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Martina Ziee Lesen an digitalen Medien 1 Mediale Veränderungen Die fortschreitende Digitalisierung von Information hat gravierende gesellschaft- liche Veränderungen in Bezug auf den Umgang mit und die Anforderungen an eine exible, lesbare und zeitkritische Informationsdarstellung mit sich ge- bracht. Ebenso hat diese Entwicklung grundlegende Änderungen bezüglich organisationaler Arbeitsstrukturen nach sich gezogen (Flexibilisierung der Ar- beit, Mobilität der Information) und eine tiefgreifende Verzahnung digitaler Informationen mit persönlichen Lebensbereichen verursacht. 1 Nicht zuletzt ist unser wahrgenommener Bedarf nach digitaler Information und ihrer ubiquitären Verfügbarkeit gestiegen. Die heute ächendeckende Nutzung digitaler Information hat dabei nicht nur die Art und Weise der Informationsdarstellung auf digitalen Medien verän- dert, sondern auch zu einer Vielzahl neuer Medientypen und kommunikativen Praktiken geführt, wie beispielsweise die Konvergenz von öentlicher Massen- kommunikation mit privater computervermittelter Kommunikation oder die Fle- xibilisierung von Raum-Zeit-Bezügen durch Mobilkommunikation. Die im letzten Vierteljahrhundert entstandenen technischen Innovationen in der Weiterent- wicklung der Displaytechnologie, der Miniaturisierbarkeit der Geräte sowie leis- tungsfähiger (Energie-)Speichertechnologien haben zu einer stetig wachsenden Informationsut geführt 2 und die Frage nach einer visuell, kognitiv und so- zial bewältigbaren Informationsdarstellung auf digitalen Medien aufgebracht. Gleichzeitig hat sich auch die Bildqualität der digitalen Medien im Verlaufe der technischen Weiterentwicklung verbessert. Interessanterweise ist trotz der Uni- versalität und der unbestrittenen Leistungsfähigkeit digitaler Medien das traditionelle Darstellungsmedium Papier aus unserem Alltag nicht verschwun- 1 Vgl. Arning, Katrin, Sylvia Gaul u. Martina Ziee: ,Same same but dierent. How service contexts of mobile technologies shape usage motives and barriers. In: HCI in Work Learning, Life Leisure. Hg. v. Gerhard Leitner, Michael Hitz u. Andreas Holzinger. Berlin 2010, S. 3454; Ziee, Martina u. Eva-Maria Jakobs: New challenges in Human Computer Interaction: Strategic Directions and Interdisciplinary Trends. In: 4th International Conference on Competitive Manufacturing Technologies. Stellenbosch/South Africa 2010, S. 389398. 2 Vgl. Schlick, Christopher M., Carsten Winkelholz u. a.: Visual Displays. In: The Human Computer Interaction Handbook: Fundamentals, Evolving Technologies and Emerging Applications. Hg. v. Julie A. Jacko u. Andrew Sears. Boca Raton/Florida 2012.

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Martina Ziefle

Lesen an digitalen Medien

1 Mediale Veränderungen

Die fortschreitende Digitalisierung von Information hat gravierende gesellschaft-liche Veränderungen in Bezug auf den Umgang mit und die Anforderungen aneine flexible, lesbare und zeitkritische Informationsdarstellung mit sich ge-bracht. Ebenso hat diese Entwicklung grundlegende Änderungen bezüglichorganisationaler Arbeitsstrukturen nach sich gezogen (Flexibilisierung der Ar-beit, Mobilität der Information) und eine tiefgreifende Verzahnung digitalerInformationen mit persönlichen Lebensbereichen verursacht.1 Nicht zuletzt istunser wahrgenommener Bedarf nach digitaler Information und ihrer ubiquitärenVerfügbarkeit gestiegen.

Die heute flächendeckende Nutzung digitaler Information hat dabei nichtnur die Art und Weise der Informationsdarstellung auf digitalen Medien verän-dert, sondern auch zu einer Vielzahl neuer Medientypen und kommunikativenPraktiken geführt, wie beispielsweise die Konvergenz von öffentlicher Massen-kommunikation mit privater computervermittelter Kommunikation oder die Fle-xibilisierung von Raum-Zeit-Bezügen durch Mobilkommunikation. Die im letztenVierteljahrhundert entstandenen technischen Innovationen in der Weiterent-wicklung der Displaytechnologie, der Miniaturisierbarkeit der Geräte sowie leis-tungsfähiger (Energie-)Speichertechnologien haben zu einer stetig wachsendenInformationsflut geführt2 und die Frage nach einer visuell, kognitiv und so-zial bewältigbaren Informationsdarstellung auf digitalen Medien aufgebracht.Gleichzeitig hat sich auch die Bildqualität der digitalen Medien im Verlaufe dertechnischen Weiterentwicklung verbessert. Interessanterweise ist – trotz der Uni-versalität und der unbestrittenen Leistungsfähigkeit digitaler Medien – dastraditionelle Darstellungsmedium Papier aus unserem Alltag nicht verschwun-

1 Vgl. Arning, Katrin, Sylvia Gaul u. Martina Ziefle: „,Same same but different‘. How servicecontexts of mobile technologies shape usage motives and barriers“. In: HCI in Work Learning,Life Leisure. Hg. v. Gerhard Leitner, Michael Hitz u. Andreas Holzinger. Berlin 2010, S. 34–54;Ziefle, Martina u. Eva-Maria Jakobs: „New challenges in Human Computer Interaction: StrategicDirections and Interdisciplinary Trends“. In: 4th International Conference on CompetitiveManufacturing Technologies. Stellenbosch/South Africa 2010, S. 389–398.2 Vgl. Schlick, Christopher M., Carsten Winkelholz u.a.: „Visual Displays“. In: The HumanComputer Interaction Handbook: Fundamentals, Evolving Technologies and EmergingApplications. Hg. v. Julie A. Jacko u. Andrew Sears. Boca Raton/Florida 2012.

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den,3 obwohl das „papierlose Büro“ bereits im Jahr 1975 von George E. Pake,einem der damalig führenden Köpfe bei Xerox im amerikanischen Palo AltoResearch Center prognostiziert worden ist.

Die Nutzer digitaler Medien sind heute nicht mehr mit früheren Computer-nutzungsgenerationen zu vergleichen.4 War die Nutzung digitaler Informationan Computerbildschirmen noch vor 25 Jahren vor allem jüngeren und im Arbeits-leben stehenden Arbeitnehmern vorbehalten, ist die heutige Nutzergenerationdigitaler Information so divers wie die Menschheit an sich. Nutzer unterschied-lichen Alters, Geschlechts, Bildungsniveaus und/oder kultureller Zugehörigkeitbedienen zu jeder Zeit an unterschiedlichsten Medien digitale Informationen.5

Die Veränderung der Information und ihres Durchsatzes, die heute viadigitaler Medien dargestellt wird, die Veränderung der Art des digitalen Me-diums, die zunehmende Beschränktheit des Interaktionsraums mit dem Nutzerund die Miniaturisierung des Sichtfensters, über das Information transportiertwird, aber auch die diverse Nutzergruppe und die sehr unterschiedliche Art derNutzungssituation und des Nutzungszugriffs (stationäre vs. mobile Nutzung)werfen die grundsätzliche Frage auf, welche Anforderungen an eine nutzerge-rechte Informationsdarstellung gestellt werden müssen.

3 Vgl. Gibbs, Wayt W.: The reinvention of paper, 1998. www.sciam.com/1998/0998issue/0998techbus1 (Stand: 30.09.2008); Holzinger, Andreas, Markus Baernthaler u.a.:„Investigating paper vs. screen in real-life hospital workflows: Performance contradictsperceived superiority of paper in the user experience“. In: International Journal of Human-Computer Studies (2011) H. 69, S. 563–570.4 Vgl. Oetjen, Sophie u. Martina Ziefle: „The effects of LCD anisotropy on the visualperformance of users of different ages“. In: Human Factors 49 (2007) H. 4, S. 619–627; Ziefle,Martina: „Visual ergonomic issues in LCD-Displays. An insight into working conditions and usercharacteristics“. In: Methods and Tools of Industrial Engineering and Ergonomics forEngineering Design, production, and Service- Traditions, Trends and Vision. Hg. v. ChristopherM. Schlick. Berlin 2009, S. 561–572; Kline, Donald W. u. Charles T. Scialfa: „Sensory andPerceptual Functioning: Basic Research and Human Factors Implications“. In: Handbook ofHuman Factors and the Older Adult. Hg. v. Arthur D. Fisk u. Wendy A. Rogers. San Diego 1997,S. 27–54.5 Vgl. Brodie, Jacqueline, Jarinee Chattratichart u.a.: „How age can inform the future design ofthe mobile phone experience“. In: Universal Access in HCI: Inclusive design in the informationsociety. Hg. v. Constantine Stephanidis. Mahwah 2003, S. 822–826; Holzinger, Andreas, GigSearle u.a.: „Informatics as semiotics engineering: Lessons learned from design, developmentand evaluation of ambient assisted living applications for elderly people“. In: Universal Accessin HCI, Part III, HCII 2011. Hg. v. Constantine Stephanidis. Heidelberg 2011b, S. 183–192;Kothiyal, Kamal u. Samuel Tettey: „Anthropometry for design for the elderly“. In: InternationalJournal of Occupational Safety and Ergonomics 7 (2001) H. 1, S. 15–34.

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2 Visuelle Performanz beim Lesen von digitalenMedien

Unstrittig ist, dass eine reibungslose und rasche Informationsentnahme von derArt der Informationspräsentation und der visuellen Qualität des Mediums ab-hängt.6 Die Beurteilung, wie ‚gut‘ ein digitales Medium im Hinblick auf dieInformationsentnahme und visuelle Leistung ist, steht mit einer ganzen Reihesich gegenseitig beeinflussender Faktoren in Zusammenhang.

