Mathieu Ricard - Glück

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Matthieu Ricard

GlckMit einem Vorwort von Daniel Goleman

Aus dem Englischen von Christine Bendner

nymphenburger

Fr Jigme Khyentse Rinpoche

NiL Editions, Paris 2 0 0 3 . Titel der Originalausgabe: Plaidoyer pour le bonheur. Hier bersetzt nach Happiness. A guide to Developing Life's Most Important Skill, Little Brown and Company 2 0 0 6 . Fr die deutschsprachige Ausgabe nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Mnchen 2007. Alle Rechte vorbehalten. Schutzumschlag: Atelier Sanna, Mnchen Schutzumschlagfoto: Matthieu Ricard Marion Stalens Lektorat: Michael Wallossek, Rsrath bei Kln Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering Gesetzt aus 10,6/13,8 pt Sabon Druck und Binden: GGP Media GmbH, Pneck Printed in Germany ISBN 9 7 8 - 3 - 4 8 5 - 0 1 1 1 6 - 7 www.nymphenburger-verlag.de

Das Glck fllt uns nicht einfach so in den Scho. Es ist kein Geschenk, das Fortuna ber uns ausschttet und das uns durch eine Wendung des Schicksals wieder genommen wird. Vielmehr hngt es ganz allein von uns ab. Glcklich wird man nicht ber Nacht, sondern indem man Tag fr Tag geduldig danach strebt. Wir sind unseres eigenen Glckes Schmied. Das erfordert Bemhung und kostet Zeit. Um glcklich zu werden, mssen wir lernen, uns zu ndern. Luca und Francesco Cavalli-Sforza

Inhalt

Vorwort Einfhrung 1 Eine kurze Betrachtung ber das Glck 2 Geht es im Leben darum, glcklich zu sein? 3 Die beiden Seiten des Spiegels - der Blick nach innen und der Blick nach auen 4 Falsche Freunde 5 Ist dauerhaftes Glck mglich? 6 Die Alchimie des Leids 7 Die Schleier des Ego 8 Wenn die eigenen Gedanken zu unserem schlimmsten Feind werden 9 Der Strom der Emotionen 10 Verstrende Emotionen und die entsprechenden Gegenmittel 11 Verlangen 12 Hass 13 Neid 14 Der groe Sprung in die Freiheit 15 Eine Soziologie des Glcks 16 Glck im Forschungslabor 17 Glck und Altruismus: Sind wir gtig, weil wir glcklich sind, oder sind wir glcklich, weil wir gtig sind? 18 Glck und Demut 19 Optimismus, Pessimismus und Naivitt

9 13 31 43 53 63 75 87 115 137 153 171 195 207 221 225 239 263

285 299 305

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Goldene Zeit, bleierne Zeit, vergeudete Zeit . . . . Eins mit dem Fluss der Zeit Ethik als Wissenschaft vom Glck Glcklich sein angesichts des Todes Ein Weg

321 329 337 355 361 371 373

Noch ein paar Worte zum Schluss Anmerkungen

Vorwort

Als ich Matthieu Ricard in einem Hinterzimmer des Klosters Shechen in Nepals Hauptstadt Kathmandu zum ersten Mal begegnete, beugte er sich gerade ber den Monitor eines Computers. Aufmerksam beobachtete er die Arbeit einer Gruppe von Mnchen, die von langen, nach traditioneller Art mittels Holzmodeln bedruckten Textseiten eifrig jedes Wort in ein speziell fr die tibetische Schrift ausgelegtes Computerprogramm eingaben. Die riesigen Stapel vergilbten handgeschpften Papiers zwischen handgeschnitzten Buchdeckeln wurden in ein elektronisches Speichermedium von der Gre einer Handflche kopiert. Das digitale Zeitalter hatte auch ins Kloster Einzug gehalten. Jetzt knnen alle Menschen, die Zugang zu einem Computer haben, auf jene Texte zugreifen, die jahrhundertelang in den Einsiedeleien und Klstern der abgelegenen Hochtler Tibets wie ein Schatz gehtet wurden. So trug Matthieu dazu bei, die Weisheit frherer Zeiten fr die moderne Welt zu bewahren. Matthieu scheint die Idealbesetzung fr diese Aufgabe zu sein. Seine Ausbildung gehrt zum Besten, was die moderne Welt zu bieten hat. Der Titel Doktor der Biologie wurde ihm am renommierten Institut Pasteur verliehen, wo ein Nobelpreistrger sein wichtigster Mentor war. Dennoch verbrachte er mehr als ein Vierteljahrhundert als buddhistischer Mnch im Himalaya und lebte dort bei vollkommen verwirklichten tibetischen Meistern. In jngerer Zeit habe ich mit Matthieu im Kontext des Mind and Life -Instituts zusammengearbeitet, das den 9

Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und buddhistischen Gelehrten frdert. Dieser kontinuierliche Austausch hat zu erstaunlichen Ergebnissen gefhrt, die uns zeigen, wie Meditation die Restrukturierung des Gehirns in der Weise steuern kann, dass sie die fr Mitgefhl und hnlich positive Emotionen zustndigen Gehirnareale strkt. Auf diesem Gebiet ist Matthieu ein Experte, der seinesgleichen sucht. Ich hatte Gelegenheit, ihm bei der Arbeit mit Professor Richard J. Davidson, dem Leiter des Instituts fr neurowissenschaftliche Untersuchungen emotionaler Zustnde (Laboratory for Affective Neuroscience) an der University of Wisconsin in Madison zuzusehen. Damals arbeiteten die beiden gerade an einer Reihe von Testverfahren zur Untersuchung von Menschen mit fortgeschrittener Meditationserfahrung. Matthieu war nicht nur ein beraus kompetenter Mitarbeiter, wenn es darum ging, die sinnvollsten Testmethoden zu ermitteln, sondern auch die erste Versuchsperson. Zu diesem Zweck legte sich Matthieu in die Rhre eines Magnetresonanztomografen (MRT), auch Kernspintomograf genannt. Bei den hochmodernen Gerten, die fr dieses bildgebende Verfahren entwickelt worden sind, rotieren riesige Magnete um den Krper der zu untersuchenden Person. Ein Magnetresonanztomograf liefert exakte Abbildungen des Gehirns (oder anderer innerer Gewebsstrukturen und Organe). Viele Menschen begeben sich jedoch nur ungern in diese enge Rhre, und manche werden sogar von klaustrophobischen Panikattacken heimgesucht, weil sie sich in der monstrsen Maschine gefangen fhlen. Matthieu hielt es dort insgesamt ber drei Stunden aus und durchlief whrenddessen verschiedene Stadien der meditativen Erfahrung: innere Sammlung, Visualisierung und Entwicklung von Mitgefhl. 10

Am Ende der strapazisen Sitzung eilten wir ein wenig besorgt in den Untersuchungsraum, um zu sehen, wie Matthieu die Tortur berstanden hatte. Doch lchelnd und guter Dinge kletterte er aus dem Gert. Sein Kommentar: Das war wie ein kleines Retreat. Diese Reaktion auf eine Erfahrung, die von den meisten Menschen wohl als uerst nervenaufreibend empfunden wrde, zeugt von einem besonderen Geisteszustand, einer Fhigkeit, dem Auf und Ab des Lebens mit Gleichmut, ja sogar mit Freude, zu begegnen. Und ber solche Lebensfreude verfgt Matthieu, wie ich feststellen konnte, in reichem Ma. Der Psychoanalytiker C. G. Jung hat die Rolle eines gnostischen Mittlers einmal folgendermaen beschrieben. Dies sei ein Mensch, der in die Tiefen der Seele einund dann wieder auftaucht, um uns vor Augen zu fhren, welch immense Mglichkeiten ihr innewohnen. Genau darin besteht Matthieus Rolle. Neben auerordentlichem Gleichmut zeichnen ihn Scharfsinn und ein rasches Auffassungsvermgen in allen Situationen aus. Bei den Treffen des Mind and LifeInstituts, bei denen der Dalai Lama gemeinsam mit einer Gruppe von Experten jeweils ein bestimmtes wissenschaftliches Thema aus allen Blickwinkeln beleuchtet, konnte ich das miterleben. Bei diesen Anlssen erlutert Matthieu hufig die buddhistische Sichtweise mit einer ganzheitlichen Intelligenz, die spirituelle und wissenschaftliche Paradigmen mhelos miteinander verbindet. Seine spielerische Leichtigkeit im Umgang mit der Welt der Wissenschaft und der Philosophie kommt in diesem Buch ebenso zum Ausdruck wie seine tiefe Vertrautheit mit den Weisheitsberlieferungen des Buddhismus. Beide Strmungen gehen hier eine nahtlose Verbindung ein, 11

und die daraus entstehenden Erkenntnisse sind nicht nur inspirierend, sondern zugleich von groem praktischem Wert. Die Auffassung von Glck, die Matthieu hier in groer Klarheit vor uns ausbreitet, bringt unsere Alltagsvorstellungen von Freude ins Wanken und spricht sich mit berzeugenden Argumenten dafr aus, nach einer Zufriedenheit zu streben, bei der es nicht in erster Linie darauf ankommt, Spa zu haben; und sie befrwortet eine altruistische Haltung anstelle von ichbezogener Bedrfnisbefriedigung. Darber hinaus macht Matthieu deutlich, wie jeder von uns die Fhigkeit entwickeln kann, solches Glck zu erfahren. Andererseits bietet er uns keine Patentlsungen an, da er nur allzu gut wei, dass die Schulung des Geistes viel Mhe und Zeit kostet. Stattdessen geht er jenen Zusammenhngen auf den Grund, von denen mageblich abhngt, ob wir glcklich sind oder leiden. Dabei gewinnen wir inspirierende Einblicke in die Funktionsweise des Geistes und knnen Strategien zum Umgang mit besonders problematischen Emotionen erlernen. Letztlich erhalten wir eine verlssliche Orientierung, die darauf abzielt, die Voraussetzungen fr echtes Wohlbefinden zu schaffen. Ein paar Tage, nachdem meine Frau und ich Matthieu zum ersten Mal begegnet waren, ergab es sich, dass wir am Flughafen von Kathmandu mehrere Stunden miteinander verbrachten, weil unser Abflug sich endlos verzgerte. Doch ehe wir uns versahen, waren die Stunden des Wartens vorber. Dafr sorgte allein schon die Freude, in Matthieus Nhe zu sein. Er ist zweifellos einer der glcklichsten Menschen, die ich kenne - und Glck wirkt ansteckend. Daniel Goleman 12

