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MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS Titel der Masterarbeit / Title of the Master‘s Thesis „'Mondnacht'-Vertonungen des 19. Jahrhunderts (Wieder-)entdeckung, Analyse und historisierend ästhetische Kontextualisierung ausgewählter Lieder“ verfasst von / submitted by Bianca Katrin Schumann B.A. B.Mus. angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of Master of Arts (MA) Wien 2016 Studienkennzahl lt. Studienblatt / degree programme code as it appears on the student record sheet: A 066 836 Studienrichtung lt. Studienblatt / degree programme as it appears on the student record sheet: Masterstudium Musikwissenschaft Betreut von / Supervisor: Univ.-Prof. Dr. Michele Calella

MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS - univie.ac.atothes.univie.ac.at/43213/1/45355.pdf · 2016. 8. 10. · „'Mondnacht'-Vertonungen des 19. Jahrhunderts (Wieder-)entdeckung, Analyse

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  • MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS

    Titel der Masterarbeit / Title of the Master‘s Thesis

    „'Mondnacht'-Vertonungen des 19. Jahrhunderts

    (Wieder-)entdeckung, Analyse

    und historisierend ästhetische Kontextualisierung ausgewählter Lieder“

    verfasst von / submitted byBianca Katrin Schumann B.A. B.Mus.

    angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of

    Master of Arts (MA)

    Wien 2016

    Studienkennzahl lt. Studienblatt /degree programme code as it appears onthe student record sheet:

    A 066 836

    Studienrichtung lt. Studienblatt /degree programme as it appears onthe student record sheet:

    Masterstudium Musikwissenschaft

    Betreut von / Supervisor: Univ.-Prof. Dr. Michele Calella

  • Danksagung

    Meinen herzlichsten Dank möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Michele Calella, dem

    Betreuer meiner Arbeit, aussprechen, der mir in zahlreichen Gesprächen stets mit Rat zur

    Seite stand und den Verlauf des Schreibprozesses intensiv begleitete.

    Des Weiteren möchte ich mich für all die kritischen Anmerkungen und anregenden

    Unterhaltungen bedanken, die ich mit Familienmitgliedern und Freunden geführt habe, die

    mir zum einen neue thematische Blickwinkel eröffneten und zum anderen die nötige Kraft

    und Unterstützung gaben, der es bedurfte, um die Arbeit fertig zu stellen.

    Wien, Juli 2016

  • Inhaltsverzeichnis

    1. Einleitung 5

    2. Der ästhetische Diskurs über die Gattung des Liedes im 19. Jahrhundert:

    nachgezeichnet anhand von Primärquellen 10

    2.1. Heinrich Christoph Koch 10

    2.2. August Wilhelm Schlegel 11

    2.3. Hans Georg Nägeli (I) 13

    2.4. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann 15

    2.5. Hans Georg Nägeli (II) 16

    2.6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel 17

    2.7. Gustav Schilling /Gustav Nauenburg 19

    2.8. Eduard Hanslick 20

    2.9. Hermann Mendel 22

    3. Zwei Parteien im gattungsästhetischen Diskurs 23

    3.1. Das Primat der Einfachheit 23

    3.2. Die Forderung nach kompositorischer Eigenständigkeit 24

    4. Über die traditionellen Verwurzelungen der ästhetischen Parteien 25

    4.1. Über das kunstlose Kunstlied der mittleren Goethezeit 25

    4.2. Über das „kunstvolle“ Lied seit Schubert 28

    5. Zwei originale Traditionen: Der Versuch einer Schlichtung 30

    6. Die Eichendorff-Rezeption im 19. Jahrhundert 32

    7. „Mondnacht“ – eine Gedichtanalyse 35

    7.1. Die formale Gedichtsanlage: Zwischen standardisierter Formalität

    und origineller Individualität 35

    1

  • 7.2. Die inhaltlichen Themenfelder 38

    7.2.1. Der heidnische Urmythos 38

    7.2.2. Eichendorff, ein „Dichter des Heimwehs“ 39

    7.2.3. Zwischen Innen- und Außenwelt 41

    7.2.4. Die innerstrophische Verbindung 42

    8. „Mondnacht“ – Analysen der Einzelkompositionen 46

    8.1. Robert Schumann: Hermeneutische Vieldeutigkeit als

    Qualitätsmerkmal? 46

    8.1.1. Ein deklamatorisches Lied? 47

    8.1.2. Der oberdominantische Raum im harmonischen

    Schwebezustand 50

    8.1.3. Die Subdominante als Moment der Heimkehr? 51

    8.2. Johannes Brahms: Zwischen Schein und Wirklichkeit 54

    8.2.1. Tonmaterial 1 55

    8.2.2. Tonmaterial 2 56

    8.2.3. Die Vermischung der Tonmaterialien 57

    8.2.4. Die Vereinnahmung von Tonmaterial 1 59

    8.3. Eduard Lassen: Das vermeintlich Identische: Im Spannungsfeld

    enharmonischer Pole 61

    8.3.1. Die harmonischen Pole Ges-Dur und Fis-Dur 62

    8.3.2. Religiöse Ewigkeit contra irdische Endlichkeit 64

    8.3.3. Versöhnende Einsicht 66

    8.4. Friedrich Kiel: Zwischen Jenseits und Diesseits 68

    8.4.1. Eine Bestandsaufnahme 69

    8.4.1.1. Die erste Strophe 69

    8.4.1.2. Die zweite Strophe 71

    8.4.1.3. Die dritte Strophe 73

    8.4.2. Der Triumph der Religiösität über die Sinnlichkeit 76

    8.5. Emil Kauffmann: Semantische Dialektik als Formkonstituente 77

    8.5.1. Eine Bestandsaufnahme 78

    8.5.2. These – Antithese – Synthese: Semantische Dialektik 83

    2

  • 8.5.3. Zwischen asketischer Mystik und lebendiger Naturerfahrung 84

    8.6. Per aspera ad astra? 85

    8.6.1. Heinrich Marschner: Grelle Dramaturgie statt lyrischen

    Stimmungsbildes 85

    8.6.1.1. Marschners Eingriffe in die Gedichtgestalt 86

    8.6.1.2. Die harmonische Faktur 88

    8.6.1.3. Die deklamatorische Ausdeutung des Gedichtstextes durch

    die Gesangsstimme 88

    8.6.2. Carl Mikuli: Die Suche nach dem tonalen Zentrum –

    die Dominante als Schlüsselfunktion 91

    8.6.2.1. Die motivische Entwicklung – der Quartzug

    als Schlüsselmotiv 93

    8.6.2.2. Die tongeschlechtliche Wende als Einlösung des

    sprachlichen Gehalts 94

    8.7. Bertha Brukenthal: Im Spannungsfeld zwischen textgebundener

    Deklamation und persönlichem Ausdruckswillen 96

    8.8. Friedrich Wilhelm Dietz: Dur-Moll-Dualismus als semantischer

    Ausdrucksträger 101

    8.8.1. Die harmonische Disposition 102

    8.8.2. Zwei Ebenen musikalischer Realität 104

    8.8.3. Gesang und Klavier in ambivalenter Relation 106

    8.9. Natalie von Lancken: „...von ihm, von ihm nur träumen müsst...“ i108

    8.9.1. Die Verweigerung des musikalischen Kusses von Himmel

    und Erde 109

    8.9.2. Die perspektivische Bewusstseinsverschiebung des

    lyrischen Ichs 111

    9. Über den kompositorischen Umgang mit musiktheoretischen

    Gattungsdefinitionen 115

    10. Anhang 118

    3

  • 10.1. Quellenverzeichnis 118

    10.1.1. Primärquellen 118

    10.1.1.1. Theoretische und archivarische Schriften i 118

    10.1.1.2. Handschriftliche Musikalien 119

    10.1.1.3. Gedruckte Musikalien 119

    10.1.2. Sekundärliteratur 120

    10.2. Notenmaterial 124

    10.3. Abstract 142

    4

  • 1. Einleitung

    Das Forschungsvorhaben, eine Auswahl von Liedvertonungen des 19. Jahrhunderts für

    Singstimme und Pianoforte des Gedichtes "Mondnacht", verfasst von Freiherr Joseph von

    Eichendorff, aus ihrer nahezu vollständigen Vergessenheit zu bergen, kann für mehrere

    musikwissenschaftlich relevante Themenfelder fruchtbar gemacht werden. Zum einen

    erweist sich die Suche nach Kompositionen selbst, die es nicht in den engen Kanon des

    Repertoires der Gegenwart geschafft haben, bereits als Verdienst, da sich dadurch ein neues

    Stück verschütteter Musikkultur offenbart, was folglich einen neuen Blick auf gewisse

    Teilmomente der Musikgeschichte ermöglicht. Dass es sich bei meinem Forschungsvorhaben

    tatsächlich um die Erschließung eines nahezu vollkommen unbehandelten

    Repertoirebereiches handelt, lässt sich daran ablesen, dass es – die Kompositionen

    Schumanns und Brahms' ausgenommen – nur äußerst wenige, zumeist nur die Oberfläche

    ihres Gegenstandes berührende Aufsätze gibt, die sich der Vertonungen des heute wie damals

    sehr bekannten und hoch geschätzten Gedichtes "Mondnacht" widmen.

    Der entscheidende Anhaltspunkt, der mich auf meiner Suche nach den einzelnen

    Liedvertonungen leitete, war das Doppel-Handbuch der Gesangs- und Clavierliteratur1

    Ernst Challiers, das, da im Jahr 1896 erschienen, den nahezu gesamten für meine Arbeit

    relevanten Zeitabschnitt fasst. Die 41 dort aufgelisteten Vertonungen nennen jedoch nicht

    alleinig Sololieder für Klavier und Gesang, welche ausschließlich Gegenstand der

    vorliegenden Arbeit sind, sondern ebenso chorische Vertonungen oder solche, die nicht

    ausschließlich das Klavier als Begleitinstrument verwenden. Da das Handbuch neben dem

    vollständigen Nachnamen und dem ersten Buchstaben des Vornamens des Komponisten bloß

    Informationen zu einer eventuell vergebenen Opuszahl, zum zuständigen Verlag und dem

    damaligen Preis bereithält, jedoch keine Auskunft über die Besetzung gibt, galt es, im ersten

    Schritt meiner Recherchearbeit zu versuchen, sämtliche aufgelisteten Vertonungen ausfindig

    zu machen, um prüfen zu können, ob sie in den für die Zwecke dieser Arbeit festgelegten

    Kanon passen. Zehn Vertonungen, die sowohl die zeitlichen, wie auch die

    besetzungsspezifischen Kriterien erfüllen, habe ich nach intensiver Recherchearbeit

    auffinden können. Sie werden den Hauptgegenstand meiner vorliegenden Arbeit bilden.

    1 Challier, Ernst, Doppel-Handbuch der Gesangs- und Clavierliteratur.

    5

  • Zum anderen ist die Beschäftigung mit der getroffenen Liedauswahl für den Nachvollzug

    des sich im 19. Jahrhundert ereignenden, von Musiktheoretikern, wie auch von

    Schriftstellern anderer Fachbereiche, wie Literatur oder Philosophie geführten Diskurses

    über die Gattung des Liedes aufschlussreich. Da das ausgewählte Liedrepertoire zeitlich

    größtenteils in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist und ich mir der

    Notwendigkeit, die auf die Rahmenbedingungen der vorliegenden Arbeit zurückzuführen ist,

    der Konzentration auf das Wesentlichste bewusst bin, werde ich meine Ausführungen zu

    diesem Themenbereich auf jene Primärliteratur beschränken, die, beginnend mit Heinrich

    Christoph Kochs Lexikon aus dem Jahre 1802, im Stande ist, die Situation des

    gattungsästhetischen Diskurses des 19. Jahrhunderts historisierend2 zu rekonstruieren.

