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Manuel Franzmann · Christel Gärtner · Nicole Köck (Hrsg.) Religiosität in der säkularisierten Welt

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  • Manuel Franzmann · Christel Gärtner · Nicole Köck (Hrsg.)

    Religiosität in der säkularisierten Welt

  • Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für SoziologieBand 11

    Herausgegeben von Michael N. EbertzChristel GärtnerWinfried GebhardtGert PickelLevent Tezcan

  • Manuel FranzmannChristel GärtnerNicole Köck (Hrsg.)

    Religiosität in dersäkularisierten WeltTheoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungs-debatte in der Religionssoziologie

  • .1. Auflage April 2006

    Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

    Lektorat: Monika Mülhausen / Katrin Schmitt

    Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

    Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, BerlinGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

    ISBN-10 3-8100-4039-8ISBN-13 978-3-8100-4039-8

    Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

  • Inhalt Vorwort ............................................................................................................ 9

    Manuel Franzmann, Christel Gärtner, Nicole Köck Einleitung....................................................................................................... 11

    Säkularisierungstheorie

    Steve Bruce What the Secularization Paradigm really says............................................... 39

    Ulrich Oevermann, Manuel Franzmann Strukturelle Religiosität auf dem Wege zur religiösen Indifferenz..................................................................................... 49

    Detlef Pollack Explaining religious vitality: Theoretical considerations and empirical findings in Western and Eastern Europe ................................ 83

    David Martin Comparative Secularisation North and South.............................................. 105

    Roberto Cipriani Secularization or “diffused religion”? ......................................................... 123

    Historische Entwicklung

    Heike Bock Secularization of the modern conduct of life? Reflections on religiousness in early modern Europe..................................................... 143

    Todd H. Weir The Secularization of Religious Dissent: Anticlerical Politics and the Freigeistig Movement in Germany 1844-1933.................. 155

  • Inhalt

    6

    Patrizio Foresta Der „katholische Totalitarismus“. Katholizismus und Moderne im Pontifikat Pius’ XI. .......................................................... 177

    Säkularisierung und christliche Religionstradition

    Hagen Findeis Säkularisierung der Lebensführung. Die Lebens- geschichte des Evangelischen Bischofs Ingo Braecklein vom Kaiserreich bis ins wiedervereinigte Deutschland .............................. 199

    Paul Chambers Secularization and Welsh Religiosity .......................................................... 223

    Dan Dungaciu Modernity, Religion and Secularization in the Orthodox Area. The Romanian case ............................................................................ 241

    Franz Höllinger Social and cultural determinants of the vitality of religion in Brazil........................................................................................................ 261

    Alexander Geschwindner Der Erfolg der evangelikalen Sekten in Lateinamerika: Der Fall des Mexikaners Oscar.................................................................... 281

    Säkularisierung und Islam

    Frank Peter Islamic sermons, religious authority and the individualization of Islam in France ........................................................................................ 303

    Johannes Twardella Der Euro-Islam des islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan ................ 321

    Talip Kucukcan Symbolic Religiosity among the Turkish Youth in Britain......................... 333

    Susanne Schröter Politisierung von Religion und Sakralisierung von Politik. Lokale und nationale Konflikte zwischen Moslems und Christen in Indonesien ................................................................................. 357

  • Inhalt

    7

    Kayhan Delibas The experience of Secularisation in modern Turkey: Secularisation from above ........................................................................... 375

    Ulrich Oevermann Modernisierungspotentiale im Monotheismus und Modernisierungsblockaden im fundamentalistischen Islam........................ 395

    Autorinnen und Autoren .............................................................................. 429

    Zusammenfassungen.................................................................................... 437

  • Vorwort

    Das vorliegende Buch geht auf eine wissenschaftliche Tagung zurück, die von der Arbeitsgemeinschaft Objektive Hermeneutik e.V. unter Leitung der Herausgeber im März 2003 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Die durchgängige Interessantheit der Vorträge und Diskussionen hat uns dazu veranlaßt, erstere einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. In diesem Sammelband sind aller-dings nicht alle Vorträge abgedruckt, und zwei Autoren haben ihren Beitrag nicht nur überarbeitet, sondern auch inhaltlich stark verändert. Die Diskus-sionen haben wir, wo es möglich war, im Rahmen der gegenwärtigen Debatte um das Säkularisierungsparadigma in die Einleitung mit aufgenommen. Un-ter den Autoren finden sich sowohl „gestandene“ Religionssoziologen, die sich bereits viele Jahre mit der Säkularisierungstheorie befassen, als auch junge Soziologen und Historiker, die zu diesem Thema unter variierenden Gesichtspunkten im Rahmen von Habilitations-, Promotions- oder Magister-arbeiten forschen. Auf der Tagung wurden Deutsch und Englisch als Ta-gungssprachen verwendet, entsprechend sind die Beiträge in der einen oder der anderen Sprache verfaßt; eine Kurzzusammenfassung in der jeweils ande-ren Sprache befindet sich am Ende des Bandes.

    Das Zustandekommen dieses Buches verdankt sich aber auch denjenigen, die die ihm zugrundeliegende Tagung finanziell, durch Sachspenden oder durch die Überlassung von Räumlichkeiten unterstützt haben. Neben der Arbeitsgemeinschaft Objektive Hermeneutik e.V., die zudem durch Übernahme des Druckkostenzuschusses die Publikation finanzierte, sind das die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, die Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität, das Internationale Promotionsprogramm „Religion im Dialog“ (IPP) an der Goethe-Universität, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie die Hotels Westend und Steigenberger Frankfurter Hof in Frankfurt am Main. Schließlich ist auch Bernadette Boyle zu erwähnen, die uns als Muttersprachlerin beim Korrekturlesen der englischsprachigen Texte beratend zur Seite stand. Ihnen allen möchten wir unseren Dank aussprechen.

    Die Herausgeber

  • Manuel Franzmann, Christel Gärtner, Nicole Köck Einleitung

    Die soziologische These einer fortschreitenden Säkularisierung der modernen Lebenspraxis – wie sie vor allem von Max Weber geprägt wurde – hat in der Soziologie seit Mitte der 1960er Jahre allmählich an Akzeptanz verloren. So veröffentlichte etwa David Martin im Jahr 1965 einen unter Religionssozio-logen vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel „Towards eliminating the concept of secularisation“, und Thomas Luckmann erklärte Ende der 1960er Jahre Säkularisierung zu einem „modernen Mythos“ (Luckmann 1980). Solche Abwendungen von der Säkularisierungsthese waren in diesen Jahren in der Soziologie allerdings noch die Ausnahme. Es herrschte statt dessen eher ein nicht zuletzt vom Marxismus inspirierter, ideologische Züge tragender Sä-kularismus in emanzipativ-aufklärerischer Absicht vor. Wie sehr sich die theoretischen Auffassungen insbesondere von Religionssoziologen in der Zwischenzeit geändert haben, illustriert Peter L. Berger, der sich in den 1960er Jahren als Säkularisierungstheoretiker verstand (siehe etwa Berger 1967) und sich dann in den 1990er Jahren von der Säkularisierungsthese distanzierte.1 Und von den US-amerikanischen Religionssoziologen wird seit den 1980er Jahren an einem „alternativen Paradigma“ zur Säkularisierungs-theorie gearbeitet (vgl. etwa Hadden 1987; 1997, Stark/Bainbridge 1985, Warner 1993). Rodney Stark – der international heute wohl meistzitierte „Wortführer“ der US-amerikanischen Kritiker der Säkularisierungsthese – betrachtet die Säkularisierungsthese sogar als empirisch widerlegt (Stark 1999).

    Die Zunahme der Kritik an der Säkularisierungsthese seit Mitte der 1960er Jahre ist insofern erstaunlich, als sich seit dieser Zeit in den westli-chen Industrienationen die Evidenzen für eine fortschreitende Säkularisierung drastisch verstärken und die Säkularisierungsdynamik deutlich an Fahrt zu gewinnen scheint. Es ist in jedem Fall erklärungsbedürftig, wenn ein gestan-dener und durch viele erhellende Analysen ausgewiesener Religionssoziologe wie Rodney Stark – der freimütig bekennt, vom Geist der Soziologie der 1960er Jahre nicht frei gewesen zu sein2 – zusammen mit Finke den

    1 „I think what I and most other sociologists of religion wrote in the 1960s about

    secularization was a mistake. Our underlying argument was that secularization and modernity go hand in hand. With more modernization comes more secularization. It wasn’t a crazy theory. There was some evidence for it. But I think it’s basically wrong. Most of the world today is certainly not secular. It’s very religious.” (Berger 1997, 974, zitiert nach Stark 1999, 270)

    2 „Then in 1968, in contrast to all of this intellectual pussy-footing, Peter Berger (1968: 3) told the New York Times that the by ‘the 21st century, religious believers are likely to be

  • Franzmann, Gärtner, Köck

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    religionssoziologischen bzw. säkularisierungstheoretischen Klassikern Max Weber und Emile Durkheim die Auffassung in den Mund legt: „that religion is false and harmful“ (Stark/ Finke 2000, 28). Offenbart dies doch ein so grundlegendes Mißverstehen dieser Klassiker der Religionssoziologie und Säkularisierungsthese, daß eine vor diesem Hintergrund vorgetragene Fun-damentalkritik dieser These – die es insbesondere mit der elaborierten klassi-schen Version der These, nämlich der Weberschen, aufnehmen können muß – vermessen wirkt. Sie vermittelt den Eindruck, daß ein wichtiger Impuls der Kritik die Ablösung vom säkularistischen, religionsfeindlichen Denken der Soziologie der 1960er Jahre darstellt und daß dieses grundsätzlich ja sehr berechtigte Bestreben vor dem Hintergrund eines mangelhaften Verständnis-ses der religionssoziologischen Klassiker zu einer pauschalisierenden Kritik gerät, die das Kind mit dem Bade auszuschütten droht. Daß die Zeit aber noch nicht gekommen ist, die Säkularisierungsthese zu Grabe zu tragen, wie Rodney Stark (1999) dies empfiehlt, zeigt schon der Umstand, daß die De-batte über die Säkularisierungsthese in der Religionssoziologie heute wohl kontroverser geführt wird als je zuvor. So hat etwa Steve Bruce auf Rodney Starks „Grabrede“ auf die Säkularisierungstheorie in dessen Aufsatz „Secula-rization, R.I.P.“ (ebd.)3 mit dem Aufsatz „Christianity in Britain, R.I.P“ (Bruce 2001) und dem Buch „God is dead. Secularization in the West“ (Bruce 2002) geantwortet. In Deutschland veröffentlichte Detlef Pollack jüngst das Buch „Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum reli-giösen Wandel in Deutschland“ (Pollack 2003), in dem er den Kritikern der Säkularisierungsthese Evidenzen für eine fortschreitende Säkularisierung vor allem auf der Ebene von Statistiken und Umfragedaten entgegenhält.

