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KASIMIR UND KAROLINE Ödön von Horváth Hintergrundmaterial für den Unterricht Premiere > 13. April 2012 Spielzeit 2011/2012

Materialsammlung KASIMIR UND KAROLINE - Schauspiel … · KASIMIR UND KAROLINE Ödön von Horváth Hintergrundmaterial für den Unterricht Premiere > 13. April 2012 Spielzeit 2011/2012

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KASIMIR UND KAROLINE

Ödön von Horváth

Hintergrundmaterial für den Unterricht

Premiere > 13. April 2012

Spielzeit 2011/2012

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Liebe Lehrerinnen und Lehrer,

„Und blühn einmal die Rosen Ist der Winter vorbei Nur der Mensch hat alleinig Einen einzigen Mai Und die Vöglein die ziehen Und fliegen wieder her Nur der Mensch bald er fortgeht Nachher kommt er nicht mehr.“

„Die Liebe und die Zeit“, sei sein Thema in diesem Stück, schrieb Horváth einmal, und ein anderes Mal: „die Liebe in unserer schlechten Zeit“ – nämlich den 1930er Jahren, in denen sie der gesellschaftlichen und ökonomischen Krise zum Ende der Weimarer Republik ausgesetzt war.

Die Zeit läuft irreversibel ab, wie ein Menschenleben, das metaphorisch einen einzigen Mai hat: die Jugend. Dem romantischen Ideal nach auch: eine einzige Liebe. Denn die Liebe beansprucht ihre eigene kleine Ewigkeit und will sich nicht zyklisch denken. Sie will einen mythischen Anfang, ein dauerndes Jetzt – und kein Ende. Vor allem will sie nicht denken, dass es nach ihr noch eine andere geben könnte.

Genau das ist es aber, was immerzu passiert, und vor lauter Banalität des Anlasses versteht man in der Situation oft selbst nicht, wie das gekommen ist. Nicht jedem Paar der Weltliteratur ist ein Ende wie das von Romeo und Julia vergönnt. Manchmal scheint es leichter zu sterben, als den Abend zu überleben, als das Ende einer Liebe zu überleben, als die eigene Fähigkeit zu Treulosigkeit und Verrat kennen zu lernen, oder die eigene Verführbarkeit für Geld und Status.

So geschieht es Kasimir und Karoline. Erst wird er entwertet, durch seine Entlassung, dann entwertet er sich selbst. In einer „selffulfilling prophecy“ setzt er selbst den Schnitt, indem er Karoline die Beleidigung zufügt, die er von ihr befürchtet.

Karoline ihrerseits wird von Schürzinger umworben, erst charmant und einfühlsam, später nur mehr zynisch. Der weiß vom Einfluss des Ökonomischen auf das Private und tritt von seinem Anspruch auf Karoline zugunsten potenterer Akteure zurück. Der Merkl Franz hingegen, der für seine persönliche Ökonomie den Schritt in die Illegalität bereits gegangen ist, wird mit seiner Tuberkulose das Ende seiner Haftzeit nicht mehr erleben. Zurück bleiben Erna und Kasimir, zwei scheinbar verwandte Seelen, die miteinander zumindest weniger allein sind.

Das Oktoberfest in Kasimir und Karoline ist wie der Wald in Shakespeares Liebeskomödien: eine karnevalesk umgestülpte Welt, in die eine Reihe von Paaren hineinstrudelt und aus der eine Reihe Einzelner zerzaust und verwirrt heraustritt, um vielleicht auch neue Bindungen einzugehen, aber um den Preis eines großen Illusionsverlusts. Wir wünschen eine spannende Auseinandersetzung mit diesem Material und ein anregendes Theatererlebnis!

Daniela Urban Silke Duregger Theaterpädagogik Schul- und Gruppenreferat SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART [email protected] [email protected] FON > 0711.2032-234 FON > 0711.2032-526 FAX > 0711.2032-595 FAX > 0711.2032-595

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INHALTSVERZEICHNIS KASIMIR UND KAROLINE > Zur Inszenierung 4 ÖDÖN VON HORVÀTH > Der Autor 5

„GEBRAUCHSANWEISUNG“ > Horváth über sein Werk 11

KASIMIR UND KAROLINE > Inhaltliche Zusammenfassung 14

HORVÀTH UND SEINE ZEIT > Zeitgeschichtliche Hintergründe 16 GESELLSCHAFT > „Liebe und Konsum“ von Eva Illouz 20

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Kasimir und Karoline > Zur Inszenierung Die Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut Karoline, die sich nur mal amüsieren wollte beim Oktoberfest, und dann böse auf die Nase fällt, gehört zu den schönsten Theaterstücken deutscher Sprache. Seit der Renaissance, die der Autor Horváth mit der Hinwendung zu Sozialkritik und der Wiederentdeckung des kritischen Volksstücks in den 1970er Jahren erlebte, ist es nicht mehr von den Bühnen wegzudenken. 1932 uraufgeführt, kurz nach der Weltwirtschaftskrise, zeigt es einsame Gestalten in einer schlechten Zeit, die viel Not und wenig Mitleid kennt. Karoline will aus dem tristen Alltag ausbrechen und sich spüren, ihr Verlobter Kasimir, der gerade entlassen wurde, ahnt schon, dass sie ihn, den Entwerteten, nun auch verlassen wird und provoziert den Abschied damit geradezu. Doch auch beim Zuschneider Schürzinger, der ihr ein Eis spendiert, hält es Karoline nicht lang, von haltloser Sehnsucht getrieben, trudelt sie von einem zum andern und verspielt dabei ihre Würde. Vor der gleichgültigen Kulisse des Volksfestes mit seiner dumpf dahindudelnden Musik und den zur Schau gestellten „Abnormitäten" verlieren sich Kasimir und Karoline, wird der brutale Merkl Franz beim Autoklau verhaftet, strudelt es seine von ihm malträtierte Erna zu Kasimir, bei dem auch die reumütige Karoline zum Schluss wieder Zuflucht sucht, während reiche Industriekapitäne mit dem Zeppelin nach Altötting fliegen und andere reiche Herren sich für ein bisschen Geld und Schnaps die Nähe junger Mädchen erkaufen. Besetzung:

Kasimir Florian von Manteuffel Karoline Dorothea Arnold Rauch Boris Burgstaller Speer Rainer Philippi Schürzinger Benjamin Grüter Der Merkel Franz Christian Schmidt Dem Merkel Franz seine Erna Sarah Sophia Meyer Elli Fridolin Y. Sandmeyer Maria Eléna Weiß Juanita Gabriele Hintermaier Regie Nina Mattenklotz Bühne Silke Rudolph Kostüme Lena Hiebel Musik Tobias Gronau Dramaturgie Kekke Schmidt

Premiere 13. April 2012| NORD Regie > Nina Mattenklotz

Nina Mattenklotz, die in der vergangenen Spielzeit am SCHAUSPIEL STUTTGART das expressionistische Drama VON MORGENS BIS MITTERNACHT inszenierte, interessiert sich für die Atmosphäre von Depression und Stillstand in diesem Stück, in dem die Menschen ihre Wut nicht gegen die Welt richten, sondern nur noch auf ihre privaten Beziehungen verschieben. Aus Unvermögen, ein Selbstwertgefühl außerhalb der Arbeit aufzubauen, verletzen sie sich gegenseitig.

