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21 marx MAGAZIN FüR INTERNATIONALEN SOZIALISMUS Nr. 18 | Winter 2010/11 3,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de Ulrich Maurer kritisiert die Arroganz der Machteliten Sara Turchetto erklärt, weshalb die »Lindenstraße« auch nach 25 Jahren noch erfolgreich ist Christine Buchholz sagt »Nein« zum Einsatz der Bundeswehr in Somalia Die Grünen Aufschwung von Dauer? Weihnachtsspezial War Jesus ein Roter? Rot-Rot-Grün Politikwechsel durch Regierungswechsel? Ökologie Wie die Industrie Umweltbewusstsein ausbeutet Islamfeindlichkeit Von den Kreuzzügen bis heute WIEVIEL DEMOKRATIE KAPITALISMUS? VERTRÄGT DER

marx21 No 18 Lindenstraße

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marx21 - Magazin für internationalen Sozialismus - bietet Analysen, Berichte und Raum für Debatten als Ausgangspunkt für gemeinsames Handeln. marx21 hilft dabei, marxistische Theorien und die Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung für heute fruchtbar machen. Unser Ziel: Die Welt verstehen, um sie zu verändern.

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21marxMagazin für internationalen SozialiSMuS

Nr. 18 | Winter 2010/113,50 € | ISSN 1865-2557 www.marx21.de

Ulrich Maurerkritisiert die Arroganz

der Machteliten

Sara Turchettoerklärt, weshalb die

»Lindenstraße« auch nach 25 Jahren noch erfolgreich ist

Christine Buchholzsagt »Nein« zum Einsatz der

Bundeswehr in Somalia

Die Grünen Aufschwung von Dauer? Weihnachtsspezial War Jesus ein Roter? Rot-Rot-Grün Politikwechsel durch Regierungswechsel? Ökologie Wie die Industrie Umweltbewusstsein ausbeutet Islamfeindlichkeit Von den Kreuzzügen bis heute

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DEMOKRATIEKAPITALISMUS?

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Liebe Leserinnen und Leser,

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Hunderte Angestellte von staatlichen Beratungsstel-len für Schwangere und jun-ge Mütter versammelten sich am 18. Oktober vor der Zentrale ihrer Gewerkschaft in Kairo. Sie protestierten gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedin-gungen. In Ägypten steigen die Lebensmittelpreise und Mieten derzeit rasant. Des-halb verlangen die Arbei-terinnen und Arbeiter eine Erhöhung ihres Grundlohns von umgerechnet 12 auf 40 Euro im Monat. Zum Ver-gleich: In der Hauptstadt kostet ein Kilo Tomaten ei-nen Euro. Dieselbe Menge Fleisch kostet sogar zehn Euro. Bereits im Sommer hatten die Beschäftigten einen Sitzstreik organisiert. Da-raufhin versprach die Re-gierung, ihre Gehälter an-zuheben. Außerdem sollten Kranken- und Sozialver-sicherung sowie Urlaubs-regelungen verbindlich in den Arbeitsverträgen fest-geschrieben werden. Doch bislang hat die Regierung dies nicht umgesetzt. Daher gingen die Beschäftigten erneut auf die Straße.

redaktionsadresseRedaktion marx21PF 44 03 4612003 BerlinMail: [email protected]: 030 / 89 56 25 10

Die Bewegung gegen Stuttgart 21 begann als lokaler Pro-test. Mittlerweile ist sie beispielhaft für die politische Lage in der Republik geworden. Politik für Konzerne, durch-

gesetzt gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung. Dieses Muster kommt vielen bekannt vor.Anlass für uns, die weitergehenden Fragen, die Stuttgart 21 auf-wirft, zum Schwerpunkt unseres Heftes zu machen: Wie steht es um die Demokratie in der Republik – und insgesamt im Kapitalis-mus? Nicht nur auf der Straße ist Bewegung, sondern auch in der Par-teienarithmetik. Die Grünen erleben derzeit einen bislang nicht gekannten Höhenflug. Daher nehmen wir die Partei in einem zweiten Schwerpunkt unter die Lupe. Des Weiteren im Heft: das Thesenpapier »Ein (rot-)rot-grüner Aufbruch?«, wo wir der Frage nachgehen, welche Konsequenzen die LINKE aus der gegenwär-tigen politischen Lage ziehen sollte. Ansonsten steht Weihnachten vor der Tür und damit die Ge-schenkefrage. Wir empfehlen: Ein marx21-Jahresabo als Lese- und Denkstoff für Freunde, Partner und Verwandte. Bei Abschluss eines Abos gibt es noch ein Buch dazu, das sich sicherlich eben-falls gut auf dem Gabentisch macht. Gerne würden wir in der nächsten Ausgabe vermelden, dass wir mittlerweile von 800 Abon-nenten regelmäßig gelesen werden. Es fehlen noch 34. Mit eurer Hilfe könnte es klappen.Dies ist die letzte marx21-Ausgabe in diesem Jahr. Die nächste Nummer erscheint im Februar – damit euch der Lesestoff an lan-gen Winterabenden nicht ausgeht, ist das Heft diesmal einige Sei-ten umfangreicher. Viel Spaß beim Lesen!

