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Minendetektoren und Impedanz- tomographie Etwa 100 Millionen zumeist ober- flächennah vergrabene Landmi- nen gefährden als Hinterlassen- schaften bewaffneter Konflikte in vielen Ländern die Bevölkerung. Ihre rasche und vollständige Be- seitigung ist eine große Herausfor- derung. Eines der am häufigsten zum Minenräumen eingesetzten Geräte ist gegenwärtig der Metall- detektor. Diese Geräteklasse weist jedoch, bedingt durch allgegen- wärtig im Boden befindliche Me- tallteile, eine hohe Fehlalarmrate auf. Auf Anregung des Auswärti- gen Amtes wurde ab 2004 zur Er- bringung eines relevanten deut- schen Beitrags zur Technologie der Minendetektion vom Bundes- ministerium für Bildung und For- schung (BMBF) über drei Jahre ein Projektverbund Metalldetektoren für Humanitäres Minenräumen gefördert. Zwölf Institute aus den Bereichen Mathematik, Elektro- technik, Geophysik und zerstö- rungsfreie Materialprüfverfahren sollten prüfen, ob die hohen Fehl- alarmraten beim Einsatz von trag- baren Metalldetektoren konven- tioneller Bauart durch nachge- schaltete mathematische Metho- den reduziert werden können. Zu den beteiligten Forschungsein- richtungen gehörte auch das Insti- tut für Numerische und Ange- wandte Mathematik an der Uni- versität Göttingen. Um zu erfahren, warum Mathe- matik die Fehlerrate bei Metall- detektoren reduzieren kann, muss man zuerst die Funktionsweise der Geräte kennen. Der über den Boden geführte Metalldetektor sendet eine elektromagnetische Welle aus, die von im Boden be- findlichen Metallteilen gestreut wird (vgl. Abb. 1). Die gestreute sekundäre Welle induziert in ei- ner Empfängerspule im Detektor eine elektrische Spannung. Falls letztere als Folge von vorhande- nen Metallteilen einen Schwell- wert überschreitet, gibt der Detek- tor ein akustisches Signal. Durch eine Messung und Aufzeichnung Mathematische Methoden in Medizin und Technik Inverse Probleme und Tomographie Rainer Kreß

Mathematische Methoden in Medizin und Technik

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Page 1: Mathematische Methoden in Medizin und Technik

Minendetektoren und Impedanz-tomographieEtwa 100 Millionen zumeist ober-flächennah vergrabene Landmi-nen gefährden als Hinterlassen-schaften bewaffneter Konflikte invielen Ländern die Bevölkerung.Ihre rasche und vollständige Be-seitigung ist eine große Herausfor-derung. Eines der am häufigstenzum Minenräumen eingesetztenGeräte ist gegenwärtig der Metall-detektor. Diese Geräteklasse weistjedoch, bedingt durch allgegen-wärtig im Boden befindliche Me-tallteile, eine hohe Fehlalarmrateauf. Auf Anregung des Auswärti-gen Amtes wurde ab 2004 zur Er-bringung eines relevanten deut-schen Beitrags zur Technologieder Minendetektion vom Bundes-ministerium für Bildung und For-

schung (BMBF) über drei Jahre einProjektverbund Metalldetektorenfür Humanitäres Minenräumengefördert. Zwölf Institute aus denBereichen Mathematik, Elektro-technik, Geophysik und zerstö-rungsfreie Materialprüfverfahrensollten prüfen, ob die hohen Fehl-alarmraten beim Einsatz von trag-baren Metalldetektoren konven-tioneller Bauart durch nachge-schaltete mathematische Metho-den reduziert werden können. Zuden beteiligten Forschungsein-richtungen gehörte auch das Insti-tut für Numerische und Ange-wandte Mathematik an der Uni-versität Göttingen.