Einfhrung

Wenn ich frhmorgens auf der Wiese vor meiner Einsiedlerhtte sitze, habe ich ber Hunderte von Kilometern hinweg die in den Himmel ragenden Gipfel des Himalaya vor Augen, die beim Sonnenaufgang erglhen. Die stille Schnheit der Landschaft wird ganz natrlich und bergangslos eins mit dem Frieden in mir. Hier bin ich wirklich weit weg vom Institut Pasteur, an dem ich vor fnfunddreiig Jahren ber die Zellteilung geforscht und an der Kartierung von Genen auf dem Chromosom des Bakteriums Escherichia coli gearbeitet habe. Das klingt nach einer ziemlich radikalen Kehrtwendung. Hatte ich der westlichen Welt entsagt? Entsagung ist, zumindest was den buddhistischen Sinn des Wortes angeht, ein vielfach missverstandener Begriff. Denn hier geht es nicht darum, etwas Gutes oder Schnes aufzugeben. Das wre ja wirklich tricht! Vielmehr geht es darum, sich frei zu machen von unbefriedigenden Lebenserfahrungen, um sich stattdessen entschlossen in Richtung derjenigen Dinge zu bewegen, die wirklich wichtig sind. Es geht um Freiheit und Sinngebung - Freiheit von geistiger Verwirrung und den Problemen, die aus einer selbstbezogenen Haltung resultieren, und um Sinngebung durch Einsicht und Herzensgte. Als ich zwanzig war, wusste ich ganz genau, was ich nicht wollte - ein sinnloses Leben. Anderseits hatte ich keine Ahnung, was ich wirklich wollte. Meine Jugend war alles andere als langweilig. Ich kann mich noch genau an die Aufregung erinnern, als ich mit sechzehn die 13

Mglichkeit hatte, mich mit einem meiner Freunde, einem Journalisten, und Igor Strawinsky zum Mittagessen zu treffen. Jedes Wort, das er sprach, habe ich aufgesaugt. Er schrieb mir ein Autogramm in eine Kopie der Partitur von Agon, einem seiner damals weniger bekannten Werke, das ich besonders gern mochte. Die Widmung lautete: Fr Matthieu - Agon, das ich selbst sehr gerne mag. In dem groen Kreis von Intellektuellen, in dem meine Eltern sich bewegten, herrschte an faszinierenden Begegnungen kein Mangel. Meine Mutter, Yahne Le Toumelin, eine bekannte Malerin voller Lebensfreude, Poesie und menschlicher Wrme, die spter buddhistische Nonne wurde, war mit groen Persnlichkeiten des Surrealismus und der zeitgenssischen Kunst befreundet, darunter Andre Breton, Leonora Carrington und Maurice Bejart, fr den sie viele Theaterkulissen gemalt hat. Mein Vater, der unter seinem Schriftstellerpseudonym Jean-Frangois Revel zu einer der Sulen des intellektuellen Lebens in Frankreich wurde, organisierte unvergessliche Abendessen mit den groen Denkern und kreativen Kpfen seiner Zeit: zum Beispiel Luis Bunuel oder Emmanuel Cioran, dem verzweifelten Philosophen; Mario Suares, der Portugal vom Joch des Faschismus befreit hat; Henri Cartier-Bresson, dem Auge des Jahrhunderts, und vielen anderen. Im Jahr 1970 schrieb mein Vater das Buch Uns hilft kein Jesus und kein Marx, in dem er seine Ablehnung von politischem wie religisem Totalitarismus zum Ausdruck brachte. Dieses Buch hielt sich ein ganzes Jahr lang in den Bestsellerlisten der USA. Ich begann meine berufliche Laufbahn im Jahr 1967 als junger Forscher am Institut Pasteur, und zwar im Zell14

genetik-Labor von Frangois Jakob, der erst kurz zuvor den Medizin-Nobelpreis verliehen bekommen hatte. Dort arbeitete ich mit den groen Namen der Molekularbiologie zusammen - unter anderem mit Jacques Monod und Andre Lwoff, die jeden Tag am Gemeinschaftstisch in einer Ecke der Bibliothek gemeinsam ihr Mittagessen zu sich nahmen, und vielen anderen Wissenschaftlern aus aller Welt. Frangois Jakob betreute nur zwei Doktoranden. Er hatte einem gemeinsamen Freund anvertraut, mich habe er nicht nur aufgrund meines Universittsabschlusses angenommen, sondern auch, weil er gehrt habe, dass ich ein Cembalo bauen wolle: ein Traum, den ich letztlich nie verwirklicht habe, der mir aber zumindest einen Platz in einem der begehrtesten Labors eingebracht hat. Meine anderen Vorlieben waren Astronomie, Skifahren, Segeln und Ornithologie. Mit zwanzig verffentlichte ich ein Buch ber Zugvgel und andere nomadisierende Tierarten.1 Das Fotografieren lernte ich von einem Freund, der professionell wild lebende Tiere fotografierte, und war so manches Wochenende mit dem Aufspren von Lappentauchern und Wildgnsen in den Smpfen von Sologne und an den Strnden des Atlantiks beschftigt. Die Winter verbrachte ich damit, die Skihnge der heimischen Alpen hinunterzurasen. Und whrend des Sommers war ich viel auf dem Meer unterwegs: mit Freunden meines Onkels, dem Segler und Navigator Jacques-Yves Le Toumelin, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine der ersten Weltumsegelungen auf seinem dreiig Fu langen Segelboot unternommen hatte. Er stellte mir viele auergewhnliche Menschen vor - Abenteurer, Forschungsreisende, Mystiker, Astrologen und Metaphysiken Eines Tages wollte er einen seiner Freunde 15

besuchen, fand allerdings an dessen Wohnungstr in Paris nur einen Zettel vor: Muss dich dieses Mal leider versetzen; bin zu Fu nach Timbuktu unterwegs. Mein Leben war also wirklich spannend, doch etwas Wesentliches fehlte einfach. So beschloss ich 1972 im Alter von sechsundzwanzig Jahren, als mir das Leben in Paris mal wieder zum Hals heraushing, nach Indien zu ziehen; genauer gesagt nach Darjeeling, am Fu des Himalaya, um dort bei einem groen tibetischen Meister zu lernen. Wie war ich an diesen Punkt gelangt? Die eindrucksvollen Persnlichkeiten, die meinen Weg gekreuzt hatten, verfgten alle ber eine ganz spezielle Begabung. So wie Glenn Gould htte ich gerne Klavier gespielt; oder Schach wie Bobby Fisher; oder Baudelaires poetisches Talent besessen. Auf der menschlichen Ebene hingegen wollte ich berhaupt nicht werden wie sie. Trotz ihrer knstlerischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Fhigkeiten waren sie, was Selbstlosigkeit, Weltoffenheit, Entschlossenheit und Lebensfreude anbelangt, keinen Deut besser oder schlechter als jeder von uns. Alles nderte sich, als ich ein paar bemerkenswerte Menschen traf, die ein lebendiges Beispiel dafr waren, wie ein erflltes Menschenleben aussehen kann. Vor diesen Begegnungen hatten mich vor allem die Schriften von groen Persnlichkeiten wie Martin Luther King jr. und Mohandas Gandhi inspiriert, die allein durch die Kraft ihrer menschlichen Eigenschaften andere dazu bringen konnten, ihre Lebensweise zu ndern. Mit zwanzig hatte ich eine Reihe von Dokumentarfilmen meines Freundes Arnaud Desjardins ber die groen spirituellen Meister gesehen, die nach dem skrupellosen Einmarsch der Chinesen aus Tibet fliehen mussten. Sie lebten jetzt als Flchtlinge in Indien und Bhutan. Und etwas verschlug 16

mir, als ich sie in diesen Filmen erblickte, regelrecht die Sprache: So unterschiedlich ihre physische Erscheinung auch sein mochte, strahlten sie doch alle eine verblffend hnliche innere Schnheit, tiefes Mitgefhl und Weisheit aus. Die Mglichkeit, Sokrates zu begegnen, Platons Dialogen zu lauschen oder zu Fen des heiligen Franz von Assisi zu sitzen, hatte ich nicht. Doch unversehens tauchten da zwei Dutzend solcher Menschen direkt vor meinen Augen auf. Ich brauchte nicht sehr lange, mich zu entscheiden: Ich wrde nach Indien fahren, um sie zu treffen. Wie soll ich meine erste Begegnung mit Kangyur Rinpoche im Juni 1967 in einer kleinen Holzhtte, nur wenige Meilen von Darjeeling entfernt, beschreiben? Er strahlte eine solche Gte aus, wie er da mit dem Rcken vor einem Fenster sa, das den Blick auf ein Wolkenmeer freigab, aus dem die majesttischen Gipfel des Himalaya bis zu einer Hhe von ber 7000 Metern aufragten. Um die unerschpflich tiefe Weisheit, die Heiterkeit und das Mitgefhl zu beschreiben, die von ihm ausgingen, reichen Worte einfach nicht aus. Drei Wochen lang sa ich ihm von morgens bis abends gegenber und hatte den Eindruck, ich tte das, was man im Allgemeinen meditieren nennt. Mit anderen Worten, ich sammelte mich einfach in seiner Gegenwart und versuchte zu erkennen, was hinter dem Vorhang meiner Gedanken lag. Doch erst nach meiner Rckkehr aus Indien, whrend meines ersten Jahres am Institut Pasteur, begriff ich, wie wichtig diese Begegnung mit Kangyur Rinpoche gewesen war. Mir wurde bewusst, dass ich eine Wirklichkeit entdeckt hatte, die mein ganzes Leben inspirieren, ihm eine Richtung und einen Sinn geben konnte. Im Laufe meiner darauf folgenden Reisen nach Indien, die ich zwischen 17

