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Ludger Hoffmann (Hrsg.) Sprachwissenschaft Ein Reader Walter de Gruyter Berlin · New York 1996

Martinet - Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Auszüge)

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Page 1: Martinet - Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Auszüge)

Ludger Hoffmann (Hrsg.)

Sprachwissenschaft Ein Reader

Walter de Gruyter Berlin · New York 1996

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A. Martinet

Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft:

• Die zweifache Gliederung (double articulation)

der Sprache • Die sprachlichen Grundeinheiten

• Die artikulatorische Phonetik

• Die Transkriptionen • Die Stimmritze (Glottis)

• Die Vokale • Die Konsonanten • Die Silbe

1- 8 . Die zweifache Gliederung (double articulation) der Sprache

Es wird oft gesagt, die menschliche Sprache sei gegliedert. Denen, die sich so

ausdrücken, würde es wahrscheinlich schwerfallen, genau zu bestimmen,

was sie damit meinen. Zweifellos aber entspricht dieser Ausdruck einer

Eigenschaft, die in der Tat alle Sprachen kennzeichnet. Doch ist es nötig, die­

sen Begriff "Gliederung der Sprache" genauer zu bestimmen und festzustel­

len, daß sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen zeigt: Es gehen nämlich aus

einer ersten Gliederung Einheiten hervor, von denen jede wieder in Einheiten

eines anderen Typs gegliedert ist.

Die e r s t e G 1 i e d e r u n g der Sprache ist diejenige, nach welcher jede

Erfahrungstatsache, die übermittelt werden soll, jedes Bedürfnis, das man

anderen zur Kenntnis bringen möchte, in eine Folge von Einheiten zerlegt

wird, die jede eine lautliche Form und eine Bedeutung haben. Wenn ich un­

ter Kopfschmerzen leide, so kann ich es durch Schreie anzeigen. Diese kön­

nen unwillkürlich sein, dann gehören sie in den Bereich der Physiologie. Sie

können auch mehr oder weniger beabsichtigt sein, dazu bestimmt, meine

Umgebung von meinem Leiden in Kenntnis zu setzen. Das genügt aber noch

nicht, sie zu einer sprachlichen Mitteilung zu machen. Jeder Schrei ist unzer­

legbar und entspricht dem unzerlegten Ganzen der schmerzhaften Empfin­

dung. Ganz anders ist es, wenn ich den Satz ich habe Kopfweh ausspreche.

Hier gibt es unter den fünf aufeinanderfolgenden Einheiten ich, hab-, -e,

Kopf, Weh nicht eine, die dem Spezifischen meines Schmerzes entspräche.

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Jede von ihnen kann in ganz anderen Zusammenhängen auftreten, um an­dere Erfahrungstatsachen mitzuteilen: Kopf etwa in das ist ein kluger Kopf,

Weh in Ach und Weh . Man sieht, welche Ersparnis diese erste Gliederung be­deutet: Es ließe sich ein Kommunikationssystem vorstellen, in dem einer be­stimmten Situation, einer gegebenen Erfahrungstatsache ein besonderer Schrei entspräche. Aber man braucht nur an die unendliche Verschiedenheit dieser Situationen und dieser Erfahrungstatsachen zu denken, um einzu­sehen, daß ein solches System, sollte es dieselben Dienste wie unsere Spra­chen leisten, eine so beträchtliche Anzahl verschiedener Zeichen aufweisen müßte, daß das menschliche Gedächtnis sie nicht fassen könnte. Einige tau­send Einheiten wie Kopf, ich, Weh dagegen, vielfältig kombinierbar, erlauben uns, mehr mitzuteilen, als mit Hilfe von Millionen verschiedener unartiku­lierter Schreie möglich wäre.