Um zu erfahren, warum Mathe-matik die Fehlerrate bei Metall-detektoren reduzieren kann, mussman zuerst die Funktionsweise

der Geräte kennen. Der über denBoden geführte Metalldetektorsendet eine elektromagnetischeWelle aus, die von im Boden be-findlichen Metallteilen gestreutwird (vgl. Abb. 1). Die gestreutesekundäre Welle induziert in ei-ner Empfängerspule im Detektoreine elektrische Spannung. Fallsletztere als Folge von vorhande-nen Metallteilen einen Schwell-wert überschreitet, gibt der Detek-tor ein akustisches Signal. Durcheine Messung und Aufzeichnung

Mathematische Methoden in Medizin und Technik

Inverse Probleme und Tomographie

Rainer Kreß

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des Verlaufs dieser Spannung wäh-rend der Bewegung über den Bo-den lässt sich jedoch die Minen-detektion quantitativ als ein inver-ses Problem für elektromagnetischeFelder interpretieren: Aus dem ge-messenen Spannungsverlauf sol-len geometrische Parameter zuForm, Größe und Position des ent-deckten metallischen Objekts er-mittelt werden. Weiter unten wer-den Göttinger Forschungsergeb-nisse vorgestellt, die das Potenzialvon mathematischen Methoden

der Streutheorie zur Reduzierungvon Fehlalarmquoten bei der Mi-nendetektion bestätigen.

Die elektrische Impedanztomo-graphie als unser zweites Beispielist ein neues nichtinvasives Bild-gebungsverfahren in der Medizinund Technik. Es basiert auf einer

Visualisierung ortsabhängiger elek-trischer Leitfähigkeiten. Der elektri-sche Widerstand als Reziprokes derLeitfähigkeit wird auch Impedanz

Mit MInendetektoren identifizierteLandminen in Mexiko

© Ullstein

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genannt, und dies erklärt den ers-ten Teil der Namensgebung. (Derzweite Teil der Namensgebungwird weiter unten erläutert wer-den.) In der Medizin wird die Im-pedanztomographie eingesetzt,um beispielsweise Querschnittbil-der des menschlichen Thorax zurÜberwachung der Lungenfunk-tion zu erhalten. Dabei nutzt dasVerfahren die unterschiedlichenLeitfähigkeiten der Lunge im be-atmeten und unbeatmeten Zu-stand und des umgebenden Kör-pergewebes (vgl. Abb. 2) aus.

Nach demselben Prinzip funk-tionieren technische Anwendun-gen beispielsweise bei der Über-wachung der Verteilung von Ölund Wasser in Pipelines und derStrömung von verschiedenen Sub-stanzen in Mischkesseln in derchemischen Industrie. In der Denk-malpflege lassen sich mit Impe-danztomographie Bruchstellen inGebäudeteilen aufspüren, und so-gar in der Forstwirtschaft kann Im-pedanztomographie als Instru-ment zur Qualitätsüberprüfungvon Bäumen eingesetzt werden.

Im Vergleich mit der weiter untenbetrachteten Röntgentomographieist die Impedanztomographie umGrößenordnungen billiger undvermeidet die gesundheitlichenGefahren durch Röntgenstrahlen.Nachteil des Verfahrens ist die ver-gleichsweise niedrige räumlicheBildauflösung (vgl. Abb. 3).

Zur Bestimmung der Leitfähig-keitsverteilung in einem elektrischleitfähigen Objekt werden an aufdem Rand angebrachten Elektro-den niederfrequente Ströme ein-geprägt. Die von diesen Strömenhervorgerufenen Spannungen zwi-schen den Elektroden sind abhän-gig von der Leitfähigkeitsvertei-lung im Innern des Objekts. DieErmittlung dieser Verteilung ausden eingeprägten Strommusternund den dazu gehörenden gemes-senen Spannungen stellt ein inver-ses Problem aus der Elektroma-gnetik dar.

Unter einem Schwerpunkt Ma-thematik für Innovationen in Indus-trie- und Dienstleistungen fördertdas BMBF seit Beginn dieses Jah-res einen Projektverbund »Regu-larisierungsverfahren für die elek-trische Impedanztomographie inMedizin und Geowissenschaf-ten«. Dieser Verbund besteht aussechs Instituten aus den BereichenMathematik, Physik und Medizinund hat unter anderem als Ziel,die mathematischen Verfahren derImpedanztomographie im Hin-blick auf ihre praktische Einsatz-fähigkeit in der medizinischen An-wendung weiterzuentwickeln. Vonder Universität Göttingen sind andiesem Verbund aus der Mathema-tik das Institut für Numerische undAngewandte Mathematik und ausder Medizin die Abteilung Anaes-thesiologische Forschung am Zen-trum für Anaesthesiologie beteiligt.Ein Teil der Göttinger mathemati-schen Forschungsansätze zu ei-nem effizienten Rekonstruktions-verfahren bei Leitfähigkeitsvertei-lungen mit starken Kontrasten wirdweiter unten dargestellt werden.

