6
Paediatr Paedolog 2014 · 49:14–19 DOI 10.1007/s00608-014-0153-3 © Springer-Verlag Wien 2014 S. Greber-Platzer Ambulanz für Adipositas und Fettstoffwechselstörungen, Abteilung für Pädiatrische Pulmologie, Allergologie und Endokrinologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien Massive Adipositas im  Kindes- und Jugendalter Diagnostische und therapeutische Strategien Übergewicht und Adipositas (Fettleibig- keit) sind weltweit ein wachsendes Pro- blem. Die steigenden Zahlen betreffen auch Kinder und Jugendliche. Zur Be- urteilung von Übergewicht und Adiposi- tas wird der Body-Mass-Index (BMI) ver- wendet, der sich nach folgender Formel berechnet: BMI = Körpergewicht (kg)/ Körperlänge 2 (m 2 ). Entsprechend der WHO-Klassifizierungstabelle ist man bei einem BMI von 25–29,9 kg/m 2 überge- wichtig und bei >30 kg/m 2 adipös. Von einer massiven Adipositas [“morbid obe- sity“ (MO)] spricht man ab einem BMI >40 kg/m 2 . Für Kinder und Jugendli- che sind absolute Werte nicht verwend- bar, da sich naturgemäß durch Längen- wachstum, Gewichtszunahme und Kör- perreifung der BMI verändert. Deshalb wird der errechnete BMI in Perzentilen angegeben, die altersbezogen darstellbar sind. Im deutschsprachigen Raum ver- wendet man die Perzentilen nach Kro- meyer-Haunschild [1]. Ein BMI zwischen dem 50. und 90. Perzentil gilt als normal, ein Wert zwi- schen dem 90. und 97. Perzentil wird als Übergewicht gewertet. Ab dem 97. Per- zentil spricht man von Adipositas, ab dem 99,5. Perzentil von MO (. Abb. 1, 2). Bei einem BMI deutlich über dem 99,5. Per- zentil gibt es allerdings keine weiteren Be- zugspunkte. Bei diesen Werten ist daher die Verwendung der „standard deviation scores“ (SDS LMS ) besser, die angeben, um welchen Faktor der BMI über dem BMI- Medianwert liegt [2]. Zahlen aus Österreich Laut der Gesundheitsbefragung 2006/07 von Statistik Austria sind 35% der Er- wachsenenbevölkerung übergewich- tig und 12% adipös. Für österreichi- sche Kinder gibt es keine Zahlen. Des- halb werden Daten benachbarter Län- der für Österreich übernommen und et- wa 20% der Kinder als übergewichtig eingestuft. Der Anteil extremer Adiposi- tas (>99,5. Perzentil) lag in einer Kohorte von 25.000 Wiener Kindern im Alter von 2–16 Jahren bei 2,1% [3]. Ursachen für Übergewicht und Adipositas Die Ursachen für den kontinuierlichen Gewichtsanstieg weltweit sind vielfältig und können mit der sog. Wohlstandsge- sellschaft in Verbindung gebracht wer- den. Das heißt, ein Angebot im Über- fluss an kalorien- und fettreicher Nah- rung, an süßen Getränken sowie Bewe- gungsmangel führen zu einer Zunahme der Fettmasse. Monogenetische Ursachen liegen nur in den seltensten Fällen vor, treten aber mit schwerer Adipositas bereits ab dem Säuglings- bzw. Kleinkindesalter auf und zeigen meist zusätzlich unterschiedliche endokrine Störungen (Insulinresistenz bzw. Proinsulinspiegel, Hypogonadismus, Mangel an adrenokortikotropem Hor- mon). Hierzu zählen Defekte, die Lep- tin, den Leptinrezeptor, den Melanocor- tinrezeptor 4, Proopiomelanocortin und die Proproteinkonvertase 1 betreffen [4]. Übergewicht und Adipositas treten gehäuft innerhalb von Familien auf, was einerseits für eine genetische Prädisposi- tion und andererseits für schlechte Ge- wohnheiten in Bezug auf Ernährung und Bewegung spricht. Man ist also mit multifaktoriellen Ursachen konfrontiert. Hierin liegen nun auch die Gründe, dass es nicht einfach eine „Wundermedizin“ gibt, die alle schlank werden lässt. Des- halb muss verlangt werden, dass man den Lebensstil und somit seine Gewohnhei- ten ändert. Diagnostik bei Übergewicht und Adipositas Um überhaupt Erfolg in der Behandlung der Adipositas zu haben, muss diese Di- agnose als Krankheit angesehen werden. Es sind immer primäre Ursachen und se- kundäre Komorbiditäten abzuklären. Der Umfang der Diagnostik ist allerdings ab- hängig vom BMI-Perzentil, also dem Grad an Übergewicht. Bei Übergewicht (90.– 97. Perzentil) sind ausreichend: F   Ausführliche Anamnese F   Klinischer Status mit Bestimmung des Pubertätsstadiums und orthopä- discher Erhebung F   Blutuntersuchung und Blutdruckmes- sung F   Psychologische Testung Erst bei positiver Familienanamne- se, Hypertonie, gewichtsassoziierten se- kundären Komorbiditäten, einer über- mäßigen Gewichtszunahme in kürzerer Zeit oder berechtigter Sorge über das be- 14 | Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014 Originalien

Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

Paediatr Paedolog 2014 · 49:14–19DOI 10.1007/s00608-014-0153-3© Springer-Verlag Wien 2014

S. Greber-PlatzerAmbulanz für Adipositas und Fettstoffwechselstörungen, Abteilung für Pädiatrische Pulmologie,

Allergologie und Endokrinologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien

Massive Adipositas im Kindes- und JugendalterDiagnostische und therapeutische Strategien

Übergewicht und Adipositas (Fettleibig-keit) sind weltweit ein wachsendes Pro-blem. Die steigenden Zahlen betreffen auch Kinder und Jugendliche. Zur Be-urteilung von Übergewicht und Adiposi-tas wird der Body-Mass-Index (BMI) ver-wendet, der sich nach folgender Formel berechnet: BMI = Körpergewicht (kg)/Körperlänge2 (m2). Entsprechend der WHO-Klassifizierungstabelle ist man bei einem BMI von 25–29,9 kg/m2 überge-wichtig und bei >30 kg/m2 adipös. Von einer massiven Adipositas [“morbid obe-sity“ (MO)] spricht man ab einem BMI >40 kg/m2. Für Kinder und Jugendli-che sind absolute Werte nicht verwend-bar, da sich naturgemäß durch Längen-wachstum, Gewichtszunahme und Kör-perreifung der BMI verändert. Deshalb wird der errechnete BMI in Perzentilen angegeben, die altersbezogen darstellbar sind. Im deutschsprachigen Raum ver-wendet man die Perzentilen nach Kro-meyer-Haunschild [1].

Ein BMI zwischen dem 50. und 90. Perzentil gilt als normal, ein Wert zwi-schen dem 90. und 97. Perzentil wird als Übergewicht gewertet. Ab dem 97. Per-zentil spricht man von Adipositas, ab dem 99,5. Perzentil von MO (. Abb. 1, 2). Bei einem BMI deutlich über dem 99,5. Per-zentil gibt es allerdings keine weiteren Be-zugspunkte. Bei diesen Werten ist daher die Verwendung der „standard deviation scores“ (SDSLMS) besser, die angeben, um welchen Faktor der BMI über dem BMI-Medianwert liegt [2].

Zahlen aus Österreich

Laut der Gesundheitsbefragung 2006/07 von Statistik Austria sind 35% der Er-wachsenenbevölkerung übergewich-tig und 12% adipös. Für österreichi-sche Kinder gibt es keine Zahlen. Des-halb werden Daten benachbarter Län-der für Österreich übernommen und et-wa 20% der Kinder als übergewichtig eingestuft. Der Anteil extremer Adiposi-tas (>99,5. Perzentil) lag in einer Kohorte von 25.000 Wiener Kindern im Alter von 2–16 Jahren bei 2,1% [3].

Ursachen für Übergewicht und Adipositas

Die Ursachen für den kontinuierlichen Gewichtsanstieg weltweit sind vielfältig und können mit der sog. Wohlstandsge-sellschaft in Verbindung gebracht wer-den. Das heißt, ein Angebot im Über-fluss an kalorien- und fettreicher Nah-rung, an süßen Getränken sowie Bewe-gungsmangel führen zu einer Zunahme der Fettmasse.

Monogenetische Ursachen liegen nur in den seltensten Fällen vor, treten aber mit schwerer Adipositas bereits ab dem Säuglings- bzw. Kleinkindesalter auf und zeigen meist zusätzlich unterschiedliche endokrine Störungen (Insulinresistenz bzw. Proinsulinspiegel, Hypogonadismus, Mangel an adrenokortikotropem Hor-mon). Hierzu zählen Defekte, die Lep-tin, den Leptinrezeptor, den Melanocor-tinrezeptor 4, Proopiomelanocortin und die Proproteinkonvertase 1 betreffen [4].

