22
MARK COSTELLO Paranoia

MARK COSTELLO Paranoia - bilder.buecher.de filerauf. Die Bomberdads waren im Jahr sechs Monate lang fort, einsatzbereit in Thule auf Grönland, und wenn sie weg wa-ren, drehten ihre

Embed Size (px)

Citation preview

MARK COSTELLO

Paranoia

Buch

Es ist Winter in New Hampshire, die Wirtschaft boomt,und der Vizepräsident kandidiert für das höchste Amtim Staat. Harte Zeiten für seine Bodyguards vom SecretService, die alle Hände voll zu tun haben, den zweitwich-tigsten Mann Amerikas auf seiner Wahlkampfreise zu be-schützen. Unter ihnen auch Vi Asplund, für die diese Rei-se durch die amerikanische Provinz zu einer ganz beson-deren Belastung wird. Denn zu den Menschen, vor denensie den Kandidaten beschützen soll, zählen ihre Freunde

und Familie.Vi ist als Tochter eines skurrilen Versicherungsgutach-ters aufgewachsen. Große Teile ihrer Kindheit hat sie aufUnfallstellen verbracht, zu denen ihr Vater sie mitnahm– zu entgleisten Frachtzügen etwa oder abgebranntenHäusern. Geprägt vom Eindruck allgegenwärtigen Un-glücks flüchtet sich Vi nach dem Tod des Vaters zum Se-cret Service, in eine künstliche Welt bürokratischer Si-cherheit, die alle Risiken von vorneherein ausschließensoll. Es ist eine abgeschottete Welt, geprägt von alles um-fassender Paranoia. Doch auch Vi muss lernen, dass sichdas wirkliche Leben nicht bis ins letzte Detail planen

lässt …

Autor

Mark Costello hat bis vor einigen Jahren als Staatsan-walt gearbeitet. Seinen ersten Roman »Bag Men« veröf-fentlichte er 1997 daher unter dem Pseudonym JohnFlood, um die Rezeption des Buches von seinem Beruf zutrennen. Nichtsdestotrotz erntete »Bag Men« begeister-te Kritiken und schaffte den Sprung auf die Bestseller-liste. Seitdem er sich vollständig dem Schreiben widmet,schreibt Mark Costello unter seinem richtigen Namen.Der Vater zweier Kinder lebt mit seiner Familie in New

York.

Mark Costello

ParanoiaRoman

Deutschvon Hans M. Herzog

Die Originalausgabe erschien 2002unter dem Titel »Big If«

bei W.W. Norton & Company, New York/London

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücheraus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Dezember 2006Copyright © der Originalausgabe 2002

by Mark CostelloCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagmotiv: Ed HolubCN · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN-10: 3-442-45580-4ISBN-13: 978-3-442-45580-5

www.goldmann-verlag.de

SGS-COC-1940

FÜR DELIA

TEIL EINS

IN US WE TRUST

1. Kapitel

Center Effing liegt zwischen dem Atlantik und der Inter-state I-95, in dem alten und beschaulichen Küstenstreifenvon New Hampshire. Nach Norden hin erstrecken sich Salz-wiesen. Im Süden liegen Salzwiesen, zehn QuadratkilometerStaatswald und die Stadt Rye. Der Ort hat es inzwischen zuein wenig Geld gebracht, zu High Tech und Ruheständlern,Eigentumswohnungen am Strand und einem neuen Zen-trum. Als Vi Asplund vor zwanzig Jahren hier aufwuchs, wares noch anders. Damals war Center Effing eine Stadt derHummerfischer, eine Stadt der Väter, die nach Portsmouthpendelten, und natürlich der Air Force, die in der Nähe denStützpunkt Pease unterhielt.

Vi wuchs in einem typischen Schuhkartonhaus auf, NewHampshires Gegenstück zur Ranch des Westens. Es standauf einem tausend Quadratmeter großen Grundstück amEnde der Santasket Road, hatte drei Zimmer im erstenStock, einen Dachboden und einen Keller sowie eine kleineangebaute Garage. Aus den Fenstern schaute man auf nichtsBesonderes: auf der einen Seite auf Captain Coopers Haus(Schuhkarton, grau gestrichen), auf der anderen auf das vonMajor Buckert (Schuhkarton, grau gestrichen und kurzzeitigauch einmal leuchtend orange, als die Buckerts sich schei-den ließen). Diese Männer – Cooper, Buckert – waren Pilotendes Strategischen Bombergeschwaders SAC auf dem Luft-waffenstützpunkt Pease, fünfzehn Kilometer die Interstate

9

rauf. Die Bomberdads waren im Jahr sechs Monate lang fort,einsatzbereit in Thule auf Grönland, und wenn sie weg wa-ren, drehten ihre Familien immer ein wenig durch. Die älte-ren Kinder zündelten herum, die jüngeren liefen nacktdurch die Gegend, die Mütter nahmen sich Liebhaber (ande-re Bomberpiloten, die auf ihren Einsatz warteten). Die Lieb-haber kamen und gingen in den Stunden vor dem Morgen-grauen, und auch das bekamen die Asplunds mit, das Aus-rasten, die Liebhaber und das Treiben der Kinder.

