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Martensen & Faber – Der unaufhaltsame Lauf der Dinge

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DER UNAUFHALTSAME LAUF DER DINGE

The irresisTible Course of Things

Lars F. Martensen Bernhard Faber

roman

Leipzig

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © 2015 Jonas Plöttner Verlag Ug, leiPzig

1. AuflageISBN: 978-3-95537-167-8E-Book: 978-3-95537-168-5Umschlagreihengestaltung: Maike Hohmeier, HamburgUmschlag: Jonas Plöttner: Das Cover wurde von Birgit Schuster I Art & Creative Director (Berlin) www.birgitschuster.com unter Verwendung eines Fotos »Mann mit Hoodie« von Olivier Villard – www.villard.biz gestaltet Satz: Jonas Plöttner ‌‌‌‌ │ Gesetzt in der Adobe Garamond Pro Druck: In der EU

www.ploettner-verlag.de

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zU den aUtorinnen:Lars F. Martensen, wurde 1968 in Hannover geboren. Er ver-öffentlichte noch während der Schulzeit sein erstes Computer-spiel. Seitdem hat er über 20 weitere Projekte national wie in-ternational als Geschäftsführer, leitender Designer und Autor entwickelt und vermarktet. Heute lebt und arbeitet er in Leipzig.Bernhard Faber wurde 1970 in Konstanz geboren. Von 1997 bis 2002 lebte und arbeitete er als Geschäftsführer in New York. Nach zehn Jahren in Leipzig ist der begeisterte Marathonläufer heute als Rechtsanwalt und Unternehmer in Berlin tätig.

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zUm BUch:Frühjahr 1995. Der Wirtschaftsstudent Johann Georg Forster arbeitet im Rahmen seiner Diplomarbeit an der Widerlegung des kurz zuvor publizierten »Bibelcodes«. Anstatt einen Ge-genbeweis anzutreten, stößt er in der Bibel jedoch tatsächlich auf eine Anleitung zur Weltherrschaft, deren Teile auch in an-deren historisch bedeutenden Schriften zu finden sind. Als er zudem eine Verbindung zu der 1990 enttarnten terroristischen NATO-Geheimarmee »Gladio« entdeckt, ist er sich sicher, ei-ner globalen Verschwörung auf der Spur zu sein. Er begibt sich auf eine Suche nach Antworten, welche ihn und seinen Freund Paul nicht nur nach New York, sondern auch zu den großen Mysterien der Menschheitsgeschichte führt. Sie kommen der Wahrheit immer näher: einer Wahrheit, die auch Geheim-dienstgeneral von Mahnfeld interessiert. Als Georg und Paul merken, dass sie selbst nur kleine Mosaiksteinchen in einem viel größeren Plan geworden sind, ist es fast schon zu spät.

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Inhaltsverzeichnis

New York 3Wie es zu all dem gekommen war … 8… und was damit natürlich auch zu tun gehabt hatte. 33Arabische Wochen 58Geht es so los? 66Das geheime Palais 75Willkommen im Zeitalter der Information! 97Rückblende 112Die Reise in die Neue Welt 118Zwei Tage Manhattan 134In Gottes Diensten 151Onkel Jacob und die Dialektik 167Soweit das Resümee 181Wiedersehen bei Dusai 185Rache 195Stadtführung mit ›V‹ 204Die Vermessung eines Teils der Welt 212Die Schweden kommen! 227Das Spiel I – Einladung zum Essen 241Das Spiel II – Büchersuche 249Das Spiel III – Die Überquerung des Rubikon 265Deja Vu 289Im vorletzten Tempel 312Wieder in Heidelberg 320Als ich Schneemänner sah 329Abschiedsbrief 346Die Summe der zurückgehaltenen Wahrheiten 350Der unaufhaltsame Lauf der Dinge 377

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New York

I.

Um 14 Uhr 30 klingelt das Telefon.»Spreche ich mit Johann Georg Forster?« »Und Sie sind?« »Smith. Samuel Smith. Von ›Brown, Smith and Grey‹. Ich bin

Rechtsanwalt. Können wir uns treffen?« Eine halbe Stunde später in der Lobby des ›Plaza Hotel‹: ein

Kamelhaarmantel, gepflegter Typ Mitte 40.»Ich bin beauftragt worden, Ihnen dies zu übergeben.« »Ein Päckchen. Fühlt sich an wie ein Buch. Wer, sagten Sie

noch, hat Sie beauftragt?« »Ich sagte nichts diesbezüglich.« »Können oder wollen Sie nicht?« »Ich kann nicht. Ich kenne den Auftraggeber nicht. Guten

Tag, Mister Forster.« Das Ganze hat kaum eine Minute gedauert.

II.

Gegen fünf kommen die Mitarbeiter des Umzugsunternehmens und stellen nach zwanzig Minuten die letzte der fünf großen Holzkisten ab. Auf dem frisch gebohnerten Parkett bilden sie ein unregelmäßiges, auch mit gutem Willen kaum als geometrisch zu bezeichnendes Muster, das sich zu allem Überfluss auch noch spiegelt.