Die erste Gliederung ist die Art und Weise, in der die Erfahrung geordnet ist, die alle Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft miteinander ge­mein haben. Nur im Rahmen dieser Erfahrung, die sich notwendig auf das beschränkt, was einer beträchtlichen Anzahl von Individuen gemeinsam ist, geht sprachliche Mitteilung vor sich. Originalität des Denkens kann sich nur in einer unerwarteten Handhabung der Elemente äußern. Die persönliche Er­fahrung, in ihrer Einzigartigkeit nicht mitteilbar, wird in einer Folge von Ein­heiten analysiert, die jede wenig spezifisch und allen Mitgliedern der Sprach­gemeinschaft bekannt sind. Einen spezifischeren Charakter kann man nur durch Hinzufügung weiterer Einheiten anstreben, z. B. indem man einem Substantiv Adjektive, einem Adjektiv Adverbien, allgemein einer Einheit nähere Bestimmungen beifügt.

Jede dieser Einheiten der ersten Gliederungsebene (unites de premiere ar­ticulation) weist, wie wir gesehen haben, eine Bedeutung und eine lautliche Form auf. Sie läßt sich nicht in kleinere aufeinanderfolgende Einheiten mit einer Bedeutung zerlegen: Weh bedeutet als Ganzes "Weh", und man kann nicht den Teilen W- und -eh verschiedene Bedeutungen zuschreiben, deren Summe "Weh" ergäbe. Die lautliche Form aber läßt sich in eine Folge von Einheiten zerlegen, deren jede dazu beiträgt, z. B. Weh von anderen Einheiten wie See, wo zu unterscheiden. Dies werden wir als z w e i t e G 1 i e d e r u n g der Sprache bezeichnen. In Weh gibt es zwei dieser Einheiten; wir können sie mit Hilfe der Symbole v und e: wiedergeben, die nach einer üblichen Kon­vention zwischen Schrägstriche gesetzt werden, als /ve:/. Es ist deutlich, welche Ersparnis diese zweite Gliederung mit sich bringt: Müßten wir jeder kleinsten Bedeutungseinheit eine spezifische und unzerlegbare Lauthervor­bringung entsprechen lassen, so hätten wir Tausende solcher Hervorbrin­gungen zu unterscheiden, was sich mit den artikulatorischen Möglichkeiten

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des Menschen und den Fähigkeiten seines Gehörs nicht vereinbaren ließe. Dank der zweiten Gliederung kommen die Sprachen mit einigen Dutzend distinkter Lauthervorbringungeil aus, deren Kombinationen die lautliche Form der Einheiten der ersten Gliederungsebene ergeben: Weh z.B. ist /v/ plus /e:/, ein Wort wie Tat verwendet zweimal nacheinander die lautliche Ein­heit, die wir als /t/ wiedergeben, und zwischen dies zweimal auftretende /t/ eingefügt eine andere Einheit, die wir /a:/ schreiben.

1 - 9 . Die sprachlichen Grundeinheiten

Eine Äußerung wie ich habe Kopfweh oder ein Teil einer solchen Äußerung, der einen Sinn ergibt, wie Kopfweh oder ich, heißt ein sprachliches Z e i ­c h e n . Jedes sprachliche Zeichen hat ein S i g n i f i k a t (signifie): seine Be­deutung (sens) - oder sein Wert (valeur) -, dessen Bezeichnung wir in An­führungsstriche setzen werden ( "ich habe Kopfweh", "Kopfweh", "ich"), und einen S i g n i f i k a n t e n (signifiant), durch den das Zeichen mani­festiert wird; diesen werden wir zwischen Schrägstrichen wiedergeben: /ir:; ha:be kopfve:/. In der Umgangssprache würde man allein dem Signifikan­ten den Namen "Zeichen" geben. Die Einheiten, die sich aus der ersten Glie­derung ergeben, sind Zeichen, da sie ein Signifikat und einen Signifikanten haben, und zwar kleinste Zeichen, denn keines von ihnen ließe sich in eine Folge von Zeichen zerlegen. Es gibt keinen allgemein gebräuchlichen Aus­druck zur Bezeichnung dieser Einheiten: Wir werden hier den Ausdruck M o n e m verwenden.