Aus den Fenstern zur Straße hin blickte man bei den Asp-lunds auf einen ziemlich gewöhnlichen Rasen, zwei Rosen-eibischbüsche und eine Buchsbaumhecke sowie, jenseitsder Santasket Road, auf das sanft gewellte Gras der Salzwie-sen. Hinter dem Haus befanden sich eine Terrasse, eineDoppelschaukel und ein Garten, in dem Vis Mutter Evelyn,eine sonnengebräunte Hausfrau, sehr empfindliche Rosen,exotische chinesische Ranken und seltene holländische Tul-pen züchtete, die zwar pflegebedürftig und schädlingsan-fällig, aber für ihre prachtvollen Blüten berühmt waren.

Als Vi sechs und ihr Bruder Jens zehn waren, fing Evelynan, im Arbeitszimmer Tulpen zu treiben. Das Arbeitszim-mer lag in der Nordwestecke des Hauses, hatte in den Stun-den um Mittag Sonne und war somit ideal fürs Tulpenzwie-beltreiben geeignet. Evelyn hatte gegen Ende des Wintersdamit begonnen; zu einer Zeit, als die Salzwiesen noch biszum Horizont braun waren, das Bombergeschwader zu ei-nem Schönwettereinsatz in Grönland weilte, Mrs. Buckerteines Nachts aufstand und ihr Haus orange anstrich, Mrs.Cooper mit Hilfe von Major Wade ihr Französisch aufpolier-te, der älteste Junge der Coopers von der Polizei aufgelesenund anschließend auf die Militärakademie geschickt wurde,die anderen Kinder der Coopers als »Flitzer« herumliefen(was in New Hampshire erst spät aufkam), und das jüngsteMädchen der Coopers von zu Hause weglief und es bis zuColonel Krutlands Haus um die Ecke schaffte.

Jimmy Carter war damals Präsident, und Evelyn auf demWeg in die Stadtbibliothek von Center Effing. Sie ließ Vi ein

10

Buch aussuchen. Nein, zwei Bücher. Nein, ein Buch und eineKassette, aber nicht dieses verdammte Zeug zum Mitsingen,Vi, davon bekommt deine Mutter fürchterliche Kopfschmer-zen. Vi lieh Buch und Kassette aus, während die Moonbootstragende Evelyn in den Katalogkästen nach Tulpenzuchtsuchte. Sie machten bei Monsey’s Luncheonette Halt, amKreisverkehr im Zentrum, dann ein Stück die Straße runterbei Aulette’s Greenhouse, wo Evelyn drei kniehohe Terrakot-tavasen kaufte, die wie Flugabwehrgranaten oben spitz zu-liefen und deshalb von Aulette besonders empfohlen wur-den. Beim Tulpentreiben, so fand Vi später heraus, kam esnämlich darauf an, die hässlichen, manchmal sogar behaar-ten Zwiebeln zu nehmen, die wie riesige Beulen aussahen,für deren Entfernung man jemandem Geld bezahlen würde,wenn man sie am Fuß hätte, und sie einzufrieren oder kühlzu lagern, um den Winter nachzuahmen, und sie dann mitErde und anderen Substanzen in Granaten einzutopfen undsie abgedeckt in einer sonnigen Ecke des Arbeitszimmersabzustellen. Die von Dunkelheit und Wärme getäuschtenTulpenzwiebeln sollten glauben, es sei Frühling und zusprießen beginnen. Die Granaten blieben im Arbeitszimmer,bis die Salzwiesen zu neuem Leben erwachten und Mrs. Bu-ckert ihren Mann verließ, ihre Kinder in den Kombi packteund zurück nach Indiana fuhr.