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Kassiopeia? Die Antipoden?Kurz wäge ich ab, ob es statthaft sei, Nachbesserung zu verlan-

gen. Wenigstens scheint alles unbeschädigt zu sein. Ich belasse es beim Überlegen, mache mich am Kühlschrank vorbei auf zu Caph, as-Sanam an-Nakah, zur östlichsten Kiste, und unter-zeichne auf dem Deckel den Lieferschein: ›Friday, February 23rd 2001. Received in good condition.‹ Dann suche ich in meiner Hosentasche und drücke jedem der beiden Möbelpacker eine 5-Dollar-Note in die Hand.

»Thanks guys, good job! Have a nice one!« Der, der Ire zu sein scheint, tippt knapp an seine Mütze. Der

andere nickt lediglich und folgt seinem Kollegen in das diffuse Grau des Hausflurs, ganz ähnlich dem des hereinbrechenden Winterabends.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch, öffne Mr. Smiths Päck-chen und halte ein dickes Buch in den Händen.

III.

Auf dem Einband mit der Radierung eines riesenhaften Turms steigen lodernde Papyri zum Himmel. In dünnen Strichen eilen gesichtslose Gestalten, selbst ihres Entsetzens beraubt, zum Bil-drand; sie tragen nichts als ihr Leben davon. Auf einer Anhöhe stehen drei Männer. Wohlwollend deutet der Erste ins Inferno, der Zweite lächelt, der Dritte macht akribisch Notizen. Das Wissen der Menschheit ist verbrannt.

›Für Georg‹ steht auf der bildlosen Postkarte, die zwischen den Seiten steckt, mehr nicht. Doch das genügt, um die Handschrift

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zu erkennen, die Frage nach dem Absender zu beantworten und mir einige andere zu stellen: Warum schickt mir mein ehemals bester Freund nach all den Jahren, in denen ich nichts von ihm gehört habe, ein Buch? Warum über einen Rechtsanwalt? Und was soll dieses apokalyptische Motiv, Paul?

Meinst du die Bibliothek zu Alexandria? Hayeks vom Turm-bau zu Babel entlehnte ›Anmaßung des Wissens‹? Die mit dem Nobelpreis belohnte Strafe, wenn der Mensch versuchte allzu Vieles zu katalogisieren, es sicher konserviert für alle Zeiten fest-zuhalten, wo er doch wissen sollte, dass sich ein System schon mit dem nächsten Wimpernschlag verändern kann und die Fak-ten darüber umsonst angehäuft sind? Meinst du jenen Tempel der vorletzten Wahrheit, der nun, da er brennt, zu dem der letz-ten wird?

Oder weist das Bild auf Schumpeters ›Schöpferische Zerstö-rung‹ hin? Darauf, dass hinter Tod und scheinbarem Chaos et-was beängstigend Effizientes und Anpassungsfähiges verborgen ist, gleich dem Phönix, der aus der Asche steigt?

Nein. Paul kann beides nicht gemeint haben. Ökonomische Theorien haben ihn noch nie sonderlich interessiert.

Als mir eine dritte Möglichkeit in den Sinn kommt, verziehe ich unwillig den Mund. Hat Paul das Bild gewählt, um mich an die Ereignisse vor fünf Jahren zu erinnern? An Buchstaben, aus ihnen zusammengesetzte Zeichenstrings, die erneut kombiniert die erste Sephirah hervorgebracht hatten: ›Ketah‹, die aus dem Nichts Konstruierende, jene creatio ex nihilo, die allen anderen vorangeht, der Ursprung, der Nullpunkt? Damals, als in jedem Buch mehr gestanden hatte, als in allen heute geschriebenen zu-

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sammen. Man hatte die Zeichen nur richtig deuten, weise ihren Abstand bestimmen müssen.

Die Erinnerung verblasst und ich beginne zu blättern. Schon nach wenigen Seiten beschleicht mich ein neuer Verdacht: Ist an der geistigen Gesundheit des Autors zu zweifeln? Abgesehen von den zwei Wörtern auf der Postkarte – und die gehört nicht zum eigentlichen Buch – herrscht auch auf dem Rest der bestimmt 300 Seiten nichts als Leere. Ist dieser Kodex der Flüchtigkeit etwa mit Geheimtinte geschrieben und offenbart sich seinem Leser erst später? Warum schickt Paul mir eine solche Riesen-kladde?

Nachdenklich schiebe ich das seltsame Werk an den Rand der Arbeitsfläche, die in der Mitte des Schreibtischs eingelas-sen ist. Das Leder ist weich und für einen Moment verweilt meine Hand. Ich zünde eine Kerze an und begleite den chao-tischen Rhythmus der das Fenster passierenden Schneeflocken. Tack, Tack, Tack. Unregelmäßig wie die Störung eines sonst gleichförmigen Herzschlags. Morgen wird es vermutlich immer noch schneien. Ebenso wie jetzt, gestern und die Tage zuvor.

IV.