    Hierbei werde ich mich maßgebend auf die Autoren Eduard Hanslick, Georg Wilhelm

    Friedrich Hegel, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Heinrich Christoph Koch, Hermann

    Mendel, Hans Georg Nägeli, Gustav Schilling und August Wilhelm Schlegel berufen. Für

    eine weitere rückbindende historische Verortung jenes Diskurses, dessen Wurzeln bis in die

    Etablierung der ersten Berliner Liederschule in der Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts

    zurückreichen und der ferner die sich zwanzig Jahre später ereignende Auseinandersetzung

    mit dem Volkslied als Träger wahrer nationaler Identität durch Johann Gottfried Herder

    umfasst, wird der interessierte Leser auf einschlägige weiterführende Literatur verwiesen

    werden. Zweck dieses thematisch einführenden Abschnittes ist die vorbereitende

    Auseinandersetzung mit einer gattungsästhetischen Diskussion, der für die Untersuchung des

    Verhältnisses zwischen einerseits musiktheoretischen Ausführungen und andererseits

    kompositorischen Praktiken am Ende der Arbeit fruchtbar gemacht werden soll. Den

    Einleitungsteil schließend wird den Ursachen für die generelle Spaltung in zwei Parteien

    innerhalb der gattungsästhetischen Debatte auf den Grund gegangen werden, um selbige

    rückwirkend vermittelnd zu schlichten.

    Darüber hinaus ist es unabdingbar, eine jede Vertonung als individuelles Werk in ihrem

    Kontext zu betrachten, um sie nicht an inadäquaten, ihr künstlich übergestülpten ästhetischen

    Kategorien zu messen. Eine solche Analyse der jeweiligen Kompositionen kann sich auf der

    Ebene sämtlicher musikalischen, wie auch das Verhältnis von Sprache zu Musik

    einschließenden Parameter erstrecken, welche, da selbige jeweils aufeinander verweisen, in

    2 Vgl.: Fuhrmann, Wolfgang, "Historisierende Aufführungspraxis: Plädoyer für eine Begriffsmodifikation", in: Österreichische Musikzeitschrift 67/2 (2012), S. 14-21.

    6

  • der Betrachtung derer Summe eine möglichst objektive Erfassung des zu untersuchenden

    Gegenstandes gewährleistet. Die Analysen werden in chronologischer Reihenfolge, am

    Publikationszeitpunkt gemessen, angeordnet werden. Die Vertonung Natalie von Lanckens,

    zu der kein Publikationszeitpunkt ausfindig gemacht werden konnte, wird den Schlussstein

    des analytischen Hauptteils bilden. Heinrich Marschners Liedkomposition, welche

    chronologisch bemessen an dritter Stelle erscheinen müsste, wird an die sechste Stelle

    verschoben werden. Sie erscheint daher vor der Analyse Carl Mikulis Vertonung, welcher

    dieseselbe ausgehende Forschungsfrage zugrunde liegen wird, wie jener Marschners.

    Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Ausführungen, die sich auf sämtliche im

    Rahmen dieser Arbeit behandelte Komponisten richten, auf die gleichzeitige Verwendung

    männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Die Personenbezeichnungen gelten an

    entsprechenden Stellen gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

    Eng an den vorherigen Punkt anknüpfend, soll insbesondere durch die Ausdeutung des Text-

    Musik-Verhältnisses versucht werden der Fragestellung nachzugehen, in welcher Weise der

    Komponist jenen Versen des Gedichtes begegnet, in denen der Dichter sich für eine

    konjunktive Darstellungsweise des poetischen Gehalts entschied. Die prominent zu Beginn

    und Schluss des Gedichtes platzierten "als - ob" Konstruktionen, lassen den Leser mit einer

    allegorischen Bewusstseinsschilderung allein. Über jene poetischen Inhalte – der Kuss

    zwischen Himmel und Erde, sowie die Seele, die nach Hause fliegt – mussten die

    Komponisten entscheiden, ob sie in der Sphäre des Irrealen verharren, es also bei einer

    metaphorisch ausgekleideten Wunschvorstellung des lyrischen Ichs bleibt, die nicht in

    Erfüllung geht, oder ob selbige sich über die Ebene des symbolischen Gleichnisses erheben

    und in der musikalischen Realität eine Verwirklichung erfahren.

    Der Tatsache bewusst, dass es vor allem aufgrund keiner zu Verfügung stehenden

    Äußerungen der Komponisten selbst unmöglich ist, deren Intentionen nachweislich zu

    rekonstruieren, sehe ich es dennoch, beziehungsweise gerade aufgrund dessen als

    essentielles Aufgabengebiet der Musikwissenschaft an, auf der Basis einer genausten

    Analyse des Liedmaterials den Versuch einer plausiblen hermeneutischen Ausdeutung

    vorzunehmen. Hierfür ist die tiefgehende Kenntnis des den Vertonungen zugrundeliegenden

    Gedichts von großer Wichtigkeit. Nicht allein die vielfältigen inhaltlichen

    Deutungsmöglichkeiten, die es herauszuarbeiten gilt, sondern ebenso die Analyse des

    7

  • metrischen Baus, des Reim- und Kadenzschemas bilden eine konstante Herausforderung, mit

    der jeder Komponist zwangsläufig umzugehen hat. Ein Abgleich der verschiedenen

    Umgangsweisen mit dem für jeden Komponisten verbindlichen Formgerüst des Gedichts

    ermöglicht eine Gegenüberstellung der Kompositionen untereinander und kann bei dem

    Versuch, herausfiltern zu wollen, welcher Strophe, welchem Vers, welchem Wort ein

    jeweiliger Komponist mehr Gewicht verlieh, entscheidend sein, was im Rückkehrschluss

    wertvolle Hinweise auf die hermeneutische Interpretation bereitstellt.

    Unterstützende Hilfestellung bei der Herangehensweise zu diesem Vorhaben, habe ich aus

    der Lektüre einschlägiger Sekundärliteratur gewonnen. Ins Besondere sind in diesem

    Zusammenhang namentlich die Autoren Carmen Debryn, Walther Dürr und Ewa Anna Piasta

    zu nennen.

    Es lässt sich, die formulierten Forschungsaufgaben Revue passierend, festhalten, dass sich

    die gesamte Arbeit in zwei übergeordnete Themenkomplexe einteilen lässt. Es handelt sich

    hierbei um die analytische Beschäftigung mit einer jeden Einzelkomposition unter dem

    Gesichtspunkt oben erwähnter Schwerpunkte und um einen durch Quellen des 19.

    Jahrhunderts fundierten kritischen Abgleich zwischen theoretischen Postulaten und

    praktischen Kompositionen in Bezug zur Gattungstradition des Sololieds für Singstimme

    und Pianoforte. Jener wird einerseits als theoretische Einführung in die ästhetische Situation

    des 19. Jahrhunderts fungieren und ebenfalls am Schluss der Arbeit nach vollzogener

    analytischer Auseinandersetzung als Referenz dienlich sein, wenn es abschließend darum

    gehen wird das Verhältnis zwischen theoretischen Postulaten und praktisch kompositorischer

    Arbeit zusammenfassend darzustellen.

    Die Wahl des Themas einer profilverleihenden akademischen Arbeit, wie die Masterarbeit

    eine ist, sollte wohl bedacht getroffen werden. Interessensgebiete und wissenschaftliche

    Relevanz gehen bei ihr im Idealfall Hand in Hand. So war es auch mir ein großes Anliegen,

    bei der Themenwahl einerseits meine inhaltlichen Interessen zu berücksichtigen, andererseits

    aber ebenso ein Forschungsergebnis anzusteuern, das zwar keine zwangsläufig

    bahnbrechenden neuen Erkenntnisse erwarten ließ, dem aber dennoch deutlich erkennbar

    innovative, das Fach der historischen Musikwissenschaft bereichernde Einsichten ab zu

    gewinnen sein würden. Da die vorliegende Arbeit im noch geschützten Rahmen der

    8

  • universitären Lehre verfasst wird, sie also ein erster Prüfstein einer umfangreicheren

    eigenständigen Forschungstätigkeit darstellt, war es mir ein Anliegen, ein Thema zu wählen,

    an dem ich eine Mehrzahl methodischer Herangehensweisen an verschiedene

    musikwissenschaftliche Aufgabenfelder würde anwenden und dadurch gleichfalls üben

    können. So erschien mir die Wahl unbekannter Liedvertonungen auf der Grundlage eines

    zweifelsohne ranghaften Gedichts aus einer Epoche, mit der ich mich in der Vergangenheit

    zwar bereits intensiv beschäftigt habe, sie jedoch nie mein hauptsächlicher

    Forschungsgegenstand war, in Hinblick auf meine persönlich fachliche Entwicklung sinnvoll

    und ertragreich. Ebenso die Verbindung zweier Kunstformen, wie sie bei Liedvertonungen

    stets aufeinanderprallen, erschienen mir als ein besonderer Anreiz, was durch meine

    persönliche Affinität zur Lyrik des langen 19. Jahrhunderts zu begründen ist.

    Die Erschließung eines neuen Repertoires, wie sie hier geleistet wird, welches sich der

    Vertonung eines unangefochten höchst kunstvollen Gedichtes verschreibt, ist,

    zusammenfassend formuliert, einerseits für das praktische, interpretatorische Musikleben

    von direkter Relevanz und andererseits für universitäre Fachbereiche neben der

    Musikwissenschaft, wie beispielsweise jenes der Germanistik von Nutzen, da es denkbar ist,

    dass Erkenntnisse, die durch musikwissenschaftliche Analysen gewonnenen wurden, Anstoß

    zu neuen Interpretationsansichten bezüglich der zugrunde liegenden Gedichtgrundlage geben

    könnten. Eine engere wechselseitige interdisziplinäre Zusammenarbeit wäre hier, wie auch

    in vielen anderen Bereichen, gewiss eine große Bereicherung für jegliche beteiligten

    Wissenschaftszweige.

    Meine Masterarbeit betrachte ich daher einerseits als einen weiteren wichtigen Schritt

    innerhalb meiner universitären Ausbildung auf meinem gewünschten Weg zu einer

    professionellen akademischen Beschäftigung, der nach einer Anwendung und der damit

    einhergehenden Erprobung vielfältiger Methoden und Betrachtungsweisen verlangt, und

    andererseits als eine fachliche Bereicherung für Musikwissenschaftler, Instrumentalisten und

    gegebenenfalls ebenso Wissenschaftler anderer Fakultäten und Disziplinen.

    9

  • 2. Der ästhetische Diskurs über die Gattung des Liedes im 19. Jahrhundert: nachgezeichnet anhand von Primärquellen

    2.1. Heinrich Christoph Koch

    Der Musiktheoretiker und -lexikograph Heinrich Christoph Koch definiert in seinem 1802

    im „Musikalischen Lexikon“3 erschienenen Artikel „Lied“4 selbiges als „jedes lyrische

    Gedicht von mehrern Strophen, welches zum Gesang bestimmt, und mit einer solchen

    Melodie verbunden ist, die bey jeder Strophe wiederholt wird, und die zugleich die

    Eigenschaft hat, daß sie von jedem Menschen, der gesunde und nicht ganz unbiegsame

    Gesangorgane besitzt, ohne Rücksicht auf künstliche Ausbildung derselben, vorgetragen

    werden kann.“5 Aus dieser Forderung nach einem für jedermann technisch problemlos zu

    bewältigenden Stücke leitet Koch konkrete kompositorische Richtlinien ab, die für einen

    jeden Liedkomponisten verbindlich sein sollten. Liedmelodien dürften weder im „Umfang

    der Töne“, noch in „Singmanieren und Sylbendehnungen“ künstlicher Art sein, sondern der

    „im Texte enthaltenen Empfindungen“ habe – anders als es bei Gesangsarien der Fall ist –

    „durch einfache, aber desto treffendere Mittel“6 gerecht zu werden. In der Einfachheit der

    Gattung des Liedes liegt nach Kochs Ansicht ein Wert verborgen, der sich in der Möglichkeit

    des den meisten Menschen innewohnenden Hangs, ihre Gefühle singend auszudrücken,

    offenbart. Da das Lied das einzige „Kunstprodukt“ der „modernen Musik“7 sei, das – wie

    bereits dargelegt – um deren Wiedergabe Wille keiner professionellen Ausbildung bedürfe,

    sei jeglicher Beweis dessen Wichtigkeit überflüssig. Das Lied, als „vereinte[n] Poesie und

    Musik“ diene neben dem personenbezogenen Zwecke der emotionalen Erleichterung ferner

    als Bereicherung der „Bildung der Herzen“ der „verschiedenen Klassen der Bürger eines

    Staates“ und löse als alleiniges „Produkt der Ton- und Dichtkunst“ der gegenwärtigen Zeit,

    gesellschaftliche Klassen übergreifend, „unmittelbares Interesse“8 an der Kunst aus. Ursache

    dieses gattungsspezifisch einzigartigen, alle gesellschaftlichen Schichten fassenden

    3 Koch, Heinrich Christoph: Musikalische Lexikon4 Ebd., Sp. 901-904.5 Ebd., Sp. 901.6 Ebd., Sp. 901 f.7 Ebd., Sp. 903.8 Ebd., Sp. 903.

