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Markt 10 | Graphische Revue | 01.2019 Es sorgt noch immer für eine gewisse Verwirrung, wenn von Mass Customization die Rede ist. Nicht nur, weil es schwer auszusprechen ist, auch das grundlegende Verständnis scheint zu fehlen. Ist aber durchaus nachvollziehbar, denn im Grunde genommen ist Mass Customization ein Paradoxon. „Es ist Einzelfertigung mit der Effizienz einer Massenproduktion“, beschreibt es Prof. Dr. Frank Piller, einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Mass Customization. Um das wirklich zu verstehen, muss man schon einige Zeit zurückblicken. Ausgangspunkt waren die industrielle Revolution und das Fließband, das die Massenproduktion ermöglichte und Waren für jedermann erschwinglich mach- te. Das ist bis heute so, hat aber mit immer preiswerteren Produkten auch zu der absurden „Geiz-ist-geil-Mentalitätgeführt. Hersteller von Massenware möchten einen möglichst breiten Markt bedienen, aber die Strategie „One size fits all“ trifft die Wünsche vieler Kunden nicht mehr. So lief der Markt irgendwann „aus dem Ruder“, weil sich die Konsumen- ten nicht mehr für das Nötigste interessierten. Heute wollen sie den Kick der Abwechslung, sie wollen nicht mit dem Strom schwimmen, sondern genau das machen, was andere nicht tun – eben individuell sein. Kein vorübergehendes Phänomen Customizing ist das Anpassen eines Produktes an die Wün- sche des Kunden und kann auch als Individualisierung verstanden werden. Häuser zum Beispiel werden seit jeher so gebaut. Hier bezieht sich Customizing auf das einzelne Produkt. Customizing wird längst aber auch für industrielle Erzeugnisse angewendet. Wird das individuelle Produkt mit TREND: INDIVIDUELLES VOM FLIESSBAND Techniken der Massenproduktion hergestellt, spricht man von Mass Customization. Ein ganz typisches Beispiel sind Werbeartikel, die zwar massenhaft in Varianten hergestellt werden, dann aber beispielsweise durch den Aufdruck eines Logos individuali- siert werden. Ähnlich auch beim Autokauf. Es stehen viele Varianten bei der Motorisierung, Farbe und Ausstattung zur Verfügung, aus denen sich der Kunde sein Auto individuell zusammenstellen kann. Und seit Jahren schon bietet der eine oder andere Hersteller zudem die Möglichkeit an, die Auswahl des Kunden in einer individualisierten Broschüre zu drucken. Dazu kommt, dass die Verbraucher durch persönliche Botschaften aus der Online-Welt immer stärker für Individua- lisierungen sensibilisiert werden. Und ein durchdachtes Ange- bot endet nicht mit dem Verkauf eines Produktes, sondern ist die Zwischenstation in einer dauerhaften Kundenbeziehung. Denn natürlich elektrisiert einen Kunden ein passendes und zudem individuelles Angebot mehr als Standardware. Schon heute gibt es im deutschsprachigen Raum laut Online-Magazin egoo.de mehr als 600 Shops, die sich aus- schließlich mit individuell personalisierbaren Produkten be- schäftigen. Dazu gehören Mode- und Sportartikel genauso wie Schokolade, Interieur, Fotoartikel, Schmuck und vieles andere mehr. Allerdings wird das heute noch enorme Wachstum endlich sein. Studien gehen davon aus, dass sich das Markt - potenzial für Mass Customization selbst in Ländern, in denen individuelle Produkte gefragt sind, bei etwa 30 % des Gesamt - marktes einpendeln wird. Was für sich betrachtet schon einmal gigantisch und zudem wirtschaftlich äußerst attraktiv Es ist die immer gleiche, massenhaft hergestellte Basisversion. Sobald nun ein Name oder ein Logo eingedruckt wird, ist die kundenindividuelle Massen- produktion komplett. Print ist per se individuell und damit Mass Customization. Mass Customization und Personalisierung gel- ten als weltweite Mega-Trends. Aber wie sind diese Trends eigentlich zu verstehen? Gilt das nur für Werbeartikel? Und was haben sie mit Online-Print zu tun? Von Bernd Zipper

Markt Trend: IndIvIduelles vom FlIessband · Wird das individuelle Produkt mit Trend: IndIvIduelles vom FlIessband Techniken der Massenproduktion hergestellt, spricht man von Mass

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10 | Graphische Revue | 01.2019