Eure Redaktion

Fragen?Anregungen? Kritik? Lobhudelei?Wir freuen uns auf deine Post.

Ägypten

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Berlin: Volksbegehren 10

Somalia: Kanonenbootpolitik 06 16 Schwerpunkt: Demokratie

Aktuelle Analyse

06 Somalia: Die Rückkehr der Kanonenboote Von Christine Buchholz und Stefan Ziefle

10 Berlin: Volksbegehren fordert Senat heraus Von Werner Halbauer

Unsere Meinung

14 Exportindustrie: Nach der Krise ist vor der Krise Kommentar von Thomas Walter

15 Irak: Tarnen und Täuschen Kommentar von Joachim Guilliard

Schwerpunkt: Demokratie

17 Stuttgart 21: »Selbst Gandhi hätten sie grün und blau geprügelt« Interview mit Ulrich Maurer

20 Polizei: Das Gesetz des Schweigens Von Ole Vincent Guinaud

23 Der Staat: Alles andere als neutral Von Yaak Pabst und Win Windisch

28 Wackersdorf: Das Ende des WAAhnsinns Dokumentation der BI Amberg

Schwerpunkt: Grüne

33 »Die Grünen bieten sich als einfache Alternative an« Interview mit Norbert Hackbusch

36 Green New Deal? Von Frank Eßers

40 Fairtrade: Ende der Märchenstunde Interview mit Kathrin Hartmann

Kontrovers

46 Thesenpapier: Ein (rot-)rot-grüner Aufbruch? Netzwerk marx21

50 Islamfeindlichkeit: Eine lange Kontinuität des Hasses Interview mit Achim Bühl

Netzwerk marx21

56 Serie: Was will marx21 (4) Warum gibt es das Netzwerk marx21?

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Interview: Lindenstraße68

Kubas neue Kapitalisten6478 »Eine Tragödie unserer globalisierten Welt« Interview mit Güclü Yaman

80 Klassiker des Monats: Émile Zola: Germinal Von Tobias Paul

82 Die Geschichte hinter dem Song: Neil Young: »Ohio « Von Yaak Pabst Rubriken

Editorial 03

Impressum 12

Leserbriefe 13

Neues aus der LINKEN 44

Was macht marx21? 59

60 Chauvinismus: Teile und herrsche Kolumne von Arno Klönne

Internationales

64 Kuba: Neue Kapitalisten bekommt das Land Von Samuel Farber

Kultur

68 »Die Lindenstraße hat immer Tabuthemen aufgegriffen« Interview mit Sara Turchetto

74 Weihnachtsspezial: War Jesus ein Roter? Von Klaus-Dieter Heiser

Weltweiter Widerstand 62

Review 84

Quergelesen 91

Preview 92

neu auf marx21.de

Werner Sauerborn ist Mitinitiator von »Gewerkschafter gegen Stutt-gart 21«. Mit marx21 sprach er über Schlichtungsversuche, Erfolge und die Frage, ob auch im Schwaben-land französische Verhältnisse mög-lich sind. Ein Blick auf die Webseite lohnt sich also:www.marx21.de

»De facto ein Baustopp«

32Schwerpunkt: Grüne

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Im Jahr 1987 zeigt die »Lindenstraße« den ersten schwulen Kuss in einer deutschen Fernsehserie. Die beiden Darsteller erhalten später Morddrohungen

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»Die Lindenstraße

hat immer Tabuthemen

aufgegriffen«Sie läuft und läuft und läuft...