Vis Vater, Walter Asplund, nörgelte über die Granaten, wiesich der Garten klammheimlich im häuslichen Arbeitszim-mer breit machte. Das Arbeitszimmer, so sagte er, sei seinAllerheiligstes, in das er sich nach dem Abendessen mit ei-nem Glas Pabst Bier, einer Pfeife Borkum Riff und einem Sta-pel alter Versicherungsjournale zurückzog. Walter Asplundwar Schadensachverständiger für die Connnecticut Casu-alty Corporation of Connecticut, das heißt, er ermittelte inVersicherungsfällen, bewertete den Schaden und handel-te die Zahlungen anhand einer in Hartford erstellten Tabel-le aus, so viel für eine Hand, so viel für einen Zeh, so vielfür ein Viertel des Augenlichts. Er war ein rechtschaffenerMann, ein komplizierter Mensch, ein Geizkragen und Grüb-

11

ler, einer, der Bücher las, die von den meisten Leuten nurwährend des Studiums gelesen wurden (Mill, Locke, Thuky-dides, Moll Flanders), ein Mensch, der über Witze lachte,aber selbst fast nie welche erzählte, der sich jeden Monatam gleichen Tag die Haare schneiden ließ, der seine Auf-fahrt selbst frei schaufelte, seine Hemden selbst bügelte.Als bekennender Republikaner mischte er ein wenig in derLokalpolitik mit, war Vorstand des örtlichen Blutspende-mobils und wurde zum Vorsitzenden des Rotary Clubs ge-wählt, eine Ehre, die er mit der Begründung ablehnte, dernationale Dachverband der Rotarier verlange von jedem Vor-sitzenden, einen Eid auf die Heilige Schrift abzulegen, wasVis Vater guten Gewissens nicht tun konnte. Walter Asplundglaubte an vieles, an die Menschenwürde, an den Geist derDemokratie, an die Unantastbarkeit von Verträgen, an Dar-wins Über den Ursprung der Arten, an die Bedeutung desBlutspendemobils, an die in Hartford entwickelten Versi-cherungstabellen, an Popelineanzüge im Sommer, an dunk-les Brot mit Baked Beans, an kleine Salzcracker (zur Fisch-suppe), an Baseball, Tennis, an den New Yorker, an Strohhü-te, für die hinten im New Yorker geworben wurde (und dieer manchmal zu Baseballspielen trug), an das Vergnügen,nachts mit seinen Kindern auf dem Idiotenhügel in Rye Skizu fahren. Er glaubte also an so ziemlich alles außer an Gott.Er weigerte sich, dem Rotary Club zu dienen, was er auchnoch öffentlich begründete, und seitdem hieß er in CenterEffing nur noch »der Atheist«, und seine Kinder nannte manin der Schule »die kleinen Atheisten«.

Die Leute fanden, Atheismus sei eine komische Weltan-schauung für einen gemäßigten Republikaner und Versiche-rungsmenschen. Walter sagte, die Leute verwechselten Ver-trauen in Versicherungen mit Gottvertrauen, obwohl es sichdabei um zwei einander ausschließende Dinge handele. WerGottvertrauen habe, brauche keine Versicherung, und wennes Gottes Plan sei, dass dir jemand auf dem Parkplatz vonMonsey’s hinten in den Wagen fuhr, wie könntest du es dannwagen, seinen Willen durch den Abschluss einer Vollkasko-

12

versicherung zu umgehen? Gab es in Sodom etwa eine Ge-bäudeversicherung? Strich Maria eine Lebensversiche-rungsprämie ein, als ihr Sohn starb?

Kleinstädte in Neuengland tolerierten den Wirrkopf, denDorfspinner, aber Vis Vater trieb es wirklich zu weit. Er wei-gerte sich kategorisch, auf etwas zu schwören, und erlaub-te seinen Kindern nicht, in der Schule den Fahneneid abzu-legen. Wenn seine Familie schlief, saß er im Arbeitszimmerund kritzelte auf seinen Geldscheinen herum, strich denGOTT aus IN GOD WE TRUST, damit ja keiner auf die Idee kam,er sei mit diesem Wortlaut einverstanden, woraufhin er ausdem Vorstand des Blutspendemobils flog und bei der Wahlzum Stadtrat eine katastrophale Niederlage erlitt. Die Leutefanden es grässlich, an der Supermarktkasse zu stehen, diePortemonnaies aufzuklappen und dann einen Fünfer mitWalters privatem Graffito zu entdecken, IN God WE TRUST.Die Kritzelei zwang sie, sich die Kette kleiner Transaktionenvorzustellen, durch die das Geld in ihre Taschen gelangtwar: Walter bezahlt Mrs. Souza, die Klavierlehrerin seinerKinder, gibt ihr dabei den Fünfer; Mrs. Souza kauft imTownline Liquorama eine Flasche Sherry, bezahlt mit demFünfer; jemand anderes kauft eine Kiste ’Gansett, bekommtden Schein als Wechselgeld und gibt ihn in dem Drogerie-markt Rexall’s für Kulis und Kaugummi aus; die Kassiererinbei Rexall’s gibt den Schein als Wechselgeld jemandem, derGott (oder Gott) weiß was kauft, Hämorrhoidencreme etwa,und diese Person mit dem Juckreiz gibt ihn für einen Caféfrappé bei Monsey’s oder in dem Laden mit dem einem Tagalten Brot an der Route 32 wieder aus. Ein Stückchen Walterim Portemonnaie zu finden, zwang die Menschen, sich alsaus zahlreichen Einzelleben bestehende Einheit zu betrach-ten, als einen aus vielen Stimmen zusammengesetzten ver-einten Chor, der aus Klavierlehrerinnen, Sherry, Kugel-schreibern und Hämorrhoidencremes bestand, aus besoffe-nen Hummerfischern, die ’Gansett tranken, während sie aufbloßen, mit Flecken in der Form Südamerikas bedecktenMatratzen lagen. IN God WE TRUST war irgendwie bedrü-

