß einevolle Blase das Tiefertreten des Kopfesbehindern könnte und dies die Geburtverlangsame. Dieses Vorgehen brachteaber nur 100 ml Urin, so daß wir unsereÜberlegungen neu anstellen mußten.

Ich beschloß – aufgrund früher ge-machten Erfahrungen in einer solchenSituation – die stehende Gebärende ma-nualtherapeutisch zu untersuchen. Eszeigte sich eine ISG-Blockierung links(Vorlaufphänomen und spine test aufder linken Seite pathologisch).

In der nun folgenden Wehenpause(ca. um 19 Uhr 30) faßte ich die stehendeGebärende von hinten mit der linkenHand an die Crista und Spina iliacalinks. Die rechte Hand legte ich ulnar-kantig auf den linken Rand des Sakrums.Danach gab ich einen gegenläufigen Im-puls am Ende der Ausatmungsphase(die linke Hand nach dorsal, die rechteHand nach ventral). Bei der nun folgen-den Wehe bemerkte die Gebärende denWehenschmerz nur noch sakral undnicht mehr symphysär. Um 20.40 UhrGeburt aus 1. HHL. Kind etwas tonisiert(Tramadol-Wirkung?). Apgar 5/7/92950 g KG. Kopfumfang des Kindes33,5cm (sonographisch war der Bip.Kopfdurchmesser in der 29.4/7 SSW80 mm). Insgesamt dauerten die Press-wehen 1 h 25 min. Die Eröffnungswehen7 h 40 min. Der Damm blieb intakt.

2. Fall

L. T., 38 jährige Erstpara:

• Äußere Beckenmasse: D. spin. 29, D.crist 29, D. trochanterica 33 Conjugataexterna 21 cm. Innere Beckenausta-stung unauffällig.In der 34. SSW ISG Blockierung links,welche mit Manipulation gut behan-delt werden konnte.

• Geburt: 2 Wochen vor Termin um10 Uhr vormittags kam der telefoni-sche Bericht der Hebamme, daß dieGebärende regelmäßige Wehen hätte.Um 17.00 Uhr kam der Bericht derHebamme, daß der MM vollständigsei und die kindliche Leitstelle (hierKopf) 3 Querfinger über Beckenbo-den sei. Die kindlichen Herztöne seiengut. Man beschloß Syntocinon-Buc-caletten zu geben. Um 20.00 Uhr warder Kopf auf Beckenboden. Um 21.50als ich zur Gebärenden kam, war derKopf immer noch auf Beckenboden,die kleine Fontanelle links vorne undder MM vollständig. Die Gebärendebegann zu pressen. Sie fühlte starkeSchmerzen „links im Kreuz“, sie fühltesich dadurch in ihrem Pressdrang ge-hemmt. Da die Eröffnung des Mutter-mundes nun schon 5 h vollständigwar und der Kopf 2 h auf Beckenbo-den mußten wir aktiv werden. Vor ei-ner Entbindung mittels Vakuum, un-tersuchte ich die Gebärende im Ste-hen. Vorlaufphänomen und Spine-Test zeigten eine Blockierung des lin-ken ISG. Ich manipulierte auf die glei-che Weise wie im ersten Fall.

Die Gebärende fühlte sich sofort vielwohler und verspürte den Pressdrangheftig. Mit 3 Presswehen gebar sie um22.20 ein gesundes Mädchen. Kopfum-fang des Kindes 36 cm (> 90 Perzentile)biparietaler Kopfdurchmesser sonogra-phisch in der 30 4/7 SSW 93 mm.

Beim 1. Fall verhinderte ein blok-kiertes ISG wohl ein Tiefertreten desKopfes. Es fand hier wohl eine geburts-mechanisch bedingte Verzögerungstatt. Im zweiten Falle hatte die gleicheUrsache ihre Wirkung etwas später,nämlich zu Beginn der Austreibungs-phase, indem hier der Pressdrang be-hindert wurde. Diese Verzögerung warwohl eher durch die vom blockiertenISG veränderte Schmerzverarbeitunghervorgerufen.