    10

  • Faszinosums wurzelt laut Koch in der Fokussierung der Liedkomponisten auf das Hauptziel,

    „lediglich Rührung“ hervorzurufen und dies nicht mittels „lange[r] Ausführungen der

    Tonstücke“ oder durch die „Anhäufung vieler Instrumente bey der Begleitung des

    Gesanges“, sondern bloß durch „eine sehr einfache und kurze Melodie“, deren Zweck es ist,

    im Ausdruck „den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“9. Aufgrund der von Koch

    geforderten bewussten Beschränkung bei der Verwendung kompositorischer Mittel, dürfe

    jedoch keinesfalls auf eine Leichtigkeit hinsichtlich der tatsächlichen kompositorischen

    Arbeit geschlossen werden, denn wer die „Verfertigung eines Liedes für eine Kleinigkeit

    hält, […] irrt.10“

    2.2. August Wilhelm Schlegel

    In den Jahren 1801 bis 1804 hielt August Wilhelm Schlegel in Berlin die Vorlesungsreihe

    „Über schöne Litteratur und Kunst“11, in der er sich neben zahlreichen anderen Bereichen,

    ebenso der „Musik“12 und der „Poesie“13 widmete. Die achtzig Jahre später im Druck

    erschienene Buchausgabe jener Vorlesungen ermöglicht es, für den im Rahmen dieser Arbeit

    nachzuzeichnenden Gattungsdiskurs relevante Aspekte zu extrahieren, welche die

    liedästhetische Positionen Schlegels in Worte fassen.

    Schlegel schreibt der Gesangsstimme in Gegenüberstellung zu jeglichen Musikinstrumenten

    hinsichtlich des chronologischen Erfindungszeitpunktes und des beginnenden

    Nutzungszeitraums, das Primat zu. So stellt er fest, dass die „menschliche Stimme als die

    Grundlage der Musik anerkannt werden“14 müsse, sofern von einer sich allmählich,

    schrittweise sich entwickelnden Kunstform der Musik ausgegangen werde. Schlegel

    konstatiert, dass alle Instrumente nur deshalb erfunden wurden, weil die Singstimme „ein

    sehr verstimmbares Instrument“ sei, das einen „sonoren Körper“15 brauche, der allzeit einen

    gesuchten Ton angeben könne. Aus dieser den Instrumenten alleinig zugeschriebenen

    9 Ebd., Sp. 904.10 Ebd., Sp. 904.11 Schlegel, August Wilhelm, A. W. Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst.12 Ebd., S. 238-257.13 Ebd., S. 261-270.14 Ebd., S. 238.15 Ebd., S. 252.

    11

  • Funktion resultiert eine Ablehnung jedes Gebrauchs, der selbige Funktion als „willkührliche

    ungültige Erweiterung der Musik“ und „Abweichung von ihrer ächten Bestimmung“16

    überschreitet. Ebenfalls die „Modulation“, die da ist der „Wechsel der Töne in Ansehung der

    Höhe und Tiefe nach bestimmbaren Verhältnissen, welche […] bloß in den eigentlichen

    musikalischen Tönen Statt finden“, verweist auf die Singstimme, die „eigene Kehle“ als

    ersten „natürlichen sonoren Körper“17, mit dessen Hilfe die Modulation zu allererst

    wahrgenommen würde. Jene Ausführung soll der These, dass die Singstimme Ursprung der

    Musik sei, als weitere Stütze dienlich sein.

    Eine gelungene Melodie zeichnet sich laut Schlegel durch einen „ausdrucksvolle[n] Accent

    der Modulationen, mit dem dazu gehörigen Rhythmus“ aus, welcher die „Seele aller

    Melodie“ sei. Diese Aussage, gepaart mit der folgenden, dass „keine Melodie gut seyn kann,

    die nicht spricht, die nicht etwas bedeutet“18, ist dahingehend zu interpretieren, dass Schlegel

    dem deklamatorischen Stil innerhalb seiner Liedästhetik einen hohen Stellenwert beimisst.

    Ein Lied wird ferner, wie auch ein jedes andere Produkt jeglicher Kunstdisziplinen, erst dann

    zu einer „künstlerischen Erfindung“, einer „wahre[n] Schöpfung und Hervorbringung“,

    wenn es vermag, „uns über die gewöhnliche Wirklichkeit in eine Welt der Fantasie“19 zu

    erheben. Da sich diese Äußerung weder alleinig auf das Medium der Poesie noch jenes der

    Musik beschränkt, sondern, wie erwähnt, sämtliche Kunstformen in sich fasst, verzichtet

    Schlegel auf konkret kompositorische Hinweise, die hätten vermitteln können, wie das

    Poetische konkret Einzug in eine Liedkomposition erhalten könne. Aufgrund der

    Allgemeinheit der Äußerung Schlegels, lassen sich an dieser Stelle bloß Spekulationen

    darüber anstellen, wie genau das Poetische im Lied Gestalt annehmen könnte. Die

    unverzichtbare Forderung Schlegels nach einer transzendentalen Wirkung, die ein bloß

    handwerklich gelungenes von einem ästhetisch wertvollen Produkt unterscheidet, lässt die

    hypothetische Schlussfolgerung zu, dass eine sich alleinig dem deklamatorischen Prinzip

    verschreibende Gedichtsvertonung die Fantasie des Rezipienten nicht in genügendem

    Ausmaße anzuregen imstande wäre, um – an Schlegels Kategorien gemessen – als ästhetisch

    gehaltvolle Komposition gelten zu können.

    16 Ebd., S. 238.17 Ebd., S. 247.18 Ebd., S. 251 f..19 Ebd., S. 261.

    12

  • 2.3. Hans Georg Nägeli (I)

    Der Musikpädagoge, Verleger und Komponist Hans Georg Nägeli machte es sich 1811 im

    Rahmen eines Aufsatzes mit dem Titel „Erörterungen üb.[er] deutsche Gesangscultur“20, der

    in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien, zur Aufgabe, über die deutsche

    Liedkunst einen historischen Überblick zusammenzustellen. Er unterteilt, beginnend mit

    dem Zeitalter der Dichter „Gellert und Hagedorn“, das mit dem „Zeitalter der Bache“21, also

    der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zusammenfällt, die ungefähr 100 Jahre, die im Fokus

    seiner Betrachtungen stehen, in insgesamt drei Zeitalter. Für alle drei untersucht er die für

    die jeweilige Zeit spezifischen Charakteristika, die das Lied prägten. Einen besonderen

    Schwerpunkt legt Nägeli hierbei auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der

    Gedichtsvorlage und der dazugehörigen Vertonung. Für diesen Zweck betrachtet er die von

    den Komponisten der verschiedenen Zeitalter komponierten deklamatorischen Merkmale,

    also die Ausdeutung des Wortausdrucks, und untersucht in erster Linie die Liedmelodien,

    genauso wie deren rhythmische und harmonische Auskleidungen. Zwar zeichnet sich das

    erste Zeitalter laut Nägeli ins Besondere dadurch aus, dass die Melodien, exemplarisch bei

    Carl Philipp Emanuel Bach aufgezeigt, „äusserst künstlich gewandt“ und auf

    „mannigfaltigste Weise rhythmisirt“ waren und „die Harmonie stellenweise oder in

    einzelnen Accorden bald mehr, bald minder“22 gefüllt und ebenso stetig gewechselt wurde,

    doch gelang es ihm aufgrund dessen Fähgikeit, stets den „speciel-passenden Wortausdruck“23

    zu treffen, den „kleinen Liedersätze[n] eine Bedeutung zu bringen […], welche auch die

    jetzigen Liedercomponisten vergebens zu übertreffen suchen würden.“24

    Das zweite Zeitalter, das die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fasst, sei in der Dichtkunst

    vom „Geist ächter Humanität“25 erfüllt, der die Komponisten dazu verleteite, ihre einzige

    Aufgabe darin zu sehen, „dem Dichter zu folgen“ und den „moralische[n] Gesang […] in

    den einfachsten Tönen bis in die Tiefe des Herzens“26 zu tragen. Die Zurücknahme des

    eigenen künstlerischen Mediums, der Musik, zeuge von der Überzeugung der Komponisten,

    sich ganz in den Dichtergeist hinein versetzen zu müssen, um dadurch erst dem Gedicht 20 Nägeli, Hans Georg, „Erörterungen üb. deutsche Gesangscultur“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung

    1811.21 Ebd., Nr. 38, Sp. 631.22 Ebd., Nr. 38, Sp. 631f.23 Ebd., Nr. 38, Sp. 633, Hervorhebung von Nägeli.24 Ebd., Nr. 38, Sp. 632.25 Ebd., Nr. 38, Sp. 633.26 Ebd., Nr. 38, Sp. 634, Hervorhebung von Nägeli.

    13

  • gerecht werden zu können. Eine jegliche Eigenständigkeit der Musik, beispielsweise in Form

    von instrumentalen Vor-, Zwischen- oder Nachspielen, deren Motivation nicht in der

    textlichen Grundlage wurzelte, wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie der Tradierung

    des moralischen Gehalts der Gedichte eher schadeten als stärkten. Den Komponisten

    Reichardt und Schulz gelangen unter anderem auf diese Weise Liedvertonungen von

    Gedichten Claudius', Herders, Schillers oder der Stollbergs, welche die „Wahrheit des

    Wortausdruckes“ in einer „erhöhten Bedeutung lebendig [wiedergeben]“27. Um dies

    erreichen zu können, bedürfe es laut Nägeli der Entsagung des „etablirten Styl[s]“, wozu die

    Reduzierung der harmonischen Begleitung auf ein Minimum genauso zählte, wie auch die

    Möglichkeit des gänzlichen Verzichtes auf ein Begleitinstrument, wie ferner die mögliche

    Verwendung jeglicher melodischer Figurationen, die dem jeweils verlangten Wortausdruck

    entsprachen. Ein jedes dieser Lieder war, obwohl sie allesamt den „Schein des Bekannten“ in

    sich bargen, „ein Specielles“, das sich durch ein vom Dichter vorgegebenes „bestimmtes

    Thema“28 von anderen abgrenzte. Einer negativen Eigenart verfielen die Komponisten der

    Lieder des zweiten Zeitalters, der „Epoche […] der declamatorischen Musik“ jedoch öfter:

    Jener, die musikalische Gestaltung dermaßen zurückzunehmen, dass „die Rhythmik im

    Gange der Stimme zu einförmig“ wurde, die Lieder in einem „unförmliche[n] Styl“

    geschrieben wurden, in dem der „Gesang ohne Vorhalte und ohne Wechsel- oder

    Durchgangsnoten in blossen kahlen Accorden“ dahin schreitet, sodass Nägeli zu dem

    Zwischenfazit gelangt, dass in einem Lied „lieber Cantabilität ohne Declamation, als eine

    solche Declamation ohne Cantabilität“29 sein solle. In der zweiten Epoche wurde der Sänger

    zunehmend weniger vom Komponisten selbst bedacht: die musikalische Deklamation band

    sich zu stark an die textliche, sodass inhaltliche Akzente zumeist mit bloß noch in der

    Kopfstimme zu realisierenden musikalischen Höhepunkten zusammenfielen. Diese

    „fehlerhafte[n] declamatorische[n] Tendenz“30, die Vernachlässigung des Vortragenden, die

    Nägeli beschreibt, führe nach dessen Ansicht „ganz natürlich“ zu einer Epoche, in der „die

    freyen Ergiessungen der Menschenstimme begünstigend“31 in Erscheinung treten würden, in

    welcher der Sänger die eigenen Empfindungen im Vortrage künstlerisch würde integrieren

    können. Dies wiederum erfordere auf musikalischer Seite hingegen einerseits eine

    27 Ebd., Nr. 38, Sp. 635, Hervorhebung von Nägeli.28 Ebd., Nr. 38, Sp. 636.29 Ebd., Nr. 38, Sp. 638-640.30 Ebd., Nr. 38, Sp. 641.31 Ebd., Nr. 38, Sp. 641.