    Die Beiträge des vorliegenden Buches führen die Kontroverse um die Säkula-risierungsthese fort. Sie diskutieren im Hinblick auf die Säkularisierungsthe-matik unterschiedliche religionssoziologische Paradigmen, einzelne histori-sche Phänomene und Entwicklungen wie auch gegenwärtige Tendenzen, und zwar nicht nur in länderübergreifender Perspektive, sondern auch länderspe-zifisch und anhand von Einzelbiographien. Dabei beschränkt sich die Diskus-sion jedoch auf Länder mit christlicher oder islamischer Prägung. Die Säku-larisierung in den USA wird in den Beiträgen zu diesem Buch nur am Rande thematisiert, obwohl deren Interessantheit nicht nur angesichts der Zuspit-zung der weltweiten politischen Konflikte vor dem Hintergrund der umstrit-

    found only in small sects, huddled together to resist a worldwide secular culture.’ (…) I quote his statements during the 1960s only because they so fully express the mood of the times, a mood that I shared (cf., Stark 1963).” (Stark 1999, 251). Der Titel des im Zitat enthaltenen Verweises auf einen frühen Text von Stark lautet bezeichnenderweise „On the incompatibility of religion and science.“ (Stark 1963). Die Literaturangaben dazu und zum Berger-Zitat finden sich im Literaturverzeichnis.

    3 Siehe auch beinahe textidentisch Swatos/Olson 2000, 41-66; Stark/Finke 2000, 57-79.

  • Einleitung

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    tenen Außenpolitik der bibelgläubigen US-amerikanischen Regierung unter George W. Bush, sondern vor allem angesichts der Ausarbeitung eines die „europäische“ Säkularisierungstheorie hinter sich lassenden „amerikani-schen“ Paradigmas in der Religionssoziologie (vgl. etwa Greeley 1997, Stark 1999, Warner 1993) auf der Hand liegt. Diese thematische Untergewichtung ist keine absichtliche. Die Herausgeber waren vielmehr bei der Organisation der Tagung, die diesem Buch zugrundeliegt, für entsprechende Vortragsvor-schläge offen und haben sich auch darum bemüht, den „Wortführer“ des „amerikanischen Paradigmas“ der Religionssoziologie, Rodney Stark, sowie den US-amerikanischen Historiker James Turner für die Tagung zu gewin-nen. Leider konnten beide trotz großen Interesses aus privaten bzw. gesund-heitlichen Gründen nicht teilnehmen. Der deutsche Historiker Hartmut Leh-mann, der von den Herausgebern nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis der US-amerikanischen Kultur und Geschichte (z.B. Lehmann 2004a; 2004b) zur Tagung eingeladen wurde, an dieser auch teilgenommen hat und dort eine große Bereicherung war, hat seinen Tagungsvortrag in ein eigenes Buch zur Säkularisierungsthematik einfließen lassen (Lehmann 2004b). Das Thema Säkularisierung im Judentum fehlt in den Beiträgen aufgrund eines Mangels entsprechender Vortragsvorschläge bei der Tagungsorganisation.

    Der Begriff der Säkularisierung wird im Buchtitel wie in dieser Einlei-tung, wie schon zu Anfang angedeutet, im Anschluß an Max Webers klassi-sche Prägung dieses Begriffs verstanden: Er bezeichnet als analytisch-wert-freier soziologischer Begriff den umfassenden Vorgang einer „Entzauberung der Welt“, einer Verweltlichung bzw. Verdiesseitigung von Weltbildern und Glaubensinhalten als Teil des universalhistorischen Rationalisierungsprozes-ses. Säkularisierung wird hier als ein gerichteter Prozeß verstanden, der sämtliche Aggregierungsebenen von Lebenspraxis berührt, von der politi-schen Herrschaft über Organisationen bis zur Familie und zum Individuum. Seit den 1960er Jahren sind im religionssoziologischen Diskurs zahlreiche „Definitionen“ des Säkularisierungsbegriffs vorgenommen worden, von denen viele von diesem umfassenden klassischen Begriff erheblich abwei-chen. Dabei wird unter Säkularisierung in der Regel etwas sehr viel einge-schränkteres verstanden als im klassischen Weberschen Begriff. So handelt es sich bei ihr etwa laut Niklas Luhmann lediglich um „eine Beschreibung der anderen Seite der gesellschaftlichen Form der Religion, um die Beschrei-bung ihrer innergesellschaftlichen Umwelt“ (Luhmann 2000, 282) aus der „Beobachterperspektive“ der Religion. Er betrachtet diese „Beschreibung“ als Resultat der „funktionalen Ausdifferenzierung“ der Religion zu einem „Teilsystem“ des „Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1996, 227f.). Ähnlich scheint auch Thomas Luckmanns Verständnis von Säkularisierung zu sein, wenn er sagt: „für die folgenden Überlegungen soll der Terminus ‚Säkularisierung’ nur den Prozeß bezeichnen, der zur zunehmenden Autonomie verschiedener Segmente der sozialen Struk-

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    tur geführt hat, zur Autonomie gegenüber Normen, die aus dem religiösen Kosmos herge-leitet worden waren“ (Luckmann 1980, 168).

    Eine Verdiesseitigung von Weltbildern und Glaubensinhalten und daher vor allem auch eine Säkularisierung der Lebensführung des modernen Subjekts sind in einer solchen Begriffsdefinition nicht enthalten. So auch bei Mark Chaves, der seinen Säkularisierungsbegriff allein auf den Aspekt einer „Declining Religious Authority“ beschränkt (Chaves 1994). Rodney Stark beklagt sich angesichts der Vielzahl von Begriffsdefinitionen, die häufig nicht nur vom klassischen Säkularisierungsbegriff erheblich abweichen und diesen auf ein Teilmoment reduzieren, sondern sich auch untereinander stark unterscheiden, wohl zu Recht, wenn er sagt: „In recent years, secularization has been defined in several ways (Hanson 1997; Tschannen 1991; Dobbelaere 1987; Shiner 1967), which unfortunately permits proponents of the thesis to shift definitions as needed in order escape [sic!, die Herausgeber] inconvenient facts (see Dobbelaere 1987; 1997; Lechner 1991; 1996; Yamane 1997).“ (Stark/Finke 2000, 59)4

    Man muß Starks Motiv-Unterstellung dabei nicht akzeptieren, wenn man ihm in seiner Klage über die Beliebigkeit der Begriffsdefinitionen grundsätzlich recht gibt. Regelrecht absurd wird diese „Begriffsdefiniererei“ wenn David Yamane im Namen der Verteidigung der Säkularisierungstheorie schreibt: „To counter Stark und Iannaccone’s (1994) call to drop the concept ‘secularization’, I am urging all scholars who want to retain ‘secularization’ as a useful and meaningful analytical construct in social scientific studies of religion to stop using the term in any way except as I have suggested here.” (Yamane 1997, 120)

    Vorgeschlagen hat Yamane, den Säkularisierungsbegriff im Sinne der Formel „Declining Religious Authority“ im Anschluß an Mark Chaves zu gebrau-chen. Abgesehen von der Absurdität, eine Begriffsdefinition mittels Aufruf durchsetzen zu wollen, wird der komplexe Säkularisierungsbegriff der religionssoziologischen Klassiker zur Verteidigung der Säkularisierungstheo-rie auf einen wenig umstrittenen Teilaspekt reduziert, so daß der so präpa-rierte – man muß fast sagen „kastrierte“ – Säkularisierungsbegriff wenig aussagekräftig ist. So läßt sich Yamanes Säkularisierungsbegriff bezeichnen-derweise von Luckmanns These einer Privatisierung der Religion, die sich ganz wesentlich auf die Deinstitutionalisierung und die Abnahme der Auto-rität religiöser Institutionen bezieht, der Sache nach nicht mehr klar unter-scheiden, obwohl sich Luckmann von der Säkularisierungsthese explizit absetzt (siehe etwa Luckmann 1980).

    Die religionssoziologische Kontroverse um die Säkularisierungsthese, so wie sie von Rodney Stark und Steve Bruce geführt wird, ist vor diesem Hin-tergrund als Fortschritt anzusehen, weil in dieser Kontroverse wieder der 4 Die Literaturangaben von Stark sind in der Bibliographie im Anhang verzeichnet.