Übergewicht und Adipositas treten gehäuft innerhalb von Familien auf, was einerseits für eine genetische Prädisposi-tion und andererseits für schlechte Ge-wohnheiten in Bezug auf Ernährung und Bewegung spricht. Man ist also mit multifaktoriellen Ursachen konfrontiert. Hierin liegen nun auch die Gründe, dass es nicht einfach eine „Wundermedizin“ gibt, die alle schlank werden lässt. Des-halb muss verlangt werden, dass man den Lebensstil und somit seine Gewohnhei-ten ändert.

Diagnostik bei Übergewicht und Adipositas

Um überhaupt Erfolg in der Behandlung der Adipositas zu haben, muss diese Di-agnose als Krankheit angesehen werden. Es sind immer primäre Ursachen und se-kundäre Komorbiditäten abzuklären. Der Umfang der Diagnostik ist allerdings ab-hängig vom BMI-Perzentil, also dem Grad an Übergewicht. Bei Übergewicht (90.–97. Perzentil) sind ausreichend:F  Ausführliche AnamneseF  Klinischer Status mit Bestimmung

des Pubertätsstadiums und orthopä-discher Erhebung

F  Blutuntersuchung und Blutdruckmes-sung

F  Psychologische Testung

Erst bei positiver Familienanamne-se, Hypertonie, gewichtsassoziierten se-kundären Komorbiditäten, einer über-mäßigen Gewichtszunahme in kürzerer Zeit oder berechtigter Sorge über das be-

14 |  Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014

Originalien

Page 2: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

stehende Gewicht sind zusätzlich folgen-de Messungen indiziert:F  BlutdruckF  LipidstatusF  LeberenzymeF  NüchternglukoseF  Thyroideastimulierendes Hormon

(TSH)

Anders ist dies bei Vorliegen einer Adipo-sitas (>97. Perzentil), die immer das kom-plette Programm erfordert. Entscheidend für eine weiterführende Diagnostik sindF  familiäre Erkrankungen:1 Hypertonie,1 Diabetes mellitus Typ 2,1 Herzinfarkt,1 Schlaganfall,1 Arteriosklerose und1 Hyperurikämie sowieF  klinische Auffälligkeiten, z. B.1 bei Insulinresistenz:1 Acanthosis nigricans,1 vorzeitige Pubertät;

1 bei polyzystischem Ovarialsyn-drom:

1 Hirsutismus,1 Amenorrhö;

1 bei orthopädischen Problemen:1 Knick-Platt-Spreiz-Fuß,1 Genu valgum,1 Kyphose/Lordose und1 Epiphyseolysis capitis femoris.

Je nach Befund kann die Bestimmung von Sexualhormonen, Harnsäure, Li-pidstatus, Lipoprotein(a) oder Homo-zystein erforderlich sein, aber auch ein oraler Glukosetoleranztest, Schlafapnoe-untersuchungen, eine Abdomensonogra-phie (Leber, Gallenblase und Ovarien bei Mädchen) und/oder eine orthopädische Vorstellung.

Man muss sich darüber bewusst sein, dass es eine Vielzahl an Störungen gibt, die mit Adipositas vergesellschaftet sind, z. B. endotheliale, endokrinologische, re-nale oder kardiale Dysfunktionen und eine inflammatorische Aktivierung [5].

Ein besonderes Augenmerk ist bei massiver Adipositas gefordert, da hier meist somatische und psychische Komor-biditäten vorhanden sind und in der Fol-ge soziale Isolierung, eingeschränkte kör-perliche Bewegung und ein deutlich er-höhtes Mortalitätsrisiko bestehen. Eine

Abb. 1 8 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index (Mädchen im Alter von 0–18 Jahren)

Abb. 2 8 Perzentilenkurven für den Body-Mass-Index (Buben im Alter von 0–18 Jahren)

Bedingungsziele• Selbstwahrnehmung• Selbstwirksamkeit• Selbstkontrolle Fördernde Ziele

• Kon�ikt- und Stressbewältigung• Soziale InteraktionsfähiqkeitHauptziele

• Ess- und Ernährungsverhalten• Bewegungsverhalten

• Reduktion von Übergewicht• Reduktion des Risikos von Folgeerkrankungen• Verbesserung eingeschränkter Lebensqualität Abb. 3 9 Ziele der Adi-

positasschulung

15Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014  | 

Page 3: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

eigene Erkrankungsentität ist das meta-bolische Syndrom, ein gemeinsames Vor-liegen von bauchbetonter Adipositas, Hy-pertonie, Insulinresistenz und Dyslipidä-mie.

