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70 Daniela GOtze "Mathernatische Gesprache unter Kinder" - Zurn Einfluss sozialer Interaktion von Grundschulkindern beirn Losen kornplexer Aufgaben Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosoph ie, vorgelegt am Institut fUr Kultur- wissenschaften der Universitat Paderborn. Gutachter: Prof Dr. Hartmut Spiegel Prof Dr. Ingrid Scharlau Datum der mundlichen Prufung: 15. Mai 2007 In den letzten Jahren sind die Forderungen nach einem Mathematikunterricht, in dem Kinder mehr Spielraum fUr die Verstandigung tiber ihre Losungswege untereinander ha- ben, immer lauter geworden. In der Praxis geschieht ein derartig kommunikativer Aus- tausch unter den Kindem haufig in gemeinschaftlichen Reflexionsphasen im Klassen- verband am Ende einer Unterrichtsstunde. Allerdings beteiligen sich meist nur wenige Kinder an derartigen gemeinschaftlichen Reflexionsgesprachen. Einige Kinder scheinen die mtindlichen Erklarungen ihrer Mitschtiler tiberhaupt nicht wahrzunehmen und das Horen bleibt eher passiver Natur (vgl. Dann et al. 1999). Dies kann moglicherweise durch einen Austausch in heterogenen Kleingruppen - so genannten "Rechenkonferen- zen" (vgl. u. a. Sundermann & SeIter 1995) - verhindert werden. Es fehlt aber an detail- lierten Aussagen tiber die Effektivitat eines derartigen Austausches in kleinen Gruppen und an der Beschreibung eines konkreten Unterrichtkonzeptes. AuJ3erdem bedarf es zu- nachst geeigneter Aufgaben, urn Kinder zu einer Rechenkonferenz tiber ihre unterschied- lichen Losungswege anzuregen. SchlieBlich solI die Aufgabe an sich Anreiz genug sein, die Diskussionen unter den Kindem zu entfachen. So werden in der Arbeit vorab Kriterien fUr derartige Aufgaben formuliert und anhand von konkreten Beispielen veranschaulicht. Die unterschiedlichen Losungswege soIcher Aufgaben sind zur Uberprufung des Einflusses sozialer Interaktion von Kindem zweier dritter Klassen gemeinsam reflektiert worden. Dabei durfte immer nur ein Teil der Kin- der in heterogenen Kleingruppen arbeiten (Rechenkonferenzen), wahrend der andere Teil die unterschiedlichen Losungen der Aufgaben im Klassenverband diskutiert hat. In- dividuell zu bearbeitende Transferaufgaben dienten dazu herauszufmden, ob es Unter- schiede in deren Bearbeitung gibt je nachdem, ob die Kinder zuvor einer Rechenkonfe- renz beigewohnt haben oder nicht. Die Analyse der Daten zeigt, dass stets die Kinder, die sich zuvor in Kleingruppen austauschen durften, besser bei der Bearbeitung der Transferaufgaben abgeschnitten haben. Dabei sind die zwischen diesen beiden methodi- schen Varianten (Reflexion in Rechenkonferenzen vs. Klassenverband) gefundenen Un- terschiede nicht zufallig. Weiterhin konnen folgende wiederkehrende spezifische Vorge- hens- und Interaktionsweisen - sogannnte Gesprachsmerkmale - identifiziert werden: 1. Die Kinder haben unterschiedlich groBe Redeanteile an einem Gesprach. (JMD 29 (2008) H. 1, S. 70-71)

„Mathematische Gespräche unter Kinder” — Zum Einfluss sozialer Interaktion von Grundschulkindern beim Lösen komplexer Aufgaben

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Page 1: „Mathematische Gespräche unter Kinder” — Zum Einfluss sozialer Interaktion von Grundschulkindern beim Lösen komplexer Aufgaben

70

Daniela GOtze

"Mathernatische Gesprache unter Kinder" - Zurn Einfluss sozialer Interaktion von Grundschulkindern beirn Losen kornplexer Aufgaben

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosoph ie, vorgelegt am Institut fUr Kultur­wissenschaften der Universitat Paderborn.