Es sorgt noch immer für eine gewisse Verwirrung, wenn von Mass Customization die Rede ist. Nicht nur, weil es schwer auszusprechen ist, auch das grundlegende Verständnis scheint zu fehlen. Ist aber durchaus nachvollziehbar, denn im Grunde genommen ist Mass Customization ein Paradoxon. „Es ist Einzelfertigung mit der Effizienz einer Massenproduktion“, beschreibt es Prof. Dr. Frank Piller, einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Mass Customization. Um das wirklich zu verstehen, muss man schon einige Zeit zurückblicken. Ausgangspunkt waren die industrielle Revolution und das Fließband, das die Massenproduktion ermöglichte und Waren für jedermann erschwinglich mach-te. Das ist bis heute so, hat aber mit immer preiswerteren Produkten auch zu der absurden „Geiz-ist-geil-Mentalität“ geführt. Hersteller von Massenware möchten einen möglichst breiten Markt bedienen, aber die Strategie „One size fits all“ trifft die Wünsche vieler Kunden nicht mehr. So lief der Markt irgendwann „aus dem Ruder“, weil sich die Konsumen-ten nicht mehr für das Nötigste interessierten. Heute wollen sie den Kick der Abwechslung, sie wollen nicht mit dem Strom schwimmen, sondern genau das machen, was andere nicht tun – eben individuell sein.

Kein vorübergehendes PhänomenCustomizing ist das Anpassen eines Produktes an die Wün-sche des Kunden und kann auch als Individualisierung verstanden werden. Häuser zum Beispiel werden seit jeher so gebaut. Hier bezieht sich Customizing auf das einzelne Produkt. Customizing wird längst aber auch für industrielle Erzeugnisse angewendet. Wird das individuelle Produkt mit

Trend: IndIvIduelles vom FlIessband

Techniken der Massenproduktion hergestellt, spricht man von Mass Customization. Ein ganz typisches Beispiel sind Werbeartikel, die zwar massenhaft in Varianten hergestellt werden, dann aber beispielsweise durch den Aufdruck eines Logos individuali-siert werden. Ähnlich auch beim Autokauf. Es stehen viele Varianten bei der Motorisierung, Farbe und Ausstattung zur Verfügung, aus denen sich der Kunde sein Auto individuell zusammenstellen kann. Und seit Jahren schon bietet der eine oder andere Hersteller zudem die Möglichkeit an, die Auswahl des Kunden in einer individualisierten Broschüre zu drucken. Dazu kommt, dass die Verbraucher durch persönliche Botschaften aus der Online-Welt immer stärker für Individua-lisierungen sensibilisiert werden. Und ein durchdachtes Ange-bot endet nicht mit dem Verkauf eines Produktes, sondern ist die Zwischenstation in einer dauerhaften Kundenbeziehung. Denn natürlich elektrisiert einen Kunden ein passendes und zudem individuelles Angebot mehr als Standardware. Schon heute gibt es im deutschsprachigen Raum laut Online-Magazin egoo.de mehr als 600 Shops, die sich aus-schließlich mit individuell personalisierbaren Produkten be-schäftigen. Dazu gehören Mode- und Sportartikel genauso wie Schokolade, Interieur, Fotoartikel, Schmuck und vieles andere mehr. Allerdings wird das heute noch enorme Wachstum endlich sein. Studien gehen davon aus, dass sich das Markt-potenzial für Mass Customization selbst in Ländern, in denen individuelle Produkte gefragt sind, bei etwa 30 % des Gesamt-marktes einpendeln wird. Was für sich betrachtet schon einmal gigantisch und zudem wirtschaftlich äußerst attraktiv

Es ist die immer gleiche, massenhaft hergestellte Basisversion. Sobald nun ein Name oder ein Logo

eingedruckt wird, ist die kundenindividuelle Massen-produktion komplett. Print ist per se individuell und

damit Mass Customization.

Mass Customization und Personalisierung gel-ten als weltweite Mega-Trends. Aber wie sind diese Trends eigentlich zu verstehen? Gilt das nur für Werbeartikel? Und was haben sie mit Online-Print zu tun? Von Bernd Zipper

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ist, da die Produkte den Kunden einen Zusatznutzen bieten, was zur Bereitschaft führt, einen höheren Preis zu zahlen. Produkte aus diesem Segment sind im Schnitt um 20 % bis 50 % teurer als Massenware.

Theorie oder Praxis?Und es ist längst keine Theorie mehr, sondern gelebte Praxis! Nehmen wir die Bekleidungsindustrie, von der große Teile nach Asien ausgelagert sind. Diese Produkte kauft man von der Stange. Wer aber einen individuellen Anzug möchte, muss zum Schneider mit der teuren Maßanfertigung gehen. Oder zum Internet-Schneider, der mittels Konfigurator nach Kun-denvorstellungen günstig fertigt. Ähnliches gibt es auch für Möbel und andere Dinge, von denen wir glaubten, sie seien unwiederbringlich in Billiglohnländer abgewandert. Unter-nehmer, die den Weg der kundenindividuellen Produktion gehen, beweisen, dass auch in Europa ganz nah am Kunden und günstig produziert werden kann. Solche Angebote gibt es selbst bei Nahrungsmitteln. Bei MyMüsli etwa kann sich der Kunde im Internet sein Müsli nach eigenem Geschmack, nach Vorlieben und unter Berück-sichtigung von Allergien zusammenstellen. Das so kreierte Müsli wird exakt nach den Kundenvorgaben gemischt und in einer Dose geliefert. Dabei setzt MyMüsli noch einen drauf: Nicht nur das Müsli, auch die Dose kann individualisiert wer-den. Der Kunde wählt dabei Bilder, Texte und Farben – und die Dose wird direkt und individuell bedruckt.