    14

  • Aufbrechung der minimalistischen Liedform und andererseits die Kräftigung des

    Instrumentalparts, dem die Stimme bedarf, um sich über ihm harmonisch und rhythmisch

    legitimiert frei entfalten zu können. Die sich durch die stärkere Beachtung des Vortragenden

    vollziehenden Neuerungen innerhalb der musikalischen Komposition charakterisierten zu

    einem Großteil die sich anschließende dritte und letzte Epoche, die, da sie die „Vermählung

    der Musik mit der Posie“ vollzieht, einen „Gegensatz mit der zweyten Epoche bildet“32. Die

    in der dritten Epoche gewonnene Vielseitigkeit im Liederstil ging, wie Nägeli bemängelte,

    jedoch oft mit einem Verlust des Wortausdrucks einher, der doch die eigentliche Hauptsache

    der Gattung des Liedes sei, was zur Konsequenz hatte, dass „das Lied, als solches,

    unkenntlich“ und „in einem Aufwand von luxuriöser Kunst“33 erstickt wurde. Der

    Komponist, dem eine Verschmelzung der aufgeführten liedhaften Charakterisitka der

    Epochen zwei und drei am trefflichsten gelungen war, sei Zelter gewesen, doch dürfe

    Reichardts Bestrebung, den Neuerungen des ihm gegenwärtigen Zeitalters ins besondere in

    Hinblick auf die „Cantabilität“ seiner Lieder mit gleichzeitig größtenteils befriedigendem

    „Wortausdruck“34, zu folgen, ebenfalls nicht verachtet werden.

    2.4. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann

    Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns ästhetische Auffassung der Gattung des Liedes lässt sich

    am prägnantesten in einer von ihm verfassten Rezension der Zwölf Lieder von Wilhelm

    Friedrich Riem herausfiltern, die 1814 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien.

    Besonderes Gewicht legt Hoffmann in Hinblick auf seine Liedästhetik auf die

    Beschaffenheit der Melodie, die nur dann eine dem Gegenstande angemessene ist, sofern sie

    es vermag, in ihr sämtliche Teilmomente des im Gedicht angelegten Affektes „wie in einem

    Brennpunkt“35 zu fassen. Der Komponist muss laut Hoffmann „selbst Dichter des Liedes“36

    werden und sich zugleich einerseits um der Einhaltung der tradierten Gattungsnormen willen

    und andererseits um die Bewahrung des Zweckes – „die [potentielle] Teilnahme [am Lied]

    32 Ebd., Nr. 39, Sp. 645.33 Ebd., Nr. 39, Sp. 647.34 Ebd., Nr. 39, Sp. 650.35 Kremer, Detlef (Hg.), E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, S. 422.36 Hoffmann, E. T. A. „Rezension der Zwölf Lieder von Wilhelnm Friedrich Riem, in: Allgemeine

    Musikalische Zeitung 2/2 (1814), S. 362.

    15

  • einer jeden zum natürlichen Gesange fähigen Stimme37“ – in seiner musikalischen

    Auskleidung bewusst einschränken. Noch elf Jahre später, also im Jahr 182538, hielt

    Hoffmann am Ideal des Strophenliedes fest und stellt es als kontrastierende Gattung der Arie

    gegenüber.

    2.5. Hans Georg Nägeli (II)

    Ein zweites Mal soll im Rahmen des nachzuzeichnenden Gattungsdiskurses des 19.

    Jahrhundert ein Blick auf die Schriften Hans Georg Nägelis geworfen werden. War es ihm

    im Jahre 1811, im bereits besprochenen Zeitungsartikel, sein Anliegen, eine historische

    Überblicksdarstellung über den Wandel der Gattung des Liedes zu verfassen, so liegt sein

    Hauptaugenmerk im Jahre 1817 im Artikel „Die Liederkunst“39 woanders: Einzelne

    Parameter, die zum einen die musikalischen verschiedenen Schichten der Liedkomposition

    und zum anderen den Liedvortrag betreffen können, werden dahingehend untersucht, wie

    deren individuell liedinterne hierarchische Anordnung dahin zu führen vermag, dass in

    einem Lied durch „Vorherrschen bald des Declamatorischen, – des Cantabeln – des

    Instrumentalischen“ eher „die Sprache – die Stimme – [oder] das Spiel hervortreten könne“40.

    Doch nicht alleinig auf die genaue Charakterisierung der „Kunstmittel“, die „zu einem guten

    Liederstyl wichtig sind“41 zielt Nägeli ab, sondern auch auf die Bekräftigung seiner eigens

    konkludierten These, dass der „allseitige Gebrauch dieser Kunstmittel“ einen „höhere[n]

    Liederstyl begründe[n] werden“42 müsse, den er im bereits abgehandelten Artikel aus dem

    Jahre 1811 als die vierte Epoche bezeichnete. Nicht aus „Erweiterungssucht“, sondern im

    Sinne der „Erhöhung des Wortausdruckes“ verschmelzen dort Sprache, Stimme und Spiel zu

    einem „höhern Kunstganzen“, das durch die dadurch entstehende „Polyrhythmie“43 – das

    vokale Pendant zur instrumentalen Polyphonie – maßgebend geprägt wird. Durch jene

    künstlerisch wie handwerklich höchst anspruchsvolle kompositorische Technik, kann selbst 37 Reichardt, Johann Friedrich, 1796, Abschnitt V, zit. n. Kremer, S. 422 [unvollständige Angabe der

    Originalquelle durch den Autor].38 Kremer, S. 422.39 Nägeli, Hans Georg, „Die Liederkunst“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung (1817).40 Ebd., Nr. 45, Sp. 761, Hervorhebung von Nägeli.41 Ebd., Nr. 45, Sp. 763.42 Ebd., Nr. 45, Sp. 765.43 Ebd., Nr. 45, Sp. 766. Hervorhebung von Nägeli.

    16

  • das kleinste Lied zu einem „combinatorische[n] Kunstwerk […] ziemlich hohe[n] Grade“

    werden, in dem – wie in der Kunst des doppelten Kontrapunktes – sich nichts

    „Entgegenstehendes“ gezwungen zusammen tut, sondern sich ein „Gegenüberstellen,

    Parallelisiren“44 verschiedener, doch miteinander verwandter Ebenen – Sprache, Stimme,

    Spiel – ereignet. Die polyrhythmischen Gestaltungsmöglichkeiten sieht Nägeli „in der

    Liedkunst [als] die wahren Erweiterungsmittel“, die er auf solche Weise im Dienste des

    Wortausdruckes zu nutzen empfiehlt, dass „in der möglichsten Beschränkung (im kleinsten

    Umfange) die möglichste Erweiterung (durch Zusammengebrauch der Kunstmittel) gelten zu

    machen“45 sei. Durch den Aufruf, die gegenwärtigen Liederkomponisten sollten eine

    „Concurrenz in diesem Fache eröffnen“46, um die Gattung des Liedes zu einem Markstein

    eines jeden Komponisten zu erheben, der um Ansehen ringt, zeugt von dem Stellenwert, den

    Nägeli selbst in dieser Gattung sah und ferner dessen Wille, jene Einschätzung

    öffentlichkeitswirksam zu etablieren.

    2.6. Georg Wilhelm Friedrich Hegel

    Auch der idealistische Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel widmete sich im Rahmen

    seiner in den Jahren 1835 bis 1838 verfassten umfassenden Schrift der „Ästhetik“47

    ausgiebig musikästhetischen Belangen. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ist es

    ausreichend, alleinig die im Unterkapitel „Die begleitende Musik“48 relevanten

    Gesichtspunkte in komprimierter Form zur Sprache zu bringen. Dort beschäftigt sich Hegel

    mit den Fragestellungen, die sich mit dem rechten Verhältnis zwischen begleitender Musik

    und vorgelegtem Text befassen, also wie viele Freiheiten der Musik gegenüber des Textes

    gestattet werden solle, fragt ferner welche Qualitäten ein geeigneter Text im Allgemeinen

    und ein lyrischer im Speziellen aufzuweisen habe und reflektiert schließlich, welche Gestalt

    das Melodische im Allgemeinen und speziell im lyrischen Lied anzunehmen habe.

    Die ideale Stärke, mit der die begleitende – allein die Wahl dieses Adjektives sagt viel über

    44 Ebd., Nr. 46, Sp. 779. Hervorhebung von Nägeli.45 Ebd., Nr. 46, Sp. 780.46 Ebd., Nr. 46, Sp. 780.47 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik.48 Ebd., S. 848-861.

    17

  • Hegels generellen Stellenwert von instrumentaler Musik in vokalen Gattungen aus – Musik

    sich an den Text binden solle, ist im Mittelwert zwischen absoluter Dienstbarkeit und

    gänzlicher Emanzipation anzutreffen. Der Sinn der Liedkunst besteht laut Hegel darin, sich

    zu allererst vom Sinn geschriebener Worte inspirieren und erfüllen zu lassen, aus dieser

    „inneren Beseelung heraus“ einen „seelenvollen Ausdruck zu finden“, den es schließlich

    „musikalisch auszubilden“49 gilt. Träger des konkreten Inhalts in vokal-instrumentalen

    Gattungen sei immer der Text, nie der in Musik ausgebildete melodische Einfall: Der

    „Liedermelodie Hauptwirksamkeit“ liegt nicht in der Transformation näherer Inhalte in

    Töne, sondern in der Erfassung des sich durch jedes Gedicht durchziehenden

    „Grundklang[s]“, der sich in einem einzigen „Gemütston“ äußerst und somit „über der

    Verschiedenartigkeit“ des konkreten Gedichtsinhalts „schwebt“50. Hegel zieht hier eine

    Parallele zwischen der streng einem Schema folgenden Gedichtsform, die durch keinerlei

    sprachliche Inhalte beeinträchtigt wird, zu der im Gemütston ruhenden und sich ebenfalls in

    ihrem Ausdruck von keinen ihr entgegenstehenden sprachlichen Inhalten beeinflussenden

    Melodie. Das Melodische zeichnet sich durch eine „bestimmte Gliederung und Abrundung“

    aus, es steht „über den Besonderheiten und Einzelheiten der Worte“51 und sorgt in der

    „Bestimmtheit des Ausdrucks“, dadurch, dass „das Herz […] in das Vernehmen seiner selbst

    versunken ist“, für die „höchste Vorstellung von seeliger Innigkeit und Versöhnung“52. Ein

    guter Text, der es dem Komponisten überhaupt erst ermöglicht, eine innere Beseelung zu

    erfahren und diese letztlich in einer Melodie zu fassen, die den über allen Abweichungen

    schwebenden Gemütston in sich einfängt, darf weder zu gediegen, gedankenschwer, noch

    von allzu trivialer Natur sein. Hegel empfiehlt eine „mittlere Art von Poesie“, die in wenigen

    Worten möglichst einfach Situation und Empfindung auf eine Weise andeutet, die dem

    Komponisten noch Raum lässt, „eigene Empfindungen und Ausschöpfungen“53 anzubringen.

    Was die Lyrik im Konkreten anbelangt, so seien Gedichte kleineren Umfangs, die gefühlvoll

    aus des Dichters Seele zum Komponisten selbst sprechen, mit am geeignetsten. Was die

    Vertonung solch lyrischer Gedichte betrifft, so müsse sie sich am stärksten von allen vokalen

    Gattungen von einer deklamatorischen Ausdrucksweise fernhalten und die „einzelne

    Seelenstimmung melodisch aus[drücken]“. Spezielle Wortbedeutungen könne sie sich

    49 Ebd., S. 849.50 Ebd., S. 852.51 Ebd., S. 854.52 Ebd., S. 851.53 Ebd., S. 856.

    18

  • alleinig anschicken im allgemeinen Gemütston mit aufzunehmen, deutlichere

    deklamatorische Tendenzen, wie auch in sich unaufgelöste, durch Kontraste im Ausdruck

    provozierte Spannungen, seien indes in lyrischer Musik fehl am Platze und gehörten in den

    Bereich dramatischer Musik54.