13

ckend, kein erfreulicher Anblick im Supermarkt. Vi wusste,dass ihr Vater mit dem geänderten Wahlspruch nie ganz zu-frieden war. Er war nicht der Ansicht, dass wir auf gar nichtsvertrauten, vertrauen konnten oder vertrauen sollten. Einpaar Monate nachdem Walter anfing, das GOD auszustrei-chen, war Vi mit ihrer Mutter bei Aulette’s. Sie kauften ge-rade Dünger für die Eibischbüsche, und Aulette gab Evelynan der Kasse einen Schein heraus, auf dem stand: IN God ⊥US

WE TRUST.Aulette sagte: »Ihr Mann hat sich was Neues ausgedacht,

Mrs. A.«Würdevoll verließ die peinlich berührte Evelyn das Ge-

schäft.Bei jedem Einkaufsbummel knurrten die Leute Walters Na-

men, besonders die Bomberpiloten (die gute Amerikaner wa-ren und stolz darauf, den Fahneneid zu leisten), und wieKinder nun mal sind, piesackten ihre Kinder Jens und Vi. Inder Pause wurden sie von Rowdys vermöbelt, die »Fah-nen-neid!« grölten, während die Fäuste flogen. Jens ging mit denPrügeln so um, wie ein Handelsvertreter, dem kein Ge-schäftsabschluss gelungen war, nämlich abgeklärt (er nahmdie Brille ab als Zeichen seiner Bereitschaft, sich schlagen zulassen). Vi, die sich niemals und nirgends verprügeln ließ,wehrte sich wie ein Mädchen, je schmutziger desto besser,mit treten, beißen und kratzen. Sie kämpfte gegen die Row-dys aller Klassen, nämlich die ihres Bruders und ihrer eige-nen, und obwohl sie nie einen Kampf gewann, gelang es ihrimmer, hier und da eins auszuteilen. Sie zielte auf Eier undAugen, was sie anschließend leugnete, denn im Gegensatzzu ihrem weltfremden Vater fühlte sich Vi moralisch zunichts verpflichtet.

Damals liebte sie ihren Vater heiß und innig. Sie beobach-tete ihn, wie Astronomen Sterne beobachten. Sie sah ihn indem durch die Salzwiesen vom Meer getrennten Haus, wie ernach dem Abendessen in Pantoffeln im Arbeitszimmer saß,Wild Cherry Borkum Riff schmauchte und The Accident Re-porter, Shop Safety Monthly und den letzten OSHA-Rundbrief

14

durchblätterte. Er sagte, diese Stunde nach dem Abendessensei die schönste überhaupt. Für ihn bedeute das Arbeitszim-mer Zivilisation.

Evelyn war währenddessen in der Küche und gab denHunden Wasser. Sie hatten immer ein Rudel Hunde, nie Kat-zen. Einer hieß Dingo, sie hatten eine ganze Reihe von Hun-den namens Dingo, und wenn ein Dingo starb, fuhren Eve-lyn und Vi mit dem Kombi zum Tierheim hinter der Müllkip-pe, suchten sich den nächsten Köter aus und nannten ihnwieder Dingo. Jens, der angehende Wissenschaftler, lagmeist zusammengekauert auf dem Sofa, wischte sich Fle-cken von der Brille, verschmierte die Flecken, gab’s auf undwidmete sich wieder seiner Lektüre, Astronomie, Titel ausder Reihe »Mathemagic«, ein zerlesenes Buch aus der Er-wachsenenbibliothek mit dem Titel Das Beste von Asimov,dessen Ausleihfrist abgelaufen war, oder die Amateurfun-ker-Monatszeitschrift Ham Radio Today, der Jens mit demBleistift geschriebene Briefe schickte, in denen er die Fehlerfrüherer Ausgaben korrigierte.