So vergeht eine Minute, bis ich aufstehe und die ungewohnte Umgebung noch einmal in Augenschein nehme. Zwei Zimmer, 70 Quadratmeter, neunter Stock, 16 Gramercy Park East: meine neue Wohnung. Dazu die Holzkisten, der antike Schreibtisch samt Stuhl, eine Reisetasche und die Federkernmatratze, die ich noch auf dem Rückweg vom Plaza bei ›Bed, Bath and Beyond‹

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im Sonderangebot entdeckt und sogleich mit neuer Wäsche habe liefern lassen. Jenseits des Fensters, auf der rückwärtigen Seite des Hauses, liegt die Krönung des Ganzen, ein wahres Pri-vileg: der freie Zugang zu einem der beiden einzigen privaten Parks der Stadt.

›Nicht schlecht‹, denke ich, ›jedenfalls im Vergleich zu vorher, zu Hell‹s Kitchen, den heruntergekommenen backsteinroten Industriegebäuden an verrottenden Piers, der gemeinsamen To-ilette auf dem Gang mit den viel zu dünnen Wänden und Mis-ter Whights langen Unterhosen, die Miss Whight jeden zweiten Tag vor mein Fenster zu kurbeln gepflegt hatte und die auch nach dem Waschen nie richtig weiß gewesen waren.‘

Was ich abseits meiner wenigen Habseligkeiten noch mitge-nommen habe, ist die nicht funktionierende Heizung. Als ich zu frösteln beginne, untersuche ich daher den Teil der Wohnung, der mir die Entscheidung neben der Sache mit dem Park von Anfang an leicht gemacht hat. Von einer nach typisch US-ameri-kanischem Geschmack ausgewählten, in pastellfarbenen Tönen gestreiften Seidentapete eingerahmt, bildet der Kamin mit sei-nen rußgeränderten Kantsteinen einen bemerkenswerten Kont-rast zum Rest des frisch gereinigten Apartments. In seinem Inne-ren verlieren sich ein paar halb verkohlte Holzscheite und gegen das gusseiserne Gitter lehnt ein verzierter Schürhaken. Vielleicht kann ich damit eine meiner Umzugskisten zerteilen. Eine alte Zeitung wird sich schon irgendwo finden und dann…

Nach ein paar Minuten lodert ein kleines Feuer. Ich reibe mir die Hände und betrachte zufrieden mein Werk. Ja, so ist das schon viel angenehmer! Für einige Zeit genieße ich die Nähe

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der Flammen. Schließlich stehe ich auf und greife mir auf dem Weg in die Küche einen Pullover aus meiner Reisetasche. Mit einer Flasche Rotwein, einem Glas und einem Päckchen Zigaret-ten kehre ich an den Schreibtisch zurück, entzünde zwei weitere Kerzen und setze mich.

V.

Jenseits des Fensters schneit es unvermindert. Am Firmament hinter den Wolken ist Kassiopeia längst aufgegangen, in der Ver-längerung des Sternbilds liegt der Polarstern und neun Minu-ten und elf Sekunden östlich davon der Nullmeridian: das Ende eines jeden Tags, der unausweichliche Beginn der Nacht. Alles erscheint wie gewohnt, nichts scheint sich verändert zu haben.

Vom Genuss des Weins, dem Prasseln des Kaminfeuers und dem flackernden Schein der Kerzen ermutigt, nehme ich das Buch erneut zur Hand. Gespannt schlage ich es auf, doch zu mei-ner Enttäuschung entdecke ich noch immer keine Geschichte, nichts, das es wert gewesen wäre, von Paul niedergeschrieben und erzählt zu werden. Da sind einzig das Motiv des brennenden Turms, das all der armen Seelen und das Zitat meiner Wahrneh-mung von vorhin: ›Das Wissen der Menschheit ist verbrannt.‹

Nun, wir hatten es wiedergefunden. Stück für Stück hatten wir es aus seinen in den Jahrhunderten vergessenen Fragmenten rekonstruiert. Zwei Studenten, die nicht nur die rechte Reihen-folge der Buchstaben, sondern, viel schlimmer, die Bedeutung hinter ihnen erkannt hatten. Die Erinnerung ist mir nicht will-kommen, doch unaufhaltsam kehrt sie nun zurück. Sie lässt mein

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Herz schnell und schneller schlagen, gleich dem Trommelwirbel, an dessen Ende die bedeutungslose Erkenntnis der einen vorletz-ten Wahrheit im vielstimmigen Kanon aller ebenso gut mögli-chen steht. Die Anleitung, die längst erdacht ist, muss nur noch festgehalten werden. Nach so vielen Jahren ist es also soweit.

Für einen letzten Augenblick zögere ich. Dann schraube ich die Kappe meines Füllfederhalters ab und beginne zu schreiben.

Wie es zu all dem gekommen war…

I.

Am Montag, dem 14. August 1995, stieg ich ins Raucherabteil des Intercity Express von Hannover nach München. Keine fünf Minuten waren vergangen, da fiel die Klimaanlage aus. Und weil man in diesen fürchterlich modernen Verkehrsmitteln die Fens-ter nicht mehr öffnen konnte, selbst dann nicht, wenn der Zug in einem Bahnhof hielt, begann ich ebenso wie meine Mitreisenden umgehend zu schwitzen.