  • Einleitung

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    komplexe Säkularisierungsbegriff zugrundegelegt wird und die klassische Säkularisierungsthese in den Vordergrund rückt, so daß darin der von einer sachlichen Kontroverse zu dieser These nur ablenkende „Begriffsumbau“ überwunden scheint. Auch in Deutschland wird offenbar wieder verstärkt über die klassische Sä-kularisierungsthese diskutiert.5 Dort wie allgemein in Europa fungiert aller-dings weniger die in den USA verbreitete Rational-Choice-Theorie einer „Religious Economy“ als herausforderndes, alternatives „Paradigma“ als die schon vergleichsweise alte Luckmannsche Theorie einer „Privatisierung der Religion“ (Luckmann 1996) bzw. verwandte Ansätze einer „Entkirchli-chung“, „Deinstitutionalisierung“, „religiösen Individualisierung“6, „vagabundierenden Religiosität“ (Küenzelen 1987), „diffused religion“ (Ci-priani 1989) bzw. eines „believing without belonging“ (Davie 1994). Das erklärt sich sicherlich nicht zuletzt dadurch, daß in Europa der Prozeß der Entkirchlichung sehr viel ausgeprägter ist als in den USA. Steve Bruce ergreift in dem vorliegenden Band nun die Gelegenheit, sein an die Klassiker anknüpfendes Verständnis von Säkularisierung knapp zusam-menzufassen nicht zuletzt, weil er dieses in der vehementen Kritik US-ameri-kanischer Religionssoziologen nicht wiederzuerkennen glaubt. In der Tat muß man einigen der US-amerikanischen Kritiker der Säkularisierungsthese – insbesondere Rodney Stark, Roger Finke und Jeffrey Hadden – vorhalten, ein Zerrbild existierender Säkularisierungstheorien insofern zu zeichnen, als sie dazu neigen, diese pauschalisierend als Säkularismus bzw. Atheismus zu fassen, als Ideologie, politische Doktrin oder einen Mythos zu diffamieren und ihnen darin tendenziell den wissenschaftlichen Charakter abzusprechen.7 Der Ideologievorwurf mag auf einige Versionen der Säkularisierungstheorie insbesondere der Soziologie der 1960er und 1970er Jahre zutreffen. Im Hin-blick auf die religionssoziologischen Klassiker erscheint er geradezu als abwegig. Diese US-amerikanischen Kritiker drohen – ohne sich dessen wohl bewußt zu sein – den atheistischen Eifer gegen Religion, den sie in der Wis-senschaft zurecht kritisieren, umzukehren und in einen trotz aller Betonung der Wissenschaftlichkeit religiös anmutenden Eifer gegen die klassische, soziologische Säkularisierungstheorie zu verfallen.

    5 Siehe etwa die Beiträge in: Gabriel 1996, darin insbesondere Pollack 1996, Oevermann

    1996, des weiteren Gabriel 2000a; 2000b, Oevermann 2003, Pollack 2003; 2004, Pollack/ Pickel 2000, Wohlrab-Sahr 2002; 2003.

    6 Siehe hierzu etwa die Beiträge in: Gabriel 1996. 7 So hat Jeffrey Hadden im Jahr 1987 den wiederholt zustimmend zitierten Vorwurf erhoben:

    „that secularization theory has not been subjected to systematic scrutiny because it is a doctrine more than it is a theory. Its moorings are located in presuppositions that have gone unexamined because they represent a taken-for-granted ideology rather than a systematic set of interrelated propositions” (Hadden 1987, 588; vgl. auch Stark/Finke 2000, 62, 78f.).

  • Franzmann, Gärtner, Köck

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    Bruce thematisiert den Säkularisierungsprozeß in seinem Beitrag als Pro-zeß der Erosion der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion, und er kon-zentriert sich auf zwei durch die Reformation historisch beförderte gesell-schaftliche Bedingungen dieses Erosionsprozesses: einen wachsenden „Plu-ralismus“ und einen wachsenden „Individualismus/Egalitarismus“, dessen untergrabende Wirkungen auf die gesellschaftliche Verankerung und Verbreitung von Religion er betont. Er kann dabei aus Sicht der Herausgeber überzeugend darlegen, daß die gemeinschaftlich verbürgte Geltung konkreter Religionen unter den genannten Bedingungen brüchig werden muß und wie sich dieser Erosionsprozeß kumulativ fortentwickelt – darin erinnert seine Analyse zum Teil an die Säkularisierungstheorie des frühen Peter Berger. Unbeantwortet bleibt in diesem Aufsatz allerdings die für die Säkularisie-rungstheorie grundlegende Frage, warum es in der Säkularisierung zu einer Verdiesseitigung der Weltbilder und Glaubensinhalte kommt. Das gleiche gilt für die ebenso zentrale Frage, was im Säkularisierungsprozeß als Neues an die Stelle der erodierenden traditionellen Religiosität tritt bzw. welche Struktur eine säkularisierte Lebensführung hat.

    Dieser Frage widmen sich Ulrich Oevermann und Manuel Franzmann in ihrem gemeinsamen Aufsatz, in dem sie dieser Struktur anhand von Inter-views mit weitgehend säkularisierten Personen nachspüren. Sie unternehmen dies vor dem Hintergrund des von Oevermann 1995 veröffentlichten und in der Zwischenzeit fortentwickelten „Strukturmodells von Religiosität“ (Oe-vermann 1995; 2001a; 2001b; 2003), das aus unserer Sicht ein zentrales Desiderat nicht zuletzt der Weberschen Säkularisierungstheorie einzulösen verspricht: das Desiderat eines empirisch gesättigten, expliziten theoretischen Modells der Struktur von „Religiosität“ und der Strukturdynamik des Säkula-risierungsprozesses. Oevermanns strukturalistisch-pragmatistischer Ansatz könnte darin womöglich auch aus der verfahren scheinenden Säkularisie-rungsdebatte der gegenwärtigen Religionssoziologie herausführen, dies nicht zuletzt deswegen, weil der Säkularisierungsprozeß in diesem Modell von vornherein als ein dialektischer konzipiert ist: „Die Säkularisierung ist so gesehen nicht ein Prozess, der die Religion gewissermaßen wieder abschafft, und die Praxis der Menschen auf einen vor-religiösen Zustand zurück-schraubt, die Menschheit gewissermaßen wieder zu ‚Heiden’ macht, sondern im Gegenteil ein Prozess, der – in sich religiös motiviert und in Gang gesetzt – die Bewältigung der nicht still stellbaren Bewährungsdynamik auf eine neue, ansprüchlichere Stufe hebt – ein Prozess also, der sich nicht nur gegen die Religion richtet, aus der er hervorgegangen ist, sondern der vor allem die in ihren Bewährungsmythen verkörperte und freigesetzte Dynamik folge-richtig fortentwickelt.“ (Oevermann 2003, 380)

    Es muß daher als ein Mißverständnis gelten, wenn Detlef Pollack in einem jüngst erschienen Buch (Pollack 2003, 8) und in einem Zeitungsartikel (2004) Oevermanns Strukturmodell der Säkularisierungstheorie entgegen-

  • Einleitung

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    setzt und konstatiert, dieses Strukturmodell gehe von der „Unvermeidbarkeit von Religion“ aus.8 Das obige Zitat belegt das Gegenteil. Oevermanns Struk-turmodell stellt eine prononcierte Säkularisierungstheorie dar, die gegenüber vielen anderen Säkularisierungstheorien aus Sicht der Herausgeber den Vor-zug hat, die Frage nicht unbeantwortet zu lassen, was entsteht, wenn im Rahmen des Säkularisierungsprozesses Religion vergeht bzw. welche Mo-mente traditioneller Religiosität universell sind und im Säkularisierungspro-zeß im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ werden.

    Detlef Pollack widmet sich in seinem Beitrag zu diesem Sammelband der empirischen Überprüfung von Grundannahmen des „amerikanischen Para-digmas“ einer Rational-Choice-Theorie „religiöser Ökonomien“ wie sie von Rodney Stark, Roger Finke, Laurence Iannaccone und anderen vertreten wird. Er führt diese empirische Überprüfung auf der gleichen Ebene durch, auf die sich auch die genannten US-amerikanischen Religionssoziologen in ihrer Theoriebildung vor allem stützen: auf die Ebene statistischer Daten, insbesondere von Umfragedaten. Seine Ergebnisse, die auf einem Vergleich west- und osteuropäischer Länder basieren, wecken deutliche Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit der Grundannahmen dieser aus den USA stammenden Theorie. Das von den Vertretern dieser Theorie behauptete Bedingungsver-hältnis zwischen der Entstehung eines religiösen Pluralismus bzw. einem „freien religiösen Markt“ einerseits und einer „religiösen Vitalisierung“ ande-rerseits scheint auf der Ebene statistischer Daten in Europa kaum nachzuwei-sen.

    Pollacks Analyse lenkt die Aufmerksamkeit auf einen unseres Erachtens interessanten Widerspruch zwischen der Theorie religiöser Ökonomien und der frühen Bergerschen Säkularisierungstheorie. Während erstere behauptet, daß der Pluralismus und der Wettbewerb auf dem Gebiet der Religiosität wie in anderen Bereichen auch zu einer „Vitalisierung“ führten, besagt letztere, daß der für die Moderne kennzeichnende Pluralismus und die Konkurrenz umgekehrt die Plausibilität und Selbstverständlichkeit religiöser Glaubenssy-steme untergrabe und den Säkularisierungsprozeß befördere. Dieser Wider-spruch scheint auf den ersten Blick ein unversöhnlicher zu sein. Bei genaue-rer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, daß er sich im Rahmen der dialek-tisch konzipierten Weberianischen Säkularisierungstheorie auflösen läßt, zumindest sofern die in Rede stehende „Vitalisierung“ nicht von vornherein definitorisch auf eine religiöse Vitalisierung im engeren Sinne beschränkt wird, sondern so begriffen wird, daß sie sich in der Säkularisierung fortsetzt 8 „Zu den bedeutendsten Entwürfen der Religionssoziologie in Deutschland gehören der

    phänomenologisch inspirierte Ansatz von Thomas Luckmann, die Systemtheorie Niklas Luhmanns sowie die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns. Alle drei Konzepte gehen von der sozialen Unvermeidbarkeit von Religion aus und behaupten die Überholtheit säkularisierungstheoretischer Entwürfe“ (Pollack 2004). Verfehlt ist zweifellos auch Pollacks Funktionalismusvorwurf gegenüber Oevermanns „Strukturmodell“.