Zentral in diesem Kontext sind Faktoren der Textdarstellung (Schrift- undBildfaktoren), die entscheidend darüber mitbestimmen, wie schnell und fehler-frei Information aufgenommen und verarbeitet werden kann. Bei den Schrift-faktoren sind die Informationsdichte (Zeilen, Buchstabenabstand), die Schriftartoder auch die Textformate (Flatter- vs. Blocksatz; Zeilenlänge) von Bedeutung.Bei den Bildfaktoren sind Helligkeit und Kontrast der Zeichen und des Bild-hintergrundes sowie die Umgebungsbeleuchtung von großer Bedeutung, aberauch die Auflösung des Zeichens und des Displays (Konturschärfe).

Jenseits der Wirkung von Text- und Bildfaktoren sind jedoch modulierendekognitive Faktoren auf Nutzerseite wirksam, die die Leseeffizienz bedeutsambeeinflussen. Die Aufnahme von Information hängt nämlich nicht nur von derBildqualität – der Lesbarkeit digital dargestellter Information – ab (sogenannte‚Bottom up‘-Faktoren), sondern auch von kognitiven Fähigkeiten der Lesendenund ihren Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfähigkeiten sowieden Eigenschaften der Leseanforderung (sogenannte ‚Top-down‘-Faktoren). Zusolchen Top-down-Faktoren ist die Art und Schwierigkeit der Leseanforderung (1)zu zählen. So kann man sich leicht vorstellen, dass beispielsweise das oberfläch-liche Überfliegen eines Textes und eine Lesesituation, in der ein Text auf Ver-ständnis gelesen wird, mit unterschiedlich schwierigen Anforderungen verbun-den sind, auf die sich suboptimal gestaltete Text- und Bildfaktoren in unter-schiedlichem Ausmaß auswirken.7 Ein zweiter Faktor in diesem Zusammenhangstellt die Lesedauer (2) dar. Müssen sich Leser über längere Zeit mit einemschlecht lesbaren Text auseinandersetzen, hat dies deutlich gravierendere Fol-

6 Vgl. Aarås, Arne, Gunnar Horgen u.a.: „Musculosceletal, visual and psychosocial stress inVDU operators before and after multidisciplinary ergonomic interventions“. In: AppliedErgonomics 29 (1998) H. 5, S. 335–354; Dillon, Andrew: „Reading from paper versus screens: acritical review of the empirical literature“. In: Ergonomics 35 (1992) H. 10, S. 1297–1326; Çakir,Ahmet, David.J. Hart u. Thomas F.M. Stewart: The VDT manual – ergonomics, workplace design,health and safety, task organization, Darmstadt 1979; Schlick u.a.: Visual Displays.7 Vgl. Tinker, Miles: The Legibility of Print. Ames 1963.

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gen für die Leseeffizienz, als wenn solche Texte nur über eine kurze Zeitspannegelesen werden müssen.8

Ein dritter kognitiv wirksamer Faktor ist die Lesemotivation (3) eines Nutzers,die maßgeblich die visuelle Performanz beeinflussen kann. Ein Text kann trotzeiner schlechten visuellen Gestaltung aus Sicht eines Viellesers ‚gut‘ lesbar sein,einfach deshalb, weil die hohe Lesemotivation die Effekte einer schlechtenLesbarkeit kompensieren kann. Zum vierten haben die Sinnhaftigkeit eines Tex-tes sowie Kontexteffekte (4) Einfluss auf die Leseeffizienz. Anhand des Sinn-zusammenhangs kann ein Text auch dann noch zufriedenstellen erschlossenwerden, wenn er hinsichtlich seiner Lesbarkeit schlecht gestaltet ist.9 Des Weite-ren kann die Präferenz für oder gegen ein Medium und seine hedonische Be-wertung10 durch den Nutzer mit entscheiden, wie gut und zufriedenstellend dasLesen bei unterschiedlichen Darstellungsmedien bewertet wird – man denkeetwa an einen Computerfreak und einen Buchliebhaber und ihre unterschied-lichen Medienpräferenzen. Schließlich sind in diesem Zusammenhang indivi-duelle Eigenschaften und Fähigkeiten der Lesenden zu nennen, wie beispiels-weise die vorhandene Lesefähigkeit, die Leseerfahrung, die Lesebegeisterung,visuelle Voraussetzungen, das Vorwissen oder auch intellektuelle Fähigkeiten.11

Man könnte voreiligen zum Schluss kommen, dass visuelle Bottom-up-Fak-toren (also die Darstellungsqualität der Texte auf elektronischen Medien an sich)für die Informationsentnahmeleistung von untergeordneter Bedeutung sind, dadie Leseeffizienz durch kognitive Funktionen des Lesenden (Top-down) beein-flusst und möglicherweise kompensiert werden können. So wissen wir aus eige-ner Erfahrung, dass wir selbst unter sehr eingeschränkten Bedingungen Informa-tionen mehr oder weniger rasch und fehlerfrei aufnehmen können (z.B. Leseneines spannenden Buchs im Dämmerlicht; Entziffern einer in einer kleinenSchrift abgedruckten Medikamentenbeschreibung auf Beipackzetteln). Anderer-seits lassen sich jedoch eine ganze Reihe alltäglicher Situationen anführen, diedeutlich machen, wie kritisch bestimmte Lesebedingungen für eine erfolgreicheund reibungslose Informationsentnahme sind, vor allem, wenn solche subopti-malen Lesegegebenheiten in Kombination oder für einen längeren Zeitraum vor-kommen. Solche Lesegegebenheiten finden sich in der realen Arbeitswelt rechthäufig und sind deshalb für eine leistungsoptimale Arbeitsumgebung von zent-raler Bedeutung, denkt man beispielsweise an die Schwierigkeiten, die Personen

8 Vgl. Ziefle, Martina: „Effects of display resolution on visual performance“. In: Human Factors40 (1998) H. 4, S. 554–568.9 Vgl. Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm. Münster 2002.10 Vgl. Holzinger, Baernthaler u.a.: „Investigating paper vs. Screen.“11 Vgl. Tinker: The Legibility.

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mit (altersbedingten) verringerten Sehfähigkeiten haben, die Informationen aufdem Mobiltelefon nur sehr schwer lesen können (kleine Displayfläche, kleinerSchrifttyp und suboptimaler Kontrast) oder aber Arbeitnehmerinnen, die überlängere Zeit Zahlenkolonnen an der elektronischen Supermarktkasse kontrollie-ren müssen (Aufgabe ohne Textzusammenhang, lange Expositionszeit und sub-optimaler Kontrast). Aus kognitiv ergonomischer Sicht ist es zentral zu verste-hen, welche Faktoren bei digitalen Medien zu berücksichtigen sind, unter wel-chen Bedingungen sie sich gegenseitig ausgleichen oder auch verstärken undwelche Bewertungsparameter unter welchen Darstellungsbedingungen sensitivsind.

2.1 Aufgabenanforderungen bei der Informationsentnahme

Will man die kognitive Belastung beim Lesen elektronischer Texte bewerten, istdie Identifikation der unterschiedlichen Aufgabenanforderungen essentiell. Diebei der Evaluation der Bildqualität digitaler Medien verwendeten Aufgaben sindunterschiedlich sensitiv für die Abschätzung der realiter vorhandenen Lesbarkeiteines Textes. Die in der Fachliteratur für die Abschätzung der Lesbarkeit einge-setzten Aufgabentypen umfassen einfache Erkennungsaufgaben (wenn bei-spielsweise ein falscher Buchstabe in einem Wort erkannt werden muss), Auf-gaben, in denen Information erinnert und wiedergegeben werden muss, undvisuelle Suchaufgaben bis hin zu (Korrektur-)Leseaufgaben.12

Der grundsätzliche Unterschied zwischen diesen Aufgabentypen ist das Vor-liegen eines Sinnzusammenhangs, eines semantischen Kontextes (wie beispiels-weise beim Korrekturlesen) im Gegensatz zu sinnfreien Aufgaben (z.B. beivisuellen Suchaufgaben, in der zuvor definierte Zeichen oder Elemente in einerSuchliste gefunden werden müssen). Diese Unterscheidung hat nicht nur Aus-wirkungen auf die Empfindlichkeit, mit der Effekte suboptimaler Lesebedingun-gen nachgewiesen werden können, sondern auch auf die Beurteilung der Reali-tätsnähe der Evaluation und der Generalisierbarkeit der Ergebnisse.

Werden zur Evaluation der visuellen Darstellungsqualität Aufgaben miteinem semantischen Kontext (Leseaufgaben) verwendet, sind die Befunde unddie Lesesituation „ökologisch valide“, d.h., sie weisen eine hohe Generalisier-barkeit auf realweltliche Anwendungsszenarien auf. Auf der anderen Seite sindsemantische Aufgaben nicht besonders sensitiv, um visuelle Degradierungsef-

12 Vgl. Schlick u.a.: Visual Displays; Ziefle: Effects of display resolution; Ziefle: Lesen amBildschirm.

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fekte nachzuweisen:13 Für geübte Leser stellt die Verarbeitung visueller Informa-tion ein über viele Jahre trainiertes und daher hoch überlerntes Verhalten dar,bei dem das Verständnis des Textes und die dadurch ermöglichte Top-down-Komponente suboptimale Bildfaktoren durch Lesestrategien überdecken kann,zumindest in kurzzeitigen Leseepisoden. Beim Korrekturlesen passiert es bei-spielsweise häufig, dass orthographische Fehler (ausgelassene, zusätzliche, ver-tauschte oder fehlende Buchstaben) nicht entdeckt werden, trotz mehrmaligemund ‚genauem‘ Lesens. Durch die starke Führung, die der Lesekontext und derSinn des Textes bietet, übersehen wir häufig Fehler und lesen stattdessen das‚richtige‘ Wort. Werden also zur Evaluation der visuellen Qualität Leseaufgabenmit sinnhaften Texten verwendet, kann es vorkommen, dass die Effekte dersuboptimalen Gestaltung des Textes und der (digitalen) Information nicht ent-deckt und damit unterschätzt werden.14

Für eine kritische Prüfung der visuellen Qualität und der Lesbarkeit digitaldargestellter Information sind dann sinnfreie Aufgaben angezeigt, wenn sievisuelle Suchaufgaben oder einfache Erkennungsaufgaben (visuelle Detektion)darstellen. Zwar muss bei einfachen Detektionsaufgaben grundsätzlich von einergeringeren Realitätsnähe ausgegangen werden. Sie eignen sich aber sehr gut zurPrüfung der visuellen Qualität einer Darstellung oder eines Darstellungsme-diums, da die Aufgabenbearbeitung eine sehr genaue Enkodierung visueller Text-merkmale erforderlich macht, die in sehr viel geringerem Ausmaß von kognitivenTop-down-Effekten profitieren kann.15

2.2 Maße für die Evaluation der Güte visuellerDarstellungsmedien

Um die Qualität einer visuellen Darstellung auf den Informationsentnahmepro-zess und die daraus resultierende Leseeffizienz zu beurteilen, wurden in deneinschlägigen Arbeiten eine ganze Reihe von Maßen und Indikatoren verwendet.Sie reichen von der Effektivität und Effizienz der Informationsentnahme bis hinzu einer Beurteilung der erlebten Anstrengung und visuellen Ermüdung bis hinzu qualitativen Maßen, wie beispielsweise die Beurteilung des Lesekomforts

13 Vgl. Ziefle: Effects of display resolution.14 Vgl. ebd.15 Vgl. Oetjen, Sophie, Martina Ziefle u. Thomas Gröger: „Work with visually suboptimaldisplays – in what ways is the visual performance influenced when CRT and TFT displays arecompared?“ In: Proceedings of the HCI International 2005. Vol. 4: Theories, Models andProcesses in Human Computer Interaction. St. Louis 2005.