Manchmal klingelte das Telefon, und die Hunde bellten.Evelyn stand an der Küchenspüle und nahm den Hörer ab.Walter rührte sich bereits, griff an Jens vorbei zum Neben-apparat im Arbeitszimmer. Am anderen Ende der Leitungrief die Pflicht. Entweder war der Anwalt Ligourie dran oderder Bestatter Boyle, der Feuerwehrhauptmann aus Ports-mouth, die Telefonzentrale der State Police oder das Lei-chenschauhaus. Katastrophen gehörten zum Alltag, als Vijung war. Ihr Vater rasierte sich für die Katastrophen. Vi be-obachtete, wie er sich oben im großen Bad rasierte, welcheSorgfalt er auf den Hals verwandte, das Kinn hochgereckt,die Lippen zu einem Kussmund gespitzt. Er band sich dieKrawatte um, ging raus zum Auto und war gewöhnlich amnächsten Tag zum Frühstück wieder da.

Jens war das Hirn der Familie. Das wurde allgemein aner-kannt und nicht groß in Frage gestellt. Er galt als kleines Ge-nie, als Wunderkind in Mathe und Physik. Oft stand etwas

15

über ihn in der Rubrik Aktuelles des Lokalblattes EffingReveille, unter Überschriften wie Sieger in Technikwettbe-werb oder Junge Ingenieure besuchen störanfälliges AKW inSeabrook. Er war ganz vernarrt in sein Funkgerät, ein nurzum Amateurfunken geeignetes Hallicrafter mit Schiebe-skala. Jens kampierte im Keller, morste Nachrichten, dieWände mit einer Sammlung von QSLs tapeziert, Postkartenaus aller Welt, die Funkamateure an andere Funkamateureschickten, um den Kontakt zu bestätigen. Greetings fromJH1VRQ-Tokyo, Cheers from 8P6EU-Barbados. Wenn andereJungs sich vom Weihnachtsmann BMX-Räder und Spielzeug-gewehre wünschten, bat Jens Walter um eine neue Schwe-bungsfrequenzmischstufe und eine Halbdipolantenne.

Vi war sieben, als sie die leistungsstarke Antenne beka-men. Jens und Walter suchten eine geeignete Stelle, um sieanzubringen. Jens meinte, das Dach sei nicht hoch genug,und als sie sich ratlos im Garten nach einer noch höher ge-legenen Stelle umsahen, kam Major Wade durch das Spaliervom Swimming-Pool der Coopers her anmarschiert. MajorWade war auch ein Bomberpilot, ein Freund von Captain Coo-per. Wenn Cooper in Thule war, stand Major Wades Camarooft in der Auffahrt der Coopers. Major Wade und Carol Coo-per schwammen im Pool der Coopers, tollten auf dem Rasenherum und trugen ständig Frottee.

Major Wade inspizierte die Antenne und das Dach. CarolCooper kam auch rüber, in der Hand einen Krug mit klirren-den Eiswürfeln.

Zu Vi sagte sie: »Schon mal einen Whiskey sour probiert,Kleine?«, und tauchte einen Finger hinein. Sie hatte einenBadeanzug mit Zebrastreifen an. Ihre Brüste waren echteAtomtitten.

»Nein«, sagte Vi.»Nein danke«, korrigierte Walter.Vi legte noch eins drauf. »Nein danke, Mrs. Cooper.«Carol Cooper sagte: »Ich wünschte, meine Scheißkinder

wären so höflich.«Als erfahrener Pilot hatte Major Wade die Lösung sofort pa-

16

rat. Er kramte im Kofferraum seines Camaro herum und kammit einem Bogen und einem Köcher voller Pfeile zurück.

»Hält mich schlank«, sagte er und schlug sich auf denBauch. »Kleines Hobby, das ich mir auf Guam zugelegthabe.«

»Mein Gott, was haben wir für einen Kater«, sagte CarolCooper.

An dem Bogen befanden sich zahlreiche Knöpfe. MajorWade drehte daran herum, während Walter eine Angel holenging. Wade band die Schnur an einen Pfeil, und Walter tratmit der Angel ein paar Schritte zurück. Wade biss sich aufdie Lippe und zielte auf die Krone einer Blutbuche in derEcke des Asplundschen Gartens. Alle beobachteten ihn: Ca-rol Cooper hielt Vi an den Schultern, Jens stand drei Meterweit weg, angespannte Gesichter in der Auffahrt, die nachoben schauten. Der Major spannte den Bogen. Die Angel-schnur riss mehrmals, und einige Pfeile flogen in den Wald.Etliche andere landeten im Garten der Coopers, in den Bü-schen der Coopers, im Pool der Coopers. Die mittlere derCooper’schen Töchter kam raus und fragte, was los sei.