  • Franzmann, Gärtner, Köck

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    und radikalisiert – etwa in einer fortschreitenden „Methodisierung der Le-bensführung“ (Weber) oder wie bei Oevermann in einer Verschärfung der „Bewährungsdynamik“. Das Verständnis von „religiöser Vitalisierung“, das Rodney Stark und andere vertreten, erscheint demgegenüber als sehr viel enger und spezifischer: Sie verstehen darunter im wesentlichen nur die Inten-sität der Teilnahme am religiösen Leben von Religionsgemeinschaften. Diese Intensität ist in den USA, an denen diese Religionssoziologen ihre Theorie vornehmlich gebildet haben, natürlich besonders hoch, weil dort die prote-stantische „Sektenreligiosität“ (im Weberschen Sinne) traditionell die domi-nierende Form von Religiosität ist und diese Religiosität dem einzelnen Gläubigen viel mehr abverlangt als etwa die in Europa dominierende katholi-sche und lutherische Religiosität. Das Mitglied einer protestantischen „Sekte“ muß, wie Weber ausgeführt hat, ein „religiös qualifiziertes“ sein (Weber 1906). Daher werden von einer solchen religiösen Gemeinschaft große mis-sionarische Anstrengungen zur religiösen Qualifikation von Nicht-Mitglie-dern und zur Überwachung und Kontrolle der religiösen Qualifikation ihrer Mitglieder unternommen. Letzteres geht nicht ohne ein intensives, über-schaubares, in kleine Gruppen gegliedertes religiöses Gemeinschaftsleben. Diese Sektenreligiosität ist in den USA historisch nicht nur zur dominanten Religiosität geworden. Sie hat diese Dominanz auch in der Gestalt eines Sektenpluralismus gewonnen, in dessen Rahmen die Sekten in ihrer intensi-ven Missionstätigkeit automatisch zu Konkurrenten wurden. Wichtig daran ist nun vor allem das folgende: Es war nicht erst die Konkurrenz und der Pluralismus der Sekten, der die intensive Teilnahme am religiösen Leben von Religionsgemeinschaften zur Folge hatte. Die Intensität der Teilnahme am gemeinschaftlichen religiösen Leben war für die Sektenreligiosität vielmehr von Anfang an kennzeichnend! Diesem Umstand tragen Stark et al. nicht genügend Rechnung. Sie stützen sich in ihrer These einer religiösen Vitalisie-rung infolge eines religiösen Pluralismus insbesondere darauf, daß zum einen die „religious adherence“9 der US-Amerikaner laut ihren Berechnungen im Jahr 1776 bei etwa 17% lag, 1916 mit 51% die Hälfte überschritt und dann bis 1980 auf 62% anstieg (Finke/Stark 1992, 15f.), zum anderen die plurali-stische Verfaßtheit der USA in dieser Zeit nachweislich zugenommen hat. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß schon die niedrige Kirchen-zugehörigkeit der US-Amerikaner in der Anfangszeit der USA ein Sonderfall ist, der sich aus der besonderen Gründungsgeschichte der USA als ehemali-

    9 Zum Ausdruck „religious adherence“ merken Finke und Stark an: „We use the term

    ‘adherence rate’ rather than the more familiar ‘church membership rate’ in order to alert readers that we have standardized the membership data to eliminate different definitions of membership across religious bodies. Some group count children, others do not. We therefore inflated the membership statistics of groups that do not count children. The inflations were based on the local age profile. Because the results do not really represent ‘members’, we have substituted the word ‘adherents’.” (Finke/Stark 1992, 289)

  • Einleitung

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    ger englischer Kolonie auf einem riesigen unerschlossenen Kontinent erklärt. Die vornehmlich aus Europa stammenden Einwanderer der Frühzeit kamen ja aus Ländern mit einem erschlossenen Territorium und alter Seßhaftigkeit und – trotz religiösem Monopolismus! – flächendeckender Kirchenzugehörigkeit. Die Einwanderer haben also ihre Kirchenzugehörigkeit erst im Rahmen der Migration in die USA als anfänglich kaum in sich integrierten Staatenver-bund ohne festes Territorium und gemeinsamen Sittlichkeitsentwurf verloren bzw. aufgegeben. Und das starke Ansteigen der Kirchenzugehörigkeit im 19. Jahrhundert erklärt sich aus dem allmählichen Seßhaftwerden der USA und der fortschreitenden Missionstätigkeit der Sekten, welche durch diese Tätig-keit die Ausbildung und Durchsetzung eines die USA als Gemeinwesen zu-sammenhaltenden Sittlichkeitsentwurfs beförderten. Auch dies wird von Stark et al. in der Theoriebildung zu wenig beachtet.

    Der strittige Punkt zwischen der Theorie religiöser Ökonomien und der Säkularisierungstheorie scheint am Ende darin zu liegen, ob die religiöse „Vitalisierung“ in universalhistorischer Perspektive eine genuin religiöse bleibt oder sich in einer säkularisierten fortsetzt, wozu dann auch die Verla-gerung der „Vitalität“ aus dem Bereich der intensiven Teilnahme an der Pra-xis von Religionsgemeinschaften in die autonomisierte und darin ansprüchli-cher gewordene Lebensführung gehört. Nun konstatiert die Theorie religiöser Ökonomien von Stark et al. bei einem „freien religiösen Markt“ eine Anpas-sung des religiösen „Sinnangebots“ an die unterschiedlichen „religiösen Bedürfnisse“ der potentiellen Gläubigen mit der Folge einer Ausdifferenzie-rung der Sinnangebote, einer besseren Befriedigung der unterschiedlichen religiösen Bedürfnisse und einer vor diesem Hintergrund erfolgenden allge-meinen religiösen Vitalisierung. Aus welchem Grund aber, so muß man fra-gen, sollte der Prozeß der „Pluralisierung“ und Anpassung der „Sinnressour-cen“ bzw. Mythen an die unterschiedlichen religiösen Bedürfnisse der Men-schen nicht so weit gehen, daß am Ende jeder seinen individuellen Mythos hat – wie bei dem von Robert Bellah angeführten Fall „Sheila“, die mit Witz sagt, sie glaube an ihren eigenen Glauben: den „Sheilaism“ (Bellah et al. 1996, 221)? Und würde in diesem Fall nicht die Differenzierung zwischen „Sinnanbietern“ einerseits und gläubigen „Sinnabnehmern“ andererseits hinfällig, weil sich jedes Individuum ohnehin wie Sheila seinen eigenen Mythos autonom zu bilden hätte? Sollten Rodney Stark et al. auf diese Fra-gen – was angesichts ihrer Rede von „religiösen Ökonomien“ naheläge – mit dem Verweis auf das Produktangebot auf Märkten reagieren, für das ja trotz der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Warenangebots die Standardi-siertheit typisch ist, so müßte man erwidern, daß bei vielen Waren des Wa-renmarktes die Standardisierung auch einen Sinn ergibt, wohingegen sich die Sinnfragen, die sich jedem Menschen angesichts seiner Besonderheit und der Besonderheit seiner Biographie auf unverwechselbare Weise stellen, standar-disiert kaum beantworten lassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich doch stark die Frage, ob das ökonomietheoretische Modell den religionssoziologi-

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    schen Gegenstand nicht am Ende grundlegend verfehlen muß und ob daher die religionssoziologische Theoriebildung nach dem Vorbild der und in Analogie zur Ökonomietheorie nicht ein Irrweg ist.10

    Pollacks Beitrag wirft sicherlich auch methodische Fragen auf: Verführt die Umfrageforschung, soweit sie Glaubensinhalte, Überzeugungen, Weltbil-der, Meinungen u.ä. abfragt, nicht tendenziell zu einem reduktionistischen Säkularisierungsbegriff, der sich auf den Aspekt der „Säkularität“ der Glau-bensinhalte beschränkt und dabei den „Entzauberungsgrad“ des Glaubens – zu dem nicht nur die entzaubernde Verdiesseitigung von Glaubensinhalten gehört, sondern auch die Entzauberung religiöser Lehrautoritäten und die Ablösung und Emanzipation der Lebensführung von solchen Lehrautoritäten – leicht aus dem Blick verliert? In der Umfrageforschung erscheinen ja einige der vom kommunistischen Atheismus historisch geprägten Länder sehr schnell als „säkularisierter“ etwa als westeuropäische Länder, und auch in Pollacks Beitrag wird diesem Eindruck in einigen Fällen zumindest nicht vorgebaut. Legt man aber Webers Begriff der Säkularisierung als einer Ent-zauberung von Weltbildern und Glaubensinhalten zugrunde, erscheint ein solches Ergebnis als sehr zweifelhaft, weil der kommunistische Atheismus, wie der Atheismus generell und auch der Säkularismus, Szientismus, Natio-nalismus, Faschismus und die anderen der im 20. Jahrhundert so einflußrei-chen „säkularen Religionen“, trotz der Säkularität der Inhalte in ihren illusio-nären kollektiven Heilsversprechen und ihren autoritativen Geltungsansprü-chen noch deutlich religiöse Züge tragen und wohl kaum als entzaubert und nüchtern bezeichnet werden können. Ja die vom Puritanismus geprägte US-amerikanische Religiosität ist trotz Religiosität der Glaubensinhalte nüchter-ner und entzauberter als manches säkulare Weltbild, nüchterner und entzau-berter beispielsweise als ein traditionelles kommunistisches Weltbild.11 Dies wirft grundsätzlich die Frage auf, ob man den Säkularisierungsgrad eines Landes – nach Weber gewissermaßen den „Entzauberungsgrad“ der die Kul-tur des Landes prägenden, legitimationsbedeutsamen Weltbilder und Glau-bensformen – mittels vorgegebener (!) und jeweils isoliert abgefragter Glau-bensinhalte überhaupt ermitteln kann oder ob dafür nicht vielmehr eine Ana-

    10 Bei Weber verhielt es sich ja eher umgekehrt. Weber hat bekanntlich genuin

    religionssoziologisch kulturelle Prämissen einer kapitalistischen Wirtschaft im modernen Sinne erklärt, deren historische Geltung in ökonomietheoretischen Modellen oft stillschweigend vorausgesetzt werden.

