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Martin Felder. Meine Nachbarin, der Künstler, die Blumen und der Revolutionär

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Martin Felders Debütroman.

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Ich beobachte einen Vogel. Er stößt sich vom Rasen ab, fliegtzwischen den Bäumen empor zum Sims meines Fensters. Hierfällt er einfach um und bleibt liegen.

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Irgendeiner stört mich immer, wenn ich an den Rosen meinerNachbarin rieche. Vor zwei Tagen war es der Briefträger mitdem misstrauischen Blick. Gestern die Schwester der Nach-barin, eine bedrohlich weiße Handtasche aus Leder hing an ih-rer Schulter. Zum Glück hat sie mich nicht gesehen. Heute istes ein zufälliger Passant. Er bringt mich von allen in die schwie-rigste Situation.

Der junge Mann gegenüber ist eigenartig. Er schläft am Tag undist in der Nacht wach. Ich sehe ihn nur am Morgen. Wenn erdie Rollläden hinunterkurbelt, bleich und sichtlich ermüdet.Ich bin sicher, er arbeitet in der Nacht. Aber wirklich wissenkann ich es natürlich nicht, weil ich nachts schlafe. Vielleichtist er auch Künstler. Ich kenne einige Künstler, und die schlafenmeistens am Tag. Am Abend gehen sie dann aus, trinken viel,und wenn sie nach Hause kommen, setzen sie sich an die Ar-beit.

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Schaue ich aus dem Küchenfenster, sehe ich eine riesige Bau-stelle. Seit einem Jahr marschieren Männer mit orangefarbenenund gelben Helmen auf. Sie graben, bohren, schweißen undmachen Dinge, für die ich nicht einmal Worte habe. Ich habemir letzte Woche einen dieser gelben Helme besorgt. Nachtsbin ich auf die Baustelle gestiegen, mit einer Taschenlampe aus-gerüstet. Neben dem Zementmischer habe ich ein Exemplar ge-funden. Seither stehe ich morgens um sechs Uhr auf. Ich trinkeeinen Kaffee, aus dem Küchenfenster blickend. Um sieben tau-chen die Männer auf. Ich setze mir den Helm auf, wie sie, undmache mich an die Arbeit.

Ich stehe vor dem Kiosk am Bahnhof und betrachte Zeitschrif-ten. Ein Herr stellt sich neben mich und verlangt Zigaretten.Gleichzeitig erscheint ein alter Mann und beginnt, weil er nichtgleich bedient wird, vom Krieg zu erzählen. Er sagt, das seiennoch andere Zeiten gewesen. Man habe sich tapfer gewehrt.Und oft habe man zu wenig zu essen gehabt.Dann informiert er sich über Kaugummis. Er will den Unter-schied wissen zwischen Schpiermint, Menthol, Fruht und Zitro-ne. Ich versuche, ihm so gut wie möglich beizubringen, dassSchpiermint etwas fröhlicher schmecke als Menthol, dass aberMenthol auch gut sei, dass Zitrone etwas saurer zwischen denZähnen liege als Fruht. Die beiden Letzteren unterschiedensich von den zwei Ersteren dadurch, dass sie einen größerenSpeichelfluss im Mund provozierten. Er sagt, dann nehme erZitrone.

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Seit ich den Helm habe, stehe ich um sechs Uhr auf. Ich habefestgestellt, dass Punkt halb zehn alle Maschinen stillstehen, dieHelme aufgehängt werden und die Arbeiter im Café auf der an-deren Straßenseite verschwinden. Heute gehe ich mit. Zwar fin-de ich an ihrem Tisch keinen Platz mehr, aber gleich danebenist einer frei.

Die Kühe reißen mit ihren rauen Zungen das Gras ab. Sie sehenalle gleich aus. Ich stoße mich nachdenklich vom Ast und flatte-re davon.

Der Mann von gegenüber taucht auf. Er sieht sehr verschlafenaus. Ich blicke auf die Uhr. Während er sich an den Tisch derFrau mit dem Hinterkopf setzt, frage ich ihn, ob es nicht nochetwas früh sei. Er kommt zu mir hin und wirft einen Blick aufmeine Uhr. Dann sagt er, ich hätte recht, und geht.