Wie jedes Zeichen ist das Monem eine doppelseitige Einheit, mit der Seite des Signifikats (Bedeutung oder Wert) und der Seite des Signifikanten, der das Signifikat lautlich manifestiert und aus Einheiten der zweiten Glie­derungsebene (unites de deuxieme articulation) besteht. Diese heißen P h o n e m e .

Die Äußerung, die wir hier als Beispiel anführen, besteht aus Monemen, von denen einige (Kopf, Weh ) mit dem zusammenfallen, was umgangs­sprachlich als Wort bezeichnet wird. Daraus darf man nicht etwa den Schluß ziehen, "Monem" sei nichts anderes als ein gelehrtes Äquivalent für "Wort". Das Wort habe z.B. besteht aus zwei Monemen: hab-, /ha:b/, das "Besitz" be­zeichnet, und -e, /e/, das sich auf den Sprechenden bezieht. Herkömmlicher­weise unterscheidet man zwischen Monemen wie hab- und e, indem man das eine ein Semantem, das andere ein Morphem nennt. Diese Terminologie hat den Nachteil, daß sie den Eindruck erweckt, nur das Semantem habe eine Bedeutung, nicht auch das Morphem; das stimmt aber nicht. Soweit die

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Unterscheidung von Nutzen ist, würde man besser diejenigen Moneme, die ihren Platz im Wörterbuch und nicht in der Grammatik haben, als einfache L e x e m e bezeichnen und M o r p h e m als Bezeichnung für diejenigen bei­behalten, die wie -e in den Grammatiken erscheinen. Es sei erwähnt, daß ein Lexem wie hab- in Wörterbüchern herkömmlicherweise in der Form haben aufgeführt ist, daß man es dort also mit dem Infinitivmorphem -en versehen antrifft.

2 - 1 1 . Die artikulatorische Phonetik

Wir werden uns im folgenden auf die Art der Hervorbringung durch die "Sprechorgane" beziehen, um die relevanten Lauteigenschaften zu identifi­zieren und die Varianten der phonologischen Einheiten zu beschreiben. Man könnte sich zum selben Zweck der Schallwellen bedienen, die durch die Tätigkeit dieser Organe entstehen. Aber die artikulatorische Phonetik ist noch immer den meisten Sprachwissenschaftlern vertrauter, und im allge­meinen läßt sie die Verursachung des Lautwandels besser erkennen. Für das Verständnis des Folgenden wird es nützlich sein, wenn wir kurz die Arbeits­weise der Organe in Erinnerung bringen, die zur Hervorbringung der ge­sprochenen Laute beitragen. Dabei werden wir nur das hervorheben, was von unmittelbarem Nutzen für die Leser dieses Leitfadens ist.

2 - 1 2 . Die Transkriptionen

Die Laute der Sprache werden mit Hilfe verschiedener Buchstaben und Zei­chen symbolisiert, denen ein konventioneller Wert zugeschrieben wird. Es gibt zahlreiche Systeme phonetischer Transkription, die im allgemeinen jeweils für eine andere Leserschaft gedacht sind. Die hier verwendeten Sym­bole sind zu einem großen Teil die von der Association phonetique interna­tionale empfohlen. Eine phonetische Transkription hält alle Unterschiede fest, die der Aufzeichnende wahrnimmt, oder diejenigen, auf die er aus ir­gendeinem Grunde aufmerksam machen will. Sie wird meist in eckige Klam­mern gesetzt: [ostum]. Eine phonologische Transkription hält nur die Eigen­schaften fest, die sich in einer Analyse der Sprache als distinktiv oder allge­mein als mit einer sprachlichen Funktion versehen erwiesen haben. Sie wird zwischen schräge Striche gesetzt: /muco/.