Eine psychologische Testung ist im-mer erforderlich und sollte eine psycho-logische, psychosoziale und Verhaltensdi-agnostik umfassen. Dabei geht es um das Erkennen von Essstörungen, wie Bulimie, „binge eating disease“ (BED), „sweet ea-ting“, sowie um affektive, emotionale und Verhaltensstörungen. Die familiäre Situa-tion ist abzuklären; differenziert werden muss zwischen internalisierenden und externalisierenden Auffälligkeiten. Fähig-keiten, die die Mitarbeit, Akzeptanz von Barrieren, soziale Kompetenz und Bewäl-tigungsstrategien betreffen, sind entschei-dend für therapeutische Ansätze.

Zu Beginn erfolgt zudem eine diäto-logische Exploration, um das Essverhal-ten und die Einstellung zum Essen zu er-fassen. Für den deutschsprachigen Raum sind allerdings kaum standardisierte Tests vorhanden (Ausnahme: „Inventar zum Essverhalten und Gewichtsproblemen für Kinder“ ab dem 11. Lebensjahr von Diehl [6]). Daher wird bei älteren Kindern und Jugendlichen auf ein selbst geführtes Er-nährungsprotokoll zurückgegriffen, bei kleineren Kindern werden meist die An-gaben der Eltern verwendet.

Therapien

Neben primären Erkrankungen, die vor-rangig zu behandeln sind, ist die Therapie auf folgende Ziele ausgerichtet:F  Gewichtsreduktion durch Verringe-

rung der Kalorienzufuhr und ver-mehrten Kalorienverbrauch

F  Behandlung von KomorbiditätenF  Reguläre psychische, soziale und kör-

perliche Kompetenz

Bei schweren Erkrankungen, schwerer psychosozialer Belastung und Vorliegen einer Essverhaltensstörung, sind diese pri-mär zu behandeln. Die Leitlinien zur Adi-positastherapie der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendal-ter (AGA) basieren auf Empfehlungen aus den USA.

Prinzipiell geht es um eine Änderung des Lebensstils. Diesbezüglich muss klar

Zusammenfassung · Abstract

Paediatr Paedolog 2014 · 49:14–19 DOI 10.1007/s00608-014-0153-3© Springer-Verlag Wien 2014

S. Greber-PlatzerMassive Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Diagnostische und therapeutische Strategien

ZusammenfassungAdipositas im Kindes- und Jugendalter be-darf klarer Richtlinien und Empfehlungen, da es sich um eine ernst zu nehmende Erkran-kung handelt, die sowohl zu schwerwiegen-den psychischen wie klinischen Folgeerkran-kungen führen kann. Eine ausführliche Ana-mnese und klinische Untersuchung ist essen-ziell, um das Ausmaß der Adipositas, primä-re und sekundäre Erkrankungen, psychische Störungen, aber auch Essgewohnheiten, kör-perliche Aktivitäten und Freizeitgestaltungen erfassen zu können; Gleiches gilt für eine ge-naue Familienanamnese hinsichtlich Adipo-sitas und assoziierter Erkrankungen. Darauf aufbauend kann ein persönliches Risiko pro-gnostiziert und auch ein möglichst gutes the-rapeutisches Regime erarbeitet werden.

Um Therapieziele bezüglich einer Ände-rung des Essverhaltens und körperlicher Ak-tivität zu erreichen, sind ein positives Selbst-wertgefühl, alternative Strategien zur Stress- und Konfliktbewältigung und soziale Kom-petenzen essenziell. Bei exzessiver Adiposi-tas bestehen bereits Folgeerkrankungen. Än-derungen zur Erreichung der Therapieziele werden dann kaum oder gar nicht angenom-men. Hier müssen alternative Lösungen an-

geboten werden, die aber einer strengen In-dikationsstellung unterliegen. Infrage kom-men eine medikamentöse Therapie oder eine bariatrische Operation. Die häufigste Form stellt die Magenbypassoperation dar, bei der perioperative und Langzeitnebenwirkungen wie auch die lebenslange Einhaltung stren-ger Ernährungsvorgaben und eine Substi-tution von Mikronährstoffen bei der Indika-tionsstellung zu berücksichtigen sind.