Deutschlands älteste Fernseh-Soap wird 25. Sara Turchetto ist seit zwölf Jahren dabei und sprach mit marx21 über

schlecht bezahlte Schauspieler und schwule Fernsehküsse

Sara Turchetto spielt seit 1998 die Rol-le der Marcella Varese in der »Linden-straße«. Daneben betreibt sie das Pro-jekt »Elektronische Lesung«. Mit ihrem »Lindenstraßen«-Kollegen Philipp Sonntag entwickelt sie derzeit das Büh-nenprogramm »Poetenplaneten«. Sie studiert Soziologie und Philosophie.

SARA TURCHETTO Sara, warum sollte man sich am Sonn-tagabend ausgerechnet eine Seifeno-

per anschauen?Weil es nicht irgendeine Seifenoper ist, sondern die »Lindenstraße«. Die Figuren sind Menschen wie du und ich. Glamou-röse, makellose Charaktere wird man dort nicht finden. Die Macher beweisen den Mut, gesellschaftlich brisante Themen wie Rassismus, Homosexualität oder den Klimawandel aufzugreifen. Außerdem wird die »Lindenstraße« nicht nur für die marktrelevante Zielgruppe der Teenager bis Mittdreißiger gemacht, sondern ist ge-nerationsübergreifend angelegt.Als wir unser zwanzigstes Jubiläum hat-ten, sind wir beim Kölner Rosenmontags-zug mitgelaufen und wurden von einem Moderator mit den Worten angekündigt: »Jetzt kommt die Serie ›Lindenstraße‹. Das ist wie ›Gute Zeiten, Schlechte Zeiten‹ – nur ohne ›gute Zeiten‹.« Ich fand das ganz schön, denn eine Flucht in märchenhafte

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»Linden-straße« ist wie »Gute

Zeiten, Schlechte

Zeiten« – nur ohne gute

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Stets aktuell: Die Bewohner warten auf die erste Hochrechnung der Bundestagswahl – die erst wenige Minuten vor Ausstrahlung der Folge bekannt gegeben wird

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dann wurde sie auch noch von ihrer Freundin wegen eines Mannes verlassen. Ein anderes Beispiel: Alle Figuren treffen sich immer im selben Café. Sie haben kei-ne Freunde außerhalb der Straße, in der sie leben. Wie realistisch ist das denn?»Lindenstraße« ist eine realitätsnahe Sen-dung, was natürlich nicht heißt, dass sie komplett der Realität entspricht – dafür ist sie eben doch noch Fiktion. Selbstver-ständlich haben die meisten Lindensträß-ler unglaubliche Schicksale, wie zum Bei-spiel die Rolle des Momo: Er war Stricher, hat seinen Vater umgebracht und hatte mit Anfang dreißig einen Schlaganfall.Aber wenn man Geschichten vermit-teln will, die tatsächlich so in dieser Welt stattfinden, dann finde ich es schon in Ordnung, dies innerhalb einer Rollenbi-ografie so enorm zu verdichten. Das Er-schreckende ist ja, dass diese Schicksale Menschen wirklich widerfahren.

Worum geht es euch denn? Wollt ihr unterhalten oder politisch sein?

Gegenfrage: Wann ist denn etwas nicht politisch? Wenn Stefan Raab bei »TV To-tal« Jugendliche verarscht, dann ist das auch politisch. Neulich habe ich eine Sen-dung von ihm gesehen, da wurden ein tür-kischstämmiger Junge und eine Deutsche gebeten, »ich schwimme« zu konjugieren. Und wer hat die Fehler gemacht? Mögli-cherweise war es eine konstruierte Situ-ation, aber der Türke hat alles richtig ge-macht und die andere hat völlig versagt. Auch wenn ich Stefan Raab normalerwei-se nicht mag: Die Signale, die mit so etwas gesendet werden sollen, finde ich nicht falsch. Ein anderes Beispiel: Wenn ich bei RTL2 »Engel im Einsatz« anschaue und Vero-na Pooth dort einer total runtergerockten Hartz-IV-Familie hilft und deren Leben wieder richtet, dann ist das auch politisch. Genauso läuft es ja auch mit den Teleno-velas: Es gibt soziologische Studien da-rüber, dass solche Serien, die die Flucht in eine andere, sanftere Realität ermögli-chen, gerade dort Konjunktur haben, wo es den Menschen schlecht geht. Nicht von ungefähr stammt dieses Format aus den ärmeren Ländern Lateinamerikas. Seit ei-nigen Jahren erhält es auch im deutschen Fernsehen Einzug – und zwar gerade seit jener Zeit, in der die soziale Lücke zwi-schen Arm und Reich immer spürbarer wurde. Zurück zum politischen Anspruch der »Lindenstraße«: Es gab oftmals Be-

schwerden von unserer Fangemeinde. Die sagten, die sympathischen Charaktere seien immer ein bisschen mehr links ori-entiert, während die Unsympathischeren eher rechts seien. Man sollte denen doch bitte sehr auch mal eine nette Partei geben und umgekehrt.