Die Göttinger Beiträge in denbeiden Projektverbünden zur Mi-

Universität Göttingen90

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Abb. 1: Schematische Darstel-lung der Funktionsweiseeines handgehaltenenMetalldetektorsAbbildung: Verfasser

Abb. 2: Impedanztomographiedes Brustkorbs eines Patienten des Universi-tätsklinikums GöttingenAbbildung:Verfasser

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nendetektion und zur Impedanz-tomographie stehen in enger the-matischer Verbindung mit einerForschernachwuchsgruppe »Neuenumerische Verfahren zur Lösunginverser Probleme«, die im Jahre2002 vom Land Niedersachsenauf Antrag des Verfassers am Insti-tut für Numerische und Ange-wandte Mathematik eingerichtetwurde und unter Leitung von Pro-fessor Roland Potthast über fünfJahre erfolgreich gearbeitet hat.Bevor diese Arbeiten etwas ge-nauer beschrieben werden undallgemein verdeutlicht wird, war-um und wie Mathematik von Nut-zen in der Minendetektion undder Impedanztomographie ist, sollzunächst geklärt werden, warumdiese Aufgaben zu der Klasse derinversen Probleme zählen.

Inverse Probleme In der Mathematik werden zweiProbleme zueinander invers ge-nannt, wenn die Formulierung desersten Problems teilweise odervollständig die Lösung des zwei-ten Problems enthält und umge-kehrt. Multiplikation und Divisionsind zueinander invers: die Multi-plikationsaufgabe 4 x 5 enthält inder Formulierung das Ergebnis 5der Divisionsaufgabe 20 : 4, undumgekehrt enthält die Formulie-rung der Division das Ergebnis 20der Multiplikation. Nach dieser De-finition erscheint es zunächst will-kürlich, nur eines der beiden Pro-bleme als inverses Problem zu be-zeichnen. Häufig ist jedoch einesder beiden Probleme einfacher zubehandeln und intensiver unter-sucht, während das zweite Problemschwieriger und in der mathema-tischen Literatur noch nicht so aus-führlich behandelt ist. Dann wirddas erste das direkte und das zwei-te das inverse Problem genannt.

Inverse Probleme treten in viel-fältiger Weise bei der mathema-tischen Modellierung von nicht-invasiven Evaluierungs- und Bild-gebungsverfahren in Naturwissen-schaften, Medizin und Technikauf. Vereinfacht gesprochen ist hier

bei den entsprechenden direktenProblemen die Ursache bekannt,und es wird nach der Wirkung ge-fragt, während umgekehrt bei denzugeordneten inversen Proble-men aus der Wirkung auf die Ur-sache zurückgeschlossen werdensoll. Ein typisches Beispiel bildetdie inverse Streutheorie für akusti-sche, elektromagnetische und elas-tische Wellen.

Allgemein befasst sich die Streu-theorie mit den Auswirkungenvon Objekten auf die Ausbreitungvon Wellen. Bei einem direktenStreuproblem sind die ungestörteinfallende Welle und das streu-ende Objekt bekannt, und gefragtist nach der resultierenden ge-streuten Welle. Beim zugehören-den inversen Streuproblem sollenaus Messungen der gestreutenWelle an geeigneten Detektorengeometrische und physikalischeParameter des streuenden Objektsermittelt werden. Zur Veranschau-lichung kann an Wasserwellen ge-dacht werden. Die auf einem Seedurch Einwerfen eines Gegenstan-des erzeugten Wellen hängen vonder Gestalt des eingeworfenen Kör-pers ab. Am Seeufer soll aus derForm der am Ufer eintreffendenWasserwellen erschlossen wer-den, ob in der Seemitte ein kugel-förmiger Stein, ein langer zylindri-scher Stock oder irgendein ande-res Objekt ins Wasser geworfenwurde.