1967 und 1972 jeweils im Sommer unternahm, stellte ich fest, dass ich jedes Mal, wenn ich in Darjeeling ankam, mein europisches Leben komplett hinter mir lie. Nach meiner Rckkehr ans Institut Pasteur eilten meine Gedanken dagegen das ganze Jahr ber stndig in den Himalaya. Mein Lehrer Kangyur Rinpoche hatte mir geraten, meine Doktorarbeit fertigzustellen, und deshalb wollte ich nichts berstrzen. Doch obwohl ich mehrere Jahre wartete, fiel es mir nicht schwer, jene Entscheidung zu treffen, die ich seither nie bereut habe: dorthin zu gehen und da zu leben, wo ich wirklich sein wollte. Mein Vater war ziemlich verrgert und enttuscht, dass ich meine Karriere, deren Anfnge seiner Ansicht nach so vielversprechend waren, derart abrupt abbrach. Darber hinaus nahm er als berzeugter Agnostiker den Buddhismus nicht besonders ernst, obwohl er einmal schrieb: Ich hatte nichts gegen ihn, denn sein unverflschter und geradliniger Ansatz hebt ihn positiv von anderen religisen Lehren ab und hat ihm den Respekt einiger der anspruchsvollsten westlichen Philosophen eingebracht.2 Obwohl wir uns jahrelang selten sahen - er besuchte mich in Darjeeling und spter in Bhutan blieben wir einander nahe, und wenn ihn Journalisten nach mir fragten, sagte er: Die einzigen Wolken, die jemals unsere Beziehung berschattet haben, waren die des asiatischen Monsuns. Was ich in den Lehren der buddhistischen berlieferung fand, verlangte nie danach, sich blind einem Glauben zu ergeben. Vielmehr handelte es sich um eine facettenreiche, pragmatische Wissenschaft des Geistes, eine altruistische Lebenskunst, eine an Bedeutungsgehalt reiche Philosophie und spirituelle Praxis, die zu echter innerer Transformation fhrte. In den letzten fnfunddreiig 18

Jahren habe ich mich nie im Widerstreit zur wissenschaftlichen Geisteshaltung befunden, wie ich sie verstehe - als empirische Suche nach der Wahrheit. Ich bin auch Menschen begegnet, die dauerhaft glcklich waren. Ja, es ging eigentlich ber das, was wir normalerweise als glcklich bezeichnen, hinaus: Sie waren von ihrer tiefen Einsicht in die Wirklichkeit und die Natur des Geistes durchdrungen und begegneten zugleich ihren Mitmenschen und anderen empfindenden Wesen voller Gte und Wohlwollen. Zwar sind, auch das habe ich gelernt, manche Menschen von Natur aus glcklicher als andere, dennoch ist dieses Glck gefhrdet und bleibt unvollstndig - eine Lebensweise zu pflegen, durch die man dauerhaftes Glck erreicht, ist eine Kunst. Es erfordert stndiges Bemhen, eine unablssige Schulung des Geistes und die Entwicklung einer Reihe von menschlichen Qualitten wie etwa Geistesruhe, Achtsamkeit und selbstlose Liebe. Alles, was mir helfen konnte, einen Weg zu einem erfllten Leben zu finden, kam hier auf stimmige Weise zusammen: eine tiefgrndige, gesunde Denkweise und zugleich das lebendige Beispiel derer, die in Wort und Tat Weisheit verkrpern. Weit und breit nicht die geringste Spur von dieser Tu nur, was ich sage, aber blo nicht, was ich tue -Attitde, die so viele Suchende auf der ganzen Welt entmutigt. Ich blieb weitere sieben Jahre in Darjeeling. Dort habe ich bis zu Kangyur Rinpoches Tod im Jahr 1975 in seiner Nhe gewohnt, studiert und meditiert; danach weiter in einer kleinen Einsiedlerhtte direkt oberhalb des Klosters. Ich lernte Tibetisch, das ich inzwischen im Alltag in Asien vorwiegend spreche. Damals lernte ich auch meinen zweiten wichtigen Lehrer kennen, Dilgo Khyentse Rinpoche, mit dem ich dreizehn unvergessliche Jahre in 19

Bhutan und Indien verbrachte. Er war einer der groen Erleuchteten seiner Zeit. Von allen - vom Knig von Bhutan bis zum einfachsten Bauer - verehrt, wurde er auch zu einem Lehrer und Vertrauten des Dalai Lama. Als ein Mensch, dessen innere Reise zu den tiefsten Ursprngen des Wissens gefhrt hatte, war er fr alle, die ihm begegneten, eine Quelle der Gte, der Weisheit und des Mitgefhls. In einem nicht enden wollenden Strom kamen andere spirituelle Lehrer und Schler zu ihm, um bei ihm zu lernen. Als ich also anfing, tibetische Schriften in westliche Sprachen zu bersetzen, traf ich immer Menschen, die wandelnde Schatzkammern des Wissens waren und mir bei unklaren Textstellen weiterhelfen konnten. Ich diente auch als Khyentse Rinpoches Dolmetscher und reiste mit ihm nach Europa und nach Tibet, als er nach dreiig Jahren im Exil zum ersten Mal in das Land der Schneeberge zurckkehrte. In Tibet standen nur noch Ruinen. Sechstausend Klster waren zerstrt worden, und viele Menschen, die berlebt hatten - und nicht wie eine Million Tibeter an Hunger und Verfolgung gestorben waren hatten fnfzehn oder gar zwanzig Jahre in Arbeitslagern zugebracht. Khyentse Rinpoches Rckkehr war wie ein Sonnenaufgang nach einer langen finsteren Nacht. In Indien, und spter in Bhutan, fhrte ich ein einfaches Leben. Ich bekam alle paar Monate einen Brief, hatte kein Radio und wusste wenig von dem, was drauen in der Welt vor sich ging. Im Jahr 1979 begann Khyentse Rinpoche mit dem Bau eines Klosters in Nepal, um das tibetische Erbe zu bewahren. Knstler, Gelehrte, Meditierende, Philanthropen und viele andere strmten scharenweise ins Kloster Shechen. Seit Khyentse Rinpoches Tod im Jahr 1991 habe ich fast ununterbrochen dort 20

gelebt und seinem Enkel Rabjam Rinpoche, dem Abt des Klosters, geholfen, die Vision unseres Lehrers zu verwirklichen. Eines Tages erhielt ich einen Anruf aus Frankreich und wurde gefragt, ob ich bereit sei, Gesprche mit meinem Vater zu fhren und diese als Buch zu verffentlichen. Ich nahm den Vorschlag nicht besonders ernst und antwortete: Dagegen htte ich nichts einzuwenden. Fragen Sie mal meinen Vater. Damit sei die Sache erledigt, dachte ich, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein agnostisch eingestellter Vater einem in Buchform verffentlichten Dialog mit einem buddhistischen Mnch zustimmen wrde, auch wenn der Mnch sein eigener Sohn war. Aber da hatte ich mich geirrt. Bei einem Mittagessen schlug die Verlegerin meinem Vater verschiedene Buchideen vor, die er prompt alle ablehnte, whrend er sich weiter den kulinarischen Genssen widmete. Doch als die Verlegerin ihm beim Nachtisch den Dialog vorschlug, erstarrte er und antwortete nach ein paar Sekunden des Schweigens: Das kann ich nicht ablehnen. Von da an sollte es aus und vorbei sein mit meinem ruhigen, anonymen Leben. Als ich von seiner Antwort erfuhr, war ich ein wenig beunruhigt, denn ich frchtete, dass mein Vater, der dafr bekannt war, die Auffassungen anderer, die er fr falsch hielt, gnadenlos zu demontieren, mich komplett auseinandernehmen wrde. Zum Glck fand das Zusammentreffen in meinem Revier statt. Mein Vater kam nach Nepal, und wir verbrachten zehn Tage in einer Herberge im Wald ber dem Kathmandu-Tal. Dort nahmen wir auch unsere Gesprche auf: anderthalb Stunden am Morgen und eine Stunde am Nachmittag. Den Rest des Tages streiften wir gemeinsam durch die Wlder. Mein Vater 21

muss wohl etwas besorgt gewesen sein, die Debatte werde vielleicht nicht seinem intellektuellen Niveau entsprechen, denn am Ende des ersten Tages schickte er unserer Verlegerin Nicole Lattes ein Fax, um ihr mitzuteilen: Es luft gut. Ich hatte meinerseits eine lange Liste von Themen zusammengestellt. Als er zum ersten Mal einen Blick darauf warf, rief er aus: Aber das ist ja alles, worber die Philosophen in den letzten zwei Jahrtausenden diskutiert haben! Wie dem auch sei, wir machten weiter, die Tage vergingen, und bei unserer letzten Sitzung kam er mit der Liste an, auf der er noch ein paar unbehandelte Themen gefunden hatte, und sagte: Sieh mal, darber haben wir noch gar nicht diskutiert. Unser Buch mit dem Titel Der Mnch und der Philosoph war im Handumdrehen ein Erfolg. In Frankreich wurden ber 350 000 Exemplare gedruckt, und es wurde in einundzwanzig Sprachen bersetzt. Ich wurde zu unzhligen Fernsehshows eingeladen und in einen Strudel von Medienaktivitten hineingezogen. Einerseits war ich glcklich darber, manche Ideen, die ich sehr schtzte und die mein Leben so sehr bereichert hatten, mit anderen teilen zu knnen. Zugleich machte mir diese Episode jedoch bewusst, in welchem Ma Berhmtheit etwas knstlich Herbeigefhrtes ist. Ich war noch derselbe Kerl, pltzlich aber zu einer Person des ffentlichen Interesses geworden. Allmhlich dmmerte mir auch, dass ich bald ber mehr Geld verfgen wrde, als ich mir jemals vorgestellt hatte. Das war eine ziemliche Umstellung, nachdem ich all die Jahre in Indien mit 50 Dollar im Monat ausgekommen war. Da ich nicht vorhatte, mir ein groes Haus mit Swimmingpool zu kaufen, beschloss ich, alles Geld aus dem Erls und den Rechten fr dieses und alle folgenden 22