Zusammenfassend kann man festhal-ten, dass Adipositas im Kindes- und Jugend-alter eine ernst zu nehmende Erkrankung ist, die ohne Behandlung bereits in frühen Jah-ren zu schweren Folgeerkrankungen führt und mit einer erhöhten Mortalitätsrate ein-hergeht. Ein ausreichendes Angebot an The-rapieplätzen ist essenziell, da die Erfolgsaus-sichten wesentlich von einer möglichst frü-hen Anbindung der betroffenen Kinder und Jugendlichen, aber auch der gesamten Fami-lie abhängen.

SchlüsselwörterAdipositas · Body-Mass-Index · Komorbiditäten · Medikamentöse Therapie · Bariatrische Operation

Excessive obesity in childhood and adolescence. Diagnostic and therapeutic strategies

AbstractObesity in children and adolescents is an in-creasing problem worldwide and represents a serious disease leading to a variety of co-morbidities. Anamnesis and clinical examina-tions are essential to determine the degree of obesity, primary and secondary diseas-es, psychological disturbances, eating habits, physical and leisure activities, and also an ex-act family anamnesis with respect to obesity and comorbidities. This can help to define the personal health risk and therapeutic strate-gies. Changes in eating behavior and physical activities depend on improvements in self-es-teem, social competence and strategies con-cerning stress and conflict management. In excessive obesity therapeutic strategies fre-quently fail and clear indications suggest al-ternative therapies, such as drugs or bariatric

surgery. Among these gastric bypass surgery has proven successful, but perioperative and long-term side effects as well as lifelong sub-stitution of micronutrients and strict diet in-structions must be considered.

In summary obesity in childhood and ad-olescence represents an illness which must be taken seriously and without treatment leads to severe comorbidities even in the young. It is also associated with an increased mortality rate. Therefore an interdisciplinary and long-lasting therapy concerning patients and the entire family should start very early to have a chance of success.

KeywordsObesity · Body mass index · Comorbidities · Drug therapy · Bariatric surgery

16 |  Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014

Originalien

Page 4: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

sein, dass eine langfristige Gewichtsre-duktion durch verändertes Essverhalten und gesteigerte körperliche Aktivität nur erzielt wird, wenn ein gesteigertes Selbst-wertgefühl (Selbstwahrnehmung, Selbst-wirksamkeit, Selbstkontrolle) erreicht, Konflikt- und Stressbewältigungsstra-tegien erlernt und soziale Interaktions-fähigkeiten vorhanden sind (. Abb. 3). Wichtig ist dabei, Art, Umfang und In-tensität der Therapien festzulegen und entsprechend dem Verlauf zu adaptieren. Individuell entschieden wird, ob Einzel- oder Gruppentherapien bis hin zu einem stationären Aufenthalt sinnvoll sind, ob Bezugspersonen einbezogen werden sol-len oder ob eher ein Herausnehmen aus der häuslichen Situation notwendig ist.

Mehrere Studien zeigen bei Adiposi-tas einen besseren Erfolg nach einem sta-tionären oder Rehabilitationsaufenthalt in Bezug auf Gewichtsreduktion, Senkung der Lipidwerte, Steigerung der körperli-chen Aktivität und Selbstwertgefühl als bei einem ausschließlich ambulanten Ma-nagement. Für einen nachhaltigen Erfolg ist jedoch eine ambulante Nachbetreuung notwendig.

Diätologische Empfehlungen

Lebensmittelempfehlungen müssen sich einerseits an den Richtwerten für eine al-tersentsprechende adäquate Zusammen-setzung der Gesamtenergie und Flüs-sigkeitsmenge orientieren und anderer-

seits auf die Vorlieben und Essgewohn-heiten eingehen. Wichtig ist, dass sowohl die Kinder bzw. Jugendlichen in die Be-ratung eingebunden werden als auch je-ne Bezugspersonen, die für das Einkaufen und Kochen zuständig sind. Empfehlun-gen wie die „optimierte Mischkost“ und das Verwenden von Ampelfarben für Le-bensmittel zur Einteilung in reichlich, mäßig und sparsam bis hin zur Halbie-rung der Portionsgrößen bei unbefriedi-gendem Erfolg stehen hier zur Verfügung [6, 7]. Dabei sollte die zugeführte Ener-gie zu 30% aus Fett, zu 15% aus Proteinen und zu 55% aus Kohlenhydraten stam-men (. Tab. 1).