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2 - 1 3 . Die Stimmritze (Glottis )

Die gesprochenen Laute sind zum größten Teil Ergebnis der Einwirkung ge­wisser Organe auf einen von den Lungen herkommenden Luftstrom. Das er­ste dieser Organe, die S t i m m r i t z e (Glottis), befindet sich auf der Höhe des "Adamsapfels"; es wird von zwei Muskelfalten gebildet, den sogenann­ten S t i m m b ä n d e r n . Das plötzliche Verschließen oder Öffnen dieses Or­gans (wie es zu Beginn des Hustens geschieht) wird mit [?] wiedergegeben und als K e h 1 k o p f v e r s c h l u ß ( "Knacklaut") bezeichnet. Der Kehlkopf­verschluß kann die Hervorbringung anderer Laute begleiten. Das Geräusch einer Reibung zwischen den Wänden der leicht geöffneten Stimmritze wird durch [h] wiedergegeben und "Aspiration" genannt. Einen Laut, der sich von einem [h) begleitet anhört, nennt man a s p i r i e r t . Die S t i m m e kommt zustande, wenn die Stimmbänder beim Durchgang der Luft vibrieren. Sie ist für gewöhnlich an der Hervorbringung der Vokale beteiligt und kennzeich­net die sogenannten s t i m m h a f t e n Laute wie das [z] in reisen; ein Laut, der nicht von Schwingungen der Stimmbänder begleitet ist, wie z. B. [ s] in reißen, heißt s t i m m l o s . Die tiefere oder höhere Lage der Stimme hängt von der Länge der Stimmbänder und dem Grad ihrer Anspannung ab. Sie macht die Sprechmelodie aus.

2 - 14. Die Vokale

Die Vokale sind die Stimme, wie sie durch die Form der Mundhöhle auf ver­schiedene Weise gefärbt ist. Bestimmt wird diese Form, und damit die Art des Vokals, im wesentlichen durch die Stellung von Lippen und Zunge.

Ist der Vokal von merklicher Dauer, so bezeichnet man ihn als lang. Länge des Vokals wird angezeigt durch einen horizontalen Strich über dem phone­tischen Symbol oder auch durch einen hochgestellten Punkt oder einen Dop­pelpunkt nach dem Symbol, z. B. [o], [o ·], oder [o:].

Ein Vokal wie der in Kuh [u:] oder Mohn [o:], der mit gerundeten und vorgeschobenen Lippen artikuliert wird, heißt g e r u n d e t ; ein Vokal wie in sie [i:] dagegen wird mit g e s p r e i z t e n Lippen artikuliert. Bei der Aus­sprache der Vokale von Kuh ( [u:]), von Mohn ( [o:]) ist die Zunge im ganzen nach hinten gezogen, die Vokale heißen h i n t e r e . Vokale wie die in sie [i:]; See [e:) oder kühn [ü:], bei denen sich die Masse der Zunge in den vorderen Teil des Mundes verlagert, heißen v o r d e r e Vokale. Bei [i:], [u:], [ü:) nähert sich die Zunge stark dem Gaumen, sie heißen daher g e s c h l o s s e n . Der Vokal von hat, bei dem sich der Mund am meisten öffnet, heißt o f f e n ; er

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ist offener als der von Herz [e]; dieser ist offener als der Vokal von See [e:], der wieder offener ist als der von bin [I], und dieser schließlich ist offener als der von sie [i:]. [a], [e], [e:) [I], [i:] stellen also fünf verschiedene Grade der Öffnung (bzw. Geschlossenheit) dar. In analogen Beziehungen stehen das [:J) von dort, das [o:) von Mohn, das [u) von Kuß und das [u:) von Kuh einer­seits, das [ce] in Hölle, das [ö:) in Höhle, das [ü) in Tüll und das [ü:) in kühn

auf der anderen Seite. Der "neutrale" Vokal, [;::,], ist weder sehr offen noch sehr geschlossen, we­

der ein vorderer noch ein hinterer Vokal, weder gespreizt noch gerundet. Die­sen Vokal findet man im Deutschen z. B. in der zweiten Silbe von hatte.