Im Jahr 1987 wurde in der »Lindenstra-ße« ein Kuss zweier schwuler Männer

gezeigt – zum ersten Mal in einer deut-schen Fernsehserie. Nach Ausstrahlung einer weiteren Folge mit einer Kuss-Szene erhielten die beiden Schauspie-ler Martin Armknecht und Georg Uecker mehrere anonyme Morddrohungen. War es falsch, das Thema aufzunehmen?Offensichtlich nicht. Die Reaktionen ha-ben doch nur die Notwendigkeit unterstri-chen, dass da etwas getan werden muss. Die »Lindenstraße« hat immer Tabuthe-men aufgegriffen – sei es der schwule Kuss, sei es ein Kind mit Downsyndrom, das bei uns mitspielt, oder sei es das Thema Nati-onalsozialismus – Klausi Beimer ist ja fast auf die schiefe Bahn gekommen.Ich glaube, es war richtig, dass es so früh ein schwules Pärchen in der »Lindenstra-ße« gab. Mittlerweile ist Homosexualität ja zu einer notwendigen Zutat für jede Serie geworden. Ich finde, das ist eine positive Entwicklung. Vor einiger Zeit hat mir der Freund meines Kollegen Gunnar Solka eine wunderschö-ne kleine Geschichte erzählt. Als er sich vor seiner Familie outete, hat seine Großmut-ter lediglich gesagt: »Na ja, das ist nicht so schlimm. Das gibt es ja auch in der ›Lin-denstraße‹.« Ein schöneres Kompliment kann man nicht bekommen.

Ich erinnere mich daran, dass man sich bei euch vor einigen Jahren Pla-

kate gegen den Irakkrieg bestellen konn-te. Macht ihr als Team öfter solche Akti-onen?Ja, wir engagieren uns auch heute noch – vor allem in sozialen Fragen. Es gibt ein Sozialkomitee des Ensembles, das geleitet wird von Birgitta Weizenegger, der Ines-Kling-Darstellerin. Dort planen wir Schau-spieler, wie wir soziale Projekte unterstüt-zen können. Gegenwärtig engagieren wir uns für den Paritätischen Wohlfahrtsver-band. Davor haben wir lange Zeit die »Lobby für Mädchen« in Köln gefördert. Aber wir ma-chen auch Aktionen auf der Straße oder bei Veranstaltungen.

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Fiktion – wie in vielen Telenovelas – gibt es mit der »Lindenstraße« nicht. Darüber hinaus versuchen wir, eine ge-wisse Realitätsnähe zu erzeugen – zum Beispiel durch die sogenannten Aktualisie-rungen. Die »Lindenstraße« wird sonntags gesendet und spielt in der Regel am voran-gegangenen Donnerstag. Häufig wird eine Sequenz noch kurz vor dem Ausstrah-lungstermin nachgedreht, um aktuelle Geschehnisse einfließen zu lassen. Im ver-gangenen Jahr saßen in der Folge, die am Abend der Bundestagswahl ausgestrahlt wurde, die Bewohner einer Wohngemein-schaft vor dem Fernseher und haben die erste Hochrechnung kommentiert, die in der Realität erst wenige Minuten vorher bekannt geworden ist.

Was heißt Realitätsnähe? Nehmen wir die Figur Tanja Schildknecht:

Sie hat ihre gesamte Familie verloren, später brannte ihre Wohnung aus, und

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Hause. Auch bei den Maskenbildnern sieht es nicht anders aus. Deren Arbeitsbe-dingungen haben nichts mit »9 to 5«, von 9 bis 17 Uhr, zu tun. Überstunden sind an der Tagesordnung. Manchmal bekommen die gar kein Tageslicht zu sehen. Bei man-chen Produktionen sind die Bedingungen richtig schlimm, da werden Dumpinglöh-ne oder dergleichen gezahlt. Nicht wenige Maskenbildner überlegen daher, aus dem Beruf auszusteigen.