Altersabhängige Vorgaben zur Gewichtsreduktion

Eine Gewichtsreduktion wird abhängig vom Alter, Grad der Adipositas und Vor-liegen von Komorbiditäten empfohlen. So wird für das Alter von 2–6 Jahren oh-ne Komorbiditäten ein Gewichtsstillstand angestrebt, bei Komorbiditäten dagegen eine Gewichtsreduktion. Ab einem Alter

Tab. 1 Altersgemäße Lebensmittelverzehrmengen in der optimierten Mischkost

Alter Jahre 4–6 7–9 10–12 13–14 15–18

Gesamtenergiea kcal/Tag 1250 1600 1900 1950/2400 (w/m) 2200/2700 (w/m)

Empfohlene Lebensmittel (≥90% der Gesamtenergie)

Reichlich

Getränke ml/Tag 800 900 1000 1200/1300 1400/1500

Gemüse g/Tag 200 220 250 260/300 300/350

Obst g/Tag 200 220 250 260/300 300/350

Kartoffelnb g/Tag 150 180 220 220/280 270/330

Brot, Getreide(-flocken) g/Tag 150 180 220 220/280 270/330

Mäßig

Milch, Milchproduktec ml (g)/Tag 350 400 420 425/450 450/500

Fleisch, Wurst g/Tag 40 50 60 65/75 75/85

Eier Stück/Woche 2 2 2–3 2–3/2–3 2–3/2–3

Fisch g/Woche 50 75 90 100/100 100/100

Sparsam

Öl, Margarine, Butter g/Tag 25 30 35 35/40 40/45

Geduldete Lebensmittel (≤10% der Gesamtenergie)

Energie kcal/Tag (maxi-mal)

125 160 190 195/240 220/270

Bsp.: je 100 kcal entsprechen 1 Kugel Eiscreme, 45 g Obstkuchen, 4 Butterkekse, 4 EL Flakes, 4 TL Zucker, 2 EL Marmelade, 30 g Fruchtgummi, 20 g Schokolade, 10 Stück Chips oder 0,25 l Limonade

Frühere Version: M. Czerwinski und H. Kolbe (Koordinatorinnen bis 2009), C. Chahda, S. Jeß, A. Lawrenz, M. Kersting, A. Kühn-Dost, S. Mannhardt, S. Räkel-Rehner, R. Sta-chow, U. Strittmatter, J. Westenhöfer.Überarbeitete Version 2011: M. Kersting (Koordination seit 2010), K. Dokupil, S. Kapellen, S. Kapfer, B. Landsberg, S. Lichtenstein, E. Lipphardt, A. Moß, S. Plachta-Danielzik, S. Räkel-Rehner, C. Rohde, A. Schaefer, R. Stiff, G. Ullrich, K. Widhalm.a Bei geringer körperlicher Aktivität (gemäß Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, 2000).b Kartoffeln oder Nudeln, Reis u. a. Getreide.c 100 ml Milch entsprechen etwa 15 g Schnittkäse oder 30 g Weichkäse.EL Esslöffel; m männlich; TL Teelöffel; w weiblich.

Tab. 2 Vitamin- und Mineralstoffsubstitution. (Nach [10])

Supplement Dosierung

Multivitaminpräparat (Supradyn®,Centrum®) Täglich 1- bis 2-mal

Kalzium und Vitamin D 1200–2000 mg/Tag + 400–800 IE Vitamin D

Folsäure 400 μg/Tag (Multivitaminpräparat)

Eisen 40–65 mg/Tag

Vitamin B12 1000 μg/Monat i.m.

17Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014  | 

Page 5: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

von 6 Jahren reicht nur bei Übergewicht ohne Komorbiditäten ein Gewichtsstill-stand aus, ansonsten ist immer eine Ge-wichtsreduktion indiziert.