Als meine Jeans kurz hinter Göttingen wie ein feuchter Lappen an meinen Beinen zu kleben begannen, zog ich aus Gründen der Pietät zunächst nur mein T-Shirt aus. Andere Passagiere hatten es mir gleichgetan und so glich das Großraumabteil zusehends der fehlgeschlagenen Eignungsprüfung für eine Mitgliedschaft im FKK-Klub Groß-Gerau Süd.30 Kilometer weiter verließ der Zug die niedersächsische Tiefe-bene und rollte durch die Kasseler Berge. Die Tunnel mehrten

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sich, und auf den offenen Streckenabschnitten flog die von der Hitzewelle ausgedörrte Landschaft wie ranzige Butter auf zu al-tem Streuselkuchen an den Scheiben vorbei, gleichsam einen Gegenpol bildend zu jener Geschwindigkeit, in der sich meine Gedanken bewegten.

Ich war nun 25 Jahre alt und kurz davor mein Studium abzu-schließen. Das war durchaus als zügig zu betrachten, bedachte man, dass meinem Abitur der Dienst bei der Bundeswehr und der abgebrochene Versuch einer Ausbildung gefolgt waren. Die zurückliegenden acht Semester waren dann selbst nach den ho-hen Standards meines Vaters erfolgreich verlaufen. Bis sich all das vor vier Wochen in nicht mehr als verpasste Scheine und schmerzhafte Erinnerungen aufgelöst hatte.

Zunächst war ich wie gelähmt gewesen. Tagelang hatte ich meine Wohnung nicht verlassen und mich in einer Mischung aus Selbstmitleid, Trotz und Einsicht an einer Reflexion des Ge-schehenen versucht. Ebenso intensiv und mit deutlich mehr Er-folg an meiner Whiskysammlung.Am Ende hatte beides nicht geholfen und ein Umzug war mir als einzig möglicher Ausweg erschienen. Hektisch hatte ich meine hannoversche Existenz abgewickelt und auf diese Weise eine Zeit lang die Gründe für meine Flucht verdrängt. Das Ganze hatte genau bis hierher funktioniert. Bis hierher, da ich nun im Zug saß, mein Körper in der Hitze dösend, mein Geist rekapi-tulierend.

Wie war es zu all dem nur gekommen? Damit, dass Professor Klemm einen Ruf nach Heidelberg erhalten hatte? So sah zu-mindest eine der möglichen Wahrheiten aus.

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Ich trank einen Schluck lauwarme Cola und schloss die Augen. Möglichst wenig Bewegung! Den Herzschlag reduzieren und die Atmung auf das Nötigste beschränken!

Nach und nach verblasste das Innere des Zugs. Ich schlief ein.Zeit für die Vorgeschichte. Zeit für Professor Klemm.

II.

Als ich im Oktober 1991 mein Studium begonnen hatte, war Klemm Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hannover gewesen. Im Rahmen der Einführungs-veranstaltungen hatte er im ›A1‹, unserem größten Hörsaal, eine Rede gehalten:

Weder für die Hochschule noch das berufliche Leben im en-geren Sinne sollten wir lernen. Das Studieren diene vielmehr dem höheren Ganzen, der Vervollkommnung des Individuums, ja der Menschwerdung als solcher. Zu diesem Zweck müsse man nur die Augen offen halten, aufgeschlossen sein für die vielen kleinen Wunder, die tagtäglich am Wegesrand zu entdecken seien und die ein nicht Suchender so leicht übersehe.

Nicht mehr als narzisstische Gemeinplätze, das übliche Ge-schwafel für die Erstsemester, um ihnen das Gefühl von Einzig-artigkeit zu vermitteln und ein wenig Mut zu machen. Mir hatte es trotzdem gefallen.

Da ich seit jeher vielseitig interessiert war, hatte ich mir den Rat des Professors sogleich zu Herzen genommen und neben meinen Pflichtfächern Veranstaltungen in Philosophie, Ge-schichte, theoretischer Physik und Ausdruckstanz belegt. Wo-

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bei Letzteres weniger meinen akademischen Neigungen als dem vorübergehenden Interesse an einer mexikanischen Austausch-studentin namens Teresa Nalia Torres geschuldet gewesen war. Irgendwie hatte ich die Sache dann vergeigt – unwahrscheinlich, dass das nur an meinen misslungenen Bewegungen an der Bal-lettstange lag – und den Kurs im zweiten Semester durch ein Psychologieseminar an der medizinischen Fakultät ersetzt, um nach den wahren Ursachen meines Versagens zu fahnden.

Vorlesungen bei Professor Klemm konnte ich zunächst nicht besuchen, da er aufgrund administrativer Verpflichtungen von seinem Lehrdeputat befreit gewesen war. Auch ging am Fachbe-reich das Gerücht herum, er wäre an vom Kultusministerium unerwünschten Forschungen beteiligt, was ganz bestimmt ne-ben den regelmäßigen Besuchen internationaler Kongresse der eigentliche Grund dafür war, dass man ihn so selten zu Gesicht bekam.

Ganze sechs Semester mussten vergehen, bis sich Ende August 1994 doch noch die Möglichkeit geboten hatte. ›Die Anwen-dungsmöglichkeiten der Spieltheorie in Systemen n-ten Grades‹. Wie verlockend!