Bcher einer Stiftung zu spenden, die humanitre Projekte und Bildungsprogramme in Asien durchfhrt. Nach dieser Entscheidung fiel eine Last von mir ab. Humanitre Projekte sind seither zu einem zentralen Thema in meinem Leben geworden. Zusammen mit ein paar engagierten ehrenamtlichen Freunden und grozgigen Gnnern ist es uns, inspiriert durch meinen Abt Rabjam Rinpoche gelungen, mehr als dreiig Kliniken und Schulen in Tibet, Nepal und Indien zu bauen und zu betreiben. Und dann wandte ich mich wieder der Wissenschaft zu. Das geschah in zwei Schritten: Im ersten Schritt ging es um Physik und die Beschaffenheit der ueren Wirklichkeit, im zweiten um die Kognitionswissenschaften und die Natur des Geistes. Dem Vorschlag des berhmten Astrophysikers Trinh Xuan Thuan von der University of Virginia, einen Dialog ber Buddhismus und Wissenschaft zu fhren, konnte ich nicht widerstehen, da ich schon lange viele Fragen in Bezug auf die Natur der ueren Welt - die Welt der Phnomene - gesammelt hatte, die ich gerne an einen Physiker richten wollte. Wir trafen uns schlielich 1997 in der Sommeruniversitt von Andorra. Whrend langer gemeinsamer Spaziergnge durch die majesttische Landschaft der Pyrenen fhrten wir einige hchst faszinierende Gesprche. Sind Atome Dinge oder lediglich beobachtbare Phnomene? Hlt die Vorstellung von einem Ursprung des Universums einer grndlichen Analyse stand? Gibt es eine konkrete Wirklichkeit hinter dem Schleier der ueren Erscheinungen? Ist das Universum ein Zusammenspiel aus sich wechselseitig beeinflussenden Geschehnissen oder besteht es aus voneinander unabhngigen Entitten? Wir entdeckten verblffende hnlichkeiten zwischen der Deutung der Quantenphysik im Sinn der Kopen23

hagener Schule und der buddhistischen Sicht der Wirklichkeit. Weitere Treffen folgten, und daraus entstand schlielich das Buch Quantum und Lotus. Bei diesem Dialog ging es vorrangig um die philosophischen, ethischen und menschlichen Aspekte der Wissenschaft. Der nchste Schritt, mit dem ich immer noch voll beschftigt bin, war dann die Mitarbeit an wissenschaftlichen Studien ber den Kern der buddhistischen Praxis: die Umwandlung, oder Transformation, des Geistes. Mein inzwischen verstorbener spiritueller Freund Francisco Varela, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurowissenschaften, hatte mir stets gesagt, es gelte den Weg der Zusammenarbeit zwischen den Naturwissenschaften und den buddhistischen Meditierenden zu beschreiten. Denn darin liege ein ungeheures Potenzial - nicht nur fr das Verstndnis des menschlichen Geistes, sondern auch fr die konkrete Durchfhrung wissenschaftlicher Experimente. Francisco hatte zusammen mit dem amerikanischen Geschftsmann Adam Engle das Mind and LifeInstitut gegrndet, um in diesem Rahmen Begegnungen zwischen hochrangigen Wissenschaftlern und dem Dalai Lama, der von jeher groes Interesse an wissenschaftlichen Fragen hatte, zu frdern und zu organisieren. An den Konferenzen des Mind and Life -Instituts in Dharamsala, dem Hauptaufenthaltsort des Dalai Lama in Indien, nahm ich im Jahr 2000 erstmals teil. Damals ging es um das Thema destruktive Emotionen. Es war ein wirklich faszinierendes Treffen mit einigen der fhrenden Wissenschaftlern auf diesem Gebiet, unter anderen Francisco Varela, Richard J. Davidson und Paul Ekman. Geleitet wurde die Veranstaltung von Daniel Goleman. Die fnftgige Gesprchsreihe war gekennzeichnet durch groe Klarheit, Offenheit und den von Herzen kommen24

den Wunsch, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, um einen besonderen Beitrag zum Wohl der Menschheit zu leisten. Ich war gebeten worden, die buddhistische Auffassung zu den verschiedenen Mglichkeiten, wie man mit Emotionen umgehen kann, darzulegen. Ich fhlte mich wie ein Schuljunge vor einer Prfung. Denn es machte mich ein wenig verlegen, dies in Gegenwart des Dalai Lama zu tun, der mit dem Thema hundertmal besser vertraut war als ich. Gut zehn Jahre lang hatte ich immer wieder einmal als Franzsisch-Dolmetscher fr den Dalai Lama gearbeitet. Also schlpfte ich im Geist in meine gewohnte Rolle des Dolmetschers, und indem ich mich auf das aus den Wissenschaftlern und mehr als fnfzig Zuhrern bestehende Publikum konzentrierte, versuchte ich die Essenz dessen zu vermitteln, was ich von meinen Lehrern gelernt hatte. Im Laufe der Konferenz zeichnete sich ab, dass ein gemeinsames Forschungsprojekt daraus hervorgehen wrde. Wir planten, Menschen mit langjhriger Meditationserfahrung in Forschungslabors einzuladen, um an ihnen die Auswirkungen dieser langjhrigen geistigen Schulung zu studieren. Wie wrde sich ihre Fhigkeit, mit Emotionen umzugehen, und vielleicht sogar das Gehirn selbst verndert haben? Die praktische Umsetzung solcher Studien war schon immer einer von Franciscos Trumen gewesen. In Kooperation mit Richard Davidson und Paul Ekman wurde ein Plan fr das weitere Vorgehen ausgearbeitet. Die Geschichte dieser fortdauernden Zusammenarbeit, in die ich inzwischen eng eingebunden bin, knnen Sie in Daniel Golemans Buch Dialog mit dem Dalai Lama - Wie wir destruktive Emotionen berwinden knnen und im Kapitel 16 des vorliegenden Buches nachlesen. Es war schon ein aufregender Schritt fr mich, nach nahezu dreiig Jahren wieder in die Welt der Wissen25

schaft zurckzukehren - noch dazu in Zusammenarbeit mit so herausragenden Wissenschaftlern. Ich war wirklich gespannt, zu erfahren, ob die neuesten wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden wohl Aufschluss darber geben knnten, inwieweit verschiedene Meditationszustnde wie das ruhige Verweilen in einsgerichteter Meditation oder das Entwickeln von Mitgefhl ihren unverkennbaren Ausdruck in den Gehirnstrukturen finden. Auerdem wollte ich sehr gerne herausfinden, ob die Resultate innerhalb einer Gruppe von erfahrenen Meditierenden hnlich ausfallen wrden und inwiefern sie sich von den Resultaten bei meditativ ungebten Menschen unterscheiden wrden. Seither habe ich die inspirierende, warmherzige Atmosphre, in der die Zusammenarbeit hier erfolgt, in vollen Zgen genossen. Jetzt, zum Zeitpunkt der Verffentlichung erster wissenschaftlicher Dokumentationen zu diesen Studien, bin ich davon berzeugt, dass wir an der Schwelle zu bahnbrechenden Forschungsergebnissen stehen. In den vergangenen Jahren habe ich mich auerdem immer intensiver mit der Fotografie beschftigt und fnf Fotobnde verffentlicht. Ich schtze mich glcklich, die innere Schnheit derer, mit denen ich zusammenlebe, und die uere Schnheit ihrer Welt durch Bilder mit anderen teilen und dadurch vielleicht ein wenig Hoffnung wecken zu knnen in Bezug auf die Mglichkeiten, die der menschlichen Natur innewohnen. Weshalb also jetzt ein Buch ber Glck? Am Anfang stand ein typisches Beispiel fr die sogenannte franzsische Ausnahme. Einige franzsische Intellektuelle betrachten Glck mit Geringschtzung und vertreten ihre Meinung dazu sehr lautstark. Auf Anregung einer franzsischen Zeitschrift habe ich mich mit einem von ihnen 26

auseinandergesetzt und anschlieend gedacht, sollte ich je wieder ein Buch schreiben, dann wrde es mindestens ein Kapitel zum Thema Glck enthalten. In der Zwischenzeit verbrachte ich mit Paul Ekman, Richard Davidson und Alan Wallace zwei Tage in der wilden Kstenlandschaft im Norden Kaliforniens, wo wir einen Artikel mit dem Titel Emotionen und Wohlbefinden aus buddhistischer und psychologischer Sicht3 verfassten. Dieses Thema, so war mir bewusst geworden, ist derart bedeutsam fr das menschliche Leben, dass es eine umfassende Untersuchung verdient. Ein Jahr lang las ich alles ber Glck und Wohlbefinden, was ich nur in die Finger bekommen konnte - in den Werken von westlichen Philosophen, Sozialpsychologen, Naturwissenschaftlern und sogar in der Regenbogenpresse. In Boulevardzeitungen werden hufig die Ansichten bestimmter Personen zum Thema Glck abgedruckt, wie etwa die einer franzsischen Schauspielerin, die sagte: Fr mich besteht Glck darin, einen Teller mit leckeren Spaghetti zu essen. Oder etwa: Spazieren gehen im Schnee unter sternenklarem Himmel, und so weiter. Die vielen Definitionen von Glck, die ich fand, widersprachen einander hufig, und sie schienen mir reichlich vage oder oberflchlich. Inspiriert durch die analytische und kontemplative Wissenschaft des Geistes, die ich dank der Gte meiner Lehrer kennengelernt hatte, unternahm ich also den Versuch, zu klren, worin wirkliches Glck - und natrlich auch das Leid besteht und wodurch beides zustande kommt. Als das Buch in Frankreich erschien, lste es landesweite Diskussionen aus. Die oben genannten Intellektuellen bekrftigten, an Glck seien sie nicht interessiert, und verwarfen den Gedanken, dass es sich hierbei um eine Fertigkeit beziehungsweise eine Lebenskunst handeln 27

knne, die man erlernen und in der man sich schulen kann. Ein Autor schrieb einen Artikel, in dem er mich aufforderte, die Leute nicht lnger mit den schmutzigen Machenschaften des Glcks zu behelligen. In einer anderen Zeitschrift erschien ein Artikel mit dem Titel Die Hexer des Glcks. Nach einem schrecklichen Monat in Paris mit hitzigen Debatten und viel Medienrummel fhlte ich mich wie ein in seine Einzelteile zerlegtes Puzzle. Nur zu gerne kehrte ich wieder in die Berge Nepals zurck, wo ich die Teile wieder zusammenfgen und ganz werden konnte. Mein Leben ist zwar hektischer geworden, aber das Kloster Shechen in Nepal bildet weiterhin meinen Lebensmittelpunkt. Nach wie vor verbringe ich zwei Monate pro Jahr in meiner Einsiedlerhtte mit Blick auf die Gipfel des Himalaya. Vor mir liegt zweifelsohne noch ein langer Weg mit praktischen bungen und manchen Mhen, bevor ich wahre innere Freiheit erlangen werde. Doch ich geniee diese Reise in vollen Zgen. Das Leben zu vereinfachen, um ihm seine Quintessenz abzugewinnen - das war fr mich mit Sicherheit die lohnendste aller Unternehmungen. Und vereinfachen bedeutet nicht, aufgeben zu mssen, was tatschlich gut fr uns ist, sondern herauszufinden, was wirklich wichtig ist und uns dauerhaft Erfllung, Freude, Gelassenheit, vor allem aber den durch nichts zu ersetzenden Segen selbstloser Liebe bringt. Es bedeutet, sich selbst zu verndern, um die Welt zu verndern. Als ich zwanzig war - das fllt mir ein, whrend ich ein Resmee ziehe in Bezug auf dieses Buch hatten die Worte Glck und Gte keine groe Bedeutung fr mich. Ich war ein typischer junger Pariser Student, der sich die 28