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Ödön von Horváth > Der Autor Elternhaus und Kindheit

Am 26. Februar 1901 heiraten der Diplomat Dr. Edmund Josef Horváth, der 1874 in Kroatien geboren wurde, und Maria Hermine Prehnal (1882 in Broos geboren). Am 9. Dezember desselben Jahres wird ihr erstes Kind Edmund Josef, genannt Ödön, in Fiume - dem heutigen Rijeka - in Kroatien geboren. Ein Jahr später siedelt die Familie nach Belgrad um, wo dann am 6. Juli 1903 Ödöns Bruder Lajos zur Welt kommt. Im Jahr 1908 zieht die Familie nach Budapest weiter. Dr. Edmund Horváth wird hier als Richter am königlich ungarischen Verwaltungsgerichtshof und als Fachberichterstatter des königlich ungarischen Handelsministeriums im Ausland für Serbien angestellt. Ödön erhält seinen ersten Unterricht in ungarischer Sprache durch einen Hauslehrer. 1909 wird Dr. Edmund Horváth in den Adelsstand erhoben, was in ungarischer Sprache am "H" hinter dem "T" des Namens Horváth zu sehen ist. Gleichzeitig wird er nach München versetzt, wohin ihm seine Familie mit Ausnahme von Ödön folgt. Sein ältester Sohn bleibt in Budapest und besucht dort das "Rákóczianum", ein erzbischöfliches Internat, in dem er eine intensive religiöse Erziehung erhält. Vier Jahre später, 1913, wird Ödön von seinen Eltern nach München geholt, wo er zuerst die dritte Klasse des Gymnasiums besucht und dann ins Realgymnasium wechselt. Über seine Schulzeit sagt er selbst:

"Während meiner Schulzeit wechselte ich viermal die Unterrichtssprache und besuchte fast jede Klasse in einer anderen Stadt. Das Ergebnis war, dass ich keine Sprache ganz beherrschte. Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, konnte ich keine Zeitung lesen, da ich keine gotischen Buchstaben kannte, obwohl meine Muttersprache die deutsche ist. Erst mit vierzehn Jahren schrieb ich den ersten deutschen Satz."

Der Weg zum Studium

Als 1914 der erste Weltkrieg ausbricht, wird Dr. Edmund Horváth einberufen. Doch schon 1915 wird er wieder von der Front abberufen und kehrt nach München zurück. Für Ödöns Leben hat der Krieg eine einschneidende Bedeutung, was sich aus folgendem Zitat erkennen lässt:

"[...] An die Zeit vor 1914 erinnere ich mich nur, wie an ein langweiliges Bilderbuch. Alle meine Kindheitserlebnisse habe ich im Krieg vergessen. Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung."

1916 ziehen die Horváths erneut um. Dieses Mal nach Preßburg, wo Ödön die Oberrealschule besucht. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Zeugnisse schriftstellerischer Versuche in Form von Gedichten, von denen "Luci in Macbeth. Eine Zwerggeschichte von Ed. v. Horváth" erhalten ist. Im Januar 1918 wird Dr. Edmund Horváth nach Budapest berufen. Dort stößt Ödön zu einem Kreis junger Leute - dem sogenannten Galilei-Kreis -, die mit Begeisterung national-revolutionäre Werke lesen. Das Generationsgefühl dieser jungen Leute drückt er so aus:

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"Wir, die wir zur großen Zeit in den Flegeljahren standen, waren wenig beliebt. Aus der Tatsache, dass unsere Väter im Felde fielen oder sich drückten, dass sie zu Krüppeln zerfetzt wurden oder wucherten, folgerte die öffentliche Meinung, wir Kriegslümmel würden Verbrecher werden. Wir hätten uns alle aufhängen dürfen, hätten wir nicht darauf gepfiffen, dass unsere Pubertät in den Weltkrieg fiel. [...] und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt. In uns ist nichts zusammengebrochen, denn wir haben bisher nur zur Kenntnis genommen."

In diesem Zitat wird deutlich, dass Horváth mit dem Geist dieser Zeit nicht zurechtkommt. Seine Generation steht im Schatten der "Kriegshelden", die ihre Väter sind. 1919 verlässt die Familie Horváth Ungarn und Ödön kommt in die Obhut eines Onkels in Wien. Dort macht er an einem Privatgymnasium das Abitur. Am 15. Oktober dieses Jahres schreibt er sich an der Universität in München ein, wo seine Eltern leben. Schriftstellerische Anfänge

Horváths erstes Buch, "Das Buch der Tänze" entsteht 1920 auf Anregung von dem Komponisten Siegfried Kallenberg, dem er in München begegnet:

"Kallenberg wandte sich an jenem Abend plötzlich an mich mit der Frage, ob ich ihm eine Pantomime schreiben wolle. - Ich war natürlich ziemlich verdutzt, [...] ich war doch gar kein Schriftsteller und hatte noch nie in meinem Leben irgendetwas geschrieben. Er muss mich wohl verwechselt haben, dachte ich mir - und ursprünglich wollte ich ihn auch aufklären, dann aber überlegte ich es mir doch anders [...]. Ich sagte zu, setzte mich hin und schrieb die Pantomime."

Von diesem Buch erscheinen 1922 500 Exemplare, doch 1926 kauft er die Restauflage mit Hilfe seines Vaters auf und vernichtet sie. Diese erste intensive Schreibperiode Horváths nennt man auch die Zeit der "Werke auf Widerruf": Das meiste aus dieser Epoche hat er sofort wieder vernichtet oder sich später von ihm distanziert. Horváths Anfänge wurzeln im Expressionismus: Er fühlt sich seiner Zeit ausgesetzt und versucht sich von ihr zu distanzieren. Er hat aber das Gefühl, sich nicht wirklich gegen sie wehren zu können. 1924 macht Ödön mit seinem Bruder Lajos eine mehrwöchige Paris - Reise, danach beschließt er sich in Berlin niederzulassen. Die Frage, warum er gerade nach Berlin gezogen ist, beantwortet Horváth so:

"[...] Es hat sich allmählich herumgesprochen, dass das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten. Berlin, das die Jugend liebt und auch etwas für die Jugend tut..."

Neben dem Materiellen bot Berlin dem jungen Schriftsteller auch Stoff für seine Stücke. So stößt Horváth zum Beispiel 1927 im Büro der "Deutschen Liga für Menschenrechte", der er selbst angehörte, auf Material über die Fememorde der Schwarzen Reichswehr.

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Der darauf folgende Prozess gegen einen Oberleutnant wegen Anstiftung zum Fememord schlägt sich in seiner Historie "Sladek oder die schwarze Armee" nieder. In diesem Drama geht es um einen Reichswehrmann, der in seiner nationalsozialistischen Verblendung einen Mord begeht. Horváth macht aber auch die sozialen und politischen Bedingungen, die in dieser Zeit herrschten, deutlich und macht diese sogar für den Mord verantwortlich. Dadurch provoziert er empörte Angriffe von den Nationalsozialisten. 1928 arbeitet er das Drama - wie die meisten seiner Stücke - um und gibt ihm den Titel "Sladek der schwarze Reichswehrmann".

Am 4. Januar 1929 findet die Uraufführung der "Bergbahn" statt, eine umgearbeitete Fassung der "Revolte auf der Côte 3018". Die "Bergbahn" behandelt ein authentisches Unglück an der Seilschwebebahn auf die Zugspitze. Das Thema des Stücks ist der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Es kommt überhaupt sehr häufig vor, dass Horváth reale Ereignisse oder auch Personen, die er tatsächlich kennengelernt hat, in seinen Werken verarbeitet.

„Es bildet sich ein neues gesellschaftliches Bewusstsein, es ist alles im Werden begriffen, auch die bisher bekannten Typen der Menschen bilden sich um, es entstehen gewissermaßen ganz neue Mischungen [...] und für mich als jungen Dichter ist dies natürlich kolossal wichtig, die persönlichen Eindrücke von diesem Wandel des Bewusstseins.“

Eine Woche nach der Uraufführung bietet der Ullstein-Verlag Ödön von Horváth einen Vertrag an und er hat damit die Möglichkeit, als freier Schriftsteller zu leben. Horváth wird populär

1930 beendet Horváth den Roman "Der ewige Spießer", in dem ein ehemaliger Eishockey-nationalspieler Vorbild für die Romanfigur Harry Priegler ist. Das Jahr 1931 wird für Horváth das erfolgreichste und zumindest an äußerem Ruhm reichste Jahr. So fand in diesem Jahr auch die Premiere seines bis heute theater-wirksamsten und erfolgreichsten Stückes "Geschichten aus dem Wienerwald" statt. Am 24. Oktober erhält Horváth den Kleistpreis auf Vorschlag von Carl Zuckmayer.