In dem Seminar, das wohl aus Termingründen des Profes-sors schon mitten in den Semesterferien begonnen hatte, war es mir dann gelungen, mich beinahe selbst zu übertreffen. An einem Nachmittag Anfang Oktober hatte ich meine Kommi-litonen mit einem Vortrag über die von den Entwicklern der Spieltheorie übersehenen Paradoxien gelangweilt, vielleicht auch ein wenig überfordert. Professor Klemm, der weltweit geachtete Statistiker, war weder das eine noch das andere gewesen. Nach-

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dem das pflichtschuldige Tischklopfen meiner Mitstudenten verklungen war, hatte er mich angesprochen:

Ob ich mir vorstellen könne, meine Diplomarbeit bei ihm zu schreiben? Er selbst forsche im Privaten aktuell auch ein wenig in dieser Richtung – »ganz im Vertrauen, noch ein wenig darüber hinaus« –, und wir könnten gemeinsam sicher den einen oder anderen interessanten Ansatz aus meiner Arbeit fortentwickeln. Wobei sich das grundsätzlich auch für eine Dissertation anböte, aber so weit sei ich ja leider noch nicht. Abseits dessen wolle sich ein derart begabter Student, einer, für den eine 1,0 als Abschluss-note – »Summa cum Laude sollte es schon sein, nicht wahr?« – gewiss das Mindeste und gerade gut genug sei, bestimmt nicht für den Rest seines Studiums »bei einem meiner bemühten Kol-legen mit anspruchslosem Pille Palle abgeben, oder?«

Klemm hatte von seinen Mitprofessoren tatsächlich so gespro-chen, als seien sie lästige Kakerlaken, die seine erhabenen Kreise störten. Und er hatte, ebenso tatsächlich, »Pille Palle« gesagt.

Kurz hatte ich überlegt, ob alle großen Wissenschaftler einen an der Waffel hätten. Doch sogleich hatte meine Eitelkeit die Frage verdrängt und geschmeichelt akzeptierte ich das einmalige Angebot.

Klemm hatte zufrieden genickt und vorgeschlagen, die Details doch am einfachsten bei einem After-Dinner-Drink in seinem Haus zu besprechen. Im Universitätsbüro trieben sich zurzeit die Handwerker herum, sogar seine Topfpflanze habe er evakuieren müssen. Außerdem wolle er sich erst ein abschließendes Bild von mir machen. Also, »Otto von Bismarck Allee 32«. Das sei in der Nähe des Zoos.

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›Und der Zoo …‹, hatte ich ihm in Gedanken in den Mund gelegt, ›… ist da, wo meine Kollegen wohnen.‹

Klemm war indessen abweichend fortgefahren: »Stadtbahn Linie 16, wenn Sie kein Auto besitzen. Sie können es gar nicht verfehlen. Das Anwesen ist das einzige, auf dem sich vier quad-ratische Türme über einem achteckigen Gebäude erheben. Passt es Ihnen am Samstag gegen 20 Uhr?«

III.

Und wie das gepasst hatte! Zudem waren alle Zahlen bis auf die Uhrzeit eine Potenz von zwei gewesen. Gut, man hätte sich auch schlecht in den frühen Morgenstunden treffen können, nur um der Zahlenfolge gerecht zu werden. Ob sich der Professor seinen Wohnort nach den Nummern ausgesucht hatte? Um herauszu-finden, ob seine Studenten das durchschauten? In jedem Fall war das alles bemerkenswert gewesen, überaus bemerkenswert.

Das hatte auch auf Klemm selbst zugetroffen. Er mochte An-fang, Mitte 50 gewesen sein, ein schlanker, sehniger Typ, der die imposante Größe von einem Meter und 95 besaß. Im Seminar hatte diese dank des Schattens, der vom Licht des Projektors auf der Leinwand ausgespart worden war, eher wie fünf Meter 95 gewirkt. Die Liste seiner Veröffentlichungen hatte Letzteres ebenso indiziert und so hatte man ihn überall nur den Großen Klemm genannt.

Die einzigen Haare auf dem Kopf des Professors waren in sei-nen überdimensionierten Ohren und seiner gekrümmten Nase, die der eines Habichts nicht unähnlich war, gewachsen. Zumeist

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hatte er darauf eine im Verhältnis zu seiner Größe geradezu lä-cherlich kleine Nickelbrille getragen, hinter der seine neugieri-gen grauen Augen die Welt in jedem Augenblick zu inspizieren schienen, um sie alsdann analysiert, gerastert und fertig bewertet in seinem für jeden Studenten bedrohlich guten Langzeitge-dächtnis zu hinterlegen.

Bereits dank seiner physischen und intellektuellen Erschei-nung Aufmerksamkeit auf sich ziehend, verdankte der Profes-sor die einzigartige Präsenz, mit der er auch die größten Säle binnen Augenblicken für sich einzunehmen verstand, jedoch zuvorderst seiner gutturalen Stimme. Ich kann mich noch gut erinnern, dass es selbst dann, wenn der A1 wie zu Studienbeginn mit über 400 Leuten zum Bersten gefüllt gewesen war, nur we-niger wohlgesetzter Worte bedurft hatte und auch der letzte ein-zellige Evolutionsverlierer, der sich über irgendeine fragwürdige Härtefallregelung oder Sozialquote an die Universität gelogen hatte, war von Klemms Ausstrahlung sogleich ergriffen gewe-sen und hing mit leuchtenden Augen an seinen Lippen. Wobei es ein bekanntes Phänomen war, dass man sich bisweilen auch abseits allen inhaltlichen Begreifens allein schon am Klang einer Stimme berauschen konnte, von ihr angezogen wurde wie die Motte vom Licht.