Filme von Eisenstein und den Marx Brothers ansah, Musik machte, im Mai 68 in der Nhe der Sorbonne Barrikaden baute und demonstrierte, ansonsten gerne Sport trieb und die Natur liebte. Aber wie ich mein Leben fhren sollte, davon hatte ich damals keine genaue Vorstellung; auer jeden Tag aufs Neue zu improvisieren. Ich sprte zwar irgendwie, dass in mir und anderen ein Potenzial vorhanden war, das sich auf fruchtbare Weise entfalten konnte, hatte allerdings keine Ahnung, wie ich dieses Potenzial verwirklichen sollte. Fnfunddreiig Jahre spter liegt immer noch ein langer Weg vor mir, aber zumindest ist mir die Richtung klar, und ich geniee jeden Schritt auf diesem Weg. Deshalb ist dieses Buch, obwohl von buddhistischem Geist erfllt, kein buddhistisches Buch im Gegensatz zu einem christlichen oder agnostischen Buch. Ich habe es aus dem Blickwinkel einer weltlichen, skularen Spiritualitt geschrieben - ein Thema, das auch dem Dalai Lama sehr am Herzen liegt. Daher ist es auch nicht fr die Buddhismus-Regale in den Buchlden bestimmt, sondern fr das Herz und den Verstand eines jeden Menschen, der sich ein bisschen mehr Lebensfreude wnscht und zugleich mchte, dass in seinem Leben Weisheit und Mitgefhl den Ton angeben.

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Kapitel 1

Eine kurze Betrachtung ber das GlckJeder Mensch will glcklich werden; um das Ziel aber zu erreichen, msste er zunchst wissen, was das Glck eigentlich sei. Jean-Jacques Rousseau Eine gute Bekannte aus den USA, als Fotoredakteurin sehr erfolgreich, hat mir einmal von einer Unterhaltung erzhlt, die kurz nach der Abschlussprfung an ihrem College im Freundeskreis stattfand. Alle stellten sich damals die Frage, was sie mit dem Leben anfangen sollten. Auf ihre uerung: Ich will glcklich sein hatte sich zunchst betretenes Schweigen breitgemacht. Dann fragte eine ihrer Freundinnen: Wie kann es sein, dass sich jemand mit deiner Intelligenz nicht mehr vom Leben wnscht, als glcklich zu sein? Worauf meine Bekannte erwiderte: Ich habe nicht gesagt, wie ich glcklich sein will. Es gibt so viele Mglichkeiten, sein Glck zu finden: Man kann eine Familie grnden, Kinder bekommen, Karriere machen, Abenteuer erleben, anderen Menschen helfen, inneren Frieden finden. ... Aber was ich letzten Endes auch tun werde, ich mchte wirklich glcklich werden im Leben. Das Wort Glck, schreibt Henri Bergson, wird gewhnlich verwendet, um ein komplexes und unbestimmtes Phnomen zu beschreiben, eine jener Vorstellungen, die wir Menschen absichtlich unbestimmt gelassen haben, damit jeder Einzelne sie auf seine ureigene Weise interpretieren kann.1 31

Ginge es um ein mehr oder weniger nebenschliches Gefhl, dann wre es im Grunde ja einerlei, ob die Definition des Wortes Glck vage bleibt. Doch weit gefehlt: Hier geht es um ein Lebensgefhl, um einen Wirklich-keitsaspekt, von dem die Qualitt jedes einzelnen Augenblicks in unserem Leben abhngt. Was genau ist also Glck? Soziologen definieren Glck als den Grad, in dem ein Mensch die allgemeine Qualitt seines gegenwrtigen Lebens insgesamt positiv bewertet, mit anderen Worten, wie sehr die betreffende Person das Leben mag, das sie fhrt.2 Diese Definition unterscheidet jedoch nicht zwischen tiefer innerer Zufriedenheit und der bloen Wertschtzung uerer Lebensumstnde. Fr manche Menschen ist Glck nur ein momentanes, flchtiges Gefhl, dessen Intensitt und Dauer von der Verfgbar-keit jener Ressourcen abhngt, die es ermglichen.3 Solches Glck muss zwangslufig flchtig und von Umstn-den abhngig sein, die sich nur allzu oft unserer Kontrolle entziehen. Fr den Philosophen Robert Misrahi bedeutet Glck dagegen, dass ein Mensch strahlt vor Freude ber seine Existenz insgesamt oder ber den lebendigsten Teil seiner aktiven Vergangenheit, realen Gegenwart oder vorstellbaren Zukunft.4 Hierbei handelt es sich vielleicht um einen dauerhafteren Zustand. Andre Comte-Sponville sagt dazu: Mit Glck meinen wir jeden Zeitraum, in dem Freude uns unmittelbar mglich scheint.5 Ist Glck eine Fertigkeit, die uns, haben wir sie erst einmal erworben, durch die Hhen und Tiefen des Lebens trgt? Man kann sich tausenderlei Gedanken ber das Glck machen, und unzhlige Philosophen haben die ihren beigesteuert. Fr den heiligen Augustinus ist Glck ein Jubilieren in der Wahrheit. Fr Immanuel Kant muss Glck rational und ohne jede persnliche Frbung 32

sein, whrend es fr Marx mit Wachstum durch Arbeit zu tun hat. ber die Frage, was Glck ist, lsst sich streiten, schrieb Aristoteles, aber die volkstmliche Vorstellung davon unterscheidet sich von derjenigen der Philosophen. Wurde das Wort Glck so berstrapaziert, dass die Menschen es inzwischen meiden, angewidert von den Illusionen und Banalitten, die ihnen dabei in den Sinn kommen? Auch nur ber die Suche nach Glck zu sprechen grenzt fr manche Leute schon an Geschmacklosigkeit. Von ihrem Panzer intellektueller Selbstgeflligkeit geschtzt, rmpfen sie die Nase, wie sie dies angesichts eines Kitschromans tun wrden. Was hat zu dieser Geringschtzung gefhrt? Ist sie die Antwort auf das knstliche Glck, das uns die Medien anbieten? Ist sie das Resultat unserer gescheiterten Bemhungen, wahres Glck zu finden? Sollten wir uns besser mit dem Unglck abfinden, anstatt einen echten und intelligenten Versuch zu wagen, das Glck aus dem Leid herauszuschlen? Was ist mit dem einfachen Glck, das wir empfinden knnen - beim Lcheln eines Kindes oder bei einer guten Tasse Tee nach einem Waldspaziergang? Wie bereichernd oder trstlich solche echten Glcksmomente auch sein mgen, sie sind zu stark an bestimmte Ereignisse oder Situationen gekoppelt, als dass in ihrem Licht unser ganzes Leben erstrahlen knnte. Glck kann nicht auf ein paar angenehme Empfindungen, ein intensives Vergngen, ein Aufflackern der Freude, ein flchtiges Gefhl von Heiterkeit, einen frhlichen Tag oder auf einen magischen Moment reduziert werden, der uns unerwartet aus dem Labyrinth unseres Daseins heraushebt. Diese unterschiedlichen Facetten reichen, fr sich genommen, noch 33

nicht aus, um uns einen angemessenen Eindruck von jener tiefen und dauerhaften Erfllung zu vermitteln, durch die sich wahres Glck auszeichnet. Mit Glck meine ich hier das tief empfundene Gefhl eines auf innerem Reichtum, ja berfluss beruhenden Wohlbefindens, das einem besonders gesunden Geist entspringt. Dieses ist nicht einfach nur ein angenehmes Gefhl, eine flchtige Emotion oder Stimmung, sondern ein nicht zu bertreffender Seinszustand. Glck beinhaltet aber auch, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise deuten zu knnen. Denn die Welt zu ndern mag schwierig sein, die Art und Weise, wie wir sie betrachten, knnen wir hingegen jederzeit ndern.

Ein Vorgeschmack von Glck Obwohl Berta Young schon dreiig war, gab es in ihrem Leben immer noch Augenblicke wie diesen, wo sie lieber rennen mchte, anstatt zu gehen, ber das Straenpflaster hpfen, einen Reifen drehen, etwas in die Luft werfen und wieder auffangen, oder stehen bleiben und - ohne Grund - lachen, einfach ohne Grund. ... Was kann man machen, wenn man dreiig ist und beim Einbiegen in die eigene Strae unversehens von einem Gefhl der Glckseligkeit - absoluter Glckseligkeit! - erfasst wird, als htte man pltzlich ein groes Stck von dieser leuchtenden Sptnachmittagssonne verschluckt, das in der Brust ein feuriges Gefhl hervorruft und einen kleinen Funkenregen in jede Zelle, jeden Finger und jede Zehe sendet? Katherine Mansfield, Seligkeit6