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Das ISG in der Geburtshilfe

1954 wies Weisl radiologisch nach, daßsich das Promontorium beim Wechselvom Liegen zum Stehen in ventralerRichtung verschiebt, eine signifikantvermehrte Beweglichkeit fand sich ein-zig bei Wöchnerinnen. 1957 zeigten Bo-rell und Fernström [1] daß Bewegungenim ISG den Sagittaldurchmesser desBeckenausgangs stärker beeinflußen alsdenjenigen des Beckeneingangs (Conju-gata vera). In nur 3 von 66 Fällen wardies umgekehrt der Fall.

Die Studie bildete 4 Gruppen vonFrauen; 40 Nulliparae, 45 Frauen min-destens 1 Jahr nach einer Geburt,66 Frauen innerhalb 4 Tage nach einerGeburt und 40 Frauen unter den Wehen.Die Frauen wurden in „Walcher-Posi-tion“ und in Steinschnittlage von lateralje einmal geröntgt.

Die Gebärenden wurden gleichzei-tig a.-p. und lateral geröntgt, dies in We-henpausen bei Eintritt des Kopfes insBecken, bei Beckenmitte und bei Standdes kindlichen Kopfes am Beckenaus-gang. Es wurde darauf geachtet mög-lichst identische Projektionen und Fo-cusfilm Abstände einzuhalten. Die Ge-bärenden waren in Rückenlage, um si-cherzustellen, daß nur der kindlicheKopf unter der Wehenwirkung undnicht Lageänderung die Messungen be-einflußten.

Bei den meisten Gebärenden fandsich unter der Geburt eine Verschiebungder Symphyse nach kaudal bei Eintrittund nach kranial bei Austritt des Kopfesaus dem Becken. Der Wert der Conju-gata vera war bei Eintritt des Kopfes insBecken größer und bei Austritt kleiner,der Sagittaldurchmesser des Becken-ausgangs bei Austritt des Kopfes längerals zum Zeitpunkt als der Kopf sichnoch auf Beckeneingangshöhe befand.In einigen Fällen von prorahiertemGeburtsverlauf (leider erfahren wirnichts über die geburtshilflichen Dé-tails) waren diese Veränderungen nurminimal.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß indiesen Fällen ISG-Blockierungen vor-gelegen haben. Die Arbeit weist daraufhin, daß das ISG beim Durchtritt desKopfes durch die Beckenausgangs-ebene (und dies ist gegen Ende der Er-öffnung des MM der Fall) den gegensei-tigen Anpassungsprozeß wesentlich be-einflußt.

Beim Kippen des Sakrums nachventral, erweitert sich der sagittale Bek-kenausgangsdurchmesser, die Darm-beinschaufeln nähern sich einanderkranial, kaudal streben sie auseinanderund öffnen dadurch den Beckenausgangauch in einer frontalen Ebene. Diese Be-wegung unterstützt die Gebärende inder Regel beim Pressakt in der aufSeite 2 beschriebenen Position. Die-selbe Verstärkung wird auch durch dasEinnehmen der Kauerstellung erreicht[5, 8].

„Most therapeutic methodsused in orthopaedic medicineeffectively treat dysfunction,

not pathology.Function and dysfunction

are as real as anatomyand pathological anatomy."

(K. Lewit, J Orth Med 16 (1994) 73–76)

Da sich beim Menschen im Laufe derEvolution aus statischen Gründen dasBecken verschmälern mußte, der kind-liche Schädel aber größer wurde,schränkte sich der Spielraum beimDurchtritt des Kopfes durch das mütter-liche Becken immer mehr ein [4, 5]. WirMenschen werden deshalb als „physio-logische Frühgeburten“ (Prof. G. Duc,Zürich) auf den Geburtsweg geschickt,so wird der kindliche Kopf nicht ge-burtsunmöglich groß.