„Horváth scheint mir unter den jüngeren Dramatikern die stärkste Begabung, darüber hinaus der hellste Kopf und die prägnanteste Persönlichkeit zu sein.”

Der Halbjude Zuckmayer und Horváth, der bereits in den Stücken "Sladek, der schwarze Reichswehrmann" und "Italienische Nacht" Kritik am Nationalsozialismus geübt hatte, ziehen sich so noch mehr den Zorn der Nationalsozialisten zu. Horváth selbst war schon im Juni, als er als Zeuge in einem Saalschlacht-Prozess vernommen wurde, von ihnen tätlich angegriffen worden. Der spätere Reichsdramaturg Rainer Schlösser über die Verleihung des Kleist-Preises:

„[...] Was Zuckmayers Stücke schon bewiesen haben, jetzt bestätigt es auch seine Preisrichtertätigkeit: daß er allen Geschmacks- und Urteilsvermögen bar ist. [...] Und wir wissen, daß Horváth deutschen Menschen nichts, aber auch gar nichts zu sagen hat."

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1932 stellt Horváth die Stücke "Kasimir und Karoline" und "Glaube Liebe Hoffnung" fertig. In "Kasimir und Karoline" stehen ein arbeitsloser Lastwagenfahrer und eine kleine Angestellte im Mittelpunkt. In 118 Miniaturszenen werden durch genaue Sprachporträts die gehässige Gefühlswelt und der kalte Egoismus der Bessergestellten entlarvt. "Glaube Liebe Hoffnung" behandelt wieder einmal einen authentischen Fall: Ein armes Mädchen - Elisabeth - versucht schon zu Lebzeiten ihren Körper an ein Anatomisches Institut zu verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Elisabeth ist eigentlich ein anständiges Mädchen, das durch die Gesellschaft auf die schiefe Bahn geraten ist. Horváth selbst sagt, dass er mit diesem Stück "den gigantischen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft zeigen..." wollte. Der Autor wird durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen zum Chronisten der Weimarer Republik. Er rückt die politischen Schwierigkeiten und wirtschaftlichen Belastungen durch seine Stücke ins allgemeine Bewusstsein. Seine immer noch wachsende Popularität wird in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk und in verschiedenen Autorenlesungen deutlich. Horváth im 3. Reich, Deutschland

Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 werden Horváths Stücke an den deutschen Bühnen abgesetzt. SA-Trupps durchsuchen das elterliche Haus in Murnau. Daraufhin verlässt Ödön von Horváth Deutschland und fährt zuerst nach Salzburg, dann nach Wien. Von Wien aus muss er eine Reise nach Budapest unternehmen, um die ungarische Staatsbürgerschaft zu behalten. Als er von dieser zurückkehrt, heiratet er die Sängerin Maria Elsner, eine Jüdin. Doch schon ein Jahr später, 1934, lässt er sich wieder von ihr scheiden. In diesem Jahr werden auch in Österreich seine Stücke nicht mehr an den Theatern gespielt, nachdem er gegen die faschistische Wiener Zeitung "12-Uhr-Blatt" wegen Ehrenbeleidigung prozessiert hatte. Noch im gleichen Jahr verlässt Horváth Wien und zieht wieder nach Berlin, wo er mit Hilfe eines Bürgen dem "Reichsverband Deutscher Schriftsteller" beitritt. Außerdem versucht er sich durch einen Brief mit den Nationalsozialisten zu arrangieren und vermeidet jegliche öffentliche Kritik an ihnen. Ziel dieser opportunistischen Haltung ist die Rücknahme des Aufführungsverbotes von Horváths Stücken. Die Nazis zeigen sich jedoch unbeeindruckt, seine Stücke bleiben weiter verboten.

„Zensur ist Bevormundung. [...] Wer ist Zensor? Pfaffe, Richter und Soldat. Was wird zensiert? Der Glaube an den Fortschritt. Was wird verboten? Die Vernunft, das Recht und der Friede. Was wird erlaubt? Der Abtreibungsparagraph, Giftgas, Wohnungsnot, Tuberkulose, gottgewolltes Wettrüsten und organisierter Betrug. Wer protestiert dagegen? Die Intellektuellen. Wer soll daran zugrunde gehen? Das Proletariat. Denn der Zensor würde sich um die Intellektuellen überhaupt nicht kümmern, würden sich die Intellektuellen nicht um das Schicksal des Proletariats kümmern. Und so kann auch nur das Proletariat den Zensor besiegen.“

Die Eindrücke, die der Autor aus dieser Zeit mitgenommen hat, finden sich später im Roman "Jugend ohne Gott" wieder. Am 13. Dezember findet in Zürich die Uraufführung der Posse "Hin und Her", die er 1933 geschrieben hat, statt. Horváth nützt diese Gelegenheit, um mit der Schauspielerin Vera Liessem Deutschland zu verlassen.

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Von diesem Zeitpunkt an hat Ödön kaum noch einen festen Wohnsitz, sondern lebt in Pensionen und billigen Hotels, schreibt in Kneipen. Wien, Salzburg und vor allem Henndorf im Salzkammergut dienen ihm bis zum Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland als Bleibe. "Der jüngste Tag", Horváths Verständnis von Gott

Im Jahr 1936 schließt Horváth das Schauspiel "Der jüngste Tag" ab. Dieses Stück spiegelt in der Charakterisierung der Hauptperson Thomas Hudetz autobiographische Züge wieder: Hudetz wird von einer älteren Frau verführt und beherrscht. Dieses Verhältnis hat Horváth selbst erlebt, als er als siebzehnjähriger in Budapest von einer verheirateten Frau verführt wurde. Das Schauspiel verdeutlicht auch seinen religiösen Wandel: Früher zeichnete der Autor in seinen Werken stets ein negatives Bild von Gott und der Kirche, aus der er bereits 1929 ausgetreten war. Jetzt wendet er sich den Themen Schuld, Sühne und sittliche Verantwortung zu. Und in den Notizen zu einem geplanten Roman finden sich folgende Sätze:

"Ich glaube nämlich an Gott. Ich glaube, daß es etwas gibt, das uns lenkt. Ich glaube, daß es einen Herrn des Zufalls gibt."

Doch diese Sätze zeigen auch, dass sich bei Horváth zwar ein religiöser Wandel vollzogen hat, er aber nicht zum traditionellen Christentum zurückkehrt. Weltanschauung

Bei einem Besuch bei seinen Eltern in Possenhofen wird ihm die Entziehung seiner Aufenthaltserlaubnis mitgeteilt. Er habe binnen 24 Stunden Deutschland zu verlassen. 1937 distanziert sich Horváth öffentlich von fast allen Bühnenstücken, die er geschrieben hat. Was auf den ersten Blick eher unverständlich wirkt, lässt sich durch Horváths Erfahrungen mit dem Faschismus erklären: Er kommt zu der Erkenntnis, dass der Mensch die Wurzel allen Übels sei. Früher war Horváth der Ansicht (ähnlich wie Brecht), dass die Menschen nur durch die Verhältnisse, in denen sie leben, schlecht geworden sind. Doch es lag ihm im Gegensatz zu Brecht stets fern, Lehrstücke zu schreiben, die auf eine Veränderung der Verhältnisse drängen. Der Grund dafür war einfach, dass Horváth eine fatalistische Weltanschauung hatte: Er glaubte nicht daran, dass sich die Gesellschaft verändern könnte. Horváths Ziel war die Desillusionierung und Demaskierung des Bewusstseins, nicht aber dessen Veränderung. In diesem Jahr schreibt er also noch einige Komödien und beendet seinen Roman "Jugend ohne Gott", der ein großer Erfolg wird und auch in viele Sprachen übersetzt wird. Überhaupt beginnt sich Horváth zu dieser Zeit mehr und mehr der Prosa zuzuwenden, da er für seine Stücke zumindest in Deutschland keine Bühnen mehr findet. Dies ist für ihn umso schlimmer, da er sich trotz des Einflusses vieler Nationalitäten als Deutscher fühlt:

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"Also wenn man mich fragt, ob ich ein Deutscher bin, so kann ich darauf nur antworten: ich fühle mich als ein Mensch, der sich unter allen Umständen zum deutschen Kulturkreis zählt - und warum ich mich zum deutschen Kulturkreis zähle, liegt wohl vor allem daran, dass meine Muttersprache die deutsche ist."