Anwendungen findet die inverseStreutheorie in der medizinischenDiagnostik (Ultraschalltomogra-phie), der zerstörungsfreien Mate-rialprüfung (zum Beispiel bei derErkennung von defekten ICE-Rad-reifen und -Achsen), der seismi-schen Erdöl- und Mineralexplora-tion, bei Radar usw. Dabei wer-den vereinfacht gesagt die Unter-schiede in der Streuung von Schall-wellen an gesundem oder kran-kem Körpergewebe ausgenutztoder von elastischen Wellen anMetallkörpern mit oder ohne De-fekt oder an Erdschichten mit oderohne Öl- oder ErzeinschlüssenMan nutzt auch die Abhängigkeit

der Streuung von elektromagneti-schen Wellen an metallischen undnichtmetallischen Objekten vonderen Position, Größe und Gestalt.Grundsätzlich ließe sich das obigeModellproblem für Wasserwellendadurch lösen, dass für eine mög-lichst große Zahl von Objektenvorab experimentell die am See-ufer eintreffenden Wellen registriertund katalogisiert werden. In derkonkreten Anwendung kann danndurch den Vergleich der tatsächlichbeobachteten Wellen mit den ka-talogisierten Fällen der eingewor-fene Körper identifiziert werden.

Dieses Verfahren und analogeVorgehensweisen bei den inver-sen Streuproblemen sind in derPraxis völlig ungeeignet und müs-sen durch eine effiziente mathe-matische Modellierung als inverseProbleme für Differentialgleichun-gen ersetzt werden. Sowohl fürdie Anwendungen als auch als an-spruchsvolle mathematische Auf-gabe stellt sich bei inversen Streu-problemen, und grundsätzlich beiallen inversen Problemen, als Ers-tes die Frage nach der eindeutigenRekonstruierbarkeit, das heißt, dieFrage, ob zur Identifizierung dergesuchten geometrischen und phy-sikalischen Parameter ausreichendInformation vorliegt. Die zweitewichtige Aufgabe bildet die Ent-wicklung, Implementierung undAnalyse von in der Praxis einsetz-baren numerischen Rekonstruk-tionsalgorithmen, die dann in ent-sprechenden Chips in die Meß-und Visualisierungsgeräte einge-baut werden. Für den aktuellenmathematischen Forschungsstandzu inversen Streuproblemen seiverwiesen auf [2, 3].

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Abb. 3: Tomographi-sche Aufname von zwei LungenflügelnAbbildung: Verfasser

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Graduiertenkolleg »Identifikation in mathemati-schen Modellen: Synergie stochastischer undnumerischer Methoden«(red.) Inverse Probleme sind einwesentliches Element des Gradu-iertenkollegs 1023 »Identifikationin mathematischen Modellen:Synergie stochastischer und nu-merischer Methoden«, das vonden beiden Instituten für Mathe-matische Stochastik und für Nu-merische und Angewandte Ma-thematik an der Universität Göt-tingen getragen wird. Mit dieserThematik ist es Ziel des Graduier-tenkollegs, die Kollegiatinnen undKollegiaten an Identifikation alseinen der grundlegenden Aspektewissenschaftlicher mathematischerArbeit in den Anwendungen her-anzuführen. Dies ist in der erstenBewilligungsphase seit Juli 2004vor allem bei inversen Problemenfür partielle Differentialgleichun-gen und bei Parameter- und Mo-dellidentifikationen in der Statistikmit Erfolg durchgeführt worden.Die Forschungsprojekte umfassendabei neben inversen Streupro-blemen und der elektrischen Im-

pedanztomographie unter ande-rem die Identifizierung von Mo-dellparametern bei turbulentenStrömungen, stochastische inver-se Probleme, Lernverfahren mitKernfunktionen, die Identifizie-rung von Fingerabdrücken, Se-quenziermethoden zur Erkennungvon Fremdgenen und Identifizie-rung von Interdependenzen vonVerspätungen in Verkehrsverbün-den. Als eine zentrale Forschungs-idee sind dabei entsprechend demUntertitel des Graduiertenkollegsstochastische und deterministi-sche Methoden effizient zusam-mengeführt und gemeinsam wei-terentwickelt worden. Bislangwurden 18 Promotionen erfolg-reich abgeschlossen. Die Absol-venten haben Arbeitsplätze inWissenschaft und Industrie gefun-den, zum Teil als Postdoktorandenin Göttingen und außerhalb Göt-tingens und zum Teil in Industrieund Wirtschaft mit engen Bezü-gen zur Thematik des Kollegs. Ein

Teil der ausländischen Kollegiatensind auf Positionen in ihre Her-kunftsländer zurückgekehrt undbieten auch für die Göttinger Ma-thematik auf diese Weise Perspek-tiven für nachhaltige internationa-le wissenschaftliche Kontakte. Mitmehr als 40 Veröffentlichungen ininternationalen Journalen undmehr als 30 Vorträgen durch dieKollegiaten auf internationalenTagungen ist das Graduiertenkol-leg sichtbar geworden. Darüber-hinaus hat das Graduiertenkollegin Göttingen vier Tagungen mitbreiter internationaler Beteiligungzu Teilbereichen seiner For-schungsthematik durchgeführt.Nach einem erfolgreichen Be-richtskolloquium im Juni 2008 be-willigte die Deutsche Forschungs-gemeinschaft im November 2,77Millionen Euro an Fördermittelnzur Weiterführung des Kollegs.Sprecher ist Prof. Dr. Rainer Kreßvom Institut für Numerische undAngewandte Mathematik.