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oder die Erfassung der Präferenz für ein Medium.16 Die verwendeten Indikatorenlassen sich grundsätzlich in Maße der globalen oder lokalen Verhaltensebeneeinteilen.

2.2.1 Globale Maße

Als globale Verhaltensindikatoren wird die Leseeffizienz oder auch die visuellePerformanz bezeichnet. Sie wird anhand der Geschwindigkeit (Wörter pro Minute,Sekunden pro Zeile oder Normseite) und der Genauigkeit (Anzahl richtig ent-deckter Fehler, Verhältnis richtig wiedergegebener Information, Prozentsatz rich-tig identifizierter Zielreize, je nach Aufgabe) des Informationsentnahmeprozessesfestgestellt. Die Beurteilung der Geschwindigkeit kann nur bei gleichzeitiger Be-trachtung der Genauigkeit der Informationsentnahme sinnvoll interpretiert wer-den. Die Tatsache, dass sich beide Parameter beeinflussen und die Geschwindig-keit zugunsten der Genauigkeit (oder umgekehrt) vernachlässigt wird, beschreibtman mit dem Ausdruck Geschwindigkeits-Genauigkeits-Austausch (engl. „speed-accuracy trade off“).17 Unter suboptimalen visuellen Darstellungsgegebenheiten(beispielsweise bei niedrigem Leuchtdichtekontrast an elektronischen Medien)kann es – vor allem bei längeren Expositionszeiten – vorkommen, dass Geschwin-digkeit und Genauigkeit nicht über die gesamte Zeit auf einem konstant hohenNiveau beibehalten werden können, sondern dass der eine oder andere Indikatorzugunsten des anderen vernachlässigt wird. Speed-Accuracy-Trade-offs könneninnerhalb einer Leseperiode variieren (im Verlauf einer längeren Leseperiodewird die Lesestrategie gewechselt); sie spiegeln aber auch persönliche Lesestilewider. So konnte gezeigt werden, dass ältere Leser eher dazu neigen, die Lesege-nauigkeit auf einem konstant hohen Level beizubehalten, während die Lesege-schwindigkeit über die Zeit abnimmt.18 Um eine ganzheitliche Betrachtung desLeseverhaltens zu erreichen, sind beide Indikatoren, Geschwindigkeit und Ge-nauigkeit, miteinander in Beziehung zu setzen.

So plastisch eine Veränderung der Leseeffizienz in Abhängigkeit von dervisuellen Qualität der Informationsdarstellung auch sein mag, sie gibt nur darü-ber Auskunft, ob und in welchem Ausmaß sich bestimmte Bedingungen derInformationsdarstellung auswirken. Sie lassen jedoch keine Aussage darüber zu,

16 Vgl. Schlick u.a.: Visual Displays.17 Vgl. Pachella, Robert: „The interpretation of reaction time in information processingresearch“. In: Human information processing. Hg. v. Daniel Kantowitz. Potomac, Md. 1974,S. 41–82.18 Vgl. Oetjen, Ziefle u. Gröger: Work with visually suboptimal displays.

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welche detaillierten Prozesse der Informationsentnahme für die Leistungsver-schlechterung verantwortlich sind. In diesem Kontext spielt die Messung vonAugenbewegungen eine maßgebliche Rolle, anhand derer eine raumzeitliche De-tailanalyse des Informationsentnahmeprozesses vorgenommen werden kann.19

2.2.2 Lokale Maße

Während des Lesens führen die Augen ruckartige Bewegungen (Augensprünge,sogenannte Sakkaden) in Leserichtung aus, um neue Textinformation in denschärfsten Bereich unserer Augen (Fovea centralis, auf der Netzhaut des Auges)zu rücken. Sakkaden gehören zu den schnellsten Bewegungen unseres Körpers.Normale Inspektionssakkaden beim Lesen dauern zwischen 20 und 80 Millise-kunden und sind annähernd proportional zu ihrer Amplitude (entspricht derSakkadenlänge). Die Amplitude von Lesesakkaden umfasst ungefähr 7–9 Buch-stabenpositionen (je nach Textschwierigkeit und Fontgröße). Sakkaden werdenvon kurzen Pausen unterbrochen, in denen sich das Auge nicht bewegt (Fixatio-nen). Typische Fixationszeiten beim Lesen dauern – wieder in Abhängigkeit vonder Textschwierigkeit und den visuellen Gegebenheiten – im Mittel zwischen200 und 500 Millisekunden. Gewöhnlich werden Informationen nur während derFixationen aufgenommen, während des sakkadischen Blickwechsels bestehteine funktionelle Blindheit. Jenseits der Sakkaden, die während des Lesens inLeserichtung ausgeführt werden, werden auch rückwärtsgerichtete Sakkaden –also solche gegen die Leserichtung – beobachtet (sogenannte Regressionen).Hier wird zu bereits durchmusterten bzw. gelesenen Passagen im Satz zurückge-blickt. Regressionen werden als Korrekturbewegungen des Augenbewegungs-systems interpretiert, die umso häufiger auftreten, je schlechter die visuellenGegebenheiten sind und je schwieriger der zu lesende Text ist. Das gehäufte

19 Vgl. Owens, D Alfred u. Karen Wolf-Kelly: „Near work, visual fatigue, and variations ofoculomotor tonus“. In: Investigative Ophthalmology and Visual Science 28 (1987) H. 4, S. 743–749; Iwasaki, Tsuneto u. Shinji Kurimoto: „Eye-strain and changes in accomodation of the eyeand in visual evoked potential following quantified visual load“. In: Ergonomics 31 (1988) H. 12,S. 1743–1751; Jaschinski, Wolfgang, Matthias Bonacker u. Ewald Alshuth: „Accommodation,convergence, pupil and eye blinks at a CRT-display flickering near fusion limit“. In: Ergonomics(1996) H. 19, S. 152–164; Best, P. Scot, Matthew Littleton u.a.: „Relations between individualdifferences in oculomotor resting states and visual inspecting performance, and reports ofvisual fatigue“. In: Ergonomics 39 (1996) H. 1, S. 35–40; Piccoli, Bruno, Marco D’Orso u.a.:„Observation distance and blinking rate measurement during on-site investigation“. In:Ergonomics 44 (2001) H. 6, S. 668–676; Ziefle: Effects of display resolution;

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Auftreten von Regressionen kann auch den Ermüdungs- bzw. Konzentrationszu-stand einer Person kennzeichnen.20

In Abhängigkeit von typographischen Merkmalen, der Textschwierigkeitund der Güte der visuellen Lesebedingungen zeigt sich eine Veränderung desAugenbewegungsverhaltens. Bei suboptimaler Darstellung – beispielsweise beieinem schlechten Zeichenkontrast, bei einer ungenauen Auflösung (Abbildungs-bzw. Konturschärfe eines Zeichens) oder bei ungenügender Beleuchtung – wer-den mehr und kleinere Sakkaden ausgeführt, in Kombination mit einer signifi-kanten Verlängerung der Fixationszeiten.21 Ebenfalls kommt es unter suboptima-len visuellen Gegebenheiten zu einer erhöhten Ungenauigkeit der Sakkade beimZeilenwechsel. Bei engen Zeilenabständen in Verbindung mit kleinen Schrift-größen kommt es vor, dass beim Zeilenrücksprung der Beginn der neuen Zeile invertikaler Richtung verfehlt wird und das Auge in eine falsche Zeile rutscht,22

was zu einer Unterbrechung des Leseprozesses führt und in der Regel vonKorrekturbewegungen begleitet wird. Jenseits der Analyse sakkadischer Augen-bewegungen wurden als weitere okulomotorische Indikatoren Veränderungender Pupillen, Vergenzbewegungen,23 Blinzelraten oder auch die Komplexitätvisueller Suchpfade analysiert.24 Der bei einer nicht optimalen visuellen Dar-stellung auftretende höhere Aufwand des Augenbewegungsapparates wird alsphysische Basis für visuelle Ermüdungsphänomene betrachtet.25

Eine weitere Möglichkeit, Effekte der Darstellungsqualität visueller Medienzu erfassen, ist die Erfassung von Nutzerurteilen, beispielsweise hinsichtlich derwährend des Lesens entstandenen visuellen Ermüdung. Mit visueller Ermüdungwird ein Symptomkomplex bezeichnet, der auf das subjektiv beurteilte Auftretenbrennender, trockener, schmerzender und/oder tränender Augen basiert. Eben-

20 Vgl. Ziefle: Lesen am Bildschirm.21 Vgl. Baccino, Thierry: „Exploring the flicker effect: the influence of in-flight pulsations onsaccadic control“. In: Ophthalmologic and Physiological Optics 19 (1999) H. 3, S. 266–273;Ziefle: Effects of display resolution; Ziefle, Martina: „CRT screens or TFT displays? A detailedanalysis of TFT screens for reading efficiency“. In: Usability evaluation and interface design. Hg.v. Michael Smith, Gavriel Salvendy, Don Harris u. Richard Koubek. Mahwah 2001a, S. 549–553;Ziefle, Martina: „Aging, visual performance and eyestrain in different screen technologies“. In:Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society 45th annual meeting. Santa Monica2001, S. 262–266.22 Vgl. Ziefle: Aging.23 Bei Vergenzbewegungen verschieben sich die Augachsen horizontal relativ zueinander bzw.relativ zur Mitte der Blickrichtung.24 Vgl. Schlick u.a.: Visual Displays.25 Vgl. Wilkins, Arnold, Ian Nimmo-Smith u.a.: „A neurological basis for visual discomfort“. In:Brain (1984) H. 107, S. 989–1017.