In seinem letzten Lebensjahr, dem Jahr 1938, hindern ihn Depressionen und Unzufriedenheit im künstlerischen Bereich, die zu einer tiefgreifenden Identitätskrise führen, an der Verwirklichung weiterer Pläne. Verstärkt wird diese Krise noch durch finanzielle Sorgen. Paris; Ironie des Schicksals: Horváths Tod

Im März marschieren die deutschen Truppen in Wien ein, Österreich wird an Deutschland angeschlossen. Horváth muss Österreich verlassen und emigriert über folgende Stationen: drei Wochen Budapest, fünf Wochen Teplitz-Schönau (Tschechoslowakei), dazwischen einige Tage Prag; ein kurzer Aufenthalt in Mailand, dann zwei Wochen Zürich; zwei Stunden Aufenthalt in Brüssel, acht Tage Amsterdam und letztendlich - am 28. Mai - kommt er in Paris an.

Dort stirbt Ödön von Horváth eines unnatürlichen Todes. Am 1. Juni 1938 im jungen Alter von 37 Jahren wird er auf den Champs-Élysées bei einem Gewitter von einem herunterfallenden Ast erschlagen, der vom Blitz getroffen wurde. Diese Meldung vom unglaublichen und plötzlichen Tod Horváths löst unter Freunden und Verwandten Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Manche behaupten, dass die Tragik der Todesumstände die Tragik in seinen Werken wiederspiegele. Sein Freund Franz Werfel konstatiert in seinem Nachwort, dass diese Art des Sterbens aus seinen Stücken entnommen sein könnte.

„Alle Freunde Ödön von Horváths fühlten: Dieser Tod ist kein Zufall. Mancher sagte: Dieser Tod passt zu ihm.“

Noch wenige Tage davor hatte Horváth einem Freund erklärt:

"Vor den Nazis habe ich keine so sehr große Angst... . Es gibt ärgere Dinge, nämlich die, vor denen man Angst hat, ohne zu wissen warum. Ich fürchte mich zum Beispiel vor der Straße. Straßen können einem übelwollen, können einen vernichten. Straßen machen mir Angst."

Horváth ist ein Dramatiker, der mitten aus dem Schaffen, mitten aus dem Leben gerissen wird. Sein Tod macht ihn legendär, was sein Werk nicht vermochte, da es an den deutschen Bühnen nicht mehr gespielt werden konnte. Am siebten Juni 1938 wird Ödön von Horváth auf dem Friedhof Saint-Ouen im Norden von Paris beerdigt. Zahlreiche Schriftsteller, Flüchtlinge, Unbekannte und Hoffnungslose in der Fremde geben ihm das letzte Geleit.

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„GEBRAUCHSANWEISUNG“ > Horváth über sein Werk

„Das dramatische Grundmotiv aller meiner Stücke ist der ewige Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein.“

Ich hatte mich bis heute immer heftig dagegen gesträubt, mich in irgendeiner Form über meine Stücke zu äußern – nämlich ich bin so naiv gewesen, und bildete es mir ein, dass man (Ausnahmen bestätigen leider die Regel) meine Stücke auch ohne Gebrauchs-anweisung verstehen wird. Heute gebe ich es unumwunden zu, dass dies ein grober Irrtum gewesen ist, dass ich gezwungen werde, eine Gebrauchsanweisung zu schreiben. Erstens bin ich daran schuld, denn: ich dachte, dass viele Stellen, die doch nur eindeutig zu verstehen sind, verstanden werden müssten, dies ist falsch – es ist mir öfters nicht restlos gelungen, die von mir angestrebte Synthese zwischen Ironie und Realismus zu gestalten. Zweitens: es liegt an den Aufführungen – alle meine Stücke sind bisher nicht richtig im Stil gespielt worden, wodurch eine Unzahl von Missverständnissen naturnotwendig entstehen musste. Daran ist niemand vom Theater schuld, kein Regisseur und kein Schauspieler, dies möchte ich ganz besonders betonen – sondern nur ich allein bin schuld. Denn ich überließ die Aufführung ganz den zuständigen Stellen – aber nun sehe ich klar, nun weiß ich es genau, wie meine Stücke gespielt werden müssen. Drittens liegt die Schuld am Publikum, denn: es hat sich leider entwöhnt auf das Wort im Drama zu achten, es sieht oft nur die Handlung – es sieht wohl die dramatische Handlung, aber den dramatischen Dialog hört es nicht mehr. Jedermann kann bitte meine Stücke nachlesen: es ist keine einzige Szene in ihnen, die nicht dramatisch wäre – unter dramatisch verstehe ich nach wie vor den Zusammenstoß zweier Temperamente – die Wandlungen usw. In jeder Dialogszene wandelt sich eine Person. Bitte nachlesen! Dass dies bisher nicht herausgekommen ist, liegt an den Aufführungen. Aber auch an dem Publikum. Denn letzten Endes ist ja das Wesen der Synthese aus Ernst und Ironie die Demaskierung des Bewusstseins. Sie erinnern sich vielleicht an einen Satz in meiner ITALIENISCHEN NACHT, der da lautet: „Sie sehen sich alle so fad gleich und werden gern so eingebildet selbstsicher.“ Das ist mein Dialog. Aus all dem geht es schon hervor, dass Parodie nicht mein Ziel sein kann – es wird mir oft Parodie vorgeworfen, das stimmt aber natürlich in keiner Weise. Ich hasse die Parodie! Satire und Karikatur – ab und zu ja. Aber die satirischen und karikaturistischen Stellen in meinen Stücken kann man an den fünf Fingern herzählen – ich bin kein Satiriker, meine Herrschaften, ich habe kein anderes Ziel, als wie dies: Demaskierung des Bewusstseins. Keine Demaskierung eines Menschen, einer Stadt – das wäre ja furchtbar billig! Keine Demaskierung auch des Süddeutschen natürlich – ich schreibe ja auch nur deshalb süd-deutsch, weil ich anders nicht schreiben kann. Diese Demaskierung betreibe ich aus zwei Gründen: erstens, weil sie mir Spaß macht – zweitens, weil infolge meiner Erkenntnisse über das Wesen des Theaters, über seine Aufgabe und zu guter Letzt Aufgabe jeder Kunst ist folgendes – (und das dürfte sich nun schon allmählich herumgesprochen haben) – die Leute gehen ins Theater, um sich zu unterhalten, um sich zu erheben, um eventuell weinen zu können, oder um irgendetwas zu erfahren. Es gibt also Unterhaltungstheater, ästhetische Theater und pädagogische Theater. Alle zusammen haben eines gemeinsam: sie nehmen dem Menschen in einem derartigen Maße das Phantasieren ab, wie kaum eine andere Kunst – die Phantasie ist bekanntlich ein Ventil für Wünsche – bei näherer Betrachtung werden es wohl asoziale Triebe sein, noch dazu meist höchst primitive. Im Theater findet also der Besucher zugleich das Ventil wie auch Befriedigung (durch das Erlebnis) seiner asozialen Triebe.