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Bitten Sie eine beliebige Anzahl von Menschen, Ihnen einen Augenblick vollkommenen Glcks zu beschreiben. Einige werden von Momenten tiefen Friedens erzhlen, die sie an einem schnen Ort in der Natur erlebt haben, dem Spiel von Licht und Schatten in einem Wald bei Sonnenschein, von einem am Horizont aufragenden Berggipfel, vom Ufer eines stillen Sees oder von einem nchtlichen Spaziergang durch eine verschneite Landschaft unter sternenklarem Himmel. Andere werden von einem lange herbeigesehnten Ereignis berichten: einem mit Bravour bestandenen Examen, einem triumphalen Erfolg im Sport, einer Begegnung, der sie entgegengefiebert hatten, oder von der Geburt eines Kindes. Wieder andere werden ber einen Moment des friedlichen Beisammenseins mit ihrer Familie oder einem geliebten Menschen sprechen; oder ber eine Situation, in der sie jemanden glcklich machen konnten. Der gemeinsame Nenner bei all diesen Erlebnissen scheint die vorbergehende Abwesenheit von inneren Konflikten zu sein. Die betreffende Person fhlt sich im Einklang mit sich und der Welt. Bei einer solchen Erfahrung, nehmen wir als Beispiel einen Spaziergang durch stille, unberhrte Natur, hegt man keine besondere Erwartung. Man begngt sich mit dem schlichten Akt des Gehens. Man ist einfach, hier und jetzt, frei und offen. Fr wenige Augenblicke sind alle Gedanken an die Vergangenheit verschwunden. Von Zukunftsplnen unbelastet, weilt der Geist im gegenwrtigen Moment und ist nicht lnger damit beschftigt, Gedankengebude zu errichten. Diese Atempause, dieser Moment, aus dem jedes Gefhl von Dringlichkeit, von emotionaler Bedrngnis, gewichen ist, wird als tiefer Frieden empfunden. Bei einem Menschen, der ein Ziel erreicht, eine Auf35

gbe gemeistert oder einen Sieg errungen hat, lst sich die innere Spannung, unter der er lange Zeit stand. Das darauf folgende Gefhl der Befreiung wird als tiefe innere Ruhe wahrgenommen, frei von jeder Erwartung oder Angst. Aber diese Erfahrung ist lediglich ein Vorgeschmack auf das Glck, ein flchtiger Augenblick, der nur aufgrund ganz bestimmter uerer Umstnde zustande kommt. Wir nennen das einen magischen Moment, einen Zustand der Gnade. Und doch ist der Unterschied zwischen diesen vorbergehenden Glcksmomenten und dem dauerhaften, keinem Wandel unterworfenen inneren Frieden des Weisen so gro wie derjenige zwischen dem winzigen Ausschnitt des Himmels, den man durch ein Nadelhr sieht, und der grenzenlosen Ausdehnung des ueren Raumes. Diese beiden Zustnde unterscheiden sich in ihrer Tragweite, Dauer und Tiefe. Trotzdem knnen wir etwas lernen aus diesen flchtigen Momenten, diesen Atempausen in unserem endlosen Ringen. Sie knnen uns einen Eindruck vom Zustand wahrer Erfllung vermitteln und uns helfen, zu erkennen, welche Umstnde diesen begnstigen.

Ein SeinszustandIch erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich auf der Treppe zu unserem Kloster sa. Die Monsunstrme hatten den Vorplatz in eine Art Schlammsee verwandelt, und wir hatten einen kleinen Trampelpfad aus Ziegelsteinen angelegt. Nach einiger Zeit tauchte eine Bekannte am Rand der riesigen Wasserlache auf, betrachtete die Szenerie angewidert und beklagte sich, whrend sie herber36

kam, ber jeden einzelnen Ziegelstein. Bei mir angelangt, verdrehte sie die Augen und sagte: Igitt! Und wenn ich nun in diesen widerlichen Dreck gefallen wre? In diesem Land ist alles so schmutzig! Da ich sie gut kannte, nickte ich freundlich, in der Hoffnung, sie mit meiner schweigenden Sympathiebekundung ein bisschen zu trsten. Ein paar Minuten spter kam Raphaele, eine andere Bekannte, und hpfte ber den Ziegelsteinpfad durch das morastige Gelnde. Hopp, hopp, hopp, sang sie dabei vor sich hin, bis sie mit dem Ausruf: Was fr ein Spa! trockenes Land erreichte. Ihre Augen strahlten, als sie hinzufgte: Das Groartige am Monsun ist, dass es dann keinen Staub gibt. Zwei Menschen, zwei Sichtweisen; sechs Milliarden Menschen, sechs Milliarden Welten. Viel ernster hatte mir Raphaele einst von einer Begegnung erzhlt, die sie 1986 bei ihrem ersten Besuch in Tibet mit einem Mann gehabt hatte, der whrend der chinesischen Invasion Schreckliches durchmachen musste. Er lud mich ein, auf einer Bank neben ihm Platz zu nehmen, und bot mir etwas Tee an, den er in einer groen Thermoskanne dabeihatte. Zum ersten Mal berhaupt sprach er mit einem Menschen aus dem Westen. Wir lachten viel, wirklich ein zauberhafter Mensch. Immer mehr Kinder kamen herbei und starrten uns verwundert an. Und er stellte mir Fragen ber Fragen. Dann erzhlte er mir, dass die chinesischen Besatzer ihn zwlf Jahre lang gefangen gehalten hatten. Er war dazu verurteilt worden, Steine fr einen Damm zu hauen, der seinerzeit im DrakYerpa-Tal gebaut wurde. Der Damm war vollkommen nutzlos, denn fast das ganze Jahr ber fhrte das Flussbett kein Wasser! Alle seine Freunde, die dort mit ihm arbeiten mussten, starben einer nach dem anderen an Hunger und Erschpfung. Doch trotz seiner furchtbaren 37

Geschichte war nicht die geringste Spur von Hass in seinen Worten oder seinen Augen, die vor Gte strahlten. An diesem Abend fragte ich mich beim Einschlafen, wie jemand, der so viel gelitten hatte, so glcklich wirken konnte. Ein Mensch, dem innerer Frieden zuteil geworden ist, verzweifelt weder angesichts einer Katastrophe, noch verleitet Erfolg ihn zu Hochmut. Er kann seine Erfahrungen in groer Gelassenheit durchleben, denn er wei und versteht, dass Erfahrungen flchtig sind und es keinen Sinn macht, daran anzuhaften. Fr ihn ist es kein harter Schlag, wenn die Dinge eine ungnstige Wendung nehmen und er mit Missgeschicken konfrontiert wird. Er verfllt nicht in Depressionen, denn sein Glcksempfinden ruht auf einem soliden Fundament. Ein Jahr vor ihrem Tod in Auschwitz schrieb die bemerkenswerte junge Hollnderin Etty Hillesum: Wenn man ein inneres Leben hat, spielt es mit Sicherheit keine Rolle, auf welcher Seite des Gefngniszauns man sich befindet. ... Ich bin schon tausend Mal in tausend Konzentrationslagern gestorben. Das alles kenne ich. Es gibt keine Neuigkeiten, die mich beunruhigen knnten. Auf die eine oder andere Weise wei ich schon alles. Und dennoch empfinde ich dieses Leben als schn und sinnvoll. In jedem Augenblick.7 Bei einer ffentlichen Veranstaltung in Hongkong stand einmal ein junger Mann auf und fragte mich: Knnen Sie mir einen einzigen Grund nennen, warum ich weiterleben sollte? Dieses Buch unternimmt einen bescheidenen Versuch, auf diese Frage zu antworten. Denn Glck besteht vor allem darin, das Leben zu lieben. Hat man jeden Beweggrund weiterzuleben verloren, bedeutet dies, dass sich ein Abgrund von Leid auftut. Wie einschneidend uere Umstnde auch sein mgen, Leid 38

ist genau wie Glck im Wesentlichen ein innerer Zustand. Diese Einsicht bildet die Grundvoraussetzung fr ein lebenswertes Leben. Die Frage lautet also: Welche Geisteszustnde rauben uns Lebensfreude, welche hingegen nhren sie? Wenn wir die Welt mit anderen Augen zu sehen beginnen, luft das keineswegs darauf hinaus, dass wir den Widrigkeiten des Lebens einen blauugigen Optimismus oder eine knstliche Euphorie entgegensetzen wollen. Solange wir Sklaven jener Unzufriedenheit und Frustration sind, die unserer inneren Verwirrung entspringen, ist es sinnlos, sich immer wieder zu sagen: Ich bin glcklich, ich bin glcklich. Genauso gut knnte man die Wand einer Ruine neu streichen. Bei der Suche nach dem Glck geht es nicht darum, das Leben durch eine rosarote Brille zu betrachten oder die Augen vor dem Leid und der Unvollkommenheit der Welt zu verschlieen. Glck ist auch kein erhabener Zustand, den es um jeden Preis aufrechtzuerhalten gilt. Vielmehr verlangt es von uns, dass wir den Geist von toxisch wirkenden Einflssen reinigen, etwa von Hass, Fanatismus und zwanghaften Vorstellungen aller Art, die ihn ansonsten im wahrsten Sinne des Wortes vergiften. Und es geht auch darum, zu lernen, wie man die Dinge relativieren und die Kluft zwischen den ueren Erscheinungen und der Wirklichkeit verringern kann. Um das zu erreichen, mssen wir mehr ber die Funktionsweise des Geistes und ber die Natur der Dinge in Erfahrung bringen, ihre tatschliche Beschaffenheit. Denn im Grunde geht Leid immer Hand in Hand mit einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit.

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Wirklichkeit und ErkenntnisWas meinen wir mit Wirklichkeit? Im Buddhismus steht das Wort fr die wahre Natur der Dinge, unbeeintrchtigt durch die gedanklichen Projektionen, mit denen wir sie berlagern. Letztere lassen eine Kluft zwischen unserer Wahrnehmung und der Wirklichkeit entstehen und fhren zu einem Dauerkonflikt mit der Welt. Wir interpretieren die Welt falsch und sagen, dass sie uns betrgt, schrieb Rabindranath Tagore.8 Vergngliches betrachten wir als etwas Dauerhaftes, und Dinge, die zur Quelle von Leid werden, halten wir fr Glck: das Verlangen nach Reichtum, Macht, Ruhm und die Befriedigung unserer Vergngungssucht. Mit Wissen meint der Buddhismus nicht die Aufnahme und Bewltigung einer Unmenge von Informationen, sondern eine Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Aus Gewohnheit nehmen wir die Auenwelt als eine Reihe getrennter, autonomer Gebilde oder Begebenheiten wahr, denen wir Eigenschaften zuordnen, die ihnen nach unserer berzeugung von Natur aus innewohnen. Unsere Alltagserfahrung sagt uns, dass Dinge gut oder schlecht sind. Und das Ich, das sie wahrnimmt, erscheint uns als ebenso konkret und real. Dieser Irrtum, der im Buddhismus Unwissenheit genannt wird, fhrt zu starken Reaktionen von Anhaftung und Ablehnung, die im Allgemeinen Leid zur Folge haben. Etty Hillesum bringt das mit wenigen Worten auf den Punkt: Das groe Hindernis ist immer die Erscheinung und nie die Wirklichkeit.9 Bei der Welt von Unwissenheit und Leid - auf Sanskrit Samsara - handelt es sich keineswegs um einen Grundzustand des Daseins, sondern um ein geistiges Universum, das auf unsere fehlerhafte Realittswahrnehmung zurckzufhren ist. 40