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falls damit in Zusammenhang steht die Beobachtung, dass der Text vor denAugen verschwimmt, die Buchstaben unscharf werden und die Leser das Gefühlerhöhten Augendrucks haben und vermehrt blinzeln müssen.26 Nutzerurteilestellen eine wertvolle Ergänzung zur Messung der visuellen Performanz undspiegeln einen nützlichen Zugang zur Beurteilung der visuellen Qualität einesDarstellungsmediums sowie der Nutzerakzeptanz wider.27 Einschränkend mussjedoch angemerkt werden, dass die Validität von Nutzerurteilen im Hinblick aufdie alleinige Beurteilung der visuellen Qualität des Mediums nicht ausreicht.Zum einen unterscheiden sich Nutzer in ihrer Sensitivität für visuelle Ermü-dung,28 zum anderen ist nicht ohne Einschränkung davon auszugehen, dass alleNutzer bereit sind, solche Ermüdungseffekte zuzugeben und solche Urteile häu-fig als Eingeständnis von Schwäche missverstehen (wiederum tritt dies insbeson-dere bei älteren Nutzern auf, die im Experiment ihre hohe Bereitschaft zurMitarbeit zeigen möchten und möglicherweise alterskorrelierte Sehbeeinträchti-gungen oder Ermüdungserscheinungen nicht angeben).29 Drittens verläuft dieEntstehung visueller Ermüdungssymptome nicht notwendigerweise symmetrischzu einer messbaren Veränderung der Leseeffizienz.30 Um eine ganzheitliche Ab-bildung des Lesekomforts und die Güte der digital dargestellten Information zuerhalten, ist es deshalb notwendig, die visuelle Qualität von Darstellungsmedienanhand objektiver und subjektiver Messungen vorzunehmen.

26 Vgl. Piccoli u.a.: Observation distance; Hung, George K., Kenneth J. Ciuffreda, u. JohnL. Semmlow: „Static vergence and accomodation: population norms and orthopic effects“. In:Documenta Ophthalmologica (1986) H. 62, S. 165–179; Owens u. Wolf-Kelley: Near Work.27 Vgl. Oetjen u. Ziefle: The effects of LCD anisotropy.28 Vgl. Wolf, Ernst u. Angela M. Schraffa: „Relationship between critical flicker frequency andage in flicker perimetry“. In: Archives of Ophthalmology (1964), H. 72, S. 832–843.29 Vgl. Oetjen u. Ziefle: The effects of LCD anisotropy.30 Vgl. Chen, Ming-Te u. Chin-Chiuan Lin: „Comparison of TFT-LCD and CRT on visualrecognition and subjective preference“. In: International Journal of Industrial Ergonomics 34(2004) H. 3, S. 167–174; Lin, Yu-Ting, Po-Hung Lin u.a.: „Investigation of legibility and visualfatigue for simulated flexible electronic paper under various surface treatments and ambientillumination conditions“. In: Applied Ergonomics 40 (2009) H. 5, S. 922–928; Yeh, Yei-Yu u.Christopher D. Wickens: „Why do performance and subjective workload measures dissociate?“In: Proceedings of the 28th Annual meeting of the Human Factors Society. Santa Monica 1984,S. 504–508; Howarth, Peter Alan u. Howell O. Istance: „The association between visualdiscomfort and the use of visual display units“. In: Behaviour Information Technology (1985) H.4, S. 131–149.

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2.3 Textfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Leseeffizienz

2.3.1 Schrifttyp

Auch Textfaktoren bestimmen in starkem Ausmaß die kognitiven Anforderungenbei der Informationsverarbeitung. Der Schrifttyp ist ein Textparameter, der in derRegel nur einen schwachen Effekt auf die Lesbarkeit hat, es sei denn, es werdensehr ungebräuchliche Schrifttypen verwendet.31 Insgesamt scheint es hinsichtlichder Lesbarkeit auf Papier eine Überlegenheit von Serifenschriften (z.B. Times) imVergleich zu serifenlosen Schriften (z.B. Helvetica) zu geben. Die Überlegenheitder Serifen32 wird darauf zurückgeführt, dass durch die Serifen geschlossenereund prägnante Buchstaben- und Wortgestalten entstehen, die die Lesbarkeiterleichtern. Bei digitaler Darstellung konnte die Überlegenheit von Serifenschrif-ten gegenüber serifenlosen Schriften nicht nachgewiesen werden.

Kursivschrift ist, wenn sie nicht nur zur Hervorhebung einzelner Satzteileverwendet wird, im Vergleich zu einer nicht-kursiv gesetzten Schrift schlechterlesbar.33 Texte, die ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben sind, werdenum 11,8% langsamer gelesen.34 Dadurch, dass alle Buchstaben gleich groß sind,entfallen die leseunterstützenden Hinweise auf Wortform, Wortart und Positionim Satz (Top-down-Effekte), was die Orientierung im Text nachhaltig er-schwert.35 Obwohl für die Fettdruckschreibweise keine Nachteile in der Lese-effizienz gefunden wurden, zogen 70% der Probanden die Normalschreibweisegegenüber dem Fettdruck vor.36

2.3.2 Schriftgröße und Zeilenlänge bzw. Zeilenabstand

Im Hinblick auf die Schriftgröße wurde die höchste Leseeffizienz bei Schrift-größen von 10 Punkten (3,55 mm) und der von den Probanden am höchstenbeurteilte Lesekomfort bei einer Schriftgröße von 11 Punkten gefunden. Hier

31 Vgl. Tinker: The Legibility.32 Als Serifen bei einer Schrift werden die geschwungenen bzw. rechteckigen Enden derStriche bezeichnet.33 Vgl. Tinker: The Legibility; Ziefle: Lesen am Bildschirm.34 Vgl. Morrison, Robert u. Albrecht Inhoff: „Visual factors and eye movements in reading“. In:Visible Language, 15 (1981), S. 129–146.35 Vgl. Tinker: The Legibility; für einen Überlick Morrison u. Inhoff: Visual factors.36 Vgl. Wendt, Dirk: „Lesbarkeit von Druckschriften“. In: Schrifttechnologie. Hg. v. Peter KarowS. Berlin: Springer 1992, S. 271–306.

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waren, im Vergleich mit kleineren (8 und 9 Punkt) und größeren Schriftgrößen(12 Punkt) ein effizienteres Augenbewegungsverhalten (weniger und kürzereFixationen) zu verzeichnen. Die optimale Zeilenlänge und der Zeilenabstandhängen von der Buchstabengröße ab.37 Für eine 10-Punkt-Schrift werden Zeilen-längen von 6,5 cm und einem Zeilenabstand zwischen 0,7 und 1,3 mm empfoh-len. Eine zusätzliche Vertikaltrennung von 2 Punkten erhöhte die Lesbarkeit allerSchriften. Im Hinblick auf den Buchstabenabstand zeigt sich, dass bei Lese-aufgaben ein enger Schriftsatz dem weiteren überlegen ist. Die enggesetzteSchrift führt zu einem ökonomischeren Augenbewegungsverhalten, bei dem miteiner Fixation mehr Information aufgenommen werden kann. Bei sinnfreienAufgaben, wie beispielsweise bei der Durchmusterung sinnloser Buchstabenket-ten, bringt ein erweiterter Buchstabenabstand die bessere Informationsentnah-meleistung. Wenn also einzelne Buchstaben aus einem „Hintergrund“ herausge-löst werden müssen, dann ist ein weiter Buchstabenabstand einem engerenüberlegen.38

Ein zentraler Faktor für die Lesbarkeit ist darüber hinaus die Bildschirm-größe bzw. das Sichtfenster und die darauf darstellbare Menge an Information inVerbindung mit der Buchstaben- bzw. Fontgröße.39 Je kleiner die Schrift und jemehr Text auf kleiner Bildschirmfläche dargestellt wird, desto gravierenderfallen die Einbußen in der Informationsentnahmeleistung aus (visuelle Maskie-rung).

2.4 Bildfaktoren und ihre Auswirkungen auf die Leseeffizienz

Drei zentrale Bildfaktoren spielen bei der Informationsdarstellung auf elektron-ischen Medien eine zentrale Rolle: Die Bildauflösung, die Bildwiederholfrequenz(das Bildschirmflimmern) und der Helligkeitskontrast auf einem Medium. Effekte

37 Vgl. Tinker: The Legibility. Heller, Dieter: „Typographical factors in reading“. In: EyeMovements: From Physiology to Cognition. Hg. v. Kevin O’ Reagon, Ariane Levy-Schoen. North-Holland 1987, S. 487–498.38 Vgl. Morrison u. Inhoff: Visual factors.39 Vgl. Duncan, John u. Glenn Humphreys: „Visual search and stimulus similarity“. In:Psychological Review 96 (1989) H. 3, S. 433–458; Ziefle, Martina, Olaf Oehme u. Holger Luczak:„Information presentation and visual performance in head-mounted displays with augmentedreality“. In: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 59 (2005) H. 3–4, S. 331–344; Ziefle, Martina:„Instruction format and navigation aids in mobile devices“. In: Usability and Human ComputerInteraction for Education and Work. Hg. v. Andreas Holzinger. Berlin 2008, S. 339–358; Ziefle,Martina: „Information presentation in small screen devices: The trade-off between visualdensity and menu foresight“. In: Applied Ergonomics 41 (2010) H. 6, S. 719–730.