In den letzten Jahren findet sicheine Anzahl chiropraktorischer Publi-kationen über die Betreuung vonSchwangeren [2, 3]. Sie weisen auf eineVerkürzung der Geburtsdauer und eineVerminderung der operativen Entbin-dungen in der Gruppe der chiroprak-tisch betreuten Frauen hin. Wobei in ei-ner Arbeit die Zahl der Probandinnenmit 58 pro Gruppe klein ist und für einestatistische Auswertung nicht ausreicht.In der Arbeit von Phillips [7] konnte an-hand von 63 „matched pairs“ lediglichdemonstriert werden, daß chiroprakti-sche Behandlungen während derSchwangerschaft keine schädlichenAuswirkungen zeigten.

In meiner Tätigkeit als Hausge-burtshelfer dauerte es einige Jahre, bisbei 2 Geburten die Konstellation„schnell eröffneter Muttermund beifehlendem Tiefertreten des Kopfes“ vor-kam. In beiden Fällen klagten die Gebä-renden über starke wehensynchroneSchmerzen im Kreuz und/oder an der

Symphyse. Beide Male transferiertenwir ins Spital und die Geburten endetenmit operativen Entbindungen. BeideMale mußte eine begonnene Vakuum-extraktion von einer Zangenentbindungabgelöst werden. Bei der „Manöverkri-tik“ dieser Geburten kam ich erstmalsauf den Gedanken die Gebärenden ma-nualtherapeutisch zu untersuchen undallenfalls zu behandeln.

Im folgenden kam es zu einem‚Spontanexperiment‘: Bei Hausgeburtwollte die Gebärende selbst – nach 12 hintensiver Wehen – ins Spital verlegtwerden. Um 3 Uhr morgens bei einemum 4 cm eröffneten Muttermund und ei-nem kindlichen Kopf 2 Querfinger überder Interspinallinie und querverlaufen-der Pfeilnaht brachte ich die Patientinmit meinem Auto in den Spital. Unter-wegs, beim Überqueren einer Brückeholperte das Auto und die Patientin ver-spürte plötzlich eine bedeutende Ver-minderung der Schmerzen. Sie meintespontan, die Geburt würde jetzt wohlzu Hause wieder möglich sein. Wirbrachten sie aber ins Spital, wo sie spon-tan aus 2. Hinterhauptslage gebar.

Die Interpretation dieses Ereignis-ses als ein Beispiel unbeabsichtigterund ungezielter Manipulation mittelseiner holprigen Autofahrt erscheintplausibel.

FazitEin protrahierter Geburtsverlauf, insbeson-dere wenn der Muttermund sich eröffnet undder Kopf nicht tiefertritt, kann durch eineStörung der Beweglichkeit in den Iliosakral-gelenken bedingt sein. Unter der Geburt läßtsich diese einfach diagnostizieren und be-handeln. Die hierzu nötigen Untersuchungs-und Behandlungstechniken könnten von dengeburtshilflich Tätigen erlernt werden unddie wenig aufwendige Diagnostik und The-rapie der Funktionsstörungen des Becken-rings routinemäßig zur Erleichterung der Ge-burt eingesetzt werden. Dadurch könntenentsprechende Geburtsverläufe positiv be-einflußt werden.

Ich bedanke mich bei Dr. H. Biedermann für die Kritikund die vielen Anregungen, sowie bei Dr. Th. Grünin-ger und bei Frau Dr. J. Pok für das Gegenlesen von ge-burtshilflicher Warte.