Carol Cooper antwortete: »Wir schießen auf einen Baum.Geh wieder rein, und guck dir Zeichentrickfilme an, bevordu einen Pfeil in den Kopf kriegst.«

Major Wade spannte erneut den Bogen und ließ den Pfeilfliegen. Der stieg über die Baumspitze hinweg, die Spule inWalters Hand surrte, die Angelschnur wurde straff, und derPfeil fiel auf der anderen Seite zu Boden. Sie schnitten dieSchnur an der Rute ab, banden sie an ein Seil, banden dasSeil an ein Stahlkabel und hievten die Antenne auf denBaum.

Mittels seiner neuen Antenne entdeckte Jens das Wetter.Er hörte CONELRAD ab, die Unwetterwarnfrequenz der Re-gierung, die in den Fünfzigern eingerichtet wurde, um dieSichtung von Atompilzen zu melden. Wetter war das Spie-gelbild des Krieges, sagte Jens, die vorrückenden Fronten,die blauen Hochdruckkuppeln, oder vielleicht war auch derKrieg das Spiegelbild des Wetters. Ein Orkan in Bangladesch

17

tötete eine halbe Million Menschen, das waren vier Hiroschi-mas. Jens sagte, was die freigesetzte Energie betraf, sei einOrkan so, als würden sämtliche Atombomben auf einmal ge-zündet, und er hoffe, im Himmel über dem Garten mal ei-nen zu sehen. Als Vi acht war, bauten Jens und Walter zwi-schen Garten und Hundehütte einen Schuppen für die Wet-terbeobachtung, ein Hühnerstall auf Stelzen. In dem Schup-pen befanden sich ein Barometer, ein sechzig Zentimeterlanges Thermometer und ein aus einem Doppelkolben be-stehendes Gerät, das den Taupunkt und die Luftfeuchtigkeitmaß und seltsamerweise Psychrometer hieß. Oben auf demSchuppen stand ein Pfahl mit rotierenden Bechern. Vi konn-te die Becher durch das Fenster ihres Zimmers sehen. Wennstarker Wind wehte, der vom Meer her über die Salzwiesenfegte, drehten sich die Becher so schnell, dass man nurnoch einen diffusen Schimmer sah.

Jens wartete ein Jahr lang auf einen Orkan. Zwei Mal täg-lich kontrollierte er den Schuppen. Die abgelesenen Wertetrug er in den Keller, wo er mit einem Lötkolben hantierte,oder er stand im Vorgarten, Evelyns Transistorradio imArm, das er neu verkabelt hatte, um die elektrostatischenEntladungen von Gewitterfronten vor der Küste aufzufan-gen. Vi erinnerte sich an den Sommer, als er zum Üben alleihre Radios neu verkabelte, Evelyns Radiowecker auf demNachttisch mit der oft benutzten Schlummertaste, Waltersaltes Ungetüm im Arbeitszimmer, das schlanke Toshibage-rät neben der Spüle in der Küche.

Am Nachmittag flog die Tat auf. Evelyn sollte eine Füh-rung durch die Ausstellung »Sehen, tasten, riechen« im FortOdiorne Naturschutzzentrum machen. Sie war gerade imGarten und kippte Knochenmehl an die Rosenstöcke. Als sieaufschaute, bemerkte sie die Wolken, die sich vor der Küstetürmten. Sie überlegte, ob die Führung wegen Regens ver-schoben werden müsste. Sie überlegte, was sie anziehenund ob sie eventuell einen Regenschirm mitnehmen sollte.Als sie in der Hoffnung, die neuesten Wettermeldungen zuhören, das Toshiba-Radio einschaltete, knisterte es nur – ge-

18

rade wurden keine Gewitter gemeldet. Evelyn drehte amSendersuchlauf, und es knisterte. Sie probierte es mit derStereoanlage im Arbeitszimmer, dem Radiowecker im ers-ten Stock. Sie holte Walter von der Leiter – der gerade Dach-rinnen reinigte –, und gemeinsam versuchten sie es mit denAutoradios, erst im Kombi, dann im LeBaron, Walters rotemFirmenwagen, und hörten überall das gleiche Knistern.