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der Bildwiederholfrequenzen sind an heutigen Flachbildschirmen (LCD-Techno-logie) nicht mehr vorhanden, sondern waren ein bauartbedingtes Merkmal vonKathodenstrahlröhren, die heutzutage fast vollständig aus den Arbeitsräumenverschwunden sind. Um jedoch zeigen zu können, wie stark sich bildschirmbe-dingte Faktoren auf die Informationsentnahme auswirken, werden – aus Voll-ständigkeitsgründen – Effekte der Bildwiederholfrequenz auf die Informations-entnahmeleistung berücksichtigt.

2.4.1 Bildauflösung

Technisch gesprochen, versteht man unter der Auflösung eines Displays dieAnzahl der Pixel pro Raumeinheit (dots per inch, dpi), mit denen Buchstabenund Objekte auf einem elektronischen Medium dargestellt werden können. Auspsychophysischer bzw. kognitiv-ergonomischer Sicht ist das perzeptuelle Korre-lat der Bildauflösung die wahrgenommene Konturschärfe eines Zeichens und dieKlarheit, mit der Buchstaben, Texte oder Objekte gegenüber dem Bildschirmhin-tergrund wahrgenommen werden können. Je höher die Bildauflösung, je höheralso die Anzahl der Pixel, aus denen Buchstaben bestehen, desto kleiner sinddie Buchstaben und desto mehr Information kann auf einer gegebenen Bild-schirmfläche dargestellt werden. Dies mag auf der einen Seite vorteilhaft sein,besonders auf Miniaturdisplays (wie bei Mobiltelefonen), bei denen das Sicht-fenster begrenzt ist, da relativ zur kleinen Bildschirmfläche viel Informationdargestellt werden kann. Andererseits ist dies aus wahrnehmungspsychologi-scher Sicht kontraproduktiv, da die dargestellten Informationen klein sind unddie Informationsentnahme erschwert wird, weshalb sich eine höhere Bildschir-mauflösung nur dann positiv auf die Informationsentnahme auswirkt, wenn derGrößennachteil bei hohen Auflösungen entsprechend kompensiert wird.40 Expe-rimentelle Untersuchungen zur Auflösung zeigen, dass sich hohe Bildauflösun-gen positiv auf die Informationsentnahmeleistung auswirken.

Abbildung 1 zeigt Effekte unterschiedlicher Bildauflösungen (60 und 90 dpi)auf die Leseleistung im Vergleich zum Lesen auf Papier. Dargestellt sind auf derrechten Seite die Lesegeschwindigkeit (Wörter pro Minute) in Korrekturleseauf-gaben, auf der linken Seite die Korrekturlesegenauigkeit. Deutlich wird, dasselektronisch dargestellte Information unabhängig von der erreichten Bildaus-lösung nicht an die Leseleistung auf Papier heranreichen.

40 Miyao, Masaru, Selim Hacisalihzade u.a.: „Effects of VDT resolution on visual fatigue andreadability: an eye movement approach“. In: Ergonomics 32 (1989) H. 6, S. 603–614.

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Abb. 1: Links: Effekte der Bildauflösung auf die Lesegeschwindigkeit im Vergleich zu Papier;rechts: Effekte der Bildauflösung auf die Lesegenauigkeit

Effekte der Bildauflösung zeigen sich jedoch nicht nur in Korrekturleseaufgaben,sondern sind auch in visuellen Suchaufgaben (Abb. 2) beobachtbar, bei denendie Probanden in sinnfreien Buchstabenreihen nach zuvor definierten Zielbuchs-taben zu suchen hatten.

Die Verbesserung der Leistung in visuellen Suchaufgaben bei jungen Erwach-senen betrug 20% bei einer Bildauflösung von 90 dpi gegenüber einer Kontroll-bedingung mit 60 dpi (Abb. 2). Die Verbesserung der Leseleistung basierte dabeiauf einer sehr viel effizienteren Augenbewegungskontrolle. Die Fixationszeitenwaren um 11% reduziert und es wurden darüber hinaus 5% weniger Sakkadenpro Zeile ausgeführt.41 Überdies waren die beurteilten visuellen Ermüdungssymp-tome signifikant stärker in der Bedingung mit der niedrigen Auflösung (60 dpi) imVergleich mit der hochauflösenden Bedingung (90 dpi). Je länger die Probandendie Suchaufgaben in der Bedingung mit der niedrigen Auflösung bearbeiteten,desto stärker fielen die visuellen Ermüdungssymptome aus. Die visuelle Ermü-dung war zudem ungleich stärker, je länger die Probanden unter der schlechtenAuflösungsbedingung arbeiten mussten.42

Aus Abbildung 2 wird deutlich, dass nicht nur die Suchgeschwindigkeit inAbhängigkeit von der Bildschirmauflösung variiert, sondern auch, in welchenokulomotorischen Parametern die Informationsentnahme durch suboptimaleAuflösungen beeinträchtigt ist.

41 Ziefle: Effects of display resolution.42 Vgl. Huang, Ding-Long, Pei-Luen Patrick Rau u. Ying Liu: „Effects of font size, displayresolution and task type on reading Chinese fonts from mobile devices“. In: InternationalJournal of Industrial Ergonomics (2009) H. 39, S. 81–89; Ziefle: Effects of display resolution.

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Abb. 2: Links: Effekte der Bildauflösung auf die Suchgeschwindigkeit; Mitte: Effekte derBildauflösung auf die Fixationsdauer; rechts: Effekte der Bildschirmauflösung auf die Anzahlder pro Zeile ausgeführten Sakkaden

2.4.2 Bildwiederholfrequenz

Ein zweiter – nur für Kathodenstrahlröhren charakteristischer Faktor – ist die ,Bildwiederholfrequenz‘, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Bild mehrmalsin der Sekunde aufgebaut wird (Hertz, Hz) und das in einer mehr oder wenigerausgeprägten Flimmersensation resultiert. Das Bildschirmflimmern wurde inseiner Wirkung auf die Informationsentnahmeleistung häufig untersucht.43

Lesen von einem Bildschirm mit einer niedrigen Bildwiederholfrequenz (50Hz) ist extrem belastend für den Lesenden und erhöht das Risiko für die Ent-stehung visueller Beschwerden, selbst nach nur kurzen Leseperioden (von untereiner halben Stunde). Mit steigender Bildwiederholfrequenz (>70 Hz) nimmt diewahrgenommene Flimmerwirkung ab, aber natürlich besteht die intermittieren-de Beleuchtung und der Bildschirmaufbau auch bei höheren Bildwiederholfre-quenzen und beeinträchtigt die Leseleistung. Interessanterweise zeigt sich keinelineare Verbesserung bei höheren Bildwiederholfrequenzen (140 Hz), sondernwieder eine Verschlechterung, was auf einen kurvenlinearen Verlauf zwischenvisueller Leistung und der Höhe der Bildwiederholfrequenz hindeutet.44 Dieszeigt, dass die visuelle Leistung tatsächlich eine Funktion der physikalischenund nicht der wahrgenommenen Beeinträchtigung darstellt.

43 Vgl. Menozzi, Marino, Felicitas Lang u.a.: „CRT versus LCD: effects of refresh rate, displaytechnology and background luminance in visual performance“. In: Displays 22 (2001) H. 3,S. 79–85; Wolf u. Schraffa: Relationship; Jaschinski, Bonacker u. Alshuth: Accommodation,convergence.44 Vgl. Ziefle: CRT screens.

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2.4.3 Leuchtdichte und Kontrast

Der dritte markante Bildfaktor, der die visuelle Leistung an digitalen Medienbeeinflusst, ist die Leuchtdichte und der Kontrast zwischen Zeichen und Bildhin-tergrund.45 Der Kontrast stellt immer ein Verhältnis zwischen zwei unterschied-lichen Leuchtdichteverteilungen dar (Buchstaben/Hintergrund). Niedrige Kont-raste führen zu beträchtlichen Leseeinbußen in der Größenordnung von 10–20%. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass Kontrastangaben (wie z.B. 1:10) zwaranzeigen, dass das Zeichen zwar zehn Mal heller ist im Vergleich zum Bildhinter-grund, jedoch aber keine Angaben darüber zulassen, welche absoluten Hellig-keiten bzw. Leuchtdichten in das Kontrastverhältnis eingeflossen sind. Hiermüssen also noch zusätzliche Informationen über die absolute Helligkeit einge-holt werden.

2.4.4 Darstellungspolarität

Neben dem Leuchtdichtekontrast, der durch die unterschiedlichen Helligkeitenzwischen Text und Bildhintergrund entsteht, sind weitere Beleuchtungsfaktorenvon Bedeutung. Ein solcher Faktor stellt zum einen die Polarität der Darstellungdar, also die Frage, ob weiße Buchstaben auf dunklem Untergrund oder dunkleBuchstaben auf hellem Untergrund gelesen werden müssen. Im Allgemeinengilt, dass Darstellungen mit positiver Polarität (dunkle Buchstaben auf hellemUntergrund) zu einer besseren Leseleistung führen im Vergleich zu Negativdar-stellungen.46 Die Überlegenheit der positiven über die negative Polarität istnicht auf unterschiedliche Kontrastverhältnisse zurückführbar. Denn derLeuchtdichtekontrast ist bei beiden Polaritäten identisch – gehen doch diesel-ben Helligkeiten des Zeichens und des Hintergrundes in die Kontrastberech-nung ein. Die Überlegenheit der Leistung bei positiver Polarität wird auf die

45 Vgl. Van Schaik, Paul u. Jonathan Ling: „The effects of frame layout and differentialbackground contrast on visual search performance in web pages“. In: Interacting withComputers (2001) H. 13, S. 513–525; Ziefle, Martina, Thomas Gröger u. Dietmar Sommer: „Visualcosts of the inhomogeneity of contrast and luminance by viewing TFT-LCD screens off-axis“. In:International Journal of Occupational Safety and Ergonomics 9 (2003) H. 4, S. 507–517; Oetjen,Ziefle u. Gröger: Work with visually suboptimal displays; Schlick u.a.: Visual Displays.46 Vgl. Bauer, Dieter u. Carl Richard Cavonius: „Improving the legibility of visual display unitsthrough contrast reversal“. In: Ergonomic aspects of visual display terminals. Hg. v. EtienneGrandjean u. Enrico C. Vigliani. London 1980, S. 137–142; Buchner, Axel, Susanne Mayr u.Martin Brandt: „The advantage of positive text-background polarity is due to high displayluminance“. In: Ergonomics 52 (2009) H. 7, S. 882–886.