Die Welt der Erscheinungen wird durch das Wechselspiel unzhliger, sich stndig verndernder Ursachen und Bedingungen hervorgebracht. Wie ein Regenbogen, der sich bildet, wenn die Sonne durch eine Regenwand scheint, und sich wieder auflst, wenn einer der fr seine Entstehung mageblichen Faktoren verschwindet, existieren die Phnomene dieser Welt prinzipiell in Form eines wechselseitigen Bedingungsverhltnisses, in wechselseitiger Abhngigkeit voneinander, sind weder eigenstndig noch dauerhaft. Alles ist Beziehung; nichts existiert fr sich und aus sich selbst, immun gegenber den Krften von Ursache und Wirkung. Wenn wir dieses Grundprinzip erst einmal verstanden und verinnerlicht haben, weicht die fehlerhafte Wahrnehmung der Welt einem angemessenen Verstndnis, das sich auf die wahre Natur der Dinge und Lebewesen bezieht. So entsteht Einsicht. Mit Einsicht ist hier kein philosophisches Gedankengebude gemeint. Vielmehr entspringt sie einer Grundhaltung, die es uns ermglicht, nach und nach unsere geistige Blindheit und die durch sie hervorgerufenen strenden Emotionen - die Hauptursache unseres Leids - zu berwinden. Jedes Wesen trgt das Potenzial zur Vervollkommnung in sich, so wie jedes Sesamkrnchen von l durchtrnkt ist. Unwissenheit bedeutet in diesem Zusammenhang, sich dieses Potenzials nicht bewusst zu sein; wie ein Bettler, der nichts wei von dem unter seiner schbigen Htte vergrabenen Schatz. Die Verwirklichung unserer wahren Natur, die Inbesitznahme dieses verborgenen Schatzes, ermglicht uns ein sinnvolles, erflltes Leben. Das ist der sicherste Weg zu innerem Frieden und echter Selbstlosigkeit. Es gibt eine Ebene der Existenz, deren Abglanz sich in all unseren Gefhlszustnden zeigt, die all unseren Erfah41

rungen von Freude und Leid zugrunde liegt und sie zugleich in sich birgt: ein Glck, so tief, dass es, wie Georges Bernanos schrieb, von nichts berhrt werden kann - wie das gewaltige Reservoir stillen Wassers unterhalb einer sturmgepeitschten Oberflche.10 Das Sanskrit-Wort fr diesen Seinszustand heit sukha. Sukha bezeichnet jenen Zustand dauerhaften Wohlbefindens, der sich einstellt, wenn wir uns von geistiger Blindheit und qulenden Emotionen befreit haben. Zugleich bezeichnet sukha die Weisheit, die uns die Welt sehen lsst, wie sie ist - ohne Schleier, unverzerrt; auerdem die Freude, sich der inneren Freiheit zu nhern, und schlielich die Gte, die von uns auf andere ausstrahlt.

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Kapitel 2

Geht es im Leben darum, glcklich zu sein?Wir mssen uns also kmmern um das, was Glckseligkeit schafft. Denn ist sie da, besitzen wir alles. Ist sie hingegen nicht da, dann tun wir alles, um ihrer teilhaftig zu werden. Epikur Wer will schon leiden? Denkt irgendjemand morgens beim Aufwachen: Ach, knnte ich doch heute blo den ganzen Tag leiden? Bewusst oder unbewusst, gekonnt oder ungeschickt, voller Leidenschaft oder in aller Ruhe, auf der Suche nach Abenteuer oder inmitten unserer Alltagsroutine streben wir alle danach, glcklicher zu sein und weniger zu leiden. Dennoch verwechseln wir so oft echtes Glck mit der bloen Jagd nach angenehmen Gefhlen. An jedem Tag unseres Lebens finden wir tausend verschiedene Mittel und Wege, intensiv zu leben, Bande der Freundschaft und Liebe zu knpfen, unser Leben zu bereichern, unsere Lieben zu schtzen und diejenigen, die uns schaden knnten, auf Abstand zu halten. Wir investieren Zeit und Energie in diese Bemhungen, in der Hoffnung, dass sie uns und anderen Erfllung und Wohlbefinden bescheren werden. Aber auf welche Weise wir das Glck auch suchen, ob wir es nun Freude oder Pflicht nennen - ist nicht letzten Endes Glck das Ziel aller Ziele? Aristoteles bezeichnete es als das einzige Ziel, das wir stets um seiner selbst willen whlen und nicht als Mittel zu einem anderen Zweck. 43

Wer Gegenteiliges behauptet, wei im Grunde nicht, wonach er sucht. Er sucht sein Glck lediglich unter einem anderen Namen. Der Harvard-Professor Stephen Kosslyn, einer der fhrenden Wissenschaftler im Bereich der Erforschung von Visualisierungsprozessen, hat einmal zu mir gesagt, ihn treibe, wenn er morgens die Augen aufschlage, nicht der Wunsch, glcklich zu sein, aus dem Bett, sondern sein Pflichtgefhl, die persnliche Verantwortung fr seine Familie, seinen Mitarbeiterstab, seine Arbeit und die Menschheit allgemein. Das Wort Glck, so betonte er, komme in seinen berlegungen berhaupt nicht vor. Aber denken wir ein wenig darber nach: Die Befriedigung, die wir empfinden, wenn wir allen Schwierigkeiten und Hindernissen zum Trotz durch langfristige Anstrengung ein als lohnend erachtetes Ziel erreicht haben, weist zweifellos bestimmte Aspekte von wahrem Glck, sukha, auf. Wir erleben dann ein Gefhl innerer Ausgeglichenheit. Indem er seine Pflicht tut - und sogar, wenn er berzeugt ist, dass Entbehrungen und Leid den Charakter formen -, strebt auch ein solcher Mensch eindeutig nicht nach persnlichem Unglck oder nach Unglck fr die Menschheit. Oft haben wir einfach falsche Vorstellungen davon, wie dieser Zustand des Wohlbefindens zu erreichen sei. Darin liegt die Tragik. Zwar hegen wir den Wunsch, uns zum Vorteil zu verndern, doch die Unwissenheit macht uns einen Strich durch die Rechnung. Der tibetische Meister Chgyam Trungpa erlutert: Wenn wir von Unwissenheit sprechen, meinen wir nicht Dummheit. Auf eine bestimmte Art ist Unwissenheit sogar sehr intelligent. Allerdings handelt es sich um Einbahnstraen-Intelligenz - eine Intelligenz, die nur in der einen Richtung 44

funktioniert. Das heit, wir reagieren ausschlielich auf die eigenen Projektionen, statt einfach zu sehen, was da ist.1 Einem buddhistischen Lexikon zufolge ist Unwissenheit gleichbedeutend mit dem Unvermgen, die wahre Natur der Dinge sowie das fr Glck und Unglck magebliche Gesetz von Ursache und Wirkung zu erkennen. So behaupten zum Beispiel die Befrworter ethnischer Suberungen, die beste aller Welten schaffen zu wollen, und manche von ihnen sind offenbar zutiefst berzeugt, die von ihnen verbten Scheulichkeiten seien gerechtfertigt: Ihren egoistischen Impulsen folgend, sen sie Tod und Verderben und erwarten obendrein, mag dies auch total widersinnig und krank erscheinen, fr ihre Untaten eine Art Anerkennung. Aber Bswilligkeit, Verblendung, Verachtung und berheblichkeit knnen niemals der Weg zu echtem Glck sein. Nichtsdestoweniger strebt auch ein grausamer, fanatischer, selbstgerechter oder berheblicher Mensch, selbst wenn er noch so weit vom Weg abgekommen ist, blindlings nach Glck - in vlliger Unkenntnis seiner wahren Natur. Und ebenso ist ein Mensch, der Selbstmord begeht, um unertrglicher Qual ein Ende zu setzen, verzweifelt auf der Suche nach Glck. Wie knnen wir diese grundlegende Unwissenheit berwinden? Allein durch Ehrlichkeit und aufrichtige Selbsterforschung, fr die es zwei Mglichkeiten gibt: Analyse und Kontemplation. Analyse besteht darin, unvoreingenommen und systematisch jeden einzelnen Aspekt des eigenen Leids und jenes Leids, das wir anderen zufgen, einer eingehenden Betrachtung und Bewertung zu unterziehen. Dabei gilt es zu verstehen, welche Gedanken, Worte und Handlungen unweigerlich Schmerz 45

und Leid verursachen und welche von ihnen wohltuend sind. Aber zunchst einmal mssen wir natrlich erkennen, dass mit der Art und Weise, wie wir leben und handeln, etwas nicht in Ordnung ist, und den brennenden Wunsch verspren, uns zu ndern. Das ist die Grundvoraussetzung fr einen solchen Ansatz. Im Unterschied dazu erheben wir uns beim kontemplativen Ansatz fr einen Moment ber den Strudel der eigenen Gedanken und schauen still nach innen - als wrden wir eine innere Landschaft betrachten um herauszufinden, worauf es uns ganz besonders ankommt. Fr manche von uns mag das ein Leben sein, das wir in jedem Augenblick intensiv ausleben und in dem wir all die Kstlichkeiten ausprobieren, die uns Freude bereiten. Fr andere geht es vielleicht darum, bestimmte Ziele zu erreichen: eine Familie, gesellschaftlichen Erfolg, viel Freizeit oder - etwas bescheidener - ein Leben, in dem uns nicht unntig viel Leid widerfhrt. Doch jede dieser Formeln greift zu kurz. Wenn wir noch weiter in uns gehen, entdecken wir vielleicht, dass unser wichtigster, all den anderen Wnschen und Bestrebungen zugrunde liegender Wunsch derjenige nach einer inneren Zufriedenheit ist, deren Kraft ausreicht, unsere Liebe zum Leben zu nhren. Folgender Wunsch: Mge in meinem Leben und dem meiner Mitmenschen jeder Augenblick von Weisheit, fruchtbarer Weiterentwicklung und innerem Frieden zeugen!