Mit gläserner Klarheit hatte ich erkannt, dass das tägliche mo-notone Einerlei noch lange nicht alles war, was das Leben zu bie-ten hatte. Professor Klemm war in diesem allerbesten Sinne ein Mittler zwischen den Welten. Kein Zweifel, ich hatte kurz davor gestanden, die höchsten Weihen der Initiation zu empfangen!

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IV.

Für Mitte Oktober war es ungewöhnlich warm gewesen. Als ich am Samstagabend aufgebrochen war, hatte die Sonne schon tief am Horizont gestanden. Es war zwar Herbst gewesen, zugleich aber einer dieser typisch spätsommerlichen Abende, die man spä-ter zu den schönsten des Jahres verklären würde. Gegen halb acht war ich aus der Straßenbahn gestiegen und entdeckte nach we-nigen Minuten das achteckige Gebäude. Es erhob sich inmitten eines 2.048, vielleicht sogar 4.096 Quadratmeter großen Grund-stücks.

Während ich auf die mit eisernen Bändern beschlagene Ein-gangstür zugegangen war, hatte ich mich wunderbar beschwingt gefühlt. In dem Geräusch von knirschendem Kies unter den Sohlen meiner besten Schuhe schwang für mich seit meiner Kindheit das Gefühl des Angekommenseins mit. Ich hatte mich geräuspert, meinen Hemdkragen zurechtgerückt und geklingelt. Professor Klemm hatte geöffnet, meine Hand geschüttelt und mich ohne Umschweife hereingebeten.

Aus meinem Elternhaus war ich einen gewissen Luxus gewohnt. Im Vergleich dazu hatte die Klemmsche Villa den Eindruck ge-macht, als hätte sie ihre Glanzzeit schon lange hinter sich. Zwar hatten sich einige ausgesucht schöne Stücke im Interieur befun-den, doch war es mir vorgekommen, als habe über all dem der Staub der Jahrhunderte gelegen. Das Anwesen hatte wie ein Ort gewirkt, den man dereinst fluchtartig verließ und der trotz der Rückkehr seiner Bewohner sonderbar unberührt geblieben war.Aus wohl dem gleichen Grund besaß es einen gewissen Charme:

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Der Duft von geöltem Holz vermischte sich mit dem unzähli-ger Bücher und einige Buntglasfenster am westlichen Ende der Eingangshalle hatten das Restlicht des Tages in solch milde Töne gebrochen, als sei es Peter Paul Rubens postum gelungen, eines seiner Gemälde zum Leben zu erwecken. Selbst die Frau des Pro-fessors mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und dem strengen goldenen Zopf über ihrem schwarzen Abendkleid passte ausge-zeichnet zur Lichtstimmung.

V.

Mit ihren sicherlich 64 Quadratmetern war die Bibliothek, in die Frau Klemm uns führte, überaus opulent bemessen gewesen. Die grob behauenen Bodenfliesen vermittelten erneut jenen mit-telalterlichen Eindruck, der mich bereits beschlichen hatte, als ich das Grundstück noch von der Straße aus durch eine Lücke in den hohen Hecken zum ersten Mal hatte einsehen können. Abseits von Tür- und Fensteraussparungen waren die Wände lü-ckenlos von schweren Regalen gesäumt, in denen sich bis hinauf zur vier Meter hohen Decken Buch an Buch gereiht hatte. In der dem Eingang gegenüberliegenden, den Fenstern abgewandten Ecke hatte ein Kaminfeuer geprasselt. Zwei exakt 256 Jahre alte Ledersessel hatten samt einer gleichfalls in englischem Stil ausge-führten nietenbesetzten Ledercouch zum Verweilen eingeladen und auf dem Boden dämpfte ein orientalischer Teppich nicht nur den Schritt, sondern auch das Gespräch, das hier bestimmt seit Jahrhunderten das eine oder andere gefährliche Geheimnis zum Gegenstand gehabt haben mochte.

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Professor Klemm hatte mir einen der Sessel angeboten und un-gefragt einen samtig leuchtenden Whisky aus einer mit kunst-vollem Schliff zum Funkeln gebrachten Karaffe eingeschenkt. »Islay Malt Bruichladdich. Für besondere Anlässe« , hatte er ge-sagt, sich gesetzt und das Gespräch eröffnet.

»Nun, Forster, Ihre Ideen zur Spieltheorie sind ja durchaus be-merkenswert. Aber bevor ich zu meinem eigentlichen Anliegen komme, gestatten Sie mir eine Frage. Und bitte verschonen Sie mich mit dem, was man allerorts in der sogenannten Fachlite-ratur nachlesen kann. Was halten Sie wirklich von Aumann?«

Ich hatte den Blick meines Professors vorsichtig erwidert. In diesem Moment war es wohl keineswegs nur darum gegangen, was meine Meinung über Aumann sein mochte, sondern viel-mehr, was Klemm über ihn dachte.