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einfache Tatsache zurückgeführt, dass das menschliche Auge über Licht integ-riert und die relative Verfügbarkeit an Beleuchtungsstärke bei hellem Unter-grund höher ist als bei dunklem Untergrund. Die Darstellung digitaler Informa-tion in positiver Polarität ist mit der hellen Umgebung in Arbeitsräumen kompa-tibel. Hingegen muss bei Negativdarstellungen das Auge bei Blickwechseln vomBildschirm auf die Umgebung umadaptieren, was mit visuellen Ermüdungser-scheinungen einhergeht.

2.4.5 Umgebungsbeleuchtung

Daneben spielt die Umgebungsbeleuchtung des Raumes eine zentrale Rolle.47

Bei selbstleuchtenden Medien verringert eine helle Umgebungsbeleuchtung denZeichenkontrast (durch überlagernde Beleuchtungscharakteristiken), in abge-dunkelten Räumen ist der Zeichenkontrast maximal.48 Aber auch hier stellensich schnell negative Effekte auf die Leseleistung ein.49 Ist der Kontrast zwischenUmgebungsbeleuchtung und Bilduntergrund auf elektronischen Medien zu groß,stellt sich Kontrastblendung ein.50

2.4.6 Anisotropie

Gerade bei der Darstellung digitaler Information auf LCD-Bildschirmen spielender Kontrast zwischen Zeichen und Hintergrund und die Leuchtdichte eine zent-

47 Vgl. Shen, I-Hsuan, Kong-King Shieh u.a.: „Lighting, font style, and polarity on visualperformance and visual fatigue with electronic paper displays“. In: Displays 30 (2009) H. 2,S. 53–58; Shieh, Kong-King u. Chin-Chiuan Lin: „Effects of screen type, ambient illumination,and color combination on VDT visual performance and subjective preference“. In: InternationalJournal of Industrial Ergonomics 26 (2000) H. 5, S. 527–536; Wang, An-Hsiang, Hui-Tzu Kuo u.Shie-Chang Jeng: „Effects of ambient illuminance on users’ visual performance using variouselectronic displays“. In: Journal of the Society for Information Displays 17 (2009) H. 8, S. 665–669.48 Vgl. Sheedy, James E.: „Office Lighting for Computer Use“. In: Visual Ergonomics Handbook.Hg. v. Jeffrey Anshel. Boca Raton 2005, S. 37–51.49 Vgl. Kokoschka, Siegfried u. Peter J. Haubner: „Luminance ratios at visual displayworkstations and visual performance“. In: Lighting Research Technology 17 (1986) H. 3,S. 138–144.50 Vgl. Kubota, Satoru: „Effects of Reflection Properties of Liquid-Crystal Displays onSubjective Ratings of Disturbing Reflected Glare“. In: Journal of Light Visual Environment (1997)H. 21, S. 33–42; Schenkman, Bo, Tadahiko Fukuda u. Bo Persson: „Glare from monitorsmeasured with subjective scales and eye movements“. In: Displays 20 (1999) H. 1, S. 11–21.

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rale Rolle.51 Zwar hat diese Bildschirmtechnologie einen enormen Fortschritt inder Darstellungsqualität gebracht (durch den Verzicht auf Bildwiederholfrequen-zen). Allerdings hat die LCD-Darstellung ebenfalls einen charakteristischenNachteil. Die elektronisch dargestellte Information ist nur dann ‚perfekt‘ sicht-bar, wenn Nutzer sich direkt vor dem Bildschirm befinden und zentral auf dieBildschirmmitte blicken. Wann immer diese zentrale Blickposition nicht einge-nommen werden kann (wie dies in realen Nutzungssituationen recht häufig derFall ist), nimmt die Sichtbarkeit der Bilddarstellung ab (Abb. 3).

Abb. 3: Beispiel für einen Arbeitsplatz in einer Verkehrsleitzentrale. Die Bildschirmarbeitersitzen vor mehreren Monitoren und sind durch unterschiedliche Betrachtungswinkel aufverschiedene Bildschirme mit Effekten der Anisotropie konfrontiert.

Diese der LCD-Bildschirmtechnologie eigene Charakteristik nennt sich Anisotro-pie.52 Ein Display ist anisotrop, wenn Leuchtdichte und Kontrast um mehr als10% zwischen dem zentralen und dem seitlichen Betrachtungswinkel variieren(ISO 13406‑2 2001). Diese Schwankungen liegen in den photometrischen Eigen-schaften der Technologie begründet. Leuchtdichte und Kontrast sind bei LCD-Monitoren nicht konstant über der Bildschirmoberfläche, sondern sie nehmenmit ansteigendem seitlichen Betrachtungswinkel ab.53

51 Vgl. Hollands, Justin G., Herbert Parker u.a.: „LCD versus CRT Displays: A Comparison ofvisual search performance for colored symbols“. In: Human Factors 44 (2002) H. 2, S. 210–221;Ziefle, Gröger u. Sommer; Visual costs; Oetjen, Sophie u. Martina Ziefle: „Effects of anisotropyon visual performance regarding different font sizes“. In: Work with computing systems. Hg. v.Halimahtun M. Khalid, Martin G. Helander u. Alvin Yeo. Kuala Lumpur 2004, S. 442–447;Oetjen, Sophie u. Martina Ziefle: „A visual ergonomic evaluation of different screentechnologies“. In: Applied Ergonomics (2009) H. 40, S. 69–81.52 Altgriechisch bedeutet Anisotropie „nicht an allen Stellen gleich“.53 Vgl.Ziefle, Gröger u. Sommer: Visual costs.

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Die Schwankungen der photometrischen Werte bei anisotropen Bildschir-men sind beträchtlich. Die empirisch quantifizierten Kontrast- und Leuchtdichte-veränderungen bei verschiedenen Bildschirmen in Abhängigkeit vom Betrach-tungswinkel sind in Abbildung 4 dargestellt.

Abb. 4: Veränderungen von Leuchtdichten und Kontrast als Funktion des Betrachtungswinkelsbei verschiedenen Bildschirmtypen

Visuell ergonomische Untersuchungen zur Leseleistung zeigen, dass die durchAnisotropie verursachten Kontrastvariationen über der Bildschirmoberfläche zunachweisbaren und beachtlichen Leistungseinbußen führen können.54 Bei jun-gen Erwachsenen liegen die durch Anisotropie verursachten Performanzeinbu-ßen zwischen 10 und 20%. Effekte der Anisotropie lassen sich jedoch nicht nurbei jungen Erwachsenen beobachten, sondern sind bei Nutzern aller Altersgrup-pen grundsätzlich beobachtbar (Abb. 5). Sie zeigen sich besonders ausgeprägtbei Jugendlichen zwischen 10 und 16 Jahren und bei Erwachsenen mittleren undhöheren Alters (40–60 Jahre).

54 Vgl. Oetjen u. Ziefle: The effects of LCD anisotropy; Oetjen u. Ziefle: A visual ergonomicevaluation.

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Abb. 5: Links: Anisotropieeffekte auf die Erkennungsgeschwindigkeit in visuelle Suchaufgabenam Kathodenstrahlmonitor (links) und LCD (rechts). Dargestellt sind Leistungskurven inAbhängigkeit verschiedener Blickpositionen in drei Altersgruppen.

Obwohl Notebook-Computer inzwischen stationäre Rechner und Bildschirmenahezu ersetzt haben,55 muss als visuell ergonomischer Nachteil konstatiert wer-den, dass die Anisotropie an den Bildschirmen mobiler Computer stärker ausge-prägt ist. Dies hat damit zu tun, dass andere LCD-Technologien bei mobilenComputern aufgrund des im Vergleich zu stationären Computerbildschirmenerhöhten Energiebedarfs56 verwendet werden. Experimentelle Untersuchungenzur visuellen Leistung belegen die stärkere Anfälligkeit von Notebook-Computerim Hinblick auf anisotropiebedingte Leistungseinbußen.57

Unter einer solchen kritischen Prüfung der visuellen Leistung erweist sichder Notebook-Computer als das Medium, an dem die visuelle Leistung im Ver-gleich zu einem stationären Kathodenstrahlmonitor und einem LCD-Monitor amschwächsten ausfällt. Dies zeigt sich sowohl in der Zeit, die Probanden benöti-

55 Vgl. Kirsch, Christian: „Laptops als Ersatz für Desktop-PCs. Überall im Büro [Laptops as areplacement for desktop PCs. The office is everywhere]”. In: iX (2004) H. 12, S. 40–45; King,Christopher N.: „Electroluminescent displays, SID 96 Seminar Lecture Notes“. In: Soc. ForInformation Display (1996) H. 9, S. 1–36.56 Schlick u.a.: Visual Displays.57 Vgl. Oetjen u. Ziefle: A visual ergonomic evaluation; Ziefle: Visual ergonomic issues.

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gen, um in visuellen Suchaufgaben einen Zielreiz zu entdecken als auch in derGenauigkeit, mit der Zielbuchstaben richtig erkannt werden (Abb. 6).

Jedoch muss in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, dass der hierbelegte visuell ergonomische Nachteil des mobilen Computers natürlich nichtberücksichtigt, dass es bei einer mobilen Nutzung eines Laptops von Vorteil seinkann, dass Informationen während der Fahrt von anderen Mitfahrern nicht guteingesehen werden können (Schutz der Privatsphäre, Datenschutz). Zudem hatdie durch Laptops ermöglichte Unabhängigkeit des Zugriffs und Bearbeitungdigitaler Information für viele Nutzer so viele andere Vorteile (Flexibilität, Unab-hängigkeit von Zeit und Ort), dass visuell ergonomische Nachteile in der Lese-effizienz in Kauf genommen werden.

Abb. 6: Effekte der Anisotropie auf die Erkennungsgeschwindigkeit an drei verschiedenenBildschirmtypen (CRT, LCD, Notebook) und in Abhängigkeit von fünf Blickwinkelpositionen(eine zentrale und vier seitliche Blickwinkel).