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Es wird ein Kommunist auf der Bühne ermordet, in feiger Weise von einer Überzahl von Bestien. Die kommunistischen Zuschauer sind voll Hass und Erbitterung gegen die Weißen – sie leben aber eigentlich das mit und morden mit und die Erbitterung und der Hass steigert sich, weil er sich gegen die eigenen asozialen Wünsche richtet. Beweis: es ist doch eigenartig, dass Leute ins Theater gehen, um zu sehen, wie ein (anständiger) Mensch umgebracht wird, der ihnen gesinnungsgemäß nahe steht – und dafür Eintritt bezahlen und hernach in einer gehobenen weihevollen Stimmung das Theater verlassen. Was geht denn da vor, wenn nicht ein durchs Miterleben mitgemachter Mord? Die Leute gehen aus dem Theater mit weniger asozialen Regungen heraus, wie hinein. (Unter asozial verstehe ich Triebe, die auf einer kriminellen Basis beruhen – und nicht etwa Bewegungen, die gegen eine Gesellschaftsform gerichtet sind – ich betone das extra, so ängstlich bin ich schon geworden, durch die vielen Missverständnisse). Dies ist eine vornehme pädagogische Aufgabe des Theaters. Und das Theater wird nicht untergehen, denn die Menschen werden in diesen Punkten immer lernen wollen – ja je stärker der Kollektivismus wird, umso größer wird die Phantasie. Solange man um den Kollektivismus kämpft, natürlich noch nicht, aber dann – ich denke manchmal schon an die Zeit, die man mit proletarischer Romantik bezeichnen wird. (Ich bin überzeugt, dass sie kommen wird.) Mit meiner Demaskierung des Bewusstseins, erreiche ich natürlich eine Störung der Mordgefühle – daher kommt es auch, dass Leute meine Stücke oft ekelhaft und abstoßend finden, weil sie eben die Schandtaten nicht so miterleben können. Sie werden auf die Schandtaten gestoßen – sie fallen ihnen auf und erleben sie nicht mit. Es gibt für mich ein Gesetz und das ist die Wahrheit. Ich habe Verständnis dafür, wenn jemand fragt – Lieber Herr, warum nennen Sie denn Ihre Stücke Volksstücke? Auch hierauf will ich heute antworten, damit ich mit derlei Sachen für längere Zeit meine Ruhe habe. Also: das kommt so. Vor sechs Jahren schrieb ich mein erstes Stück DIE BERGBAHN, und gab ihm den Untertitel und Artbezeichnung: „Ein Volksstück“. Die Bezeichnung Volksstück war bis dahin in der jungen dramatischen Produktion in Vergessenheit geraten. Natürlich gebrauchte ich diese Bezeichnung nicht willkürlich, das heißt: nicht einfach deswegen, weil das Stück ein bayerisches Dialektstück ist und die Personen Streckenarbeiter sind, sondern deshalb, weil mir so etwas wie eine Fortsetzung, Erneuerung des alten Volksstückes vorgeschwebt ist –also eines Stückes, in dem Probleme auf eine möglichst volkstümliche Art behandelt und gestaltet werden, Fragen des Volkes, seine einfachen Sorgen, durch die Augen des Volkes gesehen. Ein Volksstück, das im besten Sinne bodenständig ist und das vielleicht wieder Anderen Anregung gibt, eben auch in dieser Richtung weiter mitzuarbeiten – um ein wahrhaftiges Volkstheater aufzubauen, das an die Instinkte und nicht an den Intellekt des Volkes appelliert. Zu einem Volksstück, wie zu jedem Stück, ist es aber unerlässlich, dass ein Mensch auf der Bühne steht. Ferner: der Mensch wird erst lebendig durch die Sprache. Nun besteht aber Deutschland, wie alle übrigen europäischen Staaten zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern, auf alle Fälle aus Kleinbürgern. Will ich also das Volk schildern, darf ich natürlich nicht nur die zehn Prozent schildern, sondern als treuer Chronist meiner Zeit, die große Masse. Das ganze Deutschland muss es sein! Es hat sich nun durch das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet, nämlich durch den Bildungsjargon. Um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu können, muss ich also den Bildungsjargon sprechen lassen.

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Der Bildungsjargon (und seine Ursachen) fordert aber natürlich zur Kritik heraus – und so entsteht der Dialog des neuen Volksstückes, und damit der Mensch, und damit erst die dramatische Handlung – eine Synthese aus Ernst und Ironie. Mit vollem Bewusstsein zerstöre ich nun das alte Volksstück, formal und ethisch – und versuche die neue Form des Volksstückes zu finden. Dabei lehne ich mich mehr an die Tradition der Volkssänger an und Volkskomiker an, denn an die Autoren der klassischen Volksstücke. Und nun kommen wir bereits zu dem Kapitel Regie. Ich will nun versuchen hauptsächlich möglichst nur praktische Anweisungen zu geben: (diese gelten für alle meine Stücke, außer der BERGBAHN). Bei Ablehnung auch nur eines dieser Punkte durch die Regie, ziehe ich das Stück zurück, denn dann ist es verfälscht. Zu den Todsünden der Regie zählt folgendes: 1. Dialekt. Es darf kein Wort Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muss hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden. Sehr wichtig! Denn es gibt schon jedem Wort dadurch die Synthese zwischen Realismus und Ironie. Komik des Unterbewussten. Klassische Sprecher. Vergessen Sie nicht, dass die Stücke mit dem Dialog stehen und fallen! 2. In meinen sämtlichen Stücken ist keine einzige parodistische Stelle! Sie sehen ja auch oft im Leben jemand, der als seine eigene Parodie herumlauft – so ja, anders nicht! 3. Satirisches entdecke ich in meinen Stücken auch recht wenig. Es darf auch niemand als Karikatur gespielt werden, außer einigen Statisten, die gewissermaßen als Bühnenbild zu betrachten sind. Das Bühnenbild auch möglichst bitte nicht karikaturistisch – möglichst einfach bitte, vor einem Vorhang, mit einer wirklich primitiven Landschaft, aber schöne Farben bitte. 4. Selbstverständlich müssen die Stücke stilisiert gespielt werden, Naturalismus und Realismus bringen sie um – denn dann werden es Milieubilder und keine Bilder, die den Kampf des Bewusstseins gegen das Unterbewusstsein zeigen – das fällt unter den Tisch. Bitte achten Sie genau auf die Pausen im Dialog, die ich mit „Stille“ bezeichne – hier kämpft das Bewusstsein oder Unterbewusstsein miteinander, und das muss sichtbar werden. 5. In dem so stilisiert gesprochenen Dialog, gibt es Ausnahmen – einige Sätze, nur ein Satz manchmal, der plötzlich ganz realistisch, ganz naturalistisch gebracht werden muss. 6. Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind. Das Unheimliche muss da sein. 7. Es muss jeder Dialog herausgehoben werden – ein stummes Spiel der anderen, ist streng untersagt. Sehen Sie sich die Volkssängertruppen an. Zum Beispiel im ersten Bild (von KASIMIR UND KAROLINE) beim Zeppelin: keine Statisten – einzelne Leute mit angeklebten Bärten, Dicke, Dünne, Kinder, Elli und Maria, usw. müssen zusehen – ohne Bewegung, nur die Sprecher selbst, die nicht. Von dem Verschwinden des Zeppelins ab, haben alle die Bühne zu verlassen, nur Kasimir und Karoline nicht – der Eismann kommt nur, wenn man ihn braucht, tritt er an den Kasten – wenn Kasimir den Lukas haut, kommen die Leute herein, sehen stumm zu, wie das auf dem Bolzen hinaufläuft, gehen wieder ab. Stilisiert muss gespielt werden, damit die wesentliche Allgemeingültigkeit dieser Menschen betont wird – man kann es gar nicht genug überbetonen, sonst merkt es keiner, die realistisch zu bringenden Stellen im Dialog und Monolog sind die, wo ganz plötzlich ein Mensch sichtbar wird – wo er dasteht, ohne jede Lüge, aber das sind naturnotwendig nur ganz wenig Stellen.