    11 Schon Weber – und nicht nur Weber – hat ja auf die im Vergleich zu anderen bedeutenden christlichen Religionstraditionen größere Nüchternheit und Magiefeindlichkeit der puritanischen Sektenreligiosität hingewiesen. Die von dieser Sektenreligiosität geprägte amerikanische Kultur hat gegenüber den historisch bestimmenden Religionstraditionen anderer westlicher Industrienationen etwas an Nüchternheit und Entzauberung voraus. Und das deutsche Luthertum war historisch nicht zufällig eng mit den die deutsche Geschichte prägenden politischen Illusionen verbunden, die im Kontext des Syndroms eines deutschen, kulturnationalen Sonderweges stehen (vgl. etwa Plessner 1974).

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    lyse der inneren Struktur und Logik dieser Weltbilder und Glaubensformen anhand einer kohärenten, authentischen Ausdrucksgestalt – wie sie in den Ergebnissen von Umfragen ja gerade nicht mehr vorliegt – nötig ist.

    Auch David Martin widmet sich in seinem Beitrag einem Länderver-gleich, mit dem er eine aktualisierte Version seiner 1978 als Buch vorgeleg-ten General Theory of Secularisation entwickelt.12 Mit ihr sucht er Gemeinsamkeit und Differenz der geschichtlichen Säkularisierungsprozesse und der Ausprägung der Säkularisierung in der Gegenwart in kontrastieren-den Ländern zu bestimmen. Zweifellos gelingt ihm dabei eine ausgesprochen reichhaltige und von langjähriger Beschäftigung mit dieser anspruchsvollen Aufgabenstellung zeugende Analyse, die geradezu eine Fundgrube landes-spezifischer und landesübergreifender analytischer Beobachtungen und darin gewissermaßen zugleich ein überzeugendes Plädoyer für eine länderspezifi-sche, die besondere historische Entwicklung eines Landes einbeziehende Ausdifferenzierung der Säkularisierungstheorie darstellt. Interessant ist dabei auch seine vielleicht zentralste These, daß die „religiöse Morphologie“ eines Landes aufs engste mit seiner „politischen Morphologie“ zusammenhängt (und umgekehrt), man geradezu von „politisch-religiösen Komplexen“ spre-chen kann und sich daher eine Verbindung von religionssoziologischer und politisch-soziologischer Forschung aufdrängt. Auch in seiner Analyse spielt die Thematik des religiösen Pluralismus bzw. religiöser „Monopole“ eine große Rolle.

    Roberto Cipriani diskutiert in seinem Beitrag die in der Religionssozio-logie strittigen Deutungskonzepte einer fortschreitenden Säkularisierung einerseits und eines religiösen Revivals andererseits im Hinblick auf die religiöse Entwicklung der italienischen Bevölkerung in den letzten Jahr-zehnten. Er knüpft dabei an das von ihm bereits 1983 entwickelte Konzept einer „diffused religion“ (Cipriani 1984) an, das er in Auseinandersetzung mit Luckmanns Theorie einer „unsichtbaren Religion“ entwickelt hat. Im Unterschied zu Luckmanns Konzept einer „unsichtbaren Religion“, die einen Gegensatz zur kirchlichen Religiosität bilde, stehe die bei der Mehrheit der Italiener heute zu konstatierende „diffused religion“ in verschiedenen Graden der Kontinuität zur offiziellen Religion der katholischen Kirche. Sie sei in thematischer Hinsicht durch und durch von der katholischen Religion ge-prägt, auch wenn bei vielen die Lehre der katholischen Kirche nicht mehr einschränkungslos übernommen werde, sondern sich gegenüber der kirchli-chen Lehrautorität eine kritische Distanz und religiöse Selbständigkeit und in der Folge verschiedene Grade von Abweichungen bemerkbar machten. Diese diffundierte, vom Katholizismus geprägte Religiosität und Wertbindung erscheine zwar als Kontrast zur Säkularisierung, bringe letztere aber zugleich auch zum Ausdruck. Cipriani ist darum bemüht, die Themen der italienischen 12 Siehe auch Martins neues Buch (2005).

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    „diffused religion“ zu bestimmen und greift dabei auf eigens durchgeführte Umfragen zurück. Den Religionsbegriff versucht er wesentlich über den Wertebegriff zu fassen, was die Frage aufwirft, ob damit nicht – ähnlich wie bei Luckmann – die Säkularisierungsthese letztlich schon definitorisch erle-digt wird. Als problematisch erscheint uns seine eher beiläufige Gleichset-zung von Säkularisierung und Entheiligung, die gegenwärtig recht verbreitet ist. Mit dem klassischen Weberschen Säkularisierungsbegriff ist sie nicht vereinbar. Sie impliziert überdies, daß Säkularisierung ein degenerativer Prozeß ist, der sich gegen die Menschen durchsetzt. Denn ein Prozeß, der dazu führt, daß am Ende „nichts mehr heilig ist“, kann – das liegt auf der Hand – nicht im Sinne aller sein. Ein solcher Säkularisierungsbegriff würde also seinen Gegenstand von vornherein als Degeneration klassifizieren, ande-rerseits würde er die bohrende Frage aufwerfen, wie sich der Säkularisie-rungsprozeß dann historisch gegen die Vernunft hat entfalten können.

    Gerade die in diesem Band versammelten länderspezifischen Studien, in denen der Zusammenhang von Religion und gesellschaftlicher Entwicklung deutlich wird, zeigen wie wichtig es wäre, das von David Martin angestoßene Projekt einer historischen Typologie unterschiedlicher Säkularisierungsver-läufe weiterzuverfolgen und dabei die Rekonstruktion der Geschichte des jeweiligen Landes zugrundezulegen. Erst auf dieser Basis – darin herrschte Konsens in der Tagungsdiskussion – ließen sich die standardisierten Befra-gungsinstrumente verfeinern und die aus den historischen Länderstudien gewonnenen Daten hinsichtlich der Säkularisierungsdebatte vergleichend interpretieren. Die Rekonstruktion geschichtlicher Verläufe dient darüber hinaus auch der Identifikation zentraler Entwicklungsstufen und Weichen-stellungen in der universalhistorischen Rationalisierungsdynamik. Im zweiten Kapitel dieses Bandes, welches der historischen Entwicklung gewidmet ist, werden zwei historische Zeiträume betrachtet, die für die Entwicklung der Säkularisierung in Europa wichtig waren: die frühe Neuzeit sowie das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert.

    Heike Bock greift in ihrem Beitrag die Debatte um die Säkularisie-rungsthese zwischen Steve Bruce, der die europäische Entwicklung als fort-schreitende Säkularisierung und Erosion der Religion deutet, und Rodney Stark, der sie als religiösen Wandel interpretiert, auf und prüft deren Thesen an der Epoche der frühen Neuzeit, die eine Schlüsselphase der abendländi-schen Kulturentwicklung darstellt. Rodney Stark führt in seiner Kritik an der Säkularisierungstheorie an, daß die Annahme einer zunehmenden Säkulari-sierung einen historischen Zeitraum voraussetze, in dem die Menschen reli-giöser gewesen seien als heute, und er bestreitet unter Verweis auf die reli-giöse Lebensführung im Mittelalter, daß es ein solches „Golden Age of Faith“ gegeben habe (Stark 1999). Seine Klassifizierung des vormodernen Menschen als weniger religiös wirft nun allerdings die Frage auf, ob Stark nicht unter der Hand einen normativen Religionsbegriff verwendet, den er am Vorbild der amerikanischen Sektenreligiosität entwickelt. Heike Bock hält