Vi lief hinter ihnen her und bekam allmählich Angst. Wa-rum gaben alle Radios gleichzeitig den Geist auf? Laut Jenswürden die Russen bei einem thermonuklearen Schlagab-tausch zuerst die Top-40-Sender ausschalten. Vi fragte sich,ob die Russen endlich angegriffen hatten … es sähe ihnenähnlich, die Welt ausgerechnet während der Schulferien zuzerstören. Als ihr Vater vorne in seinem Wagen saß und Sen-der suchte, stellte sich Vi vor, wie ganze Städte einfach vonder Bildfläche verschwanden. Portsmouth ist weg, Nashuaist weg …

Walter beruhigte sie: »Wenn uns die Russen bombardierthätten, wüssten wir das garantiert, Vi.«

Sie dachte, damit meine er wohl, sie hätten sonst schoneinen Anruf von Anwalt Ligourie oder dem Bestatter Boylebekommen. Soeben wurde Portsmouth ausgelöscht, Walt.Fahr rasch da hin, und sieh dir den Schaden an.

Carol Cooper stand in kurzen Shorts und mit einem gro-ßen Strohhut auf ihrem Sprungbrett und saugte den Pool.

»Siehst du?«, sagte Walter. »Alles in Ordnung.«

Vi war neun, als ihr Vater sie endlich auf seine Fahrten mit-nahm. Noch im Dunkeln standen sie auf und bereiteten al-les vor. Vi packte mit Evelyn in der Küche belegte Brote ein,Frühstücksfleisch und Mayonnaise, einen Apfel für jede Tü-te. Walter bügelte oben eine Falte in seine Hose. Jens war aufseinem Zimmer und suchte im Halbschlaf einen fehlendenTurnschuh. Walter fand den Jungen im Schrank, zusammen-gekauert zwischen den Schuhen, und führte ihn wie einenBlinden die Treppe runter. Vi sah mit an, wie ihr Bruder vor-gab, zu frühstücken, eine Hand auf dem Schoß, die Gabel

19

umklammernd. Ein Auge schloss sich langsam, das anderewar ein Schlitz, die schwarzen Haare standen ab, als hätteer lauter Ausrufezeichen auf dem Kopf, sein Gesicht ver-schlafen und abwesend. Evelyn forderte Jens auf, etwas zuessen. Jens gehorchte völlig mechanisch, hob ein Glas mitSaft zur Nase, biss in seine Waffel, kaute aber nicht. DasWaffelstück hatte er immer noch im Mund, als sie rückwärtsaus der Auffahrt setzten und zur I-95 fuhren. Achtzig Kilo-meter weiter, unterwegs nach Berlin, hörte Vi, wie Jens aufdem Vordersitz seine Waffel kaute. Die Sonne ging geradeauf, und sie wusste, dass er endlich wach war.

In diesem Sommer kamen sie überall hin. Sie fuhren kreuzund quer durch New Hampshire, hielten in größeren Be-zirksstädten und Bahnhofsorten. Mit neun sah Vi Dinge, diesie nicht verstand – einen Farmarbeiter mit nur einem Fuß,eine Schule ohne Dach, einen vom Blitz getöteten Golfspie-ler, der immer noch die Fahne umklammerte.

Sie sahen einen außerhalb von Berlin entgleisten, mit Pa-pier beladenen Frachtzug. Dort oben an der Grenze zu Que-bec war Holzfällerland. Berlin war eine Papierstadt, sagteVis Vater. Das Holz kam als Bäume oder Baumstämme anund verließ den Ort tonnenweise als Papier, rollte auf einemNebengleis südwärts bis zu den Weichen bei Gorham. Da-nach ging es in zwei Richtungen weiter, ostwärts einen stei-nigen Fluss entlang nach Maine oder durch die Bergschluch-ten bis St. Johnsbury in Vermont.

Damals war ein heißer Tag. Jens saß vorne in Walters Wa-gen und zählte mit den Fingern sieben aufgeschlitzteFrachtwaggons, bis er nicht mehr weiter an ihnen vorbeise-hen konnte. Vi lehnte sich aus dem Fenster. Sie sah giganti-sche Papierwalzen, ausgerollt bis zu der Stelle, wo ihr Autostand, Papier in der Schlucht, auf der unbefestigten Straße,im Wald.

Walter stand bei den Männern und dem zerstörten Zug aufdem Bahndamm. Die Männer trugen Anzüge und Krawattenoder Polizeiuniformen, oder sie waren so gekleidet, als ar-beiteten sie bei der Eisenbahn. Sie rauchten, spuckten aus

20

und schoben sich den Hut in den Nacken. Einer sah zu denGleisen hoch und sagte, das sei ein echter Hammer.