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KASIMIR UND KAROLINE > Inhaltliche Zusammenfassung Wir befinden uns im Jahre 1929, es ist die Zeit nach der Weltwirtschaftskrise. Der Chauffeur Kasimir besucht mit seiner „Braut“ Karoline das Münchner Oktoberfest. Sie will sich amüsieren, Kasimir ist jedoch nicht zum Feiern zumute, da ihm gerade seine Anstellung gekündigt wurde. Deshalb kommt es schon zu Beginn des Stücks - das „Wiesnvolk“ bestaunt gerade einen vorbeischwebenden Zeppelin - zu Spannungs-entladungen zwischen den beiden: Karoline Vielleicht sind wir zu schwer füreinander - Kasimir Wie meinst du das jetzt? Karoline Weil du halt ein Pessimist bist und ich neige auch zur Melancholie - Schau, zum Beispiel zuvor - beim Zeppelin - Kasimir Geh halt doch dein Maul mit dem Zeppelin! Karoline Du sollst mich nicht immer so anschreien, das hab ich mir nicht verdient um dich! Kasimir Habe mich gerne! Ab. Ihre Wege trennen sich zunächst. Im Laufe der Handlung begegnen sie einander mehrfach, eine Versöhnung liegt greifbar nah, ihre Gespräche enden jedoch immer wieder in Streit. An einem Eisstand lernt Karoline den Zuschneider Eugen Schürzinger kennen, der scheinbar ein Auge auf sie geworfen hat. Auch zwei gut betuchte Herren, der beleibte Kommerzienrat Rauch (Schürzingers Vorgesetzter) und der Landgerichtsdirektor Speer finden Gefallen an Karoline: Rauch deutet fressend auf Karoline: Was das Mädchen dort für einen netten Popo hat - Speer Sehr nett. Rauch Ein Mädchen ohne Popo ist kein Mädchen. Speer Sehr richtig. Sie lässt sich den Rest des Abends von den beiden spendablen Lüstlingen ausführen, während Eugen Schürzinger - von Rauch eingeschüchtert - im Hintergrund bleibt. Nachdem die vier gemeinsam reichlich tief ins Glas geschaut haben, will Karoline mit dem Kommerzienrat in dessen „feudalem Kabriolet [...] nach Altötting fahren“. Auf die Frage Speers hin, wo Altötting denn genau liege, antwortet Rauch singend: „In meinem Kämmerlein - eins zwei drei - in meinem Bettelein - eins zwei drei [...]“ Im Auto erleidet Rauch jedoch einen Zusammenbruch und muss von Karoline zur Sanitätsbaracke gebracht werden. Dort erfahren sie, dass noch ein weiterer Unfall geschehen ist: Speer wurde bei einer Schlägerei der Kiefer gebrochen. Angesichts dieser Situation besinnt sich Rauch auf ihre Freundschaft und lässt Karoline schnell wieder fallen: „Was stehens denn da noch herum, Fräulein? Leben Sie wohl! Habe die Ehre! Adieu!“ In der Zwischenzeit streift Kasimir durch die Festzelte und betrinkt sich mit dem ungehobelten Tunichtgut Merkl Franz. Letzterer versteht nicht, warum Kasimir ob Karolines amourösen Eskapaden nicht härter durchgreift und droht „seiner“ Erna: „Wenn du mir so was antun würdest, ich tät dir ja das Kreuz abschlagen.“

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Als Franz auf dem Wiesn-Parkplatz Autos aufbricht, stehen Kasimir und Erna für ihn Schmiere. Der Kleinkriminelle wird jedoch auf frischer Tat ertappt, verhaftet und abgeführt. Kasimir und Erna bleiben gemeinsam auf einer Parkbank zurück: Kasimir Ich glaub, wir sind zwei verwandte Naturen. Erna Mir ist es auch, als täten wir uns schon lange kennen. Stille. [...] Kasimir Ich war mal Chauffeur, bei einem gewissen Reitmeier. Der hat ein Wollwarengeschäft gehabt. En gros. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. Erna legt ihren Kopf an seine Brust: Dort kommt jetzt die Karoline. Als Karoline also erscheint, um sich mit Kasimir zu versöhnen, weist dieser sie zurück: „Geh halts Maul und fahr ab.“ Karoline vor sich hin: Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als war man nie dabei gewesen - Zuletzt lässt Karoline sich mit dem wieder auf der Bildfläche erschienen Schürzinger ein, der ihr Trost spendet und von dem sie sich die Sicherung einer besseren Zukunft erhofft: Schürzinger Du brauchst einen Menschen, Karoline – Karoline Es ist immer der gleiche Dreck. Schürzinger Pst! Es geht immer besser und besser. Karoline Wer sagt das? Schürzinger Coué. Stille. Also los. Es geht besser - Karoline sagt es ihm tonlos nach: Es geht besser - Schürzinger Es geht immer besser, immer besser - Karoline Es geht immer besser, besser - immer besser - Schürzinger umarmt sie und gibt ihr einen langen Kuss. Karoline wehrt sich nicht. Schürzinger Du brauchst wirklich einen Menschen. Karoline lächelt: Es geht immer besser - Schürzinger Komm - Ab mit ihr.

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HORVÀTH UND SEINE ZEIT > Zeitgeschichtliche Hintergründe

„Und die Leute werden sagen In fernen blauen Tagen Wird es einmal recht Was falsch ist und was echt Was falsch ist, wird verkommen Obwohl es heut regiert Was echt ist, das soll kommen – Obwohl es heut krepiert.“

Wenn man die Lebzeiten des Dramatikers Horváth betrachtet, so weiß man, welche enormen kriegerischen, verbrecherischen und ökonomisch sehr problematischen Zeiten dieser Mann durchleben musste.

Otto Dix – Großstadt (Triptychon 1927/28)

Wenn man heute Horváths Stücke liest und darüber Reflexionen anstellt, ist es unab-dingbar, die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die die Menschen damals direkt betroffen haben, zu berücksichtigen. Der erste Weltkrieg brachte in der Folge viele Missstände politischer und wirtschaftlicher Art mit sich. Es gab kaum jemanden, der durch den Krieg nicht Haus und Hof, oder seine Arbeit verloren hatte. Der große materielle Verlust war sicherlich schwerwiegend, viel schmerzlicher aber war es, die Nachricht der im Krieg gefallenen Freunde und Familienangehörigen zu erhalten. Auffallend ist, dass Horváth eben nicht die historischen Ereignisse des ersten Weltkrieges an sich oder dessen politischen Ausgang und Verlauf thematisiert, sondern seine verheerenden Folgeerscheinungen, die alltäglichen Ereignisse uns Probleme, mit denen sich die unteren Gesellschaftsschichten herumschlagen mussten. Die langen Schatten des Krieges

Die politischen Anstrengungen der jungen Weimarer Republik werden von Anfang an von den Folgen des verlorenen Ersten Weltkriegs überschattet. Die Wirtschaft des deutschen Reiches muss neu entfacht, der demokratische Kurs im Inneren gegen die republik-feindlichen Kräfte der radikalen Linken und Rechten abgesichert werden. Die Ansprüche der alliierten Siegermächte müssen bedient oder abgewehrt werden.

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Die Außenpolitik der Weimarer Republik beginnt unter denkbar schlechten Voraussetzungen. Dennoch können Mitte der 20er Jahre beträchtliche Erfolge verbucht werden. Erst die Weltwirtschaftskrise zwingt den verheißungsvollen Neubeginn der Weimarer Demokratie in die Knie. Rheinlandbesetzung und Ruhrkampf

Ein erster diplomatischer Erfolg ist der Vertrag von Rapallo, den der deutsche Außenminister Walther Rathenau 1922 auf der internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua mit Russland schließt. An den Westmächten vorbei gelingt es der deutschen Delegation mit Sowjetrussland einen Vertrag zu schließen, in dem beide Staaten auf gegenseitige Kriegsentschädigung verzichten und vereinbaren, wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Die Westmächte nehmen verärgert zur Kenntnis, dass das besiegte Deutschland seine politische Handlungsfreiheit zurückgewinnt und eigene politische Pläne verfolgt. Doch Deutschland ist nach wie vor durch die diktierten Friedensbedingungen des Versailler Vertrages sehr stark geschwächt. Neben Gebietsabtrennungen und hohen Reparationsleistungen waren auch die linksrheinischen Gebiete des deutschen Reiches und die rechtsrheinischen Brückenköpfe Köln, Koblenz und Mainz besetzt worden. Der Versailler Vertrag sah eine Besatzungszeit von mindestens 15 Jahren vor. Für die Deutschen eine herbe Demütigung, die politisch nie akzeptiert wurde. Die angespannte Stimmung entlädt sich 1923 im Ruhrkampf. Mit Misstrauen hatte der französische Präsident Poincaré die ständigen deutschen Klagen gegenüber den Reparations-forderungen der Westmächte registriert.