    2.7. Gustav Schilling / Gustav Nauenburg

    Die nächste historische Quelle, die es zu besprechen gilt, schlägt den Bogen zur ersten

    zurück, da es sich bei ihr, genauso wie bei der anfänglich behandelten, um einen Artikel

    eines Lexikons handelt. Gustav Schilling und Gustav Nauenburg sehen sich im Artikel

    „Lied“55, welcher Teilbestand der in den Jahren 1835 bis 1843 verfassten „Encyclopädie der

    gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst“56 ist, vor

    eine schwierige Aufgabe gestellt. Die Problematik hängt laut Schilling und Nauenburg

    maßgeblich vom „unbestimmten Gebrauch[s] des Wortes Lied“ ab, das zum einen eine

    „Dichtungs-“ und zum Anderen eine „Compositionsart“57 bezeichnen könne. Ist erstere

    Bedeutung gemeint, so handelte es sich stets um lyrische Dichtungsart, in der die

    Darstellung eines einzigen Gefühls im Mittelpunkt und „mit sich im Ebenmaße steht“.

    Formal zeichnet sie sich dadruch aus, dass sie „stets in gleiche Verse und Strophen

    abgetheilt“ ist und aufgrund des resultierenden „leichte[n], fließende[n] Sylbenmaaß[es]“

    „sangbarer als [in] irgend einer andern Dichtung“58 ist. Die Komposition des Liedes habe der

    formalen und inhaltlichen Disposition des Gedichtes zu folgen. Sie zeichnet sich durch einen

    „lyrisch[en]“ Charakter, „Ruhe“, „Einfachheit“, „kurze Ab- und Einschnitte“ und einen

    „geringen Tonmfang“ aus, in dem die „Intervalle leicht zu treffen“59 sein müssen – so wie die

    Worte auch leicht verständlich zu sein haben. Ein solches Lied zu komponieren sei keine

    Leichtigkeit, sondern bedürfe des „Genie[s]“, da das Handwerk in Form von Harmonielehre

    54 Ebd., S. 860.55 Schilling, Gustav et al., Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-

    Lexicon der Tonkunst, Stuttgart 1835-1843, S. 383-387.56 Ebd..57 Ebd., S. 383.58 Ebd., S. 384.59 Ebd., S. 384. Hervorhebungen von Schilling und Nauenburg.

    19

  • und Kontrapunktkenntnisse für die Vertonung eines „einzigen Hauptgefühls“60 hier nicht

    ausreiche: Das komponierte Lied habe sich in der „Bestimmtheit des Ausdrucks“, der nur

    durch ein „tiefes, herzsinniges Empfinden des Textes“ evoziert werden kann, immer nach

    genau der Stimmung der Poesie auszurichten, soll mit ihr „verschmelzen“61 und in Folge

    dessen eine Melodie besitzen, die alleinig auf jenes singuläre Gedicht passt.

    2.8. Eduard Hanslick

    Ist der Musikphilosoph und -kritiker in das historische Gedächtnis zwar hauptsächlich in

    seiner Funktion als rigoroser Verfechter der absoluten Musik eingegangen, so darf er in einer

    Überblicksdarstellung, die um einen Gattungsdiskurs vokaler Musik kreist, dennoch nicht

    fehlen. In seiner im Jahre 1854 erschienenen Schrift „vom Musikalisch-Schönen“62 sind

    zahlreiche Hinweise und gar eindeutig Stellung beziehende Äußerungen gegenüber der

    Gattung des Liedes niedergeschrieben, auf deren Basis es möglich ist, Hanslicks

    Liedästhetik zu exzerpieren.

    Der Begriff der „Tonkunst“63 ist in Hanslicks Schrift ein zentraler Begriff. Es wäre jedoch

    ein Trugschluss anzunehmen, dass die Tonkunst, mit der ausschließlich die instrumentale

    Musik gemeint ist, den gesamten Musikbegriff definiere. Im Gegenteil: Sie ist, laut Hanslick,

    nur ein Teil der Musik und tront nicht über der Vokalmusik, sondern steht ihr ebenbürtig

    gegenüber. Die Vokalmusik zeichnet aus, dass die „Wirksamkeit der Töne“64 unmöglich von

    jener der Sprache zu separieren ist. In der Vereinigung von Dichtung und Musik erweitert

    sich „die Macht der Musik“, nicht aber „ihre Grenzen“ – vokale Musik wird zu einem

    „untrennbar verschmolzenen Produkt […], aus dem es nicht mehr möglich ist, die Größe der

    einzelnen Faktoren zu bestimmen“.65 Die Musik besitzt in diesem Bündis die Fähigkeit,

    dadurch, dass „die Vokalmusik […] die Zeichnung des Gedichts [illuminiert]“, ein bloß

    60 Ebd., S. 384. Hervorhebung von Schilling und Nauenburg.61 Ebd., S. 387.62 Hanslick, Eduard, Vom Musikalisch-Schönen.63 Ebd., S. 20.64 Abegg, Werner, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick, S. 120.65 Hanslick, S. 20.

    20

  • mittelrangiges Gedicht in eine „Offenbarung des Herzens um[zu]wandeln“66. Erst, „wenn die

    Musik“ dem Gedicht „etwas ganz Neues hinzubringt“, hat jene Vereinigung die „reine Höhe

    der Kunst“67 erreicht. Das Gedicht wird also durch die Selbstständigkeit der

    Instrumentalmusik vervollkommt. Die Evozierung eines konkreten Inhaltes bleibt, so der

    Autor, in der Vokalmusik stets der Textebene überlassen, welche die Musik, die bloß in der

    Lage ist, einen gewissen „Bewegungshabitus des darzustellenden Gefühls“68 nachzuahmen,

    mit ihren Mitteln unterstützt. Die Eigenständigkeit der musikalischen Mittel liegt daher nicht

    in der Nachzeichnung dichterischer Inhalte, sondern vielmehr in deren frei

    interpretatorischer Übersteigerung: Ein Gedicht, das als geeignete Vorlage für eine

    Liedkomposition dienen soll, muss dem Komponisten stets ihn inspirierende Freiräume

    offen lassen, deren individuelle Ausdeutung die beiden Ebenen des Musikalischen und

    Poetischen erst zu einem homogenen Kunstprodukt werden lässt. Ein Gedicht darf daher

    weder zu trivial, noch zu verkopft oder ethisch motiviert sein, sondern widmet sich idealiter

    einer „einfache[n] Empfindung“, der in Form von „Liedmäßigkeit“ und „rhythmischer

    Wollaut[e]“69 Ausdruck verliehen wird. Das musikalische Pendant zu jenen dichterischen

    Kriterien findet sich in einer schlichten Tonsprache, die mechanische, den eigentlichen

    Gehalt ignorierende Kontrapunktik ebenso wie Koloraturen vermeidet und sich anstelle

    dessen auf die Komposition „kantable[r] Melodien ohne große Intervalle“ konzentriert, die

    nach der „menschliche[n] Stimme“ ausgerichtet und „mit seelenvollem Ton vorzutragen“70

    möglich sind.

    In der Vokalästhetik Hanslicks werden die drei tragenden Faktoren – das Gedicht, die Musik

    und das vortragende Subjekt – als aufeinander angewiesen, nichtsdestotrotz eigenständig und

    daher sich wechselseitig bereichernd definiert.

    66 Ebd., S. 21.67 Ebd., S. 21, Anm.68 Abegg, S. 124.69 Ebd., S. 123.70 Ebd., S. 126.

    21

  • 2.9. Hermann Mendel

    Vorliegender Abschnitt, der sich mit dem 1876 im Musikalische[n] Conversations-Lexicon71

    erschienenen, von Hermann Mendel verfassten Lexikonartikel „Lied“72 befasst, kann recht

    kurz gehalten werden, da er sich in dem Artikel Schillings und Nauenburgs, der bereits

    vorgestellt wurde, zu Beginn wörtlich entspricht. Der Annahme Walther Dürrs, dass es sich

    bei dieser Übernahme um eine Verlegenheitslösung handelt, die sich aus der Unfähigkeit des

    Autors speist, eine „gattungstheoretische Vorstellung“ zu formulieren, die es vermochte, mit

    den konkreten „Erscheinungsformen“73 des Liedes in Einklang zu stehen, kann an dieser

    Stelle beigepflichtet werden. Der Schluss des Artikels bedarf jedoch einer genaueren

    Betrachtung, welcher „echte Lieder“ als dadurch gekennzeichnet ausweist, dass sie nicht –

    kontrastierend zur „Ballade, Arie und Romanze“ „durchkomponiert“ seien, sondern nur „in

    ihrer wahren Einfachheit und […] ihrer einfachen Wahrheit als Volkslieder das Panier

    deutscher Einheit und Einigkeit“74 ausdrücken könnten. Der den ganzen Artikel

    durchziehende gesuchte Bezug zwischen dem „deutschen Lied“ und dem „Rume [sic] der

    deutschen Nation seit 1871“75, wird dort, in all seiner die musikalische Gattung

    funktionalisierenden Form kompakt gefasst, deutlich.

    71 Mendel, Hermann, Reissmann, August, Musikalisches Conversations-Lexikon.72 Ebd., S. 322-324.73 Dürr, Walther, Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 10.74 Mendel / Reissmannn, S. 324.75 Ebd., S. 323.

    22

  • 3. Zwei Parteien im gattungsästhetischen Diskurs

    Wird der Versuch angestellt, die Liedvertonungen, die Gegenstand ausführlicher Analysen

    waren, in einen Zusammenhang zu den anfänglich dargelegten gattungsästhetischen

    Einzelpositionen zu bringen, so wird bald nicht nur aufgrund der individuellen Gestalt der

    einzelnen Kompositionen, sondern ebenso aufgrund der Divergenz innerhalb der dargelegten

    gattungstheoretischen Positionen erkannt werden, dass die ausgewählten Lieder in dem

    Sinne ein passendes praktisch kompositorisches Ebenbild des theoretisch geführten

    Gattungsdiskurses sind, da sie dessen Heterogenität in ihrer stilistischen Vielfalt

    wiederspiegeln. Die analysierten Lieder weisen eine Spannweite auf, die sich von der Form

    des Strophenlieds bis hin zur Durchkomposition erstreckt, die deklamatorisch zu- wie

    selbiger abgeneigte Tonsprachen aufweist, technisch virtuose, wie auch schlichte Satzweisen

    beinhaltet. Sie bilden daher die Positionen der beiden sich konträr gegenüberstehenden

    gattungsästhetischen Parteien zum einen ab und bewegen sich zum anderen in deren

    Grenzgebieten, indem sie sich stilistisch zwischen den beiden extremen Polen der

    differierenden ästhetischen Parteien positionieren.

    Bevor hier der Versuch unternommen werden wird, Gründe für die Spaltung innerhalb des

    gattungsästhetischen Diskurses aufzuzeigen, sollen die zu Beginn der Arbeit an ihrem

    Enstehungszeitpunkt gemessen chronologisch angeordneten Publikationen vorab einer

    konservativ, beziehungsweise progressiv ausgerichteten gattungsästhetischen Partei

    zugeordnet werden. Die beiden folgenden kurzen Abschnitte dienen daher als Résumé des

    ersten Hauptteils und fassen die Quintessenzen der beiden Parteien in wenigen Worten

    zusammen.

    3.1. Das Primat der Einfachheit

    Es sind die ästhetischen Ansichten der Autoren Schlegel, Koch, Hoffmann, Hegel, Schilling

    und Nauenburg, sowie Mendel, mit Hilfe derer sich ein Bild der Gattung des Liedes

    23

  • aufzeichnen lässt, welches sich einer konservativen Haltung gegenüber dessen Entwicklung

    verschreibt. Die grundsätzlichen Konstituenten zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich

    das Lied durch eine es definierende Simplizität in Melodie, die keinerlei Anklänge von

    jeglicher Virtuosität abverlangt und daher von einem jeden Menschen singbar zu sein hat,

    und instrumentale Begleitung auszeichnet, der unter keinen Umständen eine vorrangige

    Funktion zukommen darf, sondern bloß eine dem Sänger als harmonische Stütze dienende

    Rolle einzunehmen hat. Ebenso bei der Wahl des zu vertonenden Gedichts, das im Idealfall

    eine singuläre Empfindung zu seinem Gegenstande hat, welche der Komponist in einer

    Melodie, möglichst nah an der Poesie, in Töne setzen kann, hat der Komponist verbindlichen

    Richtlinien zu folgen. Hinsichtlich der musikalischen Form, die einer jeden Liedkomposition

    zugrunde zu legen ist, hat der Komponist sich ebenfalls an der Gedichtsvorlage zu

    orientieren, seine Lieder stets in Strophenform zu setzen und von einer durchkomponierten

    Form auf alle Fälle abzusehen.