Ich habe die Blumen meiner Nachbarin heute mit Blumen ausverschiedenen anderen Gärten verglichen. Ich bin über Türengestiegen, über Zäune, habe Gartenzwerge umgestoßen. Nir-gends kamen die Blumen auch nur annähernd an die Blumenmeiner Nachbarin heran. Auch wenn einige vielleicht etwas bes-ser rochen.

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Draußen heult eine Sirene. Ich eile zum Fenster in der Kücheund blicke auf die Baustelle hinunter. Die Arbeiter stehen mitihren gelben und orangefarbenen Helmen im Kreis und einerliegt am Boden. Er wird von zwei Pflegern in den Krankenwa-gen getragen. Ich nehme den Helm ab und drücke ihn an mei-nen Bauch. Eine dieser weißen Pflegerwesten würde mir auchvieles erleichtern.

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Die dünne Frau geht jetzt schon zum vierten Mal an der rotenParkbank vorbei. Wie auffällig, dass ich jedes Mal dasitze.

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Der Künstlernachbar will einige Texte lesen, die ich geschriebenhabe. Als er fertig ist, sagt er, es wäre gut, wenn ich eine Ge-schichte schreiben würde, die verständlich ist. Ich beschließe,ihm einen Gefallen zu tun.

Der Hund trippelt. Seine Herrin im Pelzmantel verwirft dieHand: Sie fühlt sich hinterhergezogen. Ein Auto braust vorbei.Fellhaare bewegen sich.

Seit ich weiß, dass der Nachbar meine Geschichten lesen wird,stelle ich mir vor, wie er die Stirn in Falten legt und sich nach-denklich räuspert. Dann komme ich selten über die erste Zeilehinweg.

Ich schreibe einen Text, den ich ihm zum Lesen gebe, schreibeich und gebe ihn ihm.

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Ein Mann, dessen Name niemand aussprechen kann, geht in einRestaurant, das niemand sehen kann. Er bestellt ein Bier, dasniemand trinken kann, beschimpft den Wirt, der niemanden be-wirtet, und sagt, es sei eine Zumutung. Erstens werde man indiesem Restaurant nicht bedient, zweitens sei das Bier nichttrinkbar. Der Wirt ist erstaunt, dass ein Gast in sein Restaurant,das niemand sehen kann, getreten ist. Weil er trotz der Gewohn-heit, niemanden zu bewirten, ein freundlicher Mensch ist, willer ihm die Sache erklären. »Herr …«, beginnt er und stellt er-staunt fest, dass ihm der Name des Mannes nicht über die Lip-pen geht. Er verstummt. Der Gast verlässt fluchend das Lokalund kehrt nie mehr zurück.

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Wenn ich die Leute am Bahnhof beobachte, fällt mir auf, dassalle ein Ziel haben. Ich selbst muss ihnen dabei wohl eigenartigvorkommen. Denn ich bin nur hier, um sie zu beobachten. Dasist kein richtiges Ziel, und ich glaube, dass man mir das ansieht.

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Der Arbeiter hat seinen Fuß im Gips. Er sagt, er habe, als esgeschah, einen Helm getragen. Ich erkläre ihm, dass ich vomKüchenfenster auf die Baustelle sähe. Dann frage ich, ob esihm etwas ausmache, wenn ich aus dem Schrank im Flur einendieser Pflegeranzüge mitnähme.

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MARTIN FELDER

MEINE NACHBARIN, DER KÜNSTLER,DIE BLUMEN UND DER REVOLUTIONÄR

Salis Verlag AG, Zürich

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LektoratKorrektorat

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1. Auflage 2013© 2013, Salis Verlag AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-905801-84-2Printed in Germany

Patrick Schär, BaselIna Serif, FreiburgSalis Verlag AG, ZürichBarbara Herrmann, Freiburgvectorstock.comCPI Books GmbH, Leck

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