Als Deutschland zum Ende des Jahres 1922 mit Kohle- und Holzlieferungen im Rückstand ist, lässt Poincaré am 11. Januar 1923 französische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschieren. Die deutsche Politik und Bevölkerung reagieren entsetzt. Sofort werden sämtliche Reparationslieferungen an Frankreich und Belgien ausgesetzt, die deutsche Bevölkerung wird unter Lohnausgleichszahlungen zum General-streik aufgerufen. Doch die Ruhrbesetzung bricht der geschwächten deutschen Wirtschaft endgültig das Rückgrat, Deutschland gerät in den Strudel der Hyperinflation.

Der Dawes-Plan

Am 26. September gibt Reichskanzler Gustav Stresemann den Ruhrkampf auf. Stresemann erkennt, dass nur auf diplomatischem Wege mit Frankreich eine Übereinkunft gefunden werden kann. Nachdem Frankreich seinerseits vergeblich versucht hat, durch Unterstützung von Separatisten an Rhein und Ruhr eine selbstständige rheinische Republik aus dem deutschen Reichsverband zu lösen, erkennen die Alliierten, dass ein wirtschaftlich geschwächtes Deutschland nicht in der Lage ist, den geforderten Reparationsleistungen nachzukommen.

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Sind die Reparationsbedingungen dem besiegten Deutschland von den Siegermächten bislang diktiert worden, kommt es auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise von 1923 zur politischen Kehrtwende. Die USA geben ihre isolationistische Haltung auf und mischen sich verstärkt in die europäischen Verhandlungen mit Deutschland ein. Der amerikanische Finanzexperte Charles G. Dawes legt im Auftrag der amerikanischen Regierung einen neuen Reparationsentwurf vor, den so genannten „Dawes-Plan“. Darin wird Deutschland eine wirtschaftliche Erholungspause eingeräumt, für die kommenden fünf Jahre werden erträglichere Zahlungsbedingungen vereinbart und die deutsche Wirtschaft wird mit internationalen Krediten in Höhe von 800 Millionen Goldmark gestärkt. Stresemann und die Politik der Wiederannäherung

Gustav Stresemann war Mitbegründer und führender Politiker der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP). Er war Mitglied der Nationalversammlung und wenige Monate sogar Reichskanzler. Sechs Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahr 1929, vertritt Stresemann das Deutsche Reich als Außenminister und erreicht in dieser Zeit für Deutschland entscheidende Fortschritte in der Wiederannäherung an Frankreich und der Reduzierung der Reparationsforderungen. Er baut auf Verständigung statt Konfrontation, er erkennt, dass nur auf dem Weg der Aussöhnung Deutschlands Rückkehr als gleichberechtigtes Mitglied in das Konzert der europäischen Mächte erreicht werden kann. Während Stresemann aufgrund seiner maßvollen Politik der Konsolidierung heftig von den radikalen Rechten im eigenen Lande angegriffen wird, erwirbt er sich als konstruktiver Realpolitiker bei den ehemaligen europäischen Feinden großes Vertrauen und Ansehen.

Gemeinsam mit dem französischen Außenminister Aristide Briand gelingt Stresemann eine erste Normalisierung der Beziehungen mit dem "Erbfeind" Frankreich. Beiden Politikern wird daraufhin für ihre erfolgreichen Bemühungen der Nobelpreis verliehen. In dem von ihnen angeregten Vertrag von Locarno legen Stresemann und Briand am 16. Oktober 1925 das Fundament für eine neue europäische Ordnung. Deutschland erkennt die neuen Westgrenzen als unveränderlich an, und Frankreich, Deutschland und Belgien wollen auf jede künftige, gewaltsame Veränderung der territorialen Frage verzichten. Am 1. 12. 1925 beginnt Großbritannien schrittweise mit der Räumung des besetzten Rheinlandes.

Schon in Locarno hat Stresemann die Weichen für Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund gestellt. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte diesen Bund der Völker angeregt, um kriegerische Auseinandersetzungen künftig bereits im Ansatz zu verhindern. Am 2. September 1926 wird Deutschland feierlich in den Völkerbund aufgenommen. Stresemann spricht vor den Delegierten der Bundesversammlung von einer neuen Ära der Völkerverständigung. Von diesem Tag an ist Deutschland wieder gleichberechtigtes, souveränes Mitglied der europäischen Völkerfamilie.

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Der Young-Plan

Im Jahr 1929 wird das Problem der Reparationen neu verhandelt, da Deutschland nicht in der Lage ist, die im Dawes-Plan festgesetzten Zahlungen aufzubringen. Unter dem amerikanischen Finanzexperten Owen D. Young wird der so genannte Young-Plan ausgearbeitet, der Deutschland eine größere Selbstbestimmung im Management der Zahlungsverpflichtungen von 122 Milliarden Goldmark zuerkennt. Doch die neue Strategie schockiert die deutsche Bevölkerung, denn der Young-Plan legt 59 Jahresraten zu je zwei Milliarden Goldmark fest. Die Deutschen fühlen sich in eine Schuldsklaverei verkauft, die viele Generationen dauern soll. Bis zum Jahr 1988 soll der Schadensersatz an die Alliierten gezahlt werden. Gleichzeitig bieten die Siegermächte Deutschland die sofortige, endgültige Räumung des Rheinlandes an, wenn Deutschland den Young-Plan ratifiziert. Stresemann drängt auf die Unterzeichnung. Fünf Monate vor seinem Tod, am 12. März 1930, kommt das Abkommen zustande; das Rheinland wird von den Besatzungsmächten freigegeben. Weltwirtschaftskrise 1929

Am 25. Oktober 1929 kommt es zum folgenreichen "Schwarzen Freitag" an der New Yorker Börse. Die USA erleben den schwersten Börsencrash ihrer Geschichte. Aufgrund einer Überhitzung des Aktienmarktes als Folge zügelloser Investitionspolitik bricht die anhaltende Phase der amerikanischen Hochkonjunktur über Nacht zusammen. Die USA, Geldgeber der Welt, Finanziers der europäischen Alliierten und Kreditgeber der Weimarer Republik, sind pleite. Die Folgen für Deutschland sind dramatisch. Schlagartig ziehen die USA ihr Kapital aus Deutschland ab und fordern Schulden und Kredite ein, weil sie mit frischem Geld die eigene Wirtschaft wieder ankurbeln müssen.

Deutschland bekommt den Rückzug der amerikanischen Investitionen drastisch zu spüren. Die Welt-wirtschaftskrise treibt die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft in die Höhe. Von 1,6 Millionen im September 1929 steigt die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 1933 auf über 6 Millionen. Die inzwischen hervorragend organisierte Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) nutzt diese Situation konsequent für ihre Propaganda aus und wird zum Sammelbecken für die verelendenden und unzufriedenen Menschen.

Der Beginn der 30er Jahre markiert einen Systemwechsel in Deutschland. Die Weimarer Republik neigt sich dem Ende zu. Mit legalen Mitteln wird Hitler Reichskanzler. Erst höhlt er die Verfassung der Weimarer Republik aus, dann schafft er Deutschlands erste Demokratie ab. Für das Deutsche Reich beginnt nach einem hoffnungsvollen demokratischen Aufbruch die dunkle Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.

Gregor Delvaux de Fenffe, Stand vom 01.06.2009

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GESELLSCHAFT > „Liebe und Konsum“ von Eva Illouz Im Verlauf des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts wurde das Thema der Liebesromantik zunehmend mit Konsum assoziiert. Gleichzeitig, wenn auch langsamer, wurde diese Verknüpfung von Liebe und Konsum zu einem integralen Bestandteil des Lebensstils der Mittelschicht. Im gleichen Zeitraum lösten die Anzeigen für Ich-expressive Produkte, welche diese neuen romantischen Modelle beförderten, dieses Gefühl nicht nur aus dem Bereich der Häuslichkeit und Religion, sondern sie standen auch im Gegensatz zur Ehe. Indem sie die „Langeweile der Ehe“ dem „Kick der Liebesbeziehung“ gegenüberstellten, zeichneten diese Anzeigen ein negatives Bild der Ehe. Damit wurde das Thema der Liebesromantik dazu benutzt, eine breite Palette von Produkten zu bewerben, ein Prozess, den ich als „Romantisierung der Waren“ bezeichnet habe. [...]