    3.2. Die Forderung nach kompositorischer Eigenständigkeit

    Die noch verbleibenden Autoren Nägeli, und Hanslick bilden zusammen mit den schon

    zuvor genannten Autoren Hegel und Schlegel die oppositionelle Fraktion, die, kontrastierend

    zur zuerst vorgestellten, nicht versucht, gegen eine Entwicklung innerhalb der Gattung des

    Liedes vorzugehen, sondern selbige gutheißt und gar weiter voranzutreiben gewillt ist. Gilt

    zwar auch den hier erwähnten Autoren das Primat der Kantabilität, der Einfachheit in der

    Formung der Melodie, sodass sie nicht künstlich, manieriert würde, und vor allem jenes der

    Wortausdeutung als verbindlich, so gewähren, beziehungsweise verlangen sie den

    Komponisten hier doch deutlich größere Eigenständigkeit in Hinblick auf die musikalische

    Gestaltung einer Gedichtsvertonung ab: Die Liedkomposition solle keine Dopplung des

    Gedichts darstellen, sondern über selbiges in seiner Wirkung hinausgehen, die Fantasie des

    Rezipienten, durch die Hinzugabe etwas das Gedicht Übersteigerndes, anregen. Eine

    mitunter entscheidende Funktion kommt hierbei dem instrumentalen Part, dem begleitenden

    Instrument zu, welches dem konkret sprachlichen Gedichtsinhalt musikalisch zu

    kommentieren, ihn zu übertreffen oder zu relativieren vermag, wodurch die poetische

    24

  • Vorlage eine Vervollkommnung erfährt, was das Lied zu einem künstlerisch wertvollen

    Gebilde werden lässt.

    4. Über die traditionellen Verwurzelungen der ästhetischen Parteien

    Im Folgenden soll untersucht werden, auf welches Repertoire sich die Ausführungen der

    konservativen, wie auch der progressiven Partei stützen, also aus welchen Werken welcher

    Komponistenkreise Normen extrahiert wurden, die sich letztendlich – im Fall der

    konservativen Partei – zu einem strikten Regelkatalog, den der Komponist zu achten hatte,

    verhärteten oder – wie im Fall der progressiven Partei – als Spiegel der kompositorischen

    Vorstöße innerhalb der Gattung fungierten und daher eher deskriptiv, passiven als

    normativen Charakter annahmen.

    Die grundsätzliche Ursache für die Spaltung innerhalb des Gattungsdiskurses in zwei

    Parteien, ist, wie an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden kann, eine differierende,

    nicht in Einklang zu bringende Vorstellung auf der konservativen Seite, von einer zu

    bewahrenden Reinheit der Gattung des Liedes, die von der progressiv aufgeschlossenen

    Seite abgelehnt wurde. Der Begriff und die generelle Möglichkeit der Reinheit einer Gattung

    wird, nachdem beide Parteien separat unter oben genannten Gesichtspunkten beleuchtet

    wurden, abschließend erläutert werden.

    4.1. Über das kunstlose Lied der mittleren Goethezeit

    Der Diskurs über den vermeintlich wahren ästhetischen Gehalt der Gattung des Liedes, wie

    er seitens der konservativen Partei geführt wurde, gründet in der von ihnen als

    selbstverständlich angesehenen Annahme, dass die Gattung des Liedes normativ definierbar

    ist und eine jegliche Abweichung von jenem Wertekanon einer Nivellierung der Gattung

    25

  • gleichkommt, da selbige, aufgrund der Verbindlichkeit der Normen, als unveränderlich

    angesehen wurde.

    Der Normenkatalog, mittels dessen die Konservativen die Gattung des Liedes definierten, ist

    aus jenem Liedrepertoire extrahiert, das sich die mittlere Goethezeit, die sich nach Schwabs

    Einteilung bis ins Jahr 1814 erstreckte, hindurch behaupten konnte und in den Komponisten

    Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter – um nur die zwei prominentesten

    Vertreter aufzuführen – Meister ihres Faches fanden. Oberstes Gebot eines Komponisten der

    mittleren Goethezeit war, dass er seinen Liedern den "Schein der Kunstlosigkeit, der höchste

    Kunst bedeutete"76 zu verleihen im Stande war und sich daher streng der strophischen

    Liedform zu verschreiben hatte, die als die ideal und einzig mögliche Form angesehen

    wurde, um jeden Anschein des Artifiziellen – ganz nach Kants Diktum, Kunst vollende sich

    erst dadurch, "daß sie sich verberge und als Natur erscheine"77 – ausschließen und

    gleichzeitig die "Einheit der Stimmung78 [...] und Empfindung"79 gewährleisten zu können.

    Als höchstes Ziel galt es, die Liedkunst als etwas der Natur Zuwiderstehendes zu negieren.

    Die konkreten musikalischen Konsequenzen, die aus jener idealistischen Gattungsästhetik

    resultierten, sind mit jenen, welche die Konservativen für die rechte Art der Liedkomposition

    proklamierten, identisch: Das oberste Gebot der Einfachheit und Selbstbeschränkung, also

    der bewusste Verzicht auf artifizielle Kompositionen trotz der potentiellen Fähigkeit zu

    selbigen, beherrschte die kompositorische Behandlung jeglicher Parameter.80

    Neben der Tatsache, dass das Lied der mittleren Goethezeit in seiner Strophigkeit auf eine

    "lange Vorherrschaft [...] des einfachen Strophenliedes im 17. und 18. Jahrhundert"81 aufbaut,

    "durch klassizistische und humanistische Verhaltensmuster bestimmt ist" und damit unter

    anderem auf die Tradition des Volkslieds82 aufbaut, welche sich unter anderem der

    Verbreitung aufklärerisch, idealistischer Werte, gepaart mit einem Festigungswillen des

    Nationalgefühls, verschrieb, deren Aufkommen und Verbreitung im 18. Jahrhundert

    aufblühte und in seiner musikalischen Anlage Schlichtheit und Simplizität ersuchte und im

    76 Ebd., S. 82.77 Ebd., S. 90.78 Reichardt, Johann Friedrich, "Über die musikalische Komposition des Schäfergedichts", in: Deutsches

    Museum 2 (1777), S. 27279 Reichardt, Johann Friedrich, „Ueber Klopstocks komponirte Oden“, in: Musikalisches Kunstmagazin

    Musikalisches Kunstmagazin 1 (1782), S. 62.80 Für eine ausführliche Beschreibung der das Goethelied charakterisierenden musikalischen Eigenschaften,

    vgl. Wiora, Walter, Das deutsche Lied, S. 105ff.81 Ebd., S. 105.82 Für weitere Informationen über die Geschichte des Volkslieds und dessen Einfluss auf das Lied der

    Goethezeit, s. Dahlhaus, Carl, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 87-92.

    26

  • folgenden Jahrhundert rückblickend verklärt wurde, führt Walter Wiora vier weitere Gründe

    an, die den Willen begründen, dem gegebenen Gebot künstlerischer Einfachheit im Lied der

    Goethezeit zu folgen: So war es zum Ersten der Vorsatz, mittels Musik "guten Gedichten und

    Gedanken dazu [zu] verhelfen, daß sie allgemein bekannt werden"83. Dies stand zum

    Zweiten im Zusammenhang mit der Vorstellung, das Lied könne der "Verbreitung

    vorbildlicher Lebensart[en]"84 dienen und daher erzieherisch wirken, was nur gelingen kann,

    wenn das Liedgut eine weite Verbreitung erfährt. In engem Bund dazu steht auch der

    folgende dritte Grund, "die gewollte Unterordnung der Musik unter die Dichtung"85, welche

    die lyrischen Inhalte bloß einprägsamer machen sollte, um selbige im Volk verwurzeln zu

    können. Der vierte und letzte Grund, den Wiora anführt, soll im Rahmen dieser Arbeit eine

    genauere Betrachtung erfahren: Der Wille der Bewahrung der "Reinheit der Gattung"86,

    welcher, wie Schwab konstatiert, gewichtiger war, als die weiter entwickelnde Veränderung

    der Gattung durch die Aufnahme "neuer Gestaltungsmöglichkeiten"87.

    Aus der normativ motivierten Verengung der Gattung des Liedes resultierte, dass

    Komponisten, die gegen jene indiskutablen Richtlinien verstießen, der Status des

    Liedkomponisten abgesprochen wurde, wie folgendes Zitat von Gottfried Wilhelm Fink, das

    Bezug auf durchkomponierte Liedformen nimmt, veranschaulicht: "Herr Franz Schubert

    schreibt keine eigentlichen Lieder und will keine schreiben, [...] sondern freie Gesänge,

    manche so frei, daß man sie allenfalls Kapricen oder Fantasien nennen kann."88 Auch das

    folgende Zitat von Friedrich Rochlitz, die den zum Erscheinungszeitpunkt des Artikels vor

    Kurzem verstorbenen Zelter würdigen, zeugen trotz, oder gerade aufgrund der stets stärker

    werdenden progressiven Partei von der Überzeugung der eigenen ästhetischen Auslegung der

    Gattung des Liedes, wenn er beklagt, dass Zelter, im Kontrast zu "Vielen" noch wusste, "was

    ein wahrhaft deutsches Lied ist und seyn soll"89.

    83 Wiora, S. 112.84 Ebd., S. 113.85 Ebd., S. 116.86 Ebd., S. 116.87 Schwab, S. 66.88 Fink, Gottfried Wilhelm, "Recension", in: Allgemeine Musikalische Zeitung 26 (1824), Sp. 426.89 Rochlitz, Friedrich, „Karl Friedrich Zelter“, in: Allgemeine Musikalische Zeitschrift 24 (1832) Sp. 394.

    27

  • 4.2. Über das „kunstvolle“ Lied seit Schubert

    Wurde das Lied in der mittleren Goethezeit "sozial motiviert"90 als "minder opuswürdig" und

    daher eher als "Gabe" oder "Geschenk"91 angesehen, so ist das Aufkommen einer sich von

    dieser Auffassung absondernden ästhetischen Haltung im Anschluss an diese Zeit

    festzustellen möglich. Es wurden Lieder komponiert, die den ästhetischen Idealen der

    mittleren Goethezeit entsagten, welche heutzutage verallgemeinert unter dem Begriff

    "Kunstlied" gefasst werden. Der Terminus "Kunstlied" selbst wurde jedoch nicht gleich mit

    Schuberts erstem Opus aus der Taufe gehoben, sondern ist, laut Schwab, erstmals 1841 von

    Carl Kossmaly in einem Artikel92 der Neuen Zeitschrift für Musik verwendet worden, in dem

    er das Kunstlied in Abgrenzung zum Volkslied definiert. Die Anwendung dieses technicus

    Terminus' auf sämtliche Lieder, die sich vom Volkslied abgrenzen, ist jedoch irreführend, da

    sich "nur wenige Komponisten vor Schubert und Schumann [...] dem Lied [...] mit

    ausdrücklichen Kunstambitionen genähert"93 hatten, mit welchen der Begriff des

    "Kunstliedes" heutzutage per definitionem verbunden ist. Nur weil sich das Lied der

    Goethezeit vom Volkslied, obwohl es aus dessen Tradition stammt, absetzt, macht es dies

    nicht zwingend zum Kunstlied. Was das Kunstlied musikimmanent von einem Volkslied oder

    einem Lied der Goethezeit abhebt, ist das Verlangen, an den bestehenden, den Komponisten

    in seinen Freiheiten einengenden Normen zu rütteln, welche beispielsweise die

    Melodiegestaltung betreffen, wie auch – hinsichtlich dessen zu Verfügung stehenden

    Tonambitus' und dessen harmonisch und rhythmischer Ausdifferenziertheit – die

    eigenständige Ausarbeitung des Klaviersatzes. Ziel jener normativen Entgrenzung war,

    Musik und Gedicht zu einer "notwendig aufeinander bezogene[n] Einheit" zu verflechten

    und in Folge dessen ein jedes "Kunstlied" als "jeweils individuell geprägt"94 zu

    komponieren. All dies ging mit einer Nobilitierung der Gattung des Liedes einher, welche

    maßgeblich durch Franz Schubert vorangetrieben wurde, der dem Lied "volle

    Werkwürdigkeit"95 verlieh und gar sein Gesamtoeuvre 1815, also ein Jahr nach der

    Komposition seines als zweites Opus veröffentlichten Lieds Gretchen am Spinnrade, mit 90 Dahlhaus, Carl, "Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert", in: Arlt, Wulf /

    Lichtenhahn, Ernst / Oesch, Hans (Hrsg.), Gattung der Musik in Einzeldarstellungen, S. 859.91 Schwab, S. 138.92 Kossmaly, Carl, "Über das 'Lied' im Allgemeinen, Das 'Volkslied'", in: Neue Zeitschrift für Musik 8 (1841),

    Sp. 67..93 Schwab, S. 138.94 Ebd., S. 170.95 Ebd., S. 144.