Aumann also …

VI.

In meiner Seminararbeit hatte ich mich lediglich mit einem Aus-schnitt des Werks von Robert John Aumann beschäftigt, so hieß der höchst lebendige Gegenstand meines angestrengten Nach-denkens wenigstens eine Zeit lang mit vollem Namen. Aumann war Mathematiker, wurde 1930 in Frankfurt am Main als Sohn deutscher Juden geboren. Zwei Wochen vor der Reichskristall-nacht war der Familie die Flucht nach New York geglückt. Dort hatte er 1950 zunächst seinen Bachelor, zwei Jahre darauf am be-rühmten ›M. I. T.‹, dem Massachusetts Institute of Technology, den Master of Science gemacht und nach Abschluss seiner Dis-

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sertation zum Thema ›Knotentheorie‹ den Doktortitel erhalten. Ab 1955 befasste er sich in Princeton mit Operations Research. Über die Jahrzehnte weltweit anerkannt, hatte er sich irgend-wann mit dem dritten Vornamen ›Ysrael‹ versehen und seit 1991 das ›Center for the Study of Rationality‹ geleitet, das interdiszi-plinäre mathematische Institut der hebräischen Universität Jeru-salem. Dort forschte er weiter an der Spieltheorie, speziell ihrer Bedeutung für Krieg und Frieden, Konflikt und Kooperation.

So ein Zufall! 1991 war auch das Jahr gewesen, in dem ich mein Studium begonnen hatte. War das jetzt der reine, der pure Zufall? War es der, bei dem das eine unzweifelhaft nichts mit dem anderen zu tun hatte? Oder war es jener, den man meinte, wenn man das Wort beim Aussprechen hintergründig betonte und bedeutsam in die Länge zog? Wohl eher die erste Variante. Andererseits: Man konnte am Anfang nie so genau wissen, wo etwas noch hinführen mochte. Der Chaostheorie folgend ließ sich nämlich nur schwer prognostizieren, wann aus rein zufäl-ligen Gemeinsamkeiten durch ein einziges kleines Detail eine unauslöschliche Verknüpfung, eine Schicksalsgemeinschaft qua Mikroimpuls erwuchs. Und auch wenn solche Parallelen zumeist dem tatsächlichen Zufall entsprangen, mit Bestimmtheit konnte man erst in der Rückschau sagen, ob eine auch noch so unwahr-scheinliche Verbindung zwischen zwei Instanzen nicht dem lang gezogenen, bedeutsam betonten So-ein-Zufall-aber-auch-Zufall geschuldet, womöglich gar von Anfang an geplant gewesen war.

Folgerichtig hatte ich gedankenverloren gemurmelt: »Aumann hat im selben Jahr an seinem neuen Institut in Jerusalem ange-fangen wie ich in Hannover.«

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Professor Klemm hatte mich überrascht angesehen. Dann hatte er laut losgelacht und meine Einlassung zum Anlass genommen, einerseits ironisch »Was Sie nicht sagen! Das sind ja ganz er-staunliche Neuigkeiten! Sonst noch etwas?« zu prusten, ande-rerseits unsere Gläser noch einmal zu befüllen.

Ich hatte abwesend genickt. Natürlich hatte es da ›sonst noch etwas‹ gegeben! Und natürlich war das auch nicht meine abschlie-ßende Antwort gewesen! Aber weil man besser erst einmal zu Ende überlegt, bevor man den Mund aufmacht, hatte ich mich kurz über mich geärgert, bevor ich zum Thema zurückkehrte.

Aumanns Beitrag zu den Wirtschaftswissenschaften war es ge-wesen, die Spieltheorie endgültig salonfähig gemacht zu haben. Deren Hauptmerkmal war die Aussage, dass in einer Situation, in der mehrere Personen beteiligt waren, der Handlungserfolg des Einzelnen durch die Entscheidungen der anderen mitbe-stimmt wurde. Ich hatte mir das einmal anhand eines Beispiels veranschaulicht:

Wenn Marktteilnehmer A an der Börse in erheblichem Um-fang Aktien einer Firma kaufte, um so deren Preis in die Höhe zu treiben und seine Anteile später mit Gewinn wieder zu ver-kaufen, erlitt er dennoch Schiffbruch, wenn Marktteilnehmer B im gleichen Zeitraum mehr Aktien der Firma verkaufte, als A eingekauft hatte. Im Ergebnis hätte sich A wegen der Ent-scheidung von B verspekuliert und eine Menge Geld verloren, obwohl seine Überlegung isoliert betrachtet durchaus sinnhaft gewesen war. Genau das aber war der springende Punkt: Folgte man der Spieltheorie, durfte man solche Dinge eben nicht iso-liert betrachten!