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    Stark daher vielleicht zu Recht entgegen, daß ein ganz anderer Begriff erfor-derlich sei, um die Religiosität der Vormoderne zu verstehen. Am Beispiel der frühneuzeitlichen Religiosität entfaltet sie die These, daß der Prozeß der Konfessionalisierung sowohl zur Vitalisierung der Religion als auch zur Säkularisierung führte. Die Teilung der christlichen Kirchen habe zum einen zur Entwicklung einer differenzierteren und biblisch fundierten Dogmatik gedrängt, die die kirchliche Religiosität stärkte und ein je eigenes konfessio-nelles Bewußtsein ausbildete; zum anderen habe die dadurch entstandene Pluralisierung von Religion aber auch die Möglichkeit alternativer Weltdeu-tungen erzeugt. Der rationale Charakter der Kodifizierung der Glaubens-grundlagen, vor allem der protestantischen Konfessionen, gab einer aufge-klärten und „entzauberten“ Religionsausübung den Vorrang, die das indivi-duelle Heil in die Verantwortung des Individuums legte und damit die Säku-larisierung aus sich hervortriebt. Mit der These der Gleichursprünglichkeit von religiöser Vitalisierung und Säkularisierung sucht Bock durch ihre histo-rische Untersuchung einen vermittelnden Standpunkt zwischen den sich gegenüberstehenden Positionen von Stark und Bruce. Ob ihr diese Vermitt-lung am Ende auf befriedigende Weise gelingt, wenn sie Bruce’ Säkularisie-rungstheorie resümierend als geeignetes „micro model“ und Starks Theorie religiöser Ökonomien als angemessenes „marco model“ bezeichnet, erscheint jedoch als fraglich. Wird nicht der oben skizzierte Vermittlungsansatz im Anschluß an Oevermanns dialektisches „Strukturmodell“ den Theorien von Stark und Bruce material letztlich gerechter, wenn darin die Religiosität als solche – in ihrer universalen Struktur – von ihrer „Vitalisierung“ analytisch strikt unterschieden wird, so daß die Religiosität der frühen Neuzeit struktu-rell nicht „religiöser“ oder „weniger religiös“ als die Religiosität in der Mo-derne erscheint, sondern lediglich als weniger anspruchsvoll und elaboriert im Hinblick auf das Bewährungsproblem, das sich im Zuge der Entstehung der Moderne dann immer weiter radikalisiert und schließlich zur Säkularisie-rung führt, die diese Radikalisierung weiter fortsetzt?

    Der Zerfall der alten Kirchenordnung und die Konfessionalisierung des Christentums führte zum einen zur Trennung von Religion und Magie, wobei letztere in abgestufter Weise je nach Konfession auch als unchristlich ausge-schlossen und verurteilt wurde; zum anderen zur Trennung von christlichem und weltlichem Handeln (vgl. van Dülmen 1986). Dennoch blieb die institu-tionelle Verflechtung von weltlicher und geistlicher Macht erhalten. Erst mit der Französischen Revolution konnte die weltliche Macht auf die Legitima-tion durch die Religion verzichten; kehrseitig verloren die Kirchen durch die Säkularisation im 19. Jahrhundert und die Eingliederung des (katholischen) Kirchenstaates in den italienischen Nationalstaat zunehmend ihre weltliche Macht. Während der Protestantismus sich modernen und liberalen Strömun-gen öffnete und vor allem in seiner lutherischen Ausprägung eine enge Ver-bindung von Thron und Altar einging, kämpfte die katholische Kirche im 19. Jahrhundert insgesamt sehr viel stärker gegen Modernisierung und Säkulari-

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    sierung und versuchte, die kirchliche Autorität gegen Demokratie und politi-sche Machtansprüche der Regierungen zu befestigen. Gerade in den prote-stantisch regierten Staaten mit katholischer Minderheit entstand ein Kultur-kampf, der zur Ausbildung einer katholischen Subkultur führte, das soge-nannte „katholische Milieu“ (vgl. Altermatt 1989, Gabriel 1992, Gärtner 2005a, 307-312). Die damit verbundene Abschottung gegenüber der Welt hat dazu geführt, daß es der katholischen Kirche im Zeitalter der modernen Massen- und Industriegesellschaft einerseits gelang, sich zu behaupten und ihre religiösen Grundlagen sowie ihre Identität zu bewahren, also die Säkula-risierung hinauszuzögern. Andererseits hat der dadurch entstandene Vereins-katholizismus das Laientum gestärkt und emanzipatorische Strukturen ent-wickelt, die ein Modernisierungspotential enthielten, das den Eintritt der katholischen Kirche gegen den Widerstand autoritärer, klerikaler Tendenzen des Ultramontanismus ins 20. Jahrhundert erleichterte. Und obwohl die Päp-ste versuchten, die Gläubigen zu verpflichten, sich für die Restauration der christlichen Gesellschaft einzusetzen, stieg das Nationalgefühl der Katholi-ken in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg an, so daß auch sie die Kriegshandlungen als Patrioten unterstützten.

    Gerade die „Katastrophe des Ersten Weltkriegs“, die die katholische Kir-che auf den mit der Modernisierung einhergehenden Gottesverlust zurück-führte, veranlaßte Pius XI. (1922-1939), die Katholiken erneut zur Christiani-sierung der Gesellschaft aufzurufen und die Machtansprüche der Kirche gegen weltliche Herrschaftsansprüche zu festigen. Patrizio Foresta, der die Diskussion um den Pius XI. zugeschriebenen „katholischen Totalitarismus“, also die Forderung, daß sich das gesamte Staatswesen den göttlichen Geboten und christlichen Grundsätzen – institutionell vertreten durch die katholische Amtskirche – unterordnen solle, in diesem Band darstellt, argumentiert, daß es nicht nur das Anliegen des Papstes gewesen sei, die mit der Modernisie-rung verbundene Säkularisierung rückgängig zu machen, sondern auch eine hierokratische Herrschaft nach mittelalterlichem Vorbild einzurichten und ein „Regnum Christi“ durchzusetzen, das sowohl geistlicher als auch politischer Natur sein sollte und den Papst als dessen Stellvertreter legitimieren sollte. Ob Pius XI. tatsächlich glaubte, den Totalitätsanspruch auf Volk und Staat durchsetzen zu können, sei dahingestellt. Zwar wirkte er durch seine zahlrei-chen Konkordate mit weltlichen Regierungen auf konfessionsgeprägte Staa-ten hin, die den Papst als geistliches Oberhaupt anerkennen sollten und si-cherte – vor allem mit den Lateranverträgen – die Souveränität des Vatikans sowie die Rechte der Gläubigen. Gleichzeitig sind die Verträge Ausdruck der Anerkennung der faschistischen und weltlichen Regierungen. Von daher stellt sich die Frage, ob seine Politik letztlich nicht sogar zur Beschleunigung der Säkularisierung beigetragen hat. Vordergründig hat die Kirche zwar ver-sucht, ihre Einflußmöglichkeiten und Macht zu erhalten, faktisch hat sie mit den Verträgen aber die institutionelle Trennung der Sphären anerkannt. Sie ist in der Folge stärker als zuvor auf den geistlichen Bereich beschränkt, und

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    muß auf ihrem genuinen Feld, dem des Geistes, überzeugen. Von einigen Autoren wird dies durchaus als Chance für die Kirche begriffen, weil Reli-gion erst durch diese Entlastung von religionsfremden Rücksichten „zu ihrer eigenen Funktion und Autonomie im Gegenüber zu einer weltlich geworde-nen Welt“ (Gabriel 2003, 15) finden könne.

    Die Auswirkungen der Konfessionalisierung waren im klassischen Land der Reformation, in Deutschland, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stärker und fundamentaler zu spüren als in den meisten anderen europäischen Län-dern. Die Konfessionsspaltung prägte nicht nur das gesamte Leben von Indi-viduen, sondern stellte auch ein politisches Grundfaktum dar, das sich unter der Bedingung der Moderne verschärfte und noch lange über die konfessio-nelle Bindung hinaus anhielt (Nipperdey 1998, 528f.). Neben diesem domi-nierenden und alles prägenden Gegensatz zwischen den Konfessionen ent-wickelte sich im 19. Jahrhundert ein weiterer Gegensatz, der zwischen Chri-sten und Nicht-Christen. In dem allmählich einsetzenden Prozeß der Ent-kirchlichung und Entchristianisierung unterscheidet Thomas Nipperdey drei Ebenen der Entwicklung außerhalb der Kirchen (vgl. ebd., 508-528):

    (1) Zum einen verweist er auf diejenigen, die schweigend aus den Kir-chen auswanderten und ihre Sinnorientierung in säkularen Bereichen fanden – allen voran in den Bereichen Arbeit und Familie, die auf den bürgerlichen Grundwerten fußten, aber auch in der Politik, die teilweise zu einer politisch-säkularen „Religion“ überhöht wurde, wobei es auch zur Tendenz der Sakra-lisierung der Nation kam, sowie den Sphären der Kunst und Ästhetik, wobei gerade das gebildete Bürgertum – die „unpolitischen“ Deutschen (ebd., 518) – Versuche unternahm, die säkulare Welt sakralisieren zu wollen. Diese Bewegung entstand vor allem aus dem Protestantismus heraus, der zwar der Modernität offener gegenüberstand, dafür aber stärker den mit dem Tradi-tionsverlust verbundenen Krisen ausgesetzt war und von daher diese weltli-chen Bereiche der Sinnstiftung in eine Art säkularer Ersatzreligion mit in-nerweltlicher Transzendenz umdeutete. In Deutschland ging die Verzögerung der Säkularisierung der politischen Sphäre, die mit dem deutschen Sonder-weg zusammenhängt, mit der Neigung zu politischen Heilslehren oder Er-satztheologien wie Nationalismus und Kommunismus sowie später dem Nationalsozialismus einher, für die gerade die lutherischen Protestanten ent-flammbar waren (Lehmann 1998, 130-152).13 Ein Fall, bei dem aus unserer Sicht exemplarisch deutlich wird, wie der Nationalsozialismus und das natio-

    13 Hitler rekrutierte zwar Wähler aus allen Schichten, konnte aber nur an die Macht kommen,

    weil die Mehrheit der evangelischen Deutschen für ihn stimmte. Die einzige wirklich signifikante Korrelation zur Wahl der NSDAP zwischen 1928 und 1933 besteht – unter den gängigen Sozialmerkmalen – bei der Konfessionszugehörigkeit. So hat im Juli 1932 nur jeder siebte katholische Wahlberechtigte die NSDAP gewählt, während 40% der Nichtkatholiken für Hitler gestimmt haben (Falter 1994, 38). Besonders viele Stimmen hat die NSDAP von der protestantischen Landbevölkerung bekommen (Falter 1991, 184f.).