2.5 Informationsdarstellung bei Small Screen Devices

Die Durchdringung heutiger Gesellschaften mit mobilen Endgeräten (sogenannteSmall Screen Devices) stellt eine der schnellsten und raumgreifendsten technolo-gischen Entwicklungen in den vergangenen 15 Jahren dar. Aktuelle Statistikenweisen darauf hin, dass momentan bereits die stattliche Summe von vier Billio-nen GSM-Verbindungen (Global System for Mobile Communications) existieren,die über verschiedene Gerätetypen abgerufen werden (Mobiltelefone, Smartpho-nes, Communicators oder Smart Pads). Die Aktualität und die hohe Akzeptanzdieser Geräte und der Nutzen digitaler Information ist nicht nur dem ubiquitärenund schnellen Zugriff geschuldet, sondern auch der Aktualität der Information,ihrer raumzeitlichen Verfügbarkeit und der Attraktivität mobiler Dienste. Ge-schätzt wird, dass im Jahr 2012 mehr als 445 Millionen Menschen mobile Dienst-leistungen in allen Bereichen des Lebens nutzen werden (Kauf von Konsumarti-

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keln, mobile Dienstleistungen in den Bereichen Lebenshaltung, Sport, Kommu-nikation, Gesundheit etc.).58

Solche mobilen Endgeräte unterscheiden sich im Hinblick auf ihre physikali-schen Abmessungen, der (farbigen) Informationsdarstellung, ihrer Helligkeitoder der Art und Weise wie Nutzer mit ihrem Gerät interagieren (Stift, Tastatur,Touchinput). Ein Merkmal ist jedoch allen Geräten gemeinsam: Das Sichtfenster,mit dem der Nutzer Information abruft, ist beschränkt (Miniaturisierung) unddies hat einen beträchtlichen Einfluss auf die Sichtbarkeit der Information unddie Effizienz, mit der diese Geräte bedient werden können. Jenseits der bereitsdiskutierten visuellen Bild- und Textfaktoren (Farb-)Kontrast, Leuchtdichte, Auf-lösung) unterscheiden sich die Geräte darin, wie viele Textzeilen und Menüfunk-tionen pro Sichtfenster dargestellt werden können, bevor der Nutzer ‚scrollen‘muss und ein weiteres Fenster sehen kann. Momentan erhältliche Mobiltelefone(Nokia, Motorola, Samsung, Sony Ericsson) haben Displaygrößen zwischen 5und 6 cm (Länge) und 2,5–5 cm (Breite). Auf den Sichtfenstern können gleich-zeitig zwischen zwei und acht Zeilen dargestellt werden. Die Buchstabengrößenvariieren ebenfalls (zwischen 2 und 5 mm).

Aus visuell ergonomischer Sicht ist eine gut lesbare Informationsdarstellungsehr schwierig, denn es muss ein sensibler Trade-off zwischen der Buchstaben-größe und der Zeilendichte gefunden werden. Nun könnte argumentiert werden,dass solche Trade-offs zunehmend an Wichtigkeit verlieren, weil momentan einpositiver Trend zu wieder größeren Sichtfenstern bei Smartphones zu verzeich-nen ist (z.B. beim I-Phone, das bis zu 20 Zeilen auf seinem Multitouch Displaydarstellen kann).

Eine begrenzte Darstellungsfläche stellt im Hinblick auf eine leistungsopti-male Informationsverarbeitung aus ergonomischer Sicht also eine besondereHerausforderung dar. Auf den ersten Blick scheint diese Herausforderung vor-nehmlich visuell-ergonomischer Natur zu sein. Demnach muss im visuellenInterface-Design darauf geachtet werden, dass dargestellte Objekte und Zeichengroß genug sind, um leicht und problemlos erkannt zu werden, und die Text-dichte nicht zu hoch ist, um Maskierungseffekte zu vermeiden. Dies ist für alleNutzer von großer Wichtigkeit, aber ungleich stärker für ältere Nutzer, derenvisuelle Funktionen altersbedingt nachlassen.59 Aber es sind eben nicht nurvisuelle Aspekte, die in diesem Kontext berücksichtigt werden müssen. Es geht

58 Informa Telecoms and Media Global mobile forecasts, 2008. www.intomobile.com/2008(Stand: 31.12.2008).59 Brodie, Chattratichart u.a.: Future design of mobile phone experience; Omori, Masako,Tomoyuki Watanabe u.a.: „Visibility and characteristics of the mobile phones for elderlypeople“. In: Behaviour Information Technology 21 (2002) H. 5, S. 313–316.

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auch darum, dass Nutzer bei der Kommunikation und Interaktion mit demkleinen Sichtfenster einen Überblick über die vorhandenen Funktionen undMenüebenen erhalten müssen, um eine kognitive Orientierung beizubehaltenund sich nicht im ‚Dschungel‘ der Funktionen zu verlieren.60 Dadurch, dass mandurch ein komplexes Menü von Funktionen navigieren muss, das die meiste Zeitnicht sichtbar oder nur fragmentarisch abgebildet ist (kleines Sichtfenster), sindviele Nutzer kontinuierlich auf der Suche nach Funktionen oder verirren sichzunehmend während der Gerätebedienung.

Um das Problem der Informationsdarstellung auf kleinen Displays zu lösen,sind verschiedene Techniken entwickelt worden. Eine dieser Techniken ist dieschnelle serielle Darbietung von Information (‚Rapid Serial Visual Presentation‘,RSVP). Sie beruht auf der Idee, Information zeitlich anstatt räumlich zu portio-nieren.61 Mit dieser Technik werden verschiedene Wörter (oder Funktionen) aneinem bestimmten Ort im Display dargestellt und kurz darauf abgelöst durch dienächste Gruppe von Wörtern usw. Nutzer haben also die Aufgabe, die serielldargestellten Textfragmente zusammenzusetzen und auf diese Weise nachzu-vollziehen. Eine vergleichbare Technik ist die ‚Times Square Methode‘ (TSM), dienicht mit statischer Information arbeitet, sondern den Text in einer bestimmtenGeschwindigkeit am Auge des Betrachters „vorbeifahren“ lässt (Wort für Wortbzw. Satz für Satz). Natürlich lässt sich mit einiger Übung eine passable Lese-leistung erreichen, aber solche Darstellungsformen stellen für unser informa-tionsverarbeitendes System eine enorme Aufmerksamkeits- und Gedächtnisbe-lastung dar. Jenseits dessen sind solche Techniken gänzlich ungeeignet für Not-fall- oder Stresssituationen, in denen die auf dem Mobiltelefon dargestellteInformation (über)lebenswichtig ist (wie beispielsweise bei Small Screen Devicesim medizinischen Kontext).62

60 Vgl. Ziefle, Martina u. Susanne Bay: „How older adults meet cognitive complexity: Agingeffects on the usability of different cellular phones“. In: Behavior Information Technology 24(2005) H. 5, S. 375–389; Ziefle, Martina u. Susanne Bay: „How to overcome disorientation inmobile phone menus: a comparison of two different types of navigation aids“. In: HumanComputer Interaction 21 (2006) H. 4, S. 393–433; Ziefle: Instruction format; Ziefle, Martina:„Modelling mobile devices for the elderly“. In: Advances in Ergonomics Modeling and UsabilityEvaluation. Hg. v. Halimahtun Khalid, Alan Hedge u. Tareq Z. Ahram. Boca Raton 2010, S. 280–290.61 Vgl. Rahman, Tarjin u. Paul Muter: „Designing an interface to optimize reading with smalldisplay windows“. In: Human Factors 41 (1999) H. 1, S. 106–117; Goldstein, Mikael, GustavÖqvist u.a.: „Enhancing the reading experience: Using adaptive and sonified RSVP for readingon small displays“. In: Proceedings of the Mobile HCI. Berlin 2001, S. 1–9.62 Vgl. Calero Valdez, André, Martina Ziefle u.a.: „Task performance in mobile and ambientinterfaces. Does size matter for usability of electronic diabetes assistants?“ In: Proceedings of

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Somit kann festgehalten werden, dass visuelle und kognitive Anforderungengleichzeitig zu bewältigen sind, die sich darüber hinaus gegenläufig verhalten.Die eine Strategie wäre, auf Sichtbarkeit zu setzen, große Fonts, wenig Text-dichte (visuelle Komponente). Die andere Strategie wäre, so viel wie möglich ineinem Display darzustellen, um Nutzern die maximal mögliche Vorschau auf dieweiteren Funktionen zu geben und ihnen damit eine kognitive Orientiertheitüber die Menüfunktionen zu ermöglichen. Frage ist, ob es einen sensiblen Punktgibt, an dem die Vorteile der einen Anforderung (visuell) die Nachteile deranderen Anforderung (kognitiv) überwiegen. Solche Fragen können nur experi-mentell gelöst werden. Eine erste Studie untersuchte die Rolle der „Vorschau-größe“ im kleinen Sichtfenster eines Mobiltelefons.63 Junge Erwachsene hattendie Aufgabe, gewöhnliche Aufgaben an einem Mobiltelefon zu lösen. Experimen-tell variiert wurde die Anzahl der pro Display verfügbaren Textzeilen bzw. An-zahl der Funktionen (eine, drei und sieben). Die besten Ergebnisse wurden mitdem mittleren Display erreicht, in dem drei Funktionen pro Display dargestelltwaren. In der Bedingung mit nur einer Funktion pro Display (die eine sehr guteSichtbarkeit, aber eine geringe Vorschau ermöglichte) führten die Probanden40% mehr Umwegschritte aus – einfach weil ihnen die Orientierung im Menüverlorenging. Dies verdeutlicht die Wichtigkeit der Vorschau (kognitive Orientie-rung). Bei einer hohen Informationsdichte (sieben Zeilen pro Display) zeigte sichwieder eine Leistungsverschlechterung (30%), woraus sich schließen lässt, dassdie visuelle Komponente für die leistungsoptimale Aufgabenbearbeitung eben-falls eine Rolle spielt.