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Aumanns spezielle Leistung hatte nun darin bestanden, die Angelegenheit durch sogenannte ›wiederholte Spiele‹ noch ein gutes Stück weiter zu treiben. Konkret hatte er sich mit dem Phänomen befasst, dass ein Teilnehmer lernte, die vermutlichen Entscheidungen der anderen mit zu berücksichtigen und so unter Umständen eine eigene zu treffen, die von jener abwich, die ihm isoliert betrachtet zunächst den größtmöglichen Erfolg versprochen hätte. Es konnte nämlich durchaus sein, dass man das beste Resultat für sich herausholte, wenn man zugunsten eines anderen Mitspielers auf einen Teil des eigenen Gewinns verzichtete. Man musste sich in diesem Zusammenhang nur an das klassische ›Gefangenendilemma‹ erinnern, ein Paradebei-spiel der Spieltheorie, in dem alle Angeklagten am schnellsten wieder freikamen, wenn bei der Vernehmung keiner den ande-ren anschwärzte.

Diese Überlegungen hatten ein theoretisches Fundament für Verhandlungen im Geschäftsleben und in der Politik gelegt. Plötzlich war es möglich gewesen, hochkomplexe internationale Konferenzen mit einer Folge einfacher Matrizen zu simulieren. Binnen kürzester Zeit hatte diese Erkenntnis auch in der Psy-chologie, sogar in den Rechtswissenschaften Einzug gehalten.

Zwei Schwachstellen hatte Aumanns Ansatz gleichwohl be-sessen: Erstens konnte man sich wegen der Unbegrenztheit der möglichen Iterationen nie wirklich sicher sein, nach wie vielen Simulationsschritten ein verlässliches Ergebnis vorlag; mehr als eine steigende Wahrscheinlichkeit für sein Eintreffen war nicht zu ermitteln. Das zweite Problem: Aumann ließ die alles zunich-temachende Möglichkeit chaotischer Impulse, wie sie etwa beim

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physikalischen ›Dreikörpermodell‹ oder dem ›Kolibri-Flügel-schlag-über-dem-Ozean-löst-Orkan-aus‹-Beispiel auftraten, auf fahrlässige Weise unberücksichtigt.

Ungefähr mit diesen Dingen hatte sich Aumann also beschäf-tigt beziehungsweise sie unbedacht gelassen. Ich wiederum hatte mich mit Aumann beschäftigt. Und am Ende der heutigen Nah-rungskette hatte Professor Klemm mit übereinandergeschlage-nen Beinen auf seiner Ledercouch gesessen, sachte sein Whis-kyglas hin und her geschwenkt, sich mit uns beiden beschäftigt und schon geraume Zeit auf meine Antwort gewartet.

VII.

Alles, soviel war mir inzwischen klar gewesen, war auf eine spiel-theoretische Entscheidung hinausgelaufen. Wie würde mein Professor entscheiden, nachdem ich mich für eine Antwort ent-schieden hatte? Und wie beeinflusste dieses Wissen wiederum reflexiv das, was ich sagen sollte?

Schließlich hatte ich befunden, dass es am sichersten sei, mög-lichst schwammig zu antworten. Allerdings so, dass es durch-dacht und in sich schlüssig klang. Als hattee ich eine feste Mei-nung dargelegt und vorgegeben zu wissen, wovon ich spreche.

»Sehen Sie, Herr Professor, Aumanns Ansätze sind auf der einen Seite ebenso revolutionär, wie sie sich zugleich in stän-diger Wiederholung verfeinern. Beides kann man ihnen zwei-felsohne nicht absprechen. Sie setzen jedoch auf einem Gedan-kengebäude auf, das in der jüngeren Vergangenheit unter dem berechtigten Hinweis auf die Chaostheorie zunehmend infrage

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gestellt wurde. Die Spieltheorie mag auch in völlig neuen Er-klärungsmodellen Geltung finden, aber in der Formulierung, in der Aumann sie zuletzt vorgelegt hat, setzt sie die Nichtexistenz eines Prinzips voraus, das sie ad absurdum führen würde, dessen Vorhandensein jedoch belegt ist. Das ist es, was ich das ›Au-mann-Paradoxon‹ nenne, wenn ich mir diesen Begriff einmal gestatten darf.«

Was für ein in sich verdrehter, typisch wissenschaftlich ver-klausulierter Schwachsinn! Inhaltlich zwar weitgehend korrekt, aber übertrieben in die Länge gezogen und total unverständlich formuliert. Zusammengefasst also: durchaus gelungen.

Klemm hatte mich für einen Moment verblüfft angestarrt. Dann hatte ein diabolisches Grinsen von seinem Gesicht Besitz ergriffen, sodass ich schon Angst bekam, mich für die falschen Sätze entschieden zu haben. Seine Worte waren jedoch eindeutig gewesen.

»Hört, hört. Sehr gut, Forster! Sehr, sehr gut! Ich sehe, wir werden uns ausgezeichnet verstehen. Ach was sage ich? Wir wer-den uns blendend verstehen! Persönlich halte ich einen Gutteil der Spieltheorie auch abseits dessen, was Sie das ›Aumann-Pa-radoxon‹ nennen – treffend beobachtet übrigens, den Begriff können wir vielleicht in die Debatte einführen – für nichts als eine Luftnummer. Meines Erachtens ist es noch viel weniger: das Vakuum in sämtlichen Farben des darin nicht enthaltenen Spektrums.«

Dann hatte er geheimnisvoll ergänzt: »Aber ich will nicht vor-greifen. Jetzt noch nicht. Ich will sicher sein, dass Sie der Rich-tige sind …«