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Inkorrekt gestellte Probleme Die inversen Streuprobleme undgrundsätzlich eine weite Klasse voninversen Problem sind schlechtbeziehungsweise inkorrekt ge-stellt. Die Definition der Inkorrekt-heit eines mathematischen Prob-lems geht zurück auf den franzö-sischen Mathematiker Jacques So-lomon Hadamard (1865 – 1963),der für Modellbildungen bei Pro-blemen aus den Naturwissenschaf-ten um 1900 die folgenden dreiPostulate formulierte: 1. Das ma-thematische Modell besitzt eineLösung. 2. Das mathematischeModell besitzt höchstens eine Lö-sung. 3. Die Lösung des mathe-matischen Modells hängt stetigvon den Daten ab, das heißt, dasProblem ist stabil in dem Sinne,dass kleine Änderungen der Da-ten nur zu kleinen Änderungender resultierenden Lösung führen.Existenz und Eindeutigigkeit einerLösung sind unmittelbar evidentals Forderungen an die mathema-tische Modellierung von determi-nistischen Naturvorgängen. Dasdritte Postulat ist motiviert durchden Umstand, dass in den Anwen-dungen die Daten in aller Regelaus Messungen stammen und folg-lich stets mit Fehlern behaftet sind.Daher soll sichergestellt werden,dass kleine Messfehler in den Da-ten nur zu kleinen Abweichungenin der resultierenden Lösung füh-ren. Nach Hadamard nennt manein mathematisches Problem, ins-besondere ein Differentialglei-chungsproblem, korrekt gestelltoder gut gestellt, wenn alle dreiForderungen erfüllt sind. Ande-renfalls heißt das Problem inkor-rekt gestellt oder schlecht gestellt.

Der rigorose Nachweis für dieinkorrekte Problemstellung imSinne von Hadamard für die hierbetrachteten inversen Streupro-bleme bedarf tiefer liegender ma-thematischer Hilfsmittel, so dasswir hier in einer Plausibilitätsbe-trachtung wieder die Wasserwel-len heranziehen. Es erscheint un-mittelbar einleuchtend, dass diedurch Einwerfen einer Kugel und

einer mit sehr vielen dünnen, ausder Oberfläche ragenden langenNadeln versehenen gleich großenKugel verursachten Wasserwellensich am Seeufer nur wenig unter-scheiden, d.h. zwei sehr vonein-ander verschiedene Objekte rufendie gleichen Wellenmuster amUfer hervor und sind daher anHand dieser Daten nicht signifi-kant unterscheidbar.

Die Hadamardschen Postulateführten dazu, dass in der Mathe-matik die Forschung über inkor-rekt gestellte Probleme lange Zeitvernachlässigt wurde, da solcheProbleme als nicht geeignet ange-sehen wurden für die Modellie-rung angewandter Problemstel-lungen. Erst seit etwa vierzig Jah-ren setzt sich die Erkenntnis durch,dass eine wachsende Zahl von ausden Anwendungen stammendenmathematischen Fragestellungen,darunter alle hier betrachteten in-versen Probleme, zu inkorrekt ge-stellten Problemen führt, und zwartypischerweise unter Verletzungder dritten Bedingung der Stabi-lität. Entsprechend hat dies zu ei-ner Intensivierung der Forschungauf diesem Gebiet geführt. Ein un-erlässlicher Aspekt ist dabei dieNotwendigkeit der Stabilisierungvon Algorithmen zur Lösung von in-korrekt gestellten Problemen durchso genannte Regularisierungsver-fahren.