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    nal-protestantische Bildungsbürgertum eine Koalition eingehen, wird von Hagen Findeis in diesem Band anhand der Biographie des Thüringer Bi-schofs Ingo Braecklein beleuchtet, der wie Werner Best zur Generation der Trägerschicht des Nationalsozialismus gehört (vgl. Herbert 1996). Vom Mi-litär und vom Luthertum gleichermaßen fasziniert, schwankt Braeckleins Biographie zwischen der Hingabe an die Nation und der an die Religion bzw. der wechselseitigen Substituierung von Religion und Politik, und zwar gerade innerhalb der beiden totalitären politischen Systeme in Deutschland.

    (2) Demgegenüber waren die atheistischen Bewegungen und Organisa-tionen dezidierte Gegner und Kritiker des Christentums. Von der modernen Wissenschaft, die mit naturwissenschaftlichen Welterklärungen als Konkur-renz zur Deutungsmacht der Religion auftrat, ging ein Anstoß der Entchristianisierung aus. Der Zoologe Ernst Haeckel versuchte z.B. mit sei-ner unter Naturwissenschaftlern durchaus umstrittenen Lehre des „Monis-mus“, die Schöpfungsgeschichte durch eine naturwissenschaftliche Weltan-schauung zu ersetzen, womit er vor allem bei nicht akademisch Gebildeten, Volksschullehrern und Sozialdemokraten Wirkung erzielte. Die atheistischen Bewegungen wie die Freidenkerbewegung sind dabei in Konkurrenz zu den Staatskirchen entstanden, ohne sich vollständig von transzendenten Themen zu lösen. Dies wird von Todd Weir dargelegt, der auch die Abgängigkeit von Freigeistigkeit und Politik nachweist, die die wechselseitige Durchdringung des monarchischen Staates und der Staatskirchen negativ widerspiegle. Ge-rade weil die politischen und religiösen Systeme nicht getrennt waren, so seine These, konnte sich die Freigeistigkeit nicht entpolitisieren und die Politik nicht vollständig säkularisieren.

    (3) Schließlich entwickelte sich eine außerkirchliche Form der Religio-sität, zu der z.B. die Theosophie oder Anthroposophie gehört und die nicht selten deutsch-völkische Züge annahm. In den 1970er Jahren erfuhren diese religiösen Gruppen im Zusammenhang der Entstehung der sogenannten neuen religiösen Bewegungen (Pollack 2000, Gärtner 2005b) eine Renais-sance.

    In den meisten europäischen Ländern kam es in den 1960er Jahren zu ei-ner „tiefgreifenden, umfassenden und in den Konsequenzen durchaus radi-kalen Säkularisierung“ (Lehmann 2004b, 23). Als ein Resultat dieser histori-schen Entwicklung gilt die endgültige Ausdifferenzierung und Autonomisie-rung von weltlichen und kirchlich-religiösen Institutionen. Dieser Aspekt der Säkularisierung, der mit einem Funktionsverlust der etablierten Kirchen und der Religion verbunden war, ist in der Religionssoziologie unstrittig und führte dazu, daß Westeuropa im Hinblick auf die Säkularisierung lange Zeit als der Regelfall angesehen wurde. Diese Annahme wurde mit der These verbunden, daß Modernisierungsprozesse letztlich auch mit der Erosion reli-giöser Überzeugungen und Praktiken einhergehen. Paul Chambers bestätigt die historische Entwicklung zwar auch für Wales, hält es aber für zu unge-nau, Säkularisierung mit Begriffen wie Modernisierung und Industrialisie-

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    rung gleichzusetzen und plädiert dafür, Säkularisierung jeweils als Produkt partikularer historischer Umstände empirisch zu untersuchen. In seiner „na-tional case study“ über Wales zeigt er, wie die Walisische Religiosität ver-mittelt über die Sprache und in Opposition zur „Church of England“ entstand, aber erst unter Bedingungen der Modernisierung zur wichtigsten sozialen und kulturellen Kraft wurde, die die Walisische Gesellschaft einigte. Die Religion diente sowohl der Verteidigung der kulturellen Eigenart als auch der natio-nalen Abgrenzung gegen England. Während noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die walisische Identität mit der „Welsh Nonconformity“ gleich-gesetzt werden konnte, begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Säkularisierungsprozeß, der mit der rapiden Erosion dieser Religiosität ein-herging.

    Dan Dungaciu stellt den kausalen Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung am Fall Rumäniens in Frage. In diesem Band präsentiert er Rumänien als einen Sonderfall in Europa und ein Land, das – anders als andere osteuropäische Staaten – nach 50 Jahren Erfahrung mit einem kom-munistischen und atheistischen Regime scheinbar bruchlos die orthodoxe Religionstradition wieder aufgegriffen habe. Er kritisiert die bisherigen Deu-tungsversuche der Umfrageergebnisse als unangemessen, weil sie zum einen auf theoretischen Modellen basieren, die in der Untersuchung westeuropäi-scher Gesellschaften entwickelt wurden, zum anderen weder die rumänische Situation angemessen berücksichtigten noch die für Osteuropa spezifische Form der Verquickung von Modernisierung und orthodoxem Glauben. Dun-gaciu vertritt die These, daß sich in Osteuropa eine spezifisch orthodoxe Form von Modernität entwickelt hat, die sich sowohl von derjenigen westlich orthodoxer Länder unterscheidet als auch von derjenigen westlicher Länder, die durch Renaissance, Aufklärung und Industrialisierung hindurchgegangen sind. Um jedoch klären zu können, ob die Wiederaufnahme der rumänisch orthodoxen Religiosität als Ausdruck von Modernität oder als Rückkehr zur Tradition zu interpretieren ist, benötigt man zukünftig sowohl weitere Stu-dien, die Aufschluß über die religionsgeschichtliche Entwicklung in Rumä-nien geben, als auch historisch vergleichende Forschungen.

    Auch die gegenwärtige, weltweite Entwicklung religiöser Phänomene wird von einigen Religionssoziologen zum Anlaß genommen, sowohl das Säkularisierungsparadigma als auch die These Luckmanns von der Privatisie-rung der Religion (1991) als notwendige Konsequenz moderner Gesell-schaftsentwicklung neu zu diskutieren (vgl. etwa Casanova 1994, Gabriel 2003). Neben dem Phänomen der neuen religiösen Bewegungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten, werden vor allem der prote-stantische und islamische Fundamentalismus sowie die religiösen Bewegun-gen pfingstlerisch-charismatischen Typs als Beleg gegen das Säkularisie-rungsparadigma angeführt (Gabriel 2003, 17ff.). Die pfingstlerische Bewe-gung hat weltweit enormen Zulauf, und selbst in Deutschland sind die Pfingstkirchen laut Hartmut Lehmann die am stärksten wachsenden Reli-

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    gionsgemeinschaften. Zwei Beiträge in diesem Band befassen sich mit der Pfingstler-Bewegung in Lateinamerika. Franz Höllinger führt den Erfolg dieser Sekten in Brasilien zum einen darauf zurück, daß sie an traditionale Elemente der brasilianischen Religiosität anschließen: die religiöse Trance, den Verkehr mit Geistern und die spirituelle Heilung auf der einen Seite, die strenge Moral und Disziplin der messianischen Bewegung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert auf der anderen. Zum anderen stellt er als ein nicht zu unterschätzendes Moment für die religiöse Vitalität bzw. Säkulari-sierungshemmung in Brasilien die steigende Armut, Unsicherheit und urbane Anomie heraus. Nicht zuletzt scheint der Erfolg der Pfingstler-Bewegung aber auch mit der eher oberflächlichen Evangelisierung Brasiliens zusam-menzuhängen, weil die katholische Kirche historisch meist mit den Eliten kooperierte und auch aufgrund des Priestermangels die Masse der Bevölke-rung nicht mit ihrer Botschaft geistig-geistlich durchdringen konnte. Letzte-res gilt auch für Mexiko, wo bezeichnenderweise eine ausgesprochen magi-sche Form des Katholizismus praktiziert wird, die zudem eng mit der gesell-schaftlichen Immobilität verwoben ist. Alexander Geschwindner zeigt am Fall eines jungen, zu einer evangelikalen Sekte konvertierten Mexikaners, daß pfingstlerische Sekten in lateinamerikanischen Ländern deswegen so großen Zulauf haben, weil sie zunächst plausible Lösungen für die Überwin-dung biographischer Krisen anbieten und die Mitglieder eine lebensprakti-sche Verbesserung unmittelbar erfahren. Es stellt sich die Frage, ob damit – wie die Vertreter dieser Sekten predigen – eine Rationalisierung der Lebens-führung in Gang gesetzt wird, die auch zur Modernisierung der Gesellschaft beitragen kann.