Medikamentöse Therapie

Für Kinder und Jugendliche gibt es in Österreich keine Zulassungen und Indi-kationen für eine medikamentöse The-rapie. Selbst bei Erwachsenen und Zu-lassungen für Jugendliche anderer Län-der erfolgt eine strenge Indikationsstel-lung, z. B. bei einem BMI ≥30 kg/m2 bzw. ≥28 kg/m2 mit Komorbiditäten, einem deutlich erhöhten gesundheitlichen Ri-siko und ausschließlich nach therapeu-tischer Erfolglosigkeit. Zugelassene Me-dikamente sind der Lipidasehemmer Orlistat, der die Verdauung von Fett im Darm hemmt, was als Nebenwirkung zu abdominalen Beschwerden bis hin zu Fettstühlen führen kann, und der vor-erst nur in den USA zugelassene Sero-toninagonist Lorcaserin mit zentral ap-petithemmender und sättigender Wir-kung, wobei als Nebenwirkungen Kopf-schmerz, Mundtrockenheit, Schwin-del, Müdigkeit und Obstipation auftre-ten. Viele Medikamente mit Zulassung für andere Erkrankungen werden zum Abnehmen missbraucht, was aufgrund

der Nebenwirkungen zu hinterfragen ist. Hierzu zählen u. a. Schilddrüsenhormo-ne, Antidiabetika, Sympathomimetika, Serotoninaufnahmehemmer und Anti-epileptika [9].

Bariatrisch-chirurgische Maßnahmen

Zahlreiche Studien belegen die Effektivi-tät chirurgischer Maßnahmen, wobei am häufigsten ein nachjustierbares Magen-band [“laparoscopic adjustable gastric banding“ (LAGB)] und eine Roux-en-Y-Magenbypassoperation (RYBP) durchge-führt werden (. Abb. 4), mit denen eine Gewichtsreduktion von 50–70% inner-halb von 2 Jahren erzielt werden kann. Während das LAGB ein ausschließ-lich restriktives Verfahren darstellt, ist die RYBP-Operation gemischt restriktiv und malabsorptiv. Zudem kommt es zur Reduktion appetithemmender und zur Ausschüttung sättigender Hormone.

Entsprechend den Vorgaben der AGA-S3-Leitlinie zur Therapie der Adi-positas im Kindes- und Jugendalter sind chirurgische Maßnahmen bei Jugend-lichen nur bei nachgewiesener Erfolg-losigkeit konservativer Therapien und bei Vorliegen einer extremen Adiposi-tas mit mehrfachen Komorbiditäten in-

diziert. Die Altersgrenzen von >13 Jah-ren bei Mädchen und >15 Jahren bei Bur-schen sind als Richtwerte anzusehen. Vo-raussetzung für eine operative Maßnah-me sind eine bewiesene Kooperationsfä-higkeit und -bereitschaft, Verlässlichkeit und das Erfassen der Tragweite des Ein-griffs. Eine Reihe von Kontraindikatio-nen verbietet andererseits diese Eingriffe:F  Endokrine ErkrankungenF  DrogenF  AlkoholF  Reduzierte kognitive FähigkeitenF  Psychiatrische Erkrankungen

Ebenso zu berücksichtigen sind etli-che perioperative (Anastomoseninsuffi-zienz, Wundheilungsstörungen, Peritoni-tis, kardiorespiratorische Probleme u. a.) und Langzeitkomplikationen (Hernien, Fisteln, Erbrechen, Erosionen, Ösopha-gitis, Dumping-Symptomatik, Mangel-ernährung u. a.), die eben die strenge In-dikationsstellung unterstreichen. Vor al-lem bei der RYBP-Operation ist eine ei-weißreiche Ernährung und lebenslange Substitution von Vitaminen und Spuren-elementen dringend einzuhalten. Den-noch belegen Studien, dass nur 20% der Jugendlichen diese Vorgaben verlässlich umsetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass bei Erwachsenen die Suizidrate dop-

Abb. 4 9 Darstellung der beiden häufigsten chirur-gischen Verfahren im Ju-gendalter

18 |  Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014

Originalien

Page 6: Massive Adipositas im Kindes- und Jugendalter

pelt bis 3-fach so hoch ist wie bei einer Kontrollgruppe ohne Operation.

Präoperativ sind eine Reihe klinischer und laborchemischer Untersuchungen, Ernährungs- und Bewegungsschulungen sowie Verhaltenstherapien erforderlich. Postoperativ gibt es nach RYBP-Opera-tionen einen streng einzuhaltenden Stu-fenplan für den Kostaufbau, der mit re-duzierter Flüssigkeitszufuhr beginnt und über den Nahrungsaufbau mit protein-haltiger Flüssigkeit, breiigen Speisen und besonders proteinreicher Kost bis hin zur Einnahme von täglich 5–6 Mahlzei-ten führt. Aufgrund der restriktiven und resorptiven Veränderungen ist eine Dau-ersubstitution mit Multivitaminpräpa-raten, Kalzium und Vitamin D, Folsäu-re, Eisen und alle 1–2 Monate einer i.m.-Gabe von Vitamin B12 notwendig (. Tab. 2). Typische Reaktionen sind Hypoglykä-mien und das Dumping-Phänomen, das bei übermäßiger Zufuhr von kohlenhyd-ratreichen Nahrungsmitteln zu Übelkeit, Unwohlsein, Schwindel und Schweißaus-brüchen führt.