Tomographie In der Röntgentomographie wer-den zweidimensionale Bilder vonübereinanderliegenden parallelenzweidimensionalen Schichten er-zeugt; die Schichten entsprechender griechischen Vokabel �����.Die Bilder einer Schicht werdenaufgebaut aus Messungen von In-tensitätsverlusten beim Durch-gang von Röntgenstrahlen unter-schiedlicher Richtungen. Da dieAbsorption eines Röntgenstrahlslokal proportional zur Dichte ƒdes durchleuchteten Objekts ist,ergibt sich der Intensitätsverlustdes Röntgenstrahls entlang einerGeraden L durch Aufsummieren

der Dichte in dem Linienintegral ∫L ƒ ds über die Gerade L. Das di-rekte Problem ist, bei bekannterDichte ƒ die Linienintegrale ∫L ƒ dsfür alle die Schicht durchlaufen-den Geraden L zu berechnen. Dasinverse Problem der Röntgento-mographie besteht dagegen in derErmittlung der unbekannten Dich-te ƒ aus den gemessenen Inten-sitätsverlusten, d.h. Linienintegra-len über eine endliche Anzahl vonGeraden L. In den medizinischenAnwendungen entspricht ƒ derGewebedichte der durchleuch-teten Körperorgane, in technischenAnwendungen ist ƒ die Material-dichte des evaluierten Objekts.

Grundsätzlich ist die Aufgabe,eine Funktion aus ihren Linien-integralen zu ermitteln, schon 1917vom österreichischen Mathemati-ker Johann Radon (1887 – 1956)gelöst worden durch Angabe einerexpliziten Inversionsformel. Fürmedizinische Anwendungen wur-de die Tomographie erstmals 1963von dem amerikanischen Physikersüdafrikanischer Herkunft AllanMcLeod Cormack (1924 – 1998)vorgeschlagen und ab 1970, ins-besondere durch die Bemühun-gen des englischen Elektrotechni-kers Godfrey Newbold Houns-field (1919 – 2004), in die medizi-nische Praxis eingeführt. Im Jahr1979 erhielten Cormack und Ho-unsfield den Nobelpreis in Medi-zin für ihre Arbeiten zur Röntgen-tomographie. In der Folgezeitwurde die Bezeichnung Tomogra-phie in nicht völlig korrekter Wei-se auch für die Benennung vonauf anderen Methoden aufbauen-den Evaluierungs- und Bildge-bungsverfahren benutzt. Unterelektromagnetischen Tomogra-phieverfahren werden dabei Me-thoden zusammengefasst, dieelektromagnetische Wellen bezie-hungsweise Felder benutzen, ein-schließlich der Grenzfälle elek-trostatischer oder magnetostati-scher Felder.

Zu diesem Bereich gehören dieMinendetektion mit elektromag-netischen Wellen und die Impe-

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danztomographie, bei denen zuder Beschreibung Göttinger For-schungsergebnisse am Ende dieseAufsatzes etwas mehr mathemati-sche Terminologie unvermeidbarist. Die Minendetektion wird mo-delliert als inverses Streuproblemfür die Maxwellschen Differential-gleichungen

curl E - iωµH = 0curl H + iωεE = σE

für das elektrische Feld E unddas magnetische Feld H. Die phy-sikalischen Größen Dielektrizität�, magnetische Suszeptibilität �

und elektrische Leitfähigkeit � ha-ben dabei für die beteiligten Me-dien Luft, Erde und Metall unter-schiedliche Werte. Die Frequenz� bewegt sich bei den gebräuchli-chen Minendetektoren im Kilo-hertz-Bereich. Wie weiter obenschon beschrieben, sendet derüber den Boden geführte Detektorein elektromagnetisches Feld aus,das von der Grenzfläche zwi-schen Luft und Erde und von imBoden befindlichen Metallteilen

gestreut wird. Die gestreute se-kundäre Welle induziert in einerEmpfängerspule des Metalldetek-tors eine Spannung U, deren Ver-lauf bei der Bewegung in einemBereich oberhalb einer vermute-ten Mine grundsätzlich nach ent-sprechender Modifikation des De-tektoraufbaus gemessen werdenkann. In dem inversen Streuprob-lem zur Minendetektion sollenaus dem gemessenen Spannungs-verlauf geometrische Parameterzu Form, Größe und Position ei-nes entdeckten metallischen Ob-jekts ermittelt werden. Auf dieseWeise lassen sich durch Vergleichmit der bekannten Gestalt von Mi-nen etwa zu kleine, zu große oderzu dünne Objekte als Fehlalarmecharakterisieren. Die GöttingerArbeitsgruppe im Projektverbundhat hierzu das inverse Problem imSinne der im Folgenden beschrie-benen Least Squares Minimierunginterpretiert und gelöst [4]. Hierzuwurden die Gestalt und die Lageder Mine durch eine n-parametri-ge Schar von Flächen � model-liert, beispielsweise durch Ellipsoi-de, bei denen insgesamt neun Pa-rameter erforderlich sind zur Be-schreibung von Position, Größeund Orientierung. Es wird danndiejenige Fläche bestimmt, für diedie Abweichung des zugehören-den simulierten Spannungsver-laufs U(�) möglichst wenig vomgemessenen SpannungsverlaufUmess abweicht in dem Sinne,dass das Integral