Meist ist bei der Artikulation der Vokale das Gaumensegel gehoben. Ist es gesenkt, so entstehen zusätzlich zu den Resonanzen im Munde nasale Reso­nanzen. Der Vokal wird dann n a s a l genannt. Die Vokale in frz. banc [a], pont [ö], vin [x] u. a. sind nasale Vokale.

2 - 1 5 . Die Konsonanten

Konsonanten heißen die Laute, die man ohne Hilfe eines vorausgehenden oder folgenden Vokals schwer wahrnimmt. Ein Konsonant, der einen Ver­schluß des Atmungskanals mit gesprengter Verschlußlösung vor folgendem Vokal voraussetzt, heißt V e r s c h 1 u ß 1 a u t . Ein Konsonant, bei dem sich der Atmungskanal verengt, heißt F r i k a t i v, wenn die durch die Luft her­vorgebrachte Reibung deutlich wahrzunehmen ist, sonst S p i r a n s . Ein Konsonant ist (b i ) l a b i a l , wenn er mit den Lippen artikuliert wird, wie [p] und [b] in Purzelbaum. Er ist a p i k a 1 , wenn er mit der Spitze (lat. apex) der Zunge artikuliert wird, wie [ t] in tausend und [ d] in Dusche. D o r s a 1 ist er, wenn er mit der Oberseite (dem Rücken) der Zunge hervorgebracht wird, wie [k] in Katze und [g] in Gans; man kann unterscheiden zwischen p r ä ­d o r s a 1 e n , bei denen der vordere Teil des Rückens im Spiel ist, und p o s t ­d o r s a 1 e n , die weiter hinten artikuliert werden. Je nach Artikulationsstelle ist ein apikaler Konsonant d e n t a l ( a p i k o d e n t a 1 : Zungenspitze gegen Oberzähne, wie [t) in frz. tauche) , oder a l v e o l a r (a p i k o a l v e o l a r : Zungenspitze gegen oberen Zahndamm (Alveolen), wie [t) in engl. tauch ) .

Ein dorsaler Konsonant kann alveolar sein ( d o r s o a l v e o 1 a r : vorderer Teil des Zungenrückens in Richtung auf den Zahndamm, wie [s] in dt. Haß),

(p r ä) p a l a t a 1 (Artikulation nach vorn zu am harten Gaumen oder in Rich­tung auf ihn, wie [�] in ich ) , v e l a r (nach hinten zu am weichen Gaumen oder Gaumensegel) oder sogar p o s t v e l a r oder u v u 1 a r (in der Gegend des Zäpfchens, lat. uvula, z. B. der erste Konsonant in rot) .

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Ein Frikativ, der zwischen der Unterlippe und den oberen Zähnen artiku­liert wird, ist 1 a b i o d e n t a 1 : [f] in viel und [v] in wie. Die s - L a u t e (sif­flantes ( [ s] und [ z] in reißen und reisen) und die s- L a u t e ( chuintantes) [S] in Schale, [z] in Garage) sind energische, alveolar artikulierte Frikative, zu deren Unterscheidung ein verschiedenes Spiel der Lippen beiträgt. In dt. rei­ßen ist der s-Laut dorsoalveolar; im Kastilianischen ist er apikoalveolar ( [s]) und klingt nicht unähnlich dem [S] in dt. Schale. Ein Frikativ (oder ein Spi­rans), der mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen hervorgebracht wird, heißt i n t e r d e n t a 1 und wird meist durch [ e] wiedergegeben, wenn er stimmlos, durch [ö], wenn er stimmhaft ist. Etwa diese Laute werden im Anlaut von engl. thin und this gesprochen. Ein stimmloser postvelarer dor­saler Frikativ wird als [x] notiert (z. B. im Auslaut von dt. Buch ) . Seine stimmhafte Entsprechung steht im Anlaut von dt. rot ( "Zäpfchen-r"), wenn der Laut ganz ohne Schwingungen des Zäpfchens artikuliert wird.