Eine weitere Studie thematisierte den Trade-off zwischen Lesbarkeit einer-seits (Fontgröße) und Vorausschau (Anzahl der Zeilen pro Display) anderer-seits.64 Variiert wurden zwei Fontgrößen (8 pt und 12 pt) sowie die Darstellungvon einer bzw. fünf Textzeilen, die gleichzeitig auf dem Display des Mobiltele-fons zu sehen waren. Da wir nicht immer davon ausgehen können, dass junge,gutsichtige Nutzer ein Mobiltelefon bedienen, wurden in diesem ExperimentErwachsene mittleren und höheren Lebensalters (40–65 Jahre) untersucht, dieaufgrund visueller Einschränkungen und einer geringeren technischen Vorer-

the International Conference on Information Society (i-Society 2010/IEEE). Hg. v. CharlesShoniregun u. Galyna Akmayeva. London 2010, S. 526–533.63 Vgl. Bay, Susanne u. Martina Ziefle: „Effects of menu foresight on information access insmall screen devices“. In: 48th annual meeting of the Human Factors and Ergonomic Society.Santa Monica 2004, S. 1841–1845; Ziefle, Martina u. Susanne Bay: „How to overcomedisorientation in mobile phone menus: a comparison of two different types of navigation aids“.In: Human Computer Interaction 21 (2006) H. 4, S. 393–433.64 Vgl. Ziefle: Information presentation in small screen devices.

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fahrung ohnehin mehr Schwierigkeiten im Umgang mit technischen Artefaktenzeigen.65 Die Probanden hatten wiederum mehrere gewöhnliche Aufgaben amMobiltelefon zu lösen. Gemessen wurden in Abhängigkeit von der variiertenFontgröße und der Menüvorschau die Effektivität der gelösten Aufgaben, aberauch die Zeit, die die Probanden dafür benötigten. Darüber hinaus wurden Ver-irrungsmaße ermittelt, wie die Anzahl unnötiger Menüaktionen und die Anzahlder Rücksprünge zum Startmenü, die immer dann ausgeführt werden, wennNutzer sich komplett verirrt haben und mitten in der Aufgabenbearbeitungwieder von ganz vorne anfangen.

Abbildung 7 zeigt die Ergebnisse. Deutlich wird, dass es bei einer nutzerge-rechten Darstellung digitaler Information auf einem Small Screen Device umeine Kombination visueller und kognitiver Anforderungen geht, die gleichzeitigberücksichtigt werden muss. Die beste Navigationsleistung wurde in der Bedin-gung erreicht, in der ein großer Font (12 pt) und eine große Vorschau (5 Funk-tionen) vorhanden ist. Wenn man eine Gewichtung vornehmen muss, also darü-ber entscheiden, welche der beiden Facetten wichtiger als die andere ist, dannist es für ältere Nutzer wichtiger, dass sie sich orientieren können (kognitiveVorschau), allerdings natürlich nur, wenn die grundsätzliche Lesbarkeit derZeichen gegeben ist (und das ist bei 8-Punkt-Schriften auf einem selbstleuchten-den Medium wie dem Mobiltelefon der Fall).

Abb. 7: Effekte der Fontgröße und der Menüvorschau im Mobiltelefon. Von links nach rechts:Anzahl gelöster Aufgaben, Bearbeitungszeit, Anzahl der unnötigen Rückschritte im Menü,Anzahl der kompletten Neustarts.

65 Vgl. Ziefle: Instruction format; Ziefle, Martina u. Susanne Bay: „Transgenerational Designsin Mobile Technology“. In: Handbook of Research on User Interface Design and Evaluation forMobile Technology. Hg. v. Joanna Lumsden. Hershey 2008, S. 122–140.

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3 Interaktion: neue Formen des Umgangs mitInformation bei digitalen Medien

Der beschriebene Zugang der Bewertung digital dargestellter Information – dieMessung der Effektivität und der Effizienz der Leseleistung – ist natürlich einsehr spezifischer und – berücksichtigt man zukünftige Anwendungsgebiete digi-taler Information und Kommunikation – ein sehr eingeschränkter. Der traditio-nelle Bewertungszugang geht davon aus, dass wir digitale Information ‚entneh-men‘ und ‚verarbeiten‘ und dass sich dieser Prozess möglichst reibungslos,schnell und fehlersicher vollziehen soll, richtet sich somit auf pragmatischeFacetten einer Technologie. Er geht weiterhin davon aus, dass es sich beimComputer und anderen digitalen Darstellungsmedien um sichtbare, von uns undunserer Raumumgebung unabhängige Artefakte handelt, die isoliert voneinan-der genutzt werden, ohne dass die Geräte untereinander verbunden sind odergar eine regelhafte Verbindung zu anderen Lebenswelten haben.

Bereits jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass zukünftige Anwendungsszenarienvon elektronischen Displays und die Verwendung digitaler Information Men-schen und Technik in einer völlig anderen Form konzeptualisieren.66 DigitaleInformationen sind nicht auf sichtbare Artefakte beschränkt. Sie werden inAlltagsgegenstände, in Raumumgebungen oder in Kleidung integriert. Geradebei der Vorstellung, dass – bedingt durch den demographischen Wandel –immer mehr ältere Menschen alleine leben und nicht genügend familiäres oderprofessionelles Pflegepersonal zur Verfügung steht, damit die Älteren in Würdedaheim alt werden können, sind technische Lösungen bzw. Assistenzsystemegefragt, die holistisch und nutzerzentriert in Wohnumgebungen „unsichtbar“integriert werden. So ist es denkbar, grundsätzlich technisch machbar undbereits handwerklich in experimentellen Szenarien umgesetzt, dass Wände undFußböden einer Wohnumgebung intelligent sind, also digitale Information „auf-nehmen“ können: Der Fußboden registriert beispielsweise, dass ein Bewohnergefallen ist.67 Solche Wohnumgebungen können darüber hinaus Informationen„verarbeiten“: Der Bewohner kann beispielsweise seine Lebensmittelbestellung

66 Brown, Stuart F.: „Hands-On Computing: How Multi-Touch Screens Could Change the WayWe Interact with Computers and Each Other“. In: Scientific American Magazine 2008; Heidrich,Felix, Martina Ziefle u.a.: „Interacting with Smart Walls: A Multi-Dimensional Analysis of InputTechnologies for Augmented Environments“. In: Proceedings of the ACM Augmented HumanConference (AH’11). New York 2011, S. 1–8.67 Leusmann, Philipp, Christian Möllering u.a.: „Your Floor Knows Where You Are: Sensing andAcquisition of Movement Data“. Full paper at the Workshop on Managing Health Information in

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beim Supermarkt über ein multitouchfähiges digitales Display, das gleichzeitigseine Wohnzimmerwand ist, aufgeben, genauso wie die Wand ein Kommunika-tionsfenster darstellen kann. So könnte beispielsweise eine digitale Sprechstun-de mit dem Arzt – zusätzlich zur normalen persönlichen Sprechstunde – dazuführen, dass der Bewohner in kürzeren Intervallen als dies normalerweise üblichist, medizinische Beratung einholen kann.68

Abbildung 8 zeigt eine Umsetzung eines digitalisierten Wohnzimmers imFuture Care Lab an der RWTH Aachen.69 Nicht nur der Fußboden, sondern auchdie Wand oder das Sofa sind Ein- und Ausgabegeräte, mittels derer Bewohnerden Umgang mit digitaler Information in ihr Leben integrieren können.

Abb. 8: Fotoimpressionen aus verschiedenen Nutzungsszenarien in der intelligentenWohnumgebung im Future Care Lab (Bilder: Kai Kasugai)

Klar ist, dass in solchen Zukunftsszenarien nicht nur die Effektivität und dieEffizienz der Informationsentnahmeleistung das Benchmark-Kriterium für dieGestaltung technischer Geräte sein kann. In solchen realweltlichen und holis-tisch konzeptualisierten Umgebungen, die Teil des Lebensraumes von Menschensind, gelten ungleich komplexere Anforderungen. So müssen neue Interaktions-formen und Kommunikationsetiketten untersucht werden, wie beispielsweise

Mobile Applications (HIMoA 2011). IEEE 12th International Conference on Mobile DataManagement (MDM 2011).68 Heidrich u.a.:Interacting with Smart Walls; Klack, Lars, Thomas Schmitz-Rode u.a.:„Integrated Home Monitoring and Compliance Optimization for Patients with MechanicalCirculatory Support Devices (MCSDs)“. In: Annals of Biomedical Engineering 39 (2011) H. 12,S. 2911–2921.69 Ziefle, Martina, Carsten Röcker u.a.: „A Multi-Disciplinary Approach to Ambient AssistedLiving“. In: E-Health, Assistive Technologies and Applications for Assisted Living: Challengesand Solutions. Hg. v. Röcker, Carsten u. Martina Ziefle. Hershey, P.A. 2011, S. 76–93.

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Gesten als Eingabemodalitäten.70 Ebenfalls spielen die unterschiedlichen Wün-sche und Bedürfnisse der Bewohner an eine angenehme und die Privatsphärerespektierende Gerätegestaltung eine Rolle.71

Literaturhinweise

Holzinger, Andreas, Markus Baernthaler u.a.: Investigating paper vs. screen in real-life hospitalworkflows: Performance contradicts perceived superiority of paper in the user experience”.In: International Journal of Human-Computer Studies (2011a) H. 69, S. 563–570.

Morrison, Robert u. Albrecht Inhoff: Visual factors and eye movements in reading. In: VisibleLanguage, 15 (1981), S. 129–146.

Tinker, Miles: The Legibility of Print. Iowa State University Press 1963.Schlick, Christopher M., Carsten Winkelholz u.a.: „Visual Displays“. In: The Human Computer

Interaction Handbook: Fundamentals, Evolving Technologies and Emerging Applications.Hg. v. Julie A. Jacko. (Im Druck)

Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm [Reading from screens]. Münster 2002.

70 Brown: Hands-On Computing; Saffer, Dan: Designing Gestural Interfaces: Touchscreens andInteractive Devices. O’Reilly Media 2008; Heidrich u.a.: Interacting with Smart Walls.71 Wilkowska, Wiktoria u. Martina Ziefle: „User diversity as a challenge for the integration ofmedical technology into future home environments“. In: Human-Centred Design of eHealthTechnologies. Concepts, Methods and Applications. Hg. v. Ziefle, Martina u. Carsten Röcker.Hersehy, P.A. 2011, S. 95–126.

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