    28

  • einem Lied, dem Erlkönig, eröffnete. Maßgeblich durch sein kompositorisches Liedschaffen

    entzog er der Gattung des Liedes den Stellenwert einer "Gelegenheitskomposition" und

    erhob die ihr zugehörigen Kompositionen "zu[m] Kunstwerk[en] im emphatischen Sinne"96:

    Wie in der Gattung der Sinfonie oder der des Streichquartetts stand von da an auch beim

    Lied das "Gelingen des einzelnen, individuellen Werkes"97 im Fokus des Komponisten.

    Eine prägende Neuerung, der durch das Kunstlied der Einzug ins Liedschaffen geebnet

    wurde und auf deren Erwähnung nicht verzichtet werden darf, findet sich in der Behandlung

    der musikalischen Form. Galt in der mittleren Goethezeit das Strophenlied, in dem die

    strophenweise "Differenzierung des Ausdrucks [...] Sache des Vortrags98 und nicht der

    Komposition sei"99, als einzig denkbare Form, so beginnt sich jenes, den Komponisten stark

    einschränkende Diktum, ansetzend mit den Liedkompositionen Schuberts, zugunsten einer

    Pluralität an möglichen Formbehandlungen an Verbindlichkeit zu verlieren. So weist das

    Lied Gretchen am Spinnrade die Form einer Strophenvariation auf, welche zwischen den

    beiden extremen der strophischen und jener der durchkomponierten Form, vermittelt. Die

    generelle Infragestellung der strophischen Form als die allein gültige, ermöglichte den

    Komponisten die Reflexion über die jeweilig zu einer Gedichtsvorlage und deren

    intendierten Auslegung am best passende formale Gestaltung. Diese neu gewonnenen

    Freiheiten begünstigten den Einzug der bereits erwähnten musikalischen Neuerungen auf

    melodischer und instrumentaler Ebene, welche dem Komponisten allesamt als expressive

    Gestaltungsmittel dienten.

    Die affirmative Haltung gegenüber jenen kompositorisch initiierten Veränderungen innerhalb

    der Gattung des Liedes schlug sich in jenen Aufsätzen nieder, die eine progressive

    Denkweise innerhalb des ästhetischen Gattungsdiskurses bezeugen. Jene Publikationen

    leisten primär einen theoretischen Nachvollzug des praktisch hervorgebrachten

    musikalischen Schaffens und sehen ihren Zweck, konträr zum konservativen Lager, nicht als

    Bewahrer eines einstig aus der Musikgeschichte exzerpierten Normenkatalogs, der dem

    zeitgenössischen Komponisten als verbindliches Regelwerk dienlich sein sollte, sondern als

    Sprachrohr der in ihren Augen fortschrittlichen Liedkomponisten, die sich anschickten, sich

    von veralteten Normen zu emanzipieren.

    96 Dahlhaus, "Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert", S. 860.97 Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 81.98 Vgl.: Schwab, S. 66-73.99 Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 81.

    29

  • 5. Zwei originale Traditionen: Der Versuch einer Schlichtung

    Wie aufgezeigt werden konnte, wurzelte der ästhetische Konflikt zwischen den beiden

    Parteien in einem differierenden Gattungsverständnis des Liedes. So proklamierten die

    konservativen Theoretiker, die Gattung des Liedes sei per definitionem an unveränderliche

    Normen gebunden, um deren Bewahrung und der damit einhergenenden Reinhaltung der

    musikalischen Gattung es ihnen gelegen war. Die progressiven Theoretiker lehnten hingegen

    jenes gattungsästhetische Grundverständnis ab und begrüßten die Entwicklungen und die

    damit verbundene neu verschaffte Wertschätzung des Liedes gar. Als sich die Komponisten

    zunehmend anschickten, den strikten Normenkatalog, der die vermeintliche Reinheit der

    Gattung gewährte, zu missachten, fühlten sich die konservativen Theoretiker in die Pflicht

    genommen, für das Lied der Goethezeit mit all seinen Funktionen und Eigenschaften für

    dessen Bewahrung einzutreten. Was jenen Gelehrten jedoch nicht bewusst war, war, dass es

    niemals – konträr zur biologischen Gattung – eine reine musikalische Gattung geben kann

    und es sich bei einer solchen Vorstellung bloß um eine platonische Idee, um den Irrglauben

    handeln kann, dass "musikalische Gattungen ein Stück gegebener Wirklichkeit seien"100.

    Eine jede musikalische Gattung ist innerhalb gewisser Spielräume, die von Gattung zu

    Gattung in ihrer Größe differieren, entwicklungs- und damit veränderungsfähig. War es

    Anton Webern gar möglich, sein op. 21 noch mit "Symphonie" zu betiteln, es sich also bei

    der Gattung der Symphonie um eine Gattung handelt, die starken Veränderung standhält und

    in der wenige Merkmale, die allen Symphonien gemein sind, ausreichen, um als solche

    gelten zu können, so wurde das Lied der mittleren Goethezeit ins besondere aufgrund der

    Änderungen auf formaler Ebene, die seit 1814 mehr und mehr Einzug in das Liedschaffen

    erhielten, gesprengt. Die Konsequenz, die hieraus abzuleiten gewesen wäre, besagt, dass es

    sich bei der progressiven Liedkomposition, die mit Schubert einsetzt, um eine sich von der

    alten abkapselnde und es sich daher um eine sich neu etablierende Liedtradition handelt,

    deren Entwicklung ihren Ausgang zwar im Strophenlied der mittleren Goethezeit nimmt,

    aber sich dann von selbigem emanzipiert. Die inneren musikalischen Neuerungen, die sich

    auf formaler, harmonischer, melodischer und in Hinsicht auf die Verwendung des

    100Dahlhaus, "Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert", S. 841.

    30

  • Begleitinstrumentes vollziehen, wie auch den formulierten Willen, die einzelne

    Liedkomposition nicht nur "als Exemplar einer Gattung", sondern als "unwiederholbares

    Individuum"101 zur Geltung zu bringen, negieren nahezu sämtliche Normen, die für das Lied

    der mittleren Goethezeit konstitutiv waren und können daher nicht mehr in Kongruenz mit

    diesem gedacht werden.

    Nachdem anerkannt wurde, dass es sich beim kunstlosen Kunstlied Lied der mittleren

    Goethezeit und dem kunstvollen Lied seit Schubert um zwei eigenständige Traditionen

    handelt, so resultiert hieraus zwingend, dass jenen eigenständigen Traditionen beidseitig

    Gewalt angetan würde, sobald der Versuch angeschickt werden sollte, selbige in

    vergleichenden Bezug zu setzen. Eine wertende Gegenüberstellung der beiden Traditionen

    verkennt genau jene Originalität zweier Traditionen, die zwar gemeinsam im Strophenlied

    wurzeln, aufgrund aufgezeigter Verschiedenheiten jedoch inkomparabel sind: "Lieder, die

    sich der Norm der Simplizität entziehen", bilden "eine zweite, selbständige Tradition"102, was

    folgerichtig ebenso bedeutet, dass die "Richtung des kunstlosen Kunstliedes [...] vollen

    Eigenwert" hat und ist – da es "nicht auf die Teilhabe am 'Kunstcharakter' zielt"103 – "nicht

    nach dem Maßstab Beethovens oder Schuberts zu messen"104.

    101Ebd., S. 844.102Ebd., S. 888.103Dahlhaus, Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 84.104Wiora, S. 97.

    31

  • 6. Die Eichendorff-Rezeption im 19. Jahrhundert

    Die Gedichte Joseph Freiherr von Eichendorffs (1788-1857) zählen, zusammen mit Goethes,

    zu den meist vertonten des 19. Jahrhunderts. Die Annahme, der Dichter wurde bereits zu

    Lebzeiten stark rezipiert, wäre hingegen ein Trugschluss, interessierten sich die Verlage zu

    seiner Zeit doch ausschließlich für die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“105. Das

    Interesse der Zeitgenossen traf demnach ausschließlich auf dieses Werk, wie allenfalls noch

    Eichendorffs Jugendwerk. Dass Eichendorff heutzutage ein unanfechtbarer Rang eigen ist,

    hängt – so die These, die es Veronika Beci gelingt in ihrer Dissertation106 plausibel

    auszuführen – maßgeblich mit der starken musikalischen Rezeption zusammen, die das

    lyrische Werk Eichendorffs im 19. Jahrhundert erfahren hat. Eine über ein sekundäres

    Medium von statten gehende Etablierung eines literarischen Oeuvres kann jedoch, wie es

    auch im Falle Eichendorffs zutrifft, Probleme mit sich bringen: Ist es zwar möglich, „für die

    letzten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts weit über 5000 Eichendorff-Vertonungen

    nach[zuweisen]“107, so befassen selbige sich indes nicht mit sämtlichen der vielfältigen

    Motive, die Eichendorff in seiner Lyrik verarbeitet, sondern beschränken sich in aller

    größtem Maße auf jene Gedichte, die einen engen Naturbezug aufweisen. Durch die

    popularisierende Wirkungsmacht der eichendorffschen Gedichtsvertonungen und deren

    nahezu alleinige Fokussierung auf idyllische Momente, konnte sich die „Rezeption

    Eichendorffs als [die] eines reinen Naturlyrikers“108 überhaupt erst etablieren und festigen.

    Irmgard Scheitlers Beobachtung, „daß viele Deutsche den Dichter Eichendorff zuerst über

    seine Lyrik und diese wiederum als gesungenes Lied kennengelernt haben“109, kräftigt die

    Vermutung, dass die nicht nur das Sololied, sondern ebenfalls die „Chorbewegung“110

    betreffende quantitative Größe der Liedvertonungen im 19. Jahrhundert eine alleinig das

    literarische Werk dokumentierende Rezeption mindestens beträchtlich behindert, womöglich

    105Von Eichendorff, Joseph, Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild.106Beci, Veronika, ...weil alles von der Sehnsucht kommt. Tendenzen einer Eichendorff-Rezeption durch das

    Lied. 1850-1910.107Busse, Eckart, Die Eichendorff-Rezeption im Kunstlied, S. 9.108Frühwald, Wolfgang / Heiduk, Franz, Joseph von Eichendorff. Leben und Werk in Texten und Bildern,

    Frankfurt am Main, 1988, S. 194.109Scheitler, Irmgard, „ Aber den lieben Eichendorff haben wir gesungen“, in: Aurora 44 (1984), S. 100-123.110Kienzle, Ulrike, „Eichendorff, Joseph Karl Benedikt Freiherr von“, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.), Musik in

    Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 6, Kassel u.a.: Bärenreiter / Metzler 1999, Sp. 146.