Die V i b r a n t e n entstehen bei Schwingung eines Organs, die als eine Folge von kurzen Schlägen ausgeführt wird. Was man gerolltes r nennt, ist ein apikaler Vibrant [r]. Wenn die Luft zu beiden Seiten eines Hindernisses vorbeigeht, hat man es mit einem L a t e r a 1 zu tun; [l] im Anlaut von Lupe

ist ein apikoalveolarer Lateral, das Hindernis in der Mitte wird mit der Zungenspitze am oberen Zahndamm gebildet.

Wenn man einen Verschlußlaut mit beliebiger Artikulationsstelle und eine Entspannung des Gaumensegels verbindet, die ein Resonieren der Luft in den Nasenhöhlen ermöglicht, so erhält man einen sogenannten N a s a 1 . Ist er labial, so wird er [m] notiert; ist er apikal, [n]; dorsopalatal, [ii] (wie in frz. Champagne) ; dorsovelar [IJ] (wie im Auslaut von dt. Ring) .

Ein Laut, bei dem auf eine Explosion eine Reibung folgt, heißt A f f r i ­k a t e . Die Affrikaten, bei denen die Reibung einem s-Laut entspricht, wer­den als [c] (stimmlos) bzw. [g] (stimmhaft) wiedergegeben oder, analytisch, als [ts] bzw. [dz]. Im Anlaut von dt. zu steht eine stimmlose Affrikate mit s-Reibung, die man gewöhnlich [c] oder, analytisch, [ts] wiedergibt. Am An­fang von Pferd ist eine stimmlose Affrikate mit {-Reibung zu hören.

Man kann die Artikulation eines Konsonanten mit der eines Vokals kom­binieren, z. B. die des bilabialen [p] mit der des geschlossenen, vorderen und gespreizten Vokals [i]. Hier kann man von einem [p] mit der Klangfarbe von [i] sprechen. Konsonanten mit der Klangfarbe des [i] heißen p a 1 a t a 1 i ­s i e r t , solche mit der Klangfarbe des [ u] 1 a b i o v e 1 a r i s i e r t ; von den Konsonanten, die sich am ehesten wie die gewöhnlichen Konsonanten an­hören, kann man sagen, sie hätten die Klangfarbe von [a].

2 - 1 6. Die Silbe

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Praktisch ist die Grenze zwischen Vokalen und Konsonanten nicht immer ganz deutlich. Wenn man den geschlossenen Vokal [i] lang aushält und dabei die Masse der Vorderzunge nach und nach dem harten Gaumen nähert, so wird schließlich die durch die Luft hervorgebrachte Reibung hörbar, man geht also von einem Vokal zu einem frikativen Konsonanten [j] über (z. B. im Anlaut von dt. ja) . Der Frikativ, zu dem man auf analoge Weise von [u] aus gelangt, wird [w] geschrieben (vgl. den Anlaut von engl. weil) . Da die Vokale leichter wahrzunehmen sind als die Konsonanten, entspricht normalerweise jeder Vokal der Äußerung einem Gipfel in der Wahrnehmbarkeitskurve, und man nimmt im allgemeinen so viele Silben wahr, wie Vokale vorhanden sind. Aber es kann vorkommen, daß ein Konsonant wie [l] zwischen zwei Konso­nanten von geringerer Wahrnehmbarkeit (wie [p] und [k]) die Rolle eines S i l b e n g i p f e 1 s spielt oder daß ein Vokal wie [i] in Berührung mit einem stärker geöffneten wie [a] in Kontexten wie [ia] oder [ai] keinen distinkten Silbengipfel bildet: im Französischen bildet [ia] in tiare eine einzige Silbe mit dem Gipfel [a] und wird oft [ja] wiedergegeben, [ai] in ebahi dagegen bildet zwei Gipfel.