    Hartmut Lehmann verwies in der Diskussion der Tagung auf wesentliche Differenzen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten (vgl. auch Lehmann 2004b), die – im Hinblick auf die Säkularisierung – lange als die große Ausnahme von der europäischen Regel galten, eine These, die in der Religionssoziologie mittlerweile in Frage gestellt wird (vgl. Gabriel 2003). Während die historisch enge Verbindung von Thron und Alter und das damit verbundene Festhalten der Kirchen an der weltlichen Macht als eine Ursache für den „europäischen Sonderweg“ angesehen wird (ebd., 17), hat Amerika die Trennung von Kirche und Staat schon im ersten Teil des „First Amende-ment“ in der Verfassung verankert. Die Vertreter der Theorie religiöser Öko-nomien nehmen diese verfassungsmäßige Institutionalisierung des – in sich eine moderne Erscheinung darstellenden – religiösen Pluralismus in den USA auf der einen Seite und die in Europa in vielen Ländern auch heute noch nicht vollständig beseitigte „monopolistische“ Bevorzugung der traditional christ-lichen Großkirchen zum Anlaß, Europa mit seiner ausgeprägten Säkularisie-rung als Sonderfall und die USA mit ihrer demgegenüber vitaler erscheinen-den pluralistischen Religiosität als Modernisierungsspitze zu interpretieren. Es ist jedoch äußerst fraglich, die Säkularisierung Europas mit dem Religionsmonopolismus in Verbindung zu bringen. Denn unbestreitbar ist die

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    Säkularisierung in Europa mit einer zunehmenden religiösen Pluralisierung Hand in Hand gegangen! Steve Bruce weist zudem zu Recht darauf hin, daß trotz der radikalen, verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche in den USA der religiöse Pluralismus anfänglich doch sehr begrenzt gewesen sei, insbesondere auf kommunaler Ebene (Bruce 2002, 204ff.). Tatsächlich geht die Trennung von Staat und Kirche in den USA auf den spezifischen Pluralismus protestantischer Sektenreligiosität zurück, der gegenüber anderen Religionstraditionen, insbesondere gegenüber dem Katholizismus und dem Islam, lange Zeit sehr intolerant geblieben ist. Es wäre daher ein gravierender Fehlschluß, die radikale Trennung von Staat und Kirche im „First Amendement“ mit einem in der amerikanischen Gesellschaft jenseits des neutralen Staates existierenden grenzenlosen religiösen Pluralismus gleichzusetzen. Ein solcher Pluralismus mußte vielmehr auch in den USA erst allmählich ausgebildet und erweitert werden. Lehmann hebt hervor, daß im zweiten Teil des „First Amendement“ auch die Förderung der Religion zum Ausdruck gebracht werde und die Trennung von Staat und Kirche demnach dem Geiste nach gerade nicht – wie dies tendenziell in der laizisti-schen Tradition Frankreichs der Fall ist – als religionsfeindlich zu verstehen sei. Vielmehr sei es in den USA kein Tabu, religiös zu sein, sondern werde allgemein akzeptiert. Dem entspreche die hohe Wertschätzung der Freiwil-ligkeit des religiösen Bekenntnisses. Zudem trete man in den USA nicht aus einer Kirche aus, sondern ein. Als weitere Differenz zwischen den USA und Europa führte Lehmann an, daß die USA im Gegensatz zu Europa immer schon ein Einwanderungsland gewesen sei. Es ließe sich nachweisen, daß jede Migrationswelle die Religiosität in den USA gestärkt habe, weil nicht staatliche, sondern meist religiöse Organisationen die erste Anlaufstelle für die teilweise entwurzelten Immigranten waren, die dort Unterstützung und Integrationshilfen fanden. Das Argument, daß Religion ein wesentlicher, die Identität stabilisierender Faktor für Migranten sein kann, vor allem unter schwierigen Bedingungen in der neuen Gesellschaft, und damit zur Aufrecht-erhaltung und Stärkung von Religion beiträgt, wird von Steve Bruce geteilt. Im Hinblick auf Europa – das ja zunehmend zu einem Einwanderungsland wird – stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, welche religiöse Verän-derung aufgrund der verstärkten Zuwanderung in jüngerer Zeit zukünftig zu erwarten ist.14

    Diese Frage wird in diesem Buch in einigen Beiträgen aufgeworfen, die sich mit der islamischen Religiosität in Europa befassen. Die Jugendlichen der zweiten oder dritten Generation von islamischen Migranten wachsen, an- 14 Ursula Boos-Nünning gab auf der Jahrestagung der Sektion Religionssoziologie, die vom

    8.-10.7.2005 in Schmerlenbach stattfand, folgenden Hinweis: Ein Drittel der zur Zeit in Deutschland geborenen Kinder hat einen Migrationshintergrund. Insofern kann man durch-aus darüber nachdenken, ob dies nicht in Zukunft die Religionslandschaft gravierend ver-ändern wird.

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    ders als die meisten Gleichaltrigen, mit bzw. zwischen zwei Kulturen auf: der islamischen Herkunftskultur ihrer Familie und der säkularen Kultur der Mehrheitsgesellschaft, in die sie spätestens mit Schulbeginn eintreten. In der Bearbeitung ihrer Adoleszenzkrise stehen sie vor dem Problem, beide Kultu-ren in ihre Biographie integrieren zu müssen. Daß dabei der Islam für die Identitätsbildung bedeutsam werden kann, hängt auch mit den veränderten Rahmenbedingungen seit den 1990er Jahren zusammen: Die Multikultura-lismusdiskurse, mit denen die Jugendlichen muslimischer Herkunft aufge-wachsen sind, haben einen kulturellen Pluralismus ermöglicht und Raum für muslimische Akteure in der Öffentlichkeit geöffnet (Nökel 2003). Sowohl Frank Peter als auch Johannes Twardella gehen auf den sogenannten Euro-Islam ein, jeweils am Fall eines islamischen Intellektuellen mit großer An-hängerschaft unter Jugendlichen. Peter untersucht die Predigten des in Frank-reich geborenen und aufgewachsenen Hassan Iquioussen. Dieser verkündet einen Islam, der einerseits zur individuellen Lebensführung und Integration in einem westlichen demokratischen Land anleitet, andererseits aber auch die Mehrheitsgesellschaft kritisiert und sich für die Beibehaltung islamischer Werte wie die Geschlechtertrennung einsetzt. Twardella interpretiert und diskutiert die Vorschläge des zur Zeit wohl einflußreichsten, aber auch um-strittenen Intellektuellen Tariq Ramadan, der – zumindest vordergründig – einen modernen Islam vertritt, der die religiösen Grundlagen und die kon-kreten gesellschaftlichen Verhältnisse in einem dialektischen Prozeß mitein-ander vermitteln soll. Bei genauerem Hinsehen hält er die islamische Kultur jedoch für weit geeigneter, die von ihm diagnostizierten Krisen der westli-chen Gesellschaften zu lösen. Talip Kucukcan untersucht türkische Jugendli-che in Großbritannien im Hinblick auf Glauben, Wissen, religiöse Praktiken und Erfahrungen und kommt zu dem Ergebnis, daß die Jugendlichen er-staunlich wenig über den Islam wissen, obwohl sie ihn als einen bedeutenden kulturellen Baustein türkischer Identität erachten.

    Zwei weitere Beiträge befassen sich mit dem Prozeß der Säkularisierung in islamischen Staaten, in Indonesien und der Türkei. Indonesien gilt zwar als ein vorbildlicher moderner muslimischer Staat, hat aber durchaus – und nicht erst seit dem Anschlag auf Bali – mit religiösen Konflikten zu kämpfen. Susanne Schröter untersucht die gegenseitige Durchdringung und Instru-mentalisierung von Religion und Politik am Beispiel der lokalen Konflikte zwischen Muslimen und Christen in Indonesien. Sie zeigt, wie die eigentli-chen Ursachen dieser Konflikte, nämlich ökonomische, soziale und politi-sche, mit religiösen Metaphern aufgeladen und überdeckt werden. Kayhan Delibas setzt sich mit der heutigen Türkei auseinander und analysiert die spezifischen Bedingungen der Säkularisierung dort. Er thematisiert das Er-starken des islamischen Fundamentalismus in der Parteienlandschaft der Türkei in den 1990er Jahren und überprüft, inwiefern die verbreiteten Säkula-risierungsparadigmen zur Analyse dieser Entwicklung geeignet sind. Er be-schäftigt sich insbesondere mit der Eigentümlichkeit, daß die traditionellen

  • Einleitung

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    Vertreter einer säkularistisch-laizistischen Türkei, die mittels der Militärs die türkische Staatsgewalt im Hintergrund noch immer in den Händen halten, heutzutage als autoritäre Modernisierungsblockierer erscheinen, wohingegen die gegen den erbitterten Widerstand der alten Eliten mittlerweile demokra-tisch an die Regierung gewählten islamistischen Politiker wie Erdogan von der breiten Bevölkerung unterstützt werden, ihren anfänglichen islamisti-schen Eifer abgelegt haben und relativ pragmatisch gegen den Widerstand der Vertreter der alten, kemalistischen, säkularistischen Tradition die Moder-nisierung und Demokratisierung der Türkei vorantreiben.

    Ulrich Oevermann betrachtet abschließend den fundamentalistischen Is-lam unter dem Gesichtspunkt von Säkularisierung und Modernisierung. Der Fundamentalismus sei eine Erscheinung im Kontext der monotheistischen Religiosität und ihres Absolutheitsanspruchs und stelle eine Gegenbewegung zur Säkularisierung dar. Während der puritanische Fundamentalismus u.a. aufgrund seines Antiautoritarismus auch modernisierungsförderliche oder gar -beschleunigende Wirkungen entfalte, zeige sich der islamische Fundamen-talismus dominant als modernisierungshemmend. Oevermann arbeitet detail-liert heraus, inwieweit diese Differenz auch in grundlegenden Unterschieden der jeweiligen Glaubenstradition, der jüdisch-christlichen einerseits und der islamischen andererseits, begründet ist. Im Koran, in den bekanntlich auch Inhalte der jüdisch-christlichen Religion Eingang gefunden haben, erfahre das jüdisch-christliche Dogma, so schlußfolgert er, eine Entschärfung der Rationalisierungsdynamik und der Autonomisierungs- und Individuierungs-antriebe der jüdisch-christlichen Religion.

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