∫M |U(�) – Umess|2ds

über den Messbereich M des De-tektors bezüglich des Parameter-vektors a = (a1, a2, ..., an) mini-miert wird. Unter Verwendung ei-nes numerischen Lösungsverfah-rens für das direkte Streuprobleman Metallkörpern in dem ge-schichteten Boden-Luft Mediummit Randintegralgleichungsme-thoden zur Simulation der Span-nung U(�) und einer ableitungs-freien Simplex-Methode nachNelder und Mead für die Mini-

mierungsaufgabe konnte demons-triert werden, dass auf diese Wei-se eine befriedigende Bestimmungvon Orts- und Formparameterndes Streuobjekts möglich ist. Da-mit wurde der Nachweis erbracht,dass unter Einsatz von Methodender inversen Streutheorie dasoben beschriebene Ziel der Redu-zierung der Fehlalarmraten beimEinsatz von Metalldetektoren zumMinenräumen grundsätzlich er-reichbar ist, nach einer entspre-chenden messtechnischen Umge-staltung der Detektoren.

Das inverse Problem der Impe-danztomographie zur Ermittlungder Leitfähigkeitsverteilung ausam Rand eines elektrisch leitfähi-gen Objekts an Elektroden gemes-senen Strom- und Spannungsver-teilungen wird für die verwende-ten niederfrequenten Ströme durchdie Potenzialgleichung

div � grad u = 0

für das elektrische Potenzial umodelliert. Das direkte Problembesteht bei vorgegebener Leit-fähigkeit � darin, für verschiedeneStromeinprägungen auf dem Randdie zugehörenden Spannungen zuermitteln, d.h. für u ein linearesRandwertproblem zu lösen. Daszugehörige inverse Problem be-steht in der Ermittlung der ortsab-hängigen Leitfähigkeit � im Innerndes Objekts aus der so genanntenStrom-nach-Spannung Abbildung,die jeder auf dem Rand vorgege-benen Stromverteilung die resul-tierende Spannnungsverteilungzuordnet. Für eine detaillierte Beschreibung der Vielfalt der inder mathematischen Literatur undvon den Anwendern entwickeltenRekonstruktionsalgorithmen seiverwiesen auf die Übersichts-arbeit von L. Borcea aus dem Jahr2002 [1].

Bei Leitfähigkeiten mit hohenKontrasten, wie sie zum Beispielbei der nichtinvasiven Überwa-chung der Atmung von Lungen-patienten auftreten, erscheint essinnvoll, die Leitfähigkeiten durch

Räumung von Minen-feldern in Chile. Ein Sol-dat sucht mithilfe einesDetektors nach Land-minen. Zwischen 1974und 1978 wurde dasGrenzgebiet zu Bolivien,Peru und Argentinien mit Minenfeldern abgesichert.Foto: Ullstein

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stückweise konstante Leitfähigkei-ten zu approximieren. Dieses ver-einfacht das inverse Problem zueinem inversen Randwertproblemzur Laplace Gleichung ∆u = 0 fürdie Bestimmung der Gestalt derRänder zwischen den Teilberei-chen unterschiedlicher konstanterLeitfähigkeit sowie den Wertender Leitfähigkeiten in den Teilbe-reichen. Dieses inverse Randwert-problem ist dann nichtlinearenRandintegralgleichungsmethodenzugänglich.