Zurück zur »Lindenstraße«: Deine Se-rienfigur Marcella hatte in den ver-

gangenen Jahren näheren Kontakt zu zwei Männern muslimischen Glaubens. Wie wird deiner Ansicht nach der Islam in der »Lindenstraße« dargestellt?Zunächst einmal finde ich, dass der Islam erst sehr spät bei uns eine Rolle gespielt hat... Es gibt natürlich schon seit einigen Jahren die Figur Murat. Aber seine Religi-

Die Wirtschaftskrise hat auch vor dem Fernsehen nicht halt gemacht. Immer mehr Kollegen müssen zu schlechten Konditionen arbeiten. Manche erhalten nur noch 350 Euro Tagesgage – so viel ver-dient normalerweise ein Schauspielhund am Tag. Das mag im ersten Moment viel klingen, doch sollte man bedenken, dass es einem Schauspieler durchaus passie-ren kann, dass er auch in einem Monat nur drei bis vier Drehtage hat. Und dann ist das eben nicht viel Geld, was da zusam-menkommt. Vor allem weißt du nie: Wann kann ich wieder drehen? Werde ich das nächste Casting schaffen?Und das gilt nicht nur für Schauspieler: Ich finde es wichtig, auch das restliche Team zu erwähnen. Film und Fernsehen sind immer Gemeinschaftsarbeiten. Man denke nur an die Fahrer: Die werden mor-gens als Erste aus dem Bett geklingelt und kommen abends als Letzte wieder nach

Wie sieht es denn mit den Arbeitsbe-dingungen von euch Schauspiele-

rinnen und Schauspielern aus? Hmm, jetzt muss ich aufpassen, was ich sage. Ich bin ja dazu angehalten, nichts über unsere Vertragsbedingungen in der Öffentlichkeit auszuplaudern. Aber grund-sätzlich kann man schon sagen, dass wir uns als Schauspieler, die bei einer Serie angestellt sind, in einer halbwegs privile-gierten Situation befinden. Immerhin ha-ben wir Planungssicherheit. Wir wissen, wie viele Folgen wir pro Jahr drehen, und können uns dementsprechend ausrech-nen, wie viel Geld am Ende rauskommt. Das ist etwas, was es in dem Beruf der Schauspielerei eigentlich gar nicht gibt.Darüber hinaus geht es bei uns wirklich sehr sozial zu. Es gibt zum Beispiel einen Lindenstraßen-eigenen Kindergarten. Das heißt, Mitarbeiter mit kleinen Kindern können weiter bei uns arbeiten – sofern sie es wollen. Auch Schwangerschaften von Darstellerinnen haben keine negativen Folgen – etwa, dass die Stelle anderweitig besetzt wird. Stattdessen wird die Schwan-gerschaft entweder in die Geschichte ein-gebaut oder es wird so gedreht, dass man den Bauch nicht erkennen kann.Bei uns gibt es außerdem keine Hierar-chien. Es ist den Machern wichtig, dass sich keine Stars herausbilden. Natürlich gibt es die Mutter Beimer oder Kultfiguren wie Klausi und Momo. Aber normalerwei-se sagt keiner, der mich im Café sieht: Das ist doch die Schauspielerin Sara Turchet-to. Sondern die Leute sagen: Das ist doch die aus der »Lindenstraße«. Wir sind also weniger autonome Künstler als Teil eines Kollektivs, der »Lindenstraße« – was na-türlich auch nachteilig für uns Schauspie-ler sein kann. Andere Produktionen über-legen sich gut, ob sie nicht Gefahr laufen, ein bereits »belegtes« Gesicht zu engagie-ren.

Wie geht es Schauspielern, die nicht bei einer Serie angestellt sind?

Deren Situation ist in der Tat nicht beson-ders rosig. Ich bin Mitglied des Bundes-verbands der Film- und Fernsehschau-spieler (BFFS), der ersten Gewerkschaft in unserem Bereich. Wir haben uns erst 2006 formiert. Und dort geht es genau um sozi-ale Themen: Wie sind Schauspieler abgesi-chert? Wie soll man abgerechnet werden? Wie ist es mit Reisekostenpauschalen? Viele Schauspieler sind ja häufig auf Tour-nee oder drehen in anderen Städten.