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Originalien

Literatur1. Borell U, Fernström I (1957) The movements at

the sacroiliacal joints and their importance inthe pelvic dimensions during parturition.Acta Obst et Gynaecol Scand 36: 42–57

2. Diakow P, Gadsby T, Gadsby J, Gleddie J, LeprichD, Scales A (1991) Backpain during pregnancyand labour. J Manip Physiol Ther 14: 116–118

3. Fallon J (1990) Chiropractic and pregnancy apartnership for the future. Int Rev ChiropratIca Rev 46: 39–42

4. Fast A, Shapiro D, Ducommun E, Friedmann L,Bouklas T, Floman Y (1987) Low back pain inpregnancy. Spine 12: 368–371

5. Joseph J (1988) The joints of the pelvis andtheir relation to posture in labour. MidwifesChron nurs notes 101: 63–64

6. Ostergaard H, Zetterstrom G, Roos E, Svanberg B(1994) Reduction of back and posterior pelvicpain in pregnancy. Spine 19: 894–900

7. Philips C, Meyer J (1995) Chiropractic care, in-cluding craniosacral therapy, during preg-nancy: A static-group comparison of obstetricinterventions during labour and delivery.J Mani Phys Ther 18: 525–529

8. Russel J (1982) The rational of primitive deliv-ery positions. Br J Obstet Gynecol 89: 712–715

Thomas Laser

Muskelverspannung undRückenschmerz

Griesbach, 1996. Basisbuch:144 S., 13 Abb., flex.TB. Übungsbuch: 48 S., 41 Abb., Ringheftung.Basisbuch und Übungsbuch in einem Schuber,(ISBN 3-13-104341-5), zusammen DM 48,–

Das ca. 100 Seiten starke Büchlein mit einemseparat bestehenden 40seitigen Übungsteilzur Selbstdehnung beschäftigt sich mit derDiagnose und Therapie der muskulärenDysbalance und des Fibromyalgiesyndroms.

In übersichtlicher und prägnanterForm werden hier bekannte Tatsachen ausder Muskelphysiologie, der Triggerpunkt-lehre nach Travell und Simons, den Tender-points nach Jones und aus der Fibromyalgie-literatur zusammengefaßt.

Die wesentlichen Botschaften, die ver-mittelt werden sollen, sind prägnant heraus-gehoben, ohne daß die z.T. sicher nicht kon-sensfähigen Aussagen im vorliegenden Textausreichend begründet wurden. So ist z.B.ein Statement zu lesen „der Musculus levatorscapulae ist vom körperlichen zum psychi-schen Lastenträger geworden“. Mit der vor-liegenden 1 1/2seitigen Beschreibung derDiagnostik der muskulären Dysbalancewird der in der Untersuchung des Muskel-systems unerfahrene Leser wohl kaum zupraktischen Resultaten kommen. Die Unter-suchungsmethoden, die zur Diagnose einermuskulären Dysbalance hinführen sollen,

erscheinen dem Rezensenten sehr subjektivund wenig validiert zu sein.

Bei den Therapieempfehlungen beste-hen Gegensätze zu neueren sportwissen-schaftlich validierten Trainingsansätzen.Der Autor schreibt selbst, daß verschiedeneSichtweisen neue Erkenntnisse mit sichbringen können und somit „monogamesDenken“ einschränken sollten.

Die recht einseitige Rückführung desRükkenschmerzes auf Muskelverspannun-gen widerspricht diesem Anspruch. Die psy-chischen Zusammenhänge und psychothe-rapeutischen Therapiemaßnahmen werdennur sehr verkürzt dargestellt. Das internatio-nal anerkannte und durch wissenschaftlicheStudien gut belegte bio-psychosoziale Ent-stehungsmodell des Rückenschmerzes fin-det keine Erwähnung.

Zusammenfassend gibt das Büchlein inkomprimierter, übersichtlicher Form die in-dividuelle Erfahrung des Autors mit demmuskulären Teilaspekt des chronischenRückenschmerzes wieder.

Die von Evjenth, Hamberg, Janda undBrügger beeinflußten Grundaussagen stelleneinen interessanten Beitrag zur Theorie derMuskelpathologie dar und werden die Dis-kussion anregen.

A. Refisch (Horn-Bad Meinberg)

Manuelle Medizin 3·97 117

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