In Kooperation mit der Abtei-lung Anaesthesiologische For-

schung (Direktor Prof. Dr. Ger-hard Hellige) und der Arbeitsgrup-pe Impedanztomographie [6] (Lei-ter Dr. Günter Hahn) am Zentrumfür Anaesthesiologie, Rettungs-und Intensivmedizin der Univer-sitätsmedizin Göttingen ist inzwei vom Verfasser betreuten Dis-sertationen [5, 7] die theoretischeFundierung und eine numerischeImplementierung für diesen Zu-gang zur Impedanztomographieerarbeitet worden. Dazu gehörteauch eine vorläufige Erprobungder Algorithmen an realen Datenaus der Medizin. Diese Zusam-

menarbeit wird in dem Projektver-bund zur Impedanztomographieweiter fortgesetzt.

Die Darstellung dieser For-schungsaktivitäten macht deutlich,dass Mathematik ein unerlässli-cher und bedeutender Bestandteilvon nichtinvasiven Bildgebungs-und Evaluierungsverfahren in Me-dizin und Technik ist. Sie veran-schaulicht auch eine wesentlicheStärke der Mathematik: Ihre Me-thoden sind universell in zunächstvöllig verschieden erscheinendenProblemstellungen einsetzbar.

Over the last two decades,inverse problems, in gene-

ral, and inverse scattering pro-blems, in particular, have develo-ped into an important branch ofmathematics. Scattering theory isconcerned with the effect of ob-jects or inhomogeneities on thepropagation of acoustic, electro-magnetic or elastic waves. For di-rect scattering problems, the ob-jects or inhomogeneities producea scattered wave and the latter hasto be computed. Conversely, in in-verse scattering problems from aknowledge on the scattered wavethe unknown scattering object hasto be retrieved. Inverse scatteringhas applications in biomedicine,geophysical exploration, environ-mental pollution, radar imagingand nondestructive testing amongothers. In addition to theoreticalfoundations to inverse scattering,the research at the Institute for Nu-merical and Applied Mathematicsat the University of Göttingen hasbeen concerned with the applica-tion of tools from inverse scatte-ring both in the area of humanita-rian mine detection by metal de-tectors and in impedance tomo-graphy (which is a newly develo-ped imaging technique with ap-plications in science, medi-cine and engineering).

Prof. Dr. Rainer Kreß, Jahrgang 1941, studierte Ma-thematik und Physik an der Technischen HochschuleDarmstadt, an der er 1968 promoviert wurde und sich1969 für das Fach Mathematik habilitierte. Nach einerzweijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitar-beiter am Max-Planck-Institut für Physik and Astro-

physik in München folgte er 1971 einem Ruf auf einen Lehrstuhlfür Numerische und Angewandte Mathematik an die UniversitätGöttingen. Als Gastprofessor war er für längere Zeit an der Univer-sity of Strathclyde in Schottland, der University of Delaware in denVereinigten Staaten und an der University of New South Wales inAustralien. Von 1993 bis 1995 war Professor Kreß Vizepräsident derUniversität Göttingen, und seit 1995 ist er Mitglied der GöttingerAkademie der Wissenschaften. Sein Hauptforschungsgebiet sind In-tegralgleichungen mit Schwerpunkt auf deren numerischer Lösungund direkte und inverse Probleme aus der Streutheorie. Er ist Autor vonvier Monographien aus diesem Gebiet, von denen eine in russischerund zwei weitere in chinesischer Übersetzung Verbreitung finden.

Literatur:

[1] Borcea, L.: Electrical impedance tomo-graphy. Inverse Problems 18, R99–R136(2002).

[2] Colton, D. and Kress, R.: Inverse Acou-stic and Electromagnetic Scattering Theory.2nd. ed. Springer, Berlin 1998.

[3] Colton, D. and Kress, R.: Using funda-mental solutions in inverse scattering. Inver-se Problems 22, R49–R66 (2006).

[4] Delbary, F., Erhard, K., Kress, R., Pott-hast, R. and Schulz, J.: Inverse electroma-gnetic scattering in a two-layered mediumwith an application to mine detection. In-verse Problems 24, 015002 (2008).

[5] Eckel, H. and Kress, R.: Nonlinear inte-gral equations for the inverse electrical im-pedance problem. Inverse Problems 23,475–491 (2007).

[6] Hahn G, Just, A., Dudykevych, T., Fre-richs, I., Hinz, J., Quintel, M. and Hellige, G.:Imaging pathologic pulmonary air and fluidaccumulation by functional and absoluteEIT. Physiological measurement 27, 187 –198, (2006).

[7] Hofmann, B.: Approximation of the in-verse electrical impedance tomographyproblem by an inverse transmission pro-blem. Inverse Problems 14, 1171–1187(1998).