In den Bildern sind die dargestellten Paare „heraus-geputzt“, gut angezogen und mit teurem Schmuck ausgestattet. Und sie sind in Freizeitsituationen dargestellt, die als Äquivalent zu Intimität und Romantik präsentiert werden. Dazu gehören Aktivitäten wie das Tanzen, das in der damaligen Zeit vor allem in Tanzlokalen sehr populär war; das Abendessen in einem offensichtlich eleganten Restaurant oder der Drink in einer exquisiten Bar oder Cocktaillounge; Autofahren; ein Picknick im Freien; reisen und Urlaub machen; ins Kino gehen. Die Einbeziehung der Romantik in den Markt wurde durch „Verdinglichung“ erreicht. Da Partizipation an den Freizeitmärkten zunehmend mit Romantik assoziiert wurde, wurde die Erfahrung von Romantik umgekehrt zunehmend mit Konsum in Verbindung gebracht. Dieser Prozess, der seinen Ausdruck in einer romantischen Formel der Mittelschicht fand, die zwischen 1900 und 1930 Gestalt annahm, vollzog sich gleichzeitig auf zwei scheinbar unvereinbaren Ebenen.

Während die Formel implizierte, dass das romantische Zusammentreffen an den Rändern von Familie und Gesellschaft stattfand und damit weniger durch die Gesellschaft kontrolliert schien, integrierte diese Formel gleichsam durch die Hintertür das Paar wieder in die Gesellschaft, indem sie es in den anonymen und abstrakten Bereich des Warenaustauschs versetzte. Die neuen Freizeittechnologien und die damit verbundenen kulturellen Bedeutungen konstruierten Romantik isoliert nicht nur von der Familie, sondern auch von der Gesellschaft insgesamt. Gleichzeitig wurde diese Erfahrung des Rückzugs aus der gesellschaftlichen Welt paradoxerweise nicht durch die Trennung der Liebenden von ihrer Umwelt erreicht, sondern durch deren vollständige Partizipation am kommerzialisierten und öffentlichen Raum der Freizeit. Motive der Leidenschaft

Wenn man sie explizit zu diesem Thema fragte, wiesen die meisten Gewährspersonen vehement die Vorstellung zurück, sie würden jemanden aufgrund seiner oder ihrer sozialen und ökonomischen Vorzüge wählen, und bezogen sich dabei häufig auf die sakrosankte Norm, nach der Geld und Gefühl völlig unterschiedliche Kategorien seien. [...]

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Eigeninteresse wurde zurückgewiesen zugunsten des impliziten Modells einer interessenlosen, organischen und großzügigen Beziehung. Der Glaube an die romantische Liebe wird also ganz offensichtlich genährt von ihrem Glauben an ihre Interesselosigkeit. Trotz des von dieser Restnorm ausgehenden Drucks, wirkliches Eigeninteresse zu leugnen, können wir uns der Rolle, die sozioökonomische Werte in Liebesbeziehungen spielen, auf indirekte Weise nähern. Als einige der Befragten, vor allem Männer, über die Gründe nachdachten, die hinter Auseinandersetzungen oder Zurückweisung steckten, beklagten sie, dass sie sich nach monetären Maßstäben bewertet gefühlt hätten, was sie übel nähmen und wodurch sie sich in ihrem Selbstwertgefühl verletzt fühlten. Schichtenabhängigkeit der Kriterien zur Partnerwahl

Es bleibt [...] die Tatsache bestehen, dass die meisten Menschen nicht zugeben, das ökonomische Erwägungen und strategisches Denken eine zentrale Rolle bei ihrer Partnerwahl spielen. Während unsere Kultur eine solche rationale Wahl billigt, wenn sie auf moralischen oder persönlichen Qualitäten beruht, spricht sie einer solchen Wahl nachdrücklich die Legitimität ab, wenn sie auf sozioökonomischen Faktoren beruht. In dem [...] Ratgeber „If I’m so wonderful, why am I still single?“ wurde behauptet, dass Qualitäten wie „Rücksichtnahme, Großzügigkeit, Selbstsicherheit, physische Wärme, Sexysein und die Fähigkeit, zuzuhören und Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, wichtiger sind als Dinge wie der soziale Status”. Als ich in meinen Interviews darum bat, den „idealen Partner“ zu beschreiben, stellten die gebildeten Gewährspersonen aus der Mittelschicht deutlich stärkere Ansprüche im Hinblick auf die intellektuellen Qualitäten und die kulturelle Kompatibilität als ihre Gegenüber aus der Arbeiterklasse. Ihre Partner sollten „intelligent, nachdenklich, kommunikativ, originell, kreativ, interessant“ sein, sie sollten „Neugier“ besitzen, „die gleichen Vorstellungen haben“, „die gleichen Werte, den gleichen Lebensstil“ – also allesamt Eigenschaften, die sich in irgendeiner Weise auf Vertrautheit mit den Formen kulturellen Kapitals beziehen.

Gewährspersonen aus der Arbeiterklasse (in erster Linie Frauen) verwendeten vielmehr ein Vokabular mit hochmoralischen Untertönen. Neben einer Highschool-Bildung erwarteten sie von ihrem „Idealpartner“, dass er „rücksichtsvoll, anständig, zuverlässig und beständig“ sei. Das waren keine Tugenden wie etwa Güte oder Liebenswürdigkeit, sondern Eigenschaften, die ein Partner brauchte, um ein verlässlicher Versorger und Elternteil zu sein, um Arbeitsdisziplin schätzen zu können und sich innerhalb der Legalität zu bewegen. Dieser Schwerpunkt spiegelt die – relativ betrachtet – größere finanzielle Unsicherheit in den Arbeiterklasse-haushalten wider. Im Gegensatz dazu stellten die Gewährspersonen aus der Mittelschicht, die bereits über Sicherheit und Stabilität verfügten, weitaus mehr Anforderungen an die Persönlichkeitseigenschaften ihrer Partner und verwendeten kulturelle oder ästhetische Kriterien, um sie zu bewerten. [...]

Ich behaupte, dass die Fähigkeit, eine Liebe im authentischen Sinne zu leben, denjenigen vorbehalten ist, deren Leben nicht von „Notwendigkeit“ geprägt ist.

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Die emotionale Unterdrückung von und das Misstrauen gegenüber verbalem Ausdruck, die von Männern in der Arbeiterklasse in ihren Berufen häufig verlangt werden, stimmen nicht mit dem Mittelschichtsideal von Intimität und Ausdrucksorientierung überein, das von Frauen aus der Arbeiterklasse übernommen wurde; ihre Lebensbedingungen, ihre Einschränkungen bei Einkommen, Freizeit und Bildung verhindern noch immer, dass die Arbeiterklasse Zugang zum „romantischen Traum“ erhält. Im Gegensatz dazu ist es bei der Mittelschicht und oberen Mittelschicht so, dass die Konzentration auf Selbsterkenntnis und expressive, interpersonale Fähigkeiten sowie die jüngsten beruflichen Errungenschaften von Frauen aus dieser Gruppe die Geschlechterunterschiede verringern und dazu beitragen, dass hier die Beziehungen den von den Medien verbreiteten romantischen Standards entsprechen. Aus all dem lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen:

� Die Sphäre des Privatlebens und diejenige des Warenaustauschs verzahnen sich in der Arbeiterklasse und der Mittelschicht auf unterschiedliche Weise.

� Liebesromantik ist in unserer Gesellschaftsstruktur ziemlich ungleich

verteilt. � Liebe bietet nur denjenigen persönliche Freiheit, die ohnehin bereits über

ein gewisses Maß an objektiver Freiheit am Arbeitsplatz verfügen. Die Untersuchungen der Soziologin Eva Illouz wurden in den USA durchgeführt.