    32

  • gar verhindert hat. Zu hinterfragen bleibt, warum die Beliebtheit der Gedichte Eichendorffs

    erst in den letzten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zum noch heute währenden Ausmaß

    anwuchs, obwohl „die wahrscheinlich erste, volksliedhaft einfach gehaltene Komposition

    […] 1814“111 bereits komponiert wurde. Ein vielversprechender Anhaltspunkt, der Licht in

    diese Ungereimtheit bringt, entpuppt sich in einer Legendenbildung, die um die Lieder

    Eichendorffs kreist, verbindet doch die Geschwister Fanny Hensel und Felix Mendelssohn-

    Bartholdy, dass ihnen beiden nachgesagt wird, sie seinen „während der Vertonung eines

    Eichendorff-Textes“112 verstorben. Ebenso die überlieferte Aussage Clara Schumanns,

    Eichendorff hätte über Robert Schumanns Vertonungen verlauten lassen, dass sie seinen

    Gedichten erst das eigentliche Leben gegeben hätten113, trägt zu einer Mystifizierung und

    einer mit ihr verbundenen Popularisierung der Lieder und damit ebenfalls der Lyrik bei. Ein

    weiterer Anhaltspunkt, der zur Klärung der Fragestellung, warum Eichendorffs Rezeption

    erst in den letzten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zu voller Blüte gelangte, ist in der

    Person Robert Schumanns zu finden. Schumann schaffte mit seinem Liederkreis op. 39, für

    den er sich alleinig eichendorffscher Gedichte bediente, einen Markstein, an dem sich viele

    ihm nachfolgende Komponisten anlehnten oder zumindest abarbeiteten. Die einzelnen

    Vertonungen Schumanns begegnen dem Romantischen der Lyrik Eichendorffs gefilterter und

    zwiespältiger als es vorherige Komponisten taten, setzen dem dichterischen Wort eine stark

    individuell geprägte Interpretation des empfindenden und deutenden Komponisten entgegen

    und erschweren es dem Rezipienten der Lieder, der baren Lyrik unvoreingenommen zu

    begegnen, sie als eigenständig wahrzunehmen.

    Doch nicht nur der Komponist, sondern ebenfalls der Kritiker und Rezensent Robert

    Schumann sorgte mit dem Ausspruch, die Neuerungen seit Schubert innerhalb der Gattung

    des Kunstliedes seien die Auswirkungen einer „neue[n] deutsche[n] Dichterschule: Rückert

    und Eichendorff“, die „jene kunstvollere und tiefsinnigere Art des Liedes [ermöglichte], von

    denen die Früheren nichts wissen konnten, denn es war nur der neue Dichtergeist, der sich in

    der Musik wiederspiegelte“114, für eine zunehmende Rezeption der Lyrik Eichendorffs, der

    sich kaum noch ein Komponist entziehen konnte, falls er nicht als rückständig gelten wollte.

    Es bleibt daher festzuhalten, dass die Rezeption Eichendorffs, die zwar bereits im frühen 19.

    Jahrhundert einsetze, ihre Blütezeit erst aufgrund einschlägiger Vertonungen von bereits

    111Ebd., Sp. 146.112Beci, S. 7.113Litzmann, Berthold, Clara Schumann, S. 151.114Schumann, Robert, Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 147.

    33

  • wohl etablierten und angesehenen Komponisten erlangte. Dass die rein literarische

    Rezeption dabei nahezu durch die musikalische überdeckt wurde, ist genauso zu

    konstatieren, wie die damit zusammen zu denkende Tatsache, dass die musikalische

    Rezeption weder fähig ist, noch intendierte, das Gesamtoeuvre Eichendorffs sachgemäß zu

    repräsentieren. Dass die musikalische Rezeption aber dazu beitrug, dem Werk Eichendorffs

    überhaupt erst zu dem Stellenwert zu verhelfen, den es im späten 19. Jahrhundert erreichte

    und noch heute innehat, ist ebenfalls zur Kenntnis zu nehmen.

    34

  • 7. „Mondnacht“ – eine Gedichtanalyse

    Mondnacht

    Es war, als hätt’ der Himmel

    Die Erde still geküßt,

    Daß sie im Blütenschimmer

    Von ihm nun träumen müßt’.

    Die Luft ging durch die Felder,

    Die Aehren wogten sacht,

    Es rauschten leis die Wälder,

    So sternklar war die Nacht.

    Und meine Seele spannte

    Weit ihre Flügel aus,

    Flog durch die stillen Lande,

    Als flöge sie nach Haus.

    7.1. Die formale Gedichtsanlage: Zwischen standardisierter Formalität und origineller Individualität

    Das Einzelgedicht "Mondnacht", das weder aus einer Arbeit an einem Roman, noch an einer

    Novelle entstand, verfasste Eichendorff schätzungsweise im Jahre 1835, zwei Jahre bevor er

    es selbst in einem Gedichtsband115 unter der Rubrik "geistliche Lieder" publizierte.116 Das

    insgesamt zwölf Verse fassende Gedicht ist in drei Strophen mit jeweils vier Versen

    115Eichendorff, Joseph von, Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff, Berlin: Duncker & Humblot 1837.

    116Busse, S. 19.

    35

  • gegliedert. Eine jede Strophe bildet mit ihren vier Versen einen vollständigen Satz und damit

    eine inhaltlich, wie auch syntaktisch geschlossene Einheit. Der dreihebige Jambus verleiht

    jedem Vers einen fließenden, ruhigen Sprechrhythmus. Die weiblichen und männlichen

    alternierenden Kadenzen entsprechen dem Kreuzreimschema.

    Neben jenen das gesamte Gedicht prägenden formalen Eigenschaften, gibt es eine große

    Anzahl teils subtiler Qualitäten, welche die formale Strenge des Gedichts aufbrechen. So ist

    es augenfällig, dass der Satzbau in der ersten Strophe hypotaktisch, in den beiden folgenden

    jedoch eher einfach, parataktisch gehalten ist.117 Doch nicht nur aus der Gegenüberstellung

    von der sprachlichen Anlage der jeweiligen Strophen, sondern ebenso aus der Betrachtung

    kleingliedrigerer Einheiten resultieren Erkenntnisse. Da den jeweils ersten Worten der Verse

    10 und 11, dem Sprachsinn gemäß, der Hauptakzent zuteilwird, ergibt sich eine Spannung

    zwischen rhythmischer Gestaltung und metrischem Versmaß. Die gegenmetrische Betonung

    der Versanfänge provoziert demnach einen Hebungsprall. Doch auch manche Versendungen

    bedürfen einer genaueren Untersuchung. Der unreine Reim der Verse 9 und 11, sowie die

    bloß durch Assonanzen gestiftete Zusammengehörigkeit der Verse 1 und 3 stellen einen

    deutlich wahrnehmbaren Kontrapunkt zur strengen äußeren konzeptionellen Anlage des

    Gedichtes dar. Sie ist Zeuge einer – wie Klaus-Dieter Kabriel seiner Auseinandersetzung mit

    der Genese des Gedichtes schloss – sorgfältig erarbeiteten "Schlichtheit der Diktion"118, die

    sich, wie bereits aufgezeigt, ebenfalls in der großen, sich vordergründig präsentierenden

    formalen Anlage des Gedichts wiederspiegelt. Ausgerechnet der Schein des bloß flüchtig,

    spontan Ersonnenen, der den Eindruck einer volkstümlichen Schlichtheit evoziert, ist es, der

    die "Mondnacht" laut Krabiel durch ihre vordergründige Unvollkommenheit paradoxerweise

    "als Sprachgebilde" zu den "vollendetsten lyrischen Produkten deutscher Literatur"119 erhebt.

    Dem "zeitgemäße[n] Hinweis aufs Unzeitgemäße", wie auch dem Vorwurf der "Trivialität

    des Bildes" und der Sprache, steht das Gedicht einerseits aufgrund der offengelegten

    fehlerhaft wirkenden Normabweichungen schutzlos ausgeliefert gegenüber, büßt aber zur

    selben Zeit nicht im geringsten an Tragfähigkeit ein. Das Gedicht ist, wie Theodor W.

    Adorno konstatiert, "allen Einwänden preisgegeben, [...] aber dennoch gefeit gegen

    jeglichen"120.

    Eine weitere schillernde Unreinheit, die sich jedoch weder auf formaler, noch stilistischer

    117Ebd., S. 141.118Krabiel, Klaus-Dieter, Tradition und Bewegung, S. 49.119Ebd., S. 44.120Adorno, Theodor W., „Zum Gedächtnis Eichendorffs", in: Noten zur Literatur, S. 69-95 u. S. 70f.

    36

  • Ebene ereignet, wird in der nicht eindeutig logisch zu fassen möglichen Semantik und deren

    intertextuellen Bezug des neugeprägten Wortes "Blütenschimmer" in Vers 3 offenbar. Der

    Reiz der unverbrauchten, frischen Wirkungsmacht, den ein Neologismus verspricht zu

    erzielen, geht zumeist mit einem Verlust inhaltlicher Exaktheit einher. Im gegebenen Kontext

    wird die Bedeutung der Wortsynthese zweier durch zu häufige Verwendung ausgehöhlter

    Begriffe nicht eindeutig fixierbar: Der semantische Sinn des "Traumes der Erde im

    Blütenschimmer" bleibt unscharf. Ferner haftet der Satzkonstruktion eine logische Schwäche

    an, da im Wortkompositum des "Blütenschimmers" die "Blüten" selbst zur Quelle des

    schimmernden Lichtes werden, wie es von analogen Wortzusammensetzungen, wie jener des

    "Kerzenschimmers" abgeleitet, geläufig ist. Eichendorff kreiert daher mit seiner

    Wortneuschöpfung einen von einer Lichtquelle losgelösten, der Sache eigens

    innewohnenden Lichtreflex und enthebt die geschilderten Geschehnisse damit der

    empirischen Alltäglichkeit. Neben der semantischen Uneindeutigkeit des Neologismus' geht

    über dem mit der vorangestellten Präposition "im" eine kaum logisch fassbare

    Verskonstruktion einher. Die ausschließlich als lokal aufzufassen mögliche Relationierung

    zwischen "Erde" und "Blütenschimmer" ruft eine paradoxe Vorstellung der Szenerie hervor,

    in der die Erde als sich selbst im Blütenschimmer befindend gedacht werden muss. Der

    Schimmer muss jedoch vorab durch die Erde selbst, und zwar "durch die Reflexion des

    Mondlichts auf ihrer Oberfläche, verursach[t]"121 werden. Die "betont sinnliche[n]

    Vorstellungen", die sich dem "sinnlich-bildhaften und rationalen Vollzug widersetzen"122 sind

    es, die Eichendorff wählt, um mittels scheinbar vertrauter poetischer Bausteine

    Absonderliches zu gestalten.

    Jegliche originellen Normabweichungen spielen derartig mit dem Schein des vertrauten und

    alteingesessenen Form- und Gattungsverständnis des Gedichts, dass sie zwar nach einer

    analytischen Auseinandersetzung deutlich zutage treten, sie in ihrem Umfeld jedoch

    dermaßen natürlich eingebettet sind, dass sie nicht plakativ grell ins Auge stechen.

    121Krabiel, S. 47.122Ebd., S. 47.

    37

  • 7.2. Die inhaltlichen Themenfelder

    7.2.1. Der heidnische Urmythos

    Die Tatsache, dass Eichendorff die "Mondnacht" selbst unter die Kategorie der geistlichen

    Lieder einordnete, sein Gedicht jedoch mit einer gleichnishaften Schilderung anhebt, die an

    einen heidnischen Mythos erinnert, wirft Fragen über den eigentlichen Zweck und die

    tieferliegende Bedeutung jenes gewählten Einstiegs auf. Der Kuss zwischen Himmel und

    Erde, wie er in der ersten Strophe durch das lyrische Ich beschrieben wird, evoziert

    unweigerlich eine starke Assoziation zum "Urmythos von Uranos und Gaia"123, aus deren

    liebender Verbindung Zyklopen und Titanen hervorgingen. Die sich anschließenden

    gewählten Begriffe, wie jene der "sternklare[n] Nacht", die als "Symbol für die beschützende

    Liebe im christlichen Sinn"124 gedeutet werden können, lassen Wolfgang Frühwalds

    Interpretationsansatz, das Gedicht thematisiere eine "mystische[n] Vermählung von Antike

    und christlicher Romantik"125, als tragfähig dastehen