Print ist per se individuellDas alles ist jedoch nur durch Online-Shops und entsprechen-de Konfiguratoren möglich geworden, wie wir sie auch im Online-Print kennen. In diesem Zusammenhang: Drucksachen sind ja grundsätzlich individuell und nicht mit Massenferti-gung gleichzusetzen. So gibt es nicht die Massen-Visitenkarte, sondern immer nur die von Herrn Müller, Meier, Schulze etc. Es gibt auch nicht die eine Einladung, sondern immer nur die vom Unternehmen XY für einen bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Druckprodukte werden also – von Büchern und Magazinen vielleicht einmal abgesehen – nie auf Vorrat hergestellt. Druckereien stellen Produktionskapazitäten bereit und erst, wenn der Kunde einen Inhalt liefert, kann daraus eine Drucksache werden. Das ist kundenindividuelle Massenproduktion und über alles betrachtet ein strategisches Unternehmens- und Produk-tionskonzept. Es werden die Vorteile der Massenproduktion

wie Skaleneffekte und Automatisierung genutzt, um den Wunsch der Kunden nach auf seine Bedürfnisse zugeschnitte-ne individuelle Produkte zu erfüllen. Im Klartext: Massenmedien mit gleichen Inhalten für alle Empfänger setzen identische Interessen, identische Be-dürfnisse und ein identisches Verhalten der Menschen voraus. Genau das ist aber nicht der Fall. Die Definition von Ziel-gruppen läuft ins Leere, weil nicht mehr Gruppen, sondern der Einzelne angesprochen werden muss. Folglich kann auch einheitliche Werbung nur noch bedingt funktionieren. Ver-trieb und Marketing müssen segmentiert denken und handeln und den Kunden situationsrelevant ansprechen. Das geht mit Massendrucksachen nur schwer. Wenn wir heute von Mass Customization sprechen, ist auch eine völlig andere Art von Marketing, Werbung und Vertrieb notwendig. Und für Unternehmen selbst bedeutet es: Wer Erfolg hat, muss plötzlich 500 statt 20 Aufträge pro Tag abarbeiten. Das sollte mit automatisierten Prozessen in den Griff zu bekommen sein. Die eigentliche Herausforderung ist es, die Online-Portale kundengerecht zu gestalten sowie die während und nach der Bestellung laufenden Prozesse zu beherrschen und zu optimieren. My Take: „Je mehr, desto preiswerter“ war über Jahr-zehnte hinweg auch in Print die Devise. Einkäufer machten davon bis zur Absurdität Gebrauch (weil: „Geiz ist geil“), sodass gut und gerne ein Drittel der Drucksachen letztlich ungelesen im Müll landeten, weil das Verbrauchen einer Massenauflage eben länger dauert, als ein Inhalt aktuell bleiben kann. Folglich werden die Auflagen kleiner, die Ak-tualisierungszyklen und die Anzahl kleinerer Druckaufträge nehmen zu, weil bedarfsorientiert gedruckt werden muss. Dabei können zugleich Ressourcen wie Papier, Energie etc. geschont werden. Allerdings ist das mit den Massendrucksachen so eine Sache. Denn auch ein individualisiertes Mailing mit 100.000 einzelnen Exemplaren ist eine Großauflage. Mit dem Unterschied, dass es nicht 100.000 gleiche, sondern 100.000 unterschiedliche Drucksa-chen sind. •

Es ist die gleiche Form, die industriell und in Massen hergestellt wird. Bei vier unterschiedlichen Farben spricht man schon von Versionierung. Und wünscht der Kunde einen grünen Schnabel, wird aus dem Massen-produkt das individuelle Entchen.

„Zugegeben, in Zeiten der Digitalisierung verschwinden Trends oft schneller als sie entstehen. Doch Mass Customi-zation ist kein vorübergehendes Phänomen, ist nicht plötz-lich hochgepoppt, sondern hat sich in den letzten 20 Jahren (siehe Automobilindustrie) entwickelt. Dies wird sich noch verstärken, weil viele Märkte gesättigt sind, Qualität kein Alleinstellungsmerkmal mehr ist, die Angebote der Anbieter immer austauschbarer werden und eine Differenzierung vom Wettbewerb immer schwieriger wird. Daher werden sich diesem Trend noch mehr Unternehmen anschließen.“ Bernd Zipper

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