Die »Lindenstraße« gegen den Irakkrieg – auch in der Realität: Das Plakat konnte man bestellen

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on ist erst durch Lisa, seine deutsche Frau, thematisiert worden. Sie ist konvertiert, hat zeitweilig ein Kopftuch getragen und die Sache insgesamt viel ernster genom-men als er.Das finde ich eigentlich einen geschickten Schachzug: Nicht der Klischeetürke, son-dern die Deutsche ist die streng religiöse Muslima. Außerdem hat die »Lindenstra-ße« gezeigt, wofür der Islam steht – dass er auch mit Poesie und Kultur zu tun hat; dass es um Menschenrechte geht.Dann gab es noch die Geschichte von Timo Zenker – auch ein Konvertit. Jedoch hatte er sich im Lauf der Zeit radikalisiert und wurde zum Terroristen. Als unser Produzent Hans W. Geißendör-fer mich sehr früh darauf hinwies, dass wir diese Geschichte machen würden, da habe ich erst gedacht: Oh, hoffent-lich wird das gut... Ein terroristischer An-schlag in der »Lindenstraße« – lass es bitte

nicht »gewollt, aber nicht gekonnt« wir-ken. Doch das Ergebnis fand ich dann ei-gentlich ganz gut. Die Drehbuchautoren haben versucht zu erklären, wie es zu der Radikalisierung kam. Zum Beispiel hat Ti-mos Kumpan immer wieder gesagt: »Jede Sekunde stirbt gerade ein Mensch auf der Welt – und der Westen ist schuld.« Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Geschichte etwas länger erzählt wird, weil sich in so einer Geschwindigkeit viel-leicht Sachen nicht beim Zuschauer so manifestieren können, wie es wünschens-wert wäre. Aber das Thema Islam insgesamt ist nicht gestorben. Die feste Rolle des Murat bleibt ja. Und natürlich werden die jüngsten Dis-kussionen – der Protagonisten Sarrazin, Seehofer und Wulff – auch bei uns einge-flochten werden.

Wie siehst du denn die gegenwärtige Debatte?

Ich war entsetzt, es hat mich sehr provo-ziert – gerade weil ich selbst auch aus einer Migrantenfamilie stamme. Meine Mutter ist Serbin, mein Vater Italiener. Seitdem mache ich Straßenkabarett: Ich sage Deutschen beispielsweise, ich kön-ne Ihnen meine Hand nicht reichen – schließlich habe ich Migrationshinter-grund und das könnte ansteckend sein. Dunkelhäutige fordere ich auf, zu gehen, weil man hiesig Angst vor dem Schwarzen Mann habe. Was ich sehr verletzend finde, ist nicht ein einzelner Sarrazin, sondern dass so viele Leute denken: Endlich traut sich mal jemand, die Wahrheit zu sagen.

Glaubst du, dass es ein Format wie die »Lindenstraße« auch noch in 25

Jahren im deutschen Fernsehen geben wird?Na klar! Vor allem: Es wird nicht so eine Sendung geben, sondern es wird hoffent-lich die »Lindenstraße« noch geben. Sie gehört zur ARD wie die »Sendung mit der Maus« und die »Tagesschau«. Ich glaube, dass wir uns treu bleiben werden. Außer-dem finde ich, dass wir uns stetig verbes-sern. Daher würde ich mir wünschen, dass auch diejenigen, die »Lindenstraße« nicht kennen – oder nur von damals, als Mama und Oma sie geschaut haben – sich einmal ein paar Folgen hintereinander anschau-en. Und dann entscheiden, ob sie ihnen etwas gibt, oder auch nicht.

Die Fragen stellte Marcel Bois

die Serie»Lindenstraße« wur-de zum ersten Mal am 8. Dezember 1985 aus-gestrahlt. Seither läuft die Serie jeden Sonn-tagabend um 18:50 Uhr in der ARD. Derzeit besteht das Team aus etwa 40 Hauptdarstel-lern, von denen zehn von Anfang an dabei sind. Als Vorbild dien-te »Lindenstraßen«-Erfinder Hans W. Geißendörfer das Mehrfamilienhaus sei-ner Kindheit und die britische Serie »Corona-tion Street«.

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»Tous ensemble, tous ensemble – alle zusammen, alle zusammen«. Am 19. Oktober schallt der Ruf durch die Straßen von Marseille als streikende Raffineriearbeiter, Schüler und Studenten gegen Sarkozys Rentenreform demonstrieren. Charlie Kimber berichtet für marx21.de aus Paris