Die anderen sagten: »Hm-mmh«, und: »Das ist wohl wahr.«Ein Mann in einem weißen Anzug fragte: »Was meinen Sie,

Walter?« Dieser Mann war der Chef der Bahngesellschaft. Erwar in einem Hubschrauber mit Glaskanzel vom Fracht-bahnhof Maine aus Portland gekommen – was Vi total beein-druckt hatte –, aber selbst dieser Mann wartete auf das Ur-teil ihres Vaters. Walter Asplund hatte in den letzten zwan-zig Jahren hier in der Gegend die meisten erwähnenswertenSchäden begutachtet und war als vernünftiger Mensch be-kannt. Er redete nicht viel, aber wenn er etwas sagte, tat eres im Namen der Connecticut-Versicherung.

Der Chef sagte: »Wie schätzen Sie die Sache ein?«Walter warf einen Blick auf das im Wald verstreute Papier.

Dann sagte er: »Da wären die Transportkosten und die un-brauchbare Ware, die Waggons …«

»Muss alles komplett abgeschrieben werden«, sagte je-mand.

»Genau«, stimmten die anderen zu.»Zwei Mann verletzt«, sagte der Chef, »einer lebensge-

fährlich. Vergessen Sie das nicht.«Walter bekam alles mit. Er ließ sich nicht drängen; er ver-

gaß nichts. Er ging den Bahndamm hinunter und legte seinJackett auf den Vordersitz des Wagens.

»Bei euch Kindern alles in Ordnung?«Vi sagte: »Alles in Ordnung.«Jens fragte: »Was ist passiert, Dad?«Walter stand neben der Tür und knöpfte behutsam seine

Manschetten auf. »Nicht zu heiß hier drin?«Vi sagte: »Alles in Ordnung.«Er krempelte die Ärmel hoch, ließ sich Zeit. Die Männer be-

obachteten ihn.Er sagte: »Sagt Bescheid, wenn’s euch zu heiß wird. Hun-

de sterben in überhitzten Autos, müsst ihr wissen.«Der Kofferraum war mit seinem Handwerkszeug beladen:

eine klobige Kamera samt Blitzlicht, dreißig Meter Mess-

21

band, ein Rad an einem Stock, mit dem man auch die Entfer-nung messen konnte, eine Addiermaschine mit einer Papier-rolle, Ersatzpapierrollen, eine Schreibmaschine, eine Taschemit Leuchtraketen und Pflöcken, Millimeterpapier, Kohlepa-pier, zahlreiche Formularblöcke, ein Tonbandgerät, eineRolle Seil, ein Notarstempel sowie ein breites, flaches, inkastanienbraunes Leder gebundenes Buch mit der gold-geprägten Aufschrift THE CONNECTICUT. Das Buch enthieltBlankoschecks von der Farbe des Meeres auf einer Landkar-te. Dieses Buch im Kofferraum bedeutete Macht. EinenScheck aus dem Buch nannte man Abfindung. Und das tatenSchadensachverständige, sie fanden ab oder auch nicht,oder sie fanden teilweise ab, nachdem sie Fotos gemacht,Entfernungen gemessen und Zeugen in größeren Bezirks-städten und Bahnhofsorten und bei Zugunglücken im Nor-den befragt hatten. Vi spürte den Ruck, als ihr Dad den Kof-ferraum schloss.

Wenn sie von Walters Fahrten zurückkamen, machten sieimmer bei den Boyles Halt. Phil Boyle war etwa so alt wie ihrVater, ein wohlhabender Bestatter und Politiker, eine Säuleder Pfarrgemeinde und einflussreicher Mann im Ort. DieBoyles wohnten über ihrem Bestattungsinstitut, eine Fes-tung voller Mansarden an der düsteren Ecke von Main Streetund Derry Turnpike mit ihren massiven, steinernen Fassa-den. Im Sommer saßen Walter und Phil Boyle in Hemdsär-meln hinter dem Haus am Picknicktisch und tranken Kaffee.Sie unterhielten sich über das, was sie verband, Familie,Steuern, Politik. Boyle der Bestatter war der beste Freund ih-res Vaters, doch Vi jagte er immer Angst ein. Er hatteschwarze Haare, trug schwarze Anzüge und im Winterschwarze Melonenhüte, und seine Hände waren lang, grauund von Leberflecken übersät. Er roch immer nach Blumen,und er trank seinen Kaffee schwarz, rührte ihn aber aus fürVi unerfindlichen Gründen um – wegen der Erinnerung anMilch vielleicht –, und selbst die Insekten fürchteten sichvor ihm. Er hatte eine Amtszeit für die Regierungpartei imParlament des Bundesstaates gesessen, dem Unterhaus,

22