Gutachter: Prof Dr. Hartmut Spiegel Prof Dr. Ingrid Scharlau

Datum der mundlichen Prufung: 15. Mai 2007

In den letzten Jahren sind die Forderungen nach einem Mathematikunterricht, in dem Kinder mehr Spielraum fUr die Verstandigung tiber ihre Losungswege untereinander ha­ben, immer lauter geworden. In der Praxis geschieht ein derartig kommunikativer Aus­tausch unter den Kindem haufig in gemeinschaftlichen Reflexionsphasen im Klassen­verband am Ende einer Unterrichtsstunde. Allerdings beteiligen sich meist nur wenige Kinder an derartigen gemeinschaftlichen Reflexionsgesprachen. Einige Kinder scheinen die mtindlichen Erklarungen ihrer Mitschtiler tiberhaupt nicht wahrzunehmen und das Horen bleibt eher passiver Natur (vgl. Dann et al. 1999). Dies kann moglicherweise durch einen Austausch in heterogenen Kleingruppen - so genannten "Rechenkonferen­zen" (vgl. u. a. Sundermann & SeIter 1995) - verhindert werden. Es fehlt aber an detail­lierten Aussagen tiber die Effektivitat eines derartigen Austausches in kleinen Gruppen und an der Beschreibung eines konkreten Unterrichtkonzeptes. AuJ3erdem bedarf es zu­nachst geeigneter Aufgaben, urn Kinder zu einer Rechenkonferenz tiber ihre unterschied­lichen Losungswege anzuregen. SchlieBlich solI die Aufgabe an sich Anreiz genug sein, die Diskussionen unter den Kindem zu entfachen. So werden in der Arbeit vorab Kriterien fUr derartige Aufgaben formuliert und anhand von konkreten Beispielen veranschaulicht. Die unterschiedlichen Losungswege soIcher Aufgaben sind zur Uberprufung des Einflusses sozialer Interaktion von Kindem zweier dritter Klassen gemeinsam reflektiert worden. Dabei durfte immer nur ein Teil der Kin­der in heterogenen Kleingruppen arbeiten (Rechenkonferenzen), wahrend der andere Teil die unterschiedlichen Losungen der Aufgaben im Klassenverband diskutiert hat. In­dividuell zu bearbeitende Transferaufgaben dienten dazu herauszufmden, ob es Unter­schiede in deren Bearbeitung gibt je nachdem, ob die Kinder zuvor einer Rechenkonfe­renz beigewohnt haben oder nicht. Die Analyse der Daten zeigt, dass stets die Kinder, die sich zuvor in Kleingruppen austauschen durften, besser bei der Bearbeitung der Transferaufgaben abgeschnitten haben. Dabei sind die zwischen diesen beiden methodi­schen Varianten (Reflexion in Rechenkonferenzen vs. Klassenverband) gefundenen Un­terschiede nicht zufallig. Weiterhin konnen folgende wiederkehrende spezifische Vorge­hens- und Interaktionsweisen - sogannnte Gesprachsmerkmale - identifiziert werden:

1. Die Kinder haben unterschiedlich groBe Redeanteile an einem Gesprach.

(JMD 29 (2008) H. 1, S. 70-71)

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2. Die Losungswege werden strukturiert vorgetragen. 3. Die zuhorenden Kinder werden interaktiv in die ErkHirungen einbezogen. 4. Vorgetragene Losungswege werden von den Gruppenmitgliedem mit eigenen

Worten emeut erklart oder gezielt hinterfragt (= paraphrasiert). 5. Losungswege werden im Zuge der Erklarung allmahlich verfertigt. 6. Es werden falsche Losungen vorgestellt und thematisiert.

Beim ersten Merkmal kann gezeigt werden, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Redebeitrage in einem Gesprach und dem Abschneiden bei den Transferauf­gaben gibt. Demnach lemen nicht nur die gesprachsflihrenden sondem auch die eher zu­hOrenden Kinder aus den Gesprachen mit ihren Mitschiilem. Rechenkonferenzen, in de­nen Losungswege nur vorgetragen werden, scheinen den Kindem dagegen nichts zu niit­zen. Interaktiosnweisen im Sinne der weiteren Merkmale (3. - 6.) zeigen, dass sie das Lemen voneinander positiv beeinflussen konnen. Hier werden die zuhorenden Kinder aktiv in die Erklarungen ihrer Mitschiiler eingebunden, gemeinschaftlich neue Losungs­wege gefunden sowie Fehllosungen als solche identifiziert und korrigiert. Dariiber hinaus wird in der Arbeit ein empirisch begriindetes Unterrichtskonzepts eines auf Interaktion und Kommunikation in kleinen Gruppen ausgelegten Unterrichts evalu­iert. Planungse1emente der zunachst individuellen Auseinandersetzung, der anschlieBen­den gemeinsamen Besprechung in Rechenkonferenzen und Prasentation der Ergebnisse vor der Klasse haben sich als besonders gewinnbringend flir eine fruchtbare Interaktion unter den Kindem herausgestellt. Anhand ausgewahlter Gesprachsausschnitte wird ver­deutlicht, dass diese methodischen Planungselemente die Rechenkonferenzen der Kinder gut strukturieren und zu einer fruchtbaren sozialen Interaktion unter den Kindem flihren. Dariiber hinaus kann gezeigt werden, dass auch der Lehrperson eine besondere Rolle zu­kommt. 1m Sinne der neosokratischen Methode der Gesprachflihrnng iibemimmt sie die Rolle eines Moderators der Gesprache der Kinder. Sie greift weder massiv inhaltlich in die Kleingruppengesprache ein, noch lenkt sie die Aufmerksamkeit der Kinder allein auf sich. Anhand ausgewahlter Beispiele (positive wie auch negative) wurde das adaquate Lehrerverhalten in fiinfPunkten umschrieben.

Die Arbeit ist unter gleichnamigen Titel beim Verlag Franzbecker erschienen (ISBN 978-3-88120-456-9)

Literatur: Dann, Hanns-Dieter; Diegritz, Theodor; Rosenbusch, Heinz S. [1999]: Gruppenunterricht im

Schulalltag. Realitat und Chancen. Erlangen: Universitatsbund Erlangen-Nilmberg Sunderrnann, Beate; Seiter, Christoph [1995]: Halbschriftliches Rechnen auf eigenen Wegen. In:

Milller, Gerhard N.; Wittmann, Erich Ch.: Mit Kindem rechnen. Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule, 165-178

Adresse der Autorin

Dr. Daniela Gotze Technische Universitat Dortmund lnstitut fUr Erforschung und Entwicklung des Mathematikunterrichts (IEEM) 44221 Dortmund