Essenziell für den Erfolg nach einer bariatrischen Chirurgie sind ein stren-ges Einhalten der Regeln und körperliche Fitness, um negativen Folgen wie Muskel- und Knochenabbau sowie einer neuerli-chen Gewichtszunahme entgegenzuwir-ken.

Fazit für die Praxis

Wichtig ist, dass Adipositas bereits im Kindes- und Jugendalter als Erkrankung angesehen wird und ein deutlich erhöh-tes Risiko für eine frühe Morbidität und Mortalität besteht. Aus diesem Grund ist hier eine umfassende Abklärung er-forderlich. Bedacht werden muss, dass eine anhaltende Lebensstiländerung erst mit einer Steigerung des Selbst-wertgefühls, sozialer Kompetenz und alternativen Strategien zur Stress- und Konfliktbewältigung erreicht wird. Bei massiver Adipositas sind häufig bereits Sekundärschäden, deutliche körperli-che Einschränkungen und Verhaltens-auffälligkeiten vorhanden, sodass alter-native Therapien nach strenger Indika-tionsstellung möglich sind. Hierbei han-delt es sich um Medikamente oder bar-iatrische Operationen. Am häufigsten 

wird die Magenbypassoperation durch-geführt.

Als Quelle, wenn nicht extra angeführt, dienten die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA): Leitlinien für Diagnos-tik, Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter, S2-Leitlinie, Version 2013. Evidenz-basierte Leitlinie zur Therapie der Adipositas im Kin-des- und Jugendalter, S3-Leitlinie, Version 2009. Stel-lungnahme zu bariatrisch-chirurgischen Maßnahmen bei Jugendlichen mit extremer Adipositas vom 24. Fe-bruar 2012. Veröffentlicht auf der Homepage der AGA (http://www.a-g-a.de).

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. S. Greber-PlatzerAmbulanz für Adipositas und Fettstoffwechselstörun-gen, Abteilung für Pädia-trische Pulmologie, Allergo-logie und Endokrinologie, Universitätsklinik für Kinder- und JugendheilkundeWähringer Gürtel 18–20, 1090 Wien, Ö[email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. S. Greber-Platzer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Der Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur

1. Kromeyer-Haunschild, Wabitsch M et al (2001) Perzentile für den Body Mass Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiede-ner deutscher Stichproben. Monatsschr Kinder-heilkd 149:807–818

2. Cole TJ (1990) The LMS method for construc-ting normalized growth standards. Eur J Clin Nutr 44:45–60

3. Segna D, Widhalm H, Pandey MP et al (2012) Im-pact of mother tongue and gender on overweight, obesity and extreme obesity in 24,989 Viennese children/adolescents (2–16 years). Wien Klin Wo-chenschr 124:782–788

4. Walley AJ, Asher JE, Froguel P (2009) The gene-tic contribution to non-syndromic human obesity. Nat Rev Genet 10:431–442

5. Sharma AM (2004) Is there a rationale for angio-tensin blockade in the management of obesity hypertension? Hypertension 44:12–19

6. Diehl JM (1999) Attitude to eating and body weight by 11- to 16-year-old adolescents. Schweiz Med Wochenschr 129:162–175

7. Alexy U et al (2008) Die Ernährung von Kindern und Jugendlichen nach dem Konzept der opti-mierten Mischkost. Ernährungsumschau 55:168–175

8. Kerstin M (2009) Ernährungstherapie bei adipösen Kindern und Jugendlichen. Adipositas – Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 3:197–200

9. http://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wi-ki=Antiadiposita

10. Allied Health Sciences Section Ad Hoc Nutri-tion Committee, Aills L, Blankenship J et al (2008) ASMBS Allied Health Nutritional Guidelines for the Surgical Weight Loss Patient. Surg Obes Relat Dis 4(5 Suppl):S73–S108

19Pädiatrie & Pädologie 3 · 2014  |