Am Leid Gefallen finden?Ein Pariser Jugendlicher, mit dem ich ber Drogen sprach, sagte einmal zu mir: Wenn du zwischen der vorherigen und der nchsten Dosis nicht ein bisschen 46

abstrzt, weit du den Unterschied gar nicht recht zu schtzen. Fr die Momente der Euphorie nehme ich schon in Kauf, dass es mir in der Zwischenzeit ziemlich dreckig geht. Da ich meinen Schmerz nicht loswerden kann, nehme ich ihn eben an. Daran zu arbeiten, dass ich innerlich glcklich und zufrieden bin, interessiert mich nicht. Das ist zu schwierig und dauert mir zu lange. Ich will mein Glck sofort haben. Auch wenn es nicht echt ist und jedes Mal ein bisschen schwcher wird, hole ich es mir. Von diesem Standpunkt aus pldiert er also fr den flchtigen Sinnestaumel und tut die Suche nach tiefem und dauerhaftem inneren Frieden als Utopie ab. Doch obwohl das Leben vielleicht ein bisschen abwechslungsreicher wird, wenn es zwischendurch immer wieder lausige oder unglckliche Phasen gibt, strebt man diese nicht um ihrer selbst willen an, sondern weil sie als eine Art Kontrastprogramm die Verheiung von Vernderung in sich tragen. Fr den Autor Dominique Noguez ist Leid interessanter als Glck, weil es eine Lebendigkeit, eine uerst verlockende, luziferische Intensitt hat. Darber hinaus wirkt es dadurch so anziehend, ... dass es kein Ziel an und fr sich ist, sondern uns immer die Hoffnung auf etwas (auf Glck, genauer gesagt) lsst.2 Was fr ein verrcktes Karussell: Hier, noch ein bisschen mehr Schmerz, bevor du dein Glck genieen kannst! Das erinnert an den Geisteskranken, der sich mit dem Hammer auf den Kopf schlgt, um sich besser fhlen zu knnen, wenn er damit aufhrt. Kurzum: Dauerhaftes Glck ist demnach langweilig, weil es immer gleich bleibt, Leid demgegenber interessanter, weil es stets Abwechslung bietet. Wir schtzen solche Kontraste vielleicht, weil sie dem Leben ein wenig Wrze geben. Aber wer mchte 47

wirklich Augenblicke der Freude gegen Augenblicke des Leids eintauschen? Wre es da nicht eine bessere Idee, ja vielleicht sogar klug, Leid als Hilfsmittel fr die innere Transformation zu nutzen, um uns mitfhlend fr jene zu ffnen, die ebenso leiden wie wir - oder mehr. In diesem Sinn, und nur in diesem, sollten wir die Worte des rmischen Philosophen Seneca verstehen: Zu leiden schmerzt vielleicht, aber es ist kein bel. Es ist kein bel, wenn wir es, da wir es nicht vermeiden knnen, in einen Gewinn ummnzen, indem wir daraus lernen und uns verndern, whrend wir uns zugleich darber im Klaren sind, dass es an und fr sich nie etwas Gutes ist. Im Gegenteil, der Wunsch, glcklich zu sein, ist tief im Wesen des Menschen begrndet. Er ist die treibende Kraft hinter all unserem Handeln. Die lteste, selbstverstndlichste und zuverlssigste Konstante in dieser Welt ist nicht blo, dass wir glcklich sein wollen, sondern dass wir nur glcklich sein wollen. Unsere Natur verlangt es von uns, schrieb der heilige Augustinus in De beata vita (Vom glcklichen Leben). Dieser Wunsch motiviert so selbstverstndlich jede unserer Handlungen, jedes Wort, jeden Gedanken, dass er uns gar nicht bewusst ist; hnlich wie der Sauerstoff, den wir ein Leben lang einatmen, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden.

Alles, was wir brauchen, um glcklich zu seinSich Glck als die Verwirklichung all unserer Wnsche und Trume vorzustellen bedeutet, den berechtigten Wunsch nach innerer Erfllung mit einer Utopie zu verwechseln, die unweigerlich in Frustration endet. Kant 48

verweist Glck von vorneherein in die Sphre des Unerreichbaren, wenn er sagt: Glck ist die Befriedigung all unserer Wnsche in ihrer ganzen Vielfalt, in ihrem ganzen Ausma und in ihrer vollen Dauer3. Wenn er behauptet, dass Glck der Zustand eines Menschen sei, fr den sich alles seinem Willen und seinem Wunsche gem entwickelt4, mssen wir uns fragen, aufgrund welcher geheimnisvollen Prozesse denn alles nach unseren Wnschen und unserem Willen ablaufen knnte. Das erinnert mich an einen Dialog, den ich einmal in einem Gangsterfilm gehrt habe: Ich will, was mir zusteht. Was steht dir zu, Mann? Die Welt, Chico, mit allem, was in ihr ist. Selbst wenn, im Idealfall, die Befriedigung all unserer Wnsche erreichbar wre, wrde uns das nicht glcklich machen, sondern nur zur Entstehung immer neuer Wnsche oder, genauso wahrscheinlich, zu Gleichgltigkeit, berdruss und Depression fhren. Wieso Depression? Knnten wir uns selbst davon berzeugen, ob die Befriedigung all unserer Wnsche und Launen uns nun glcklich machen wrde oder nicht, dann liee uns das Zerplatzen dieser Illusion daran zweifeln, ob es so etwas wie Glck berhaupt gibt. Wenn ich mehr besitze, als ich jemals brauchen werde, und immer noch nicht glcklich bin, muss Glck ja ein Ding der Unmglichkeit sein. Ein gutes Beispiel dafr, wie sehr wir uns in Bezug auf die Ursachen des Glcks tuschen knnen. Tatsache ist, dass wir ohne Weisheit und inneren Frieden nichts von dem besitzen, was wir brauchen, um glcklich zu sein. Wenn unser Leben hin und her pendelt zwischen Hoffnung und Zweifel, Aufregung und Langeweile, Begierde und berdruss, knnen wir dieses Leben Stck fr Stck vergeu49

den, ohne es berhaupt zu merken, mal hierhin und mal dorthin rennen, ohne irgendwo anzukommen. Glck ist ein Zustand innerer Erfllung, nicht die Befriedigung des unerschpflichen Verlangens nach ueren Dingen.

Hngt unser Glck vom Glck der anderen ab?Unter all den unbeholfenen und bertriebenen Methoden und Wegen, von denen wir in dem Bestreben, unser Glck zu schmieden, mehr oder weniger blindlings Gebrauch machen, ist Egoismus besonders unfruchtbar. Wenn selbstschtiges Glck das einzige Ziel im Leben ist, wird das Leben bald ziellos, schrieb Romain Rolland.5 Selbst wenn uerlich alles auf ein glckliches Leben hinzuweisen scheint, knnen wir nicht wirklich glcklich sein, falls wir uns vom Glck der anderen abkoppeln. Das bedeutet keineswegs, dass wir unser persnliches Glck vernachlssigen sollen. Das eigene Verlangen nach Glck ist ebenso berechtigt wie das eines jeden anderen Menschen. Um andere lieben zu knnen, mssen wir lernen, uns selbst zu lieben. Damit ist nicht gemeint, ber die eigene Augenfarbe, Figur oder ein anderes Persnlichkeitsmerkmal ins Schwrmen zu geraten. Vielmehr sollten wir den tief empfundenen eigenen Wunsch, in jedem Augenblick unseres Daseins Sinn und Erfllung zu erfahren, gebhrend anerkennen. Sich selbst zu lieben heit im Grunde, das Leben zu lieben. Indem wir andere glcklich machen, machen wir uns selbst glcklich. Das sollten wir unbedingt verstehen. Kurzum: Ziel des Lebens ist es, in jedem Augenblick einen Zustand tiefen Wohlbefindens zu erfahren und einer Weisheit teilhaftig zu werden, die mit Liebe fr alle 50

Wesen einhergeht. Wahres Glck beruht auf jener Herzensgte, die allen Menschen ohne Unterschied ein sinnerflltes Leben wnscht. Eine solche Liebe bedeutet, stets fr andere da zu sein - frei von Eigeninteresse und ohne eine groe Sache daraus zu machen. Darin besteht die unwandelbare Einfachheit eines herzensguten Menschen.

BUNG:

Untersuchung der Glcksursachen Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um allein und in Stille herauszufinden, was Sie wirklich glcklich macht. Hngt Ihr Glck hauptschlich von ueren Umstnden ab? Wie viel davon ist auf Ihre innere Haltung und Ihre Art und Weise, die Welt zu erleben, zurckzufhren? Falls Ihr Glck auf ueren Umstnden beruht, sollten Sie berprfen, inwieweit auf diese Verlass ist. Und falls Sie es einem Zustand des Geistes verdanken, knnen Sie sich fragen, wie sich dieser noch weiter kultivieren lsst.

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Kapitel 3

Die beiden Seiten des Spiegels der Blick nach innen und der Blick nach auenDas Glck auerhalb von uns zu suchen gleicht dem Warten auf Sonnenschein in einer nach Norden gelegenen Hhle. Tibetisches Sprichwort Obwohl jeder von uns auf die eine oder andere Weise glcklich sein will, tut sich zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine tiefe Kluft auf. Darin besteht die menschliche Tragdie. Wir frchten das Leid, rennen ihm jedoch in die Arme. Wir sehnen das Glck herbei, kehren ihm indes den Rcken. Wie kann es sein, dass wir dies total falsch einschtzen? Weil wir nicht wissen, wie wir vorgehen sollen. Wir suchen das Glck in der Auenwelt, obwohl es eigentlich ein innerer Zustand ist. Wre es mit einem ueren Umstand gleichzusetzen, befnde es sich fr immer auerhalb unserer Reichweite. Unsere Wnsche sind grenzenlos und unsere Kontrolle ber die Welt ist begrenzt, temporr und meistens trgerisch. Wir schlieen Freundschaften, grnden Familien, nehmen unseren Platz in der Gesellschaft ein und arbeiten daran, ein materiell abgesichertes Leben fhren zu knnen - reicht das fr eine Definition von Glck? Nein. Wir knnen alles haben, was wir brauchen, um glcklich zu sein, und dennoch zutiefst unglcklich sein. Andererseits knnen wir unter widrigsten Umstnden inneren Frieden erleben. Die Vorstellung, uere Um53

stnde allein knnten uns Glck garantieren, ist naiv. Wer so denkt, wird mit Sicherheit ein unsanftes Erwachen erleben. Wie sagte der Dalai Lama doch einst: Wenn ein Mann, der gerade ein Luxusappartement im 100. Stock eines nagelneuen Gebudes bezogen hat, zutiefst unglcklich ist, wird er einzig und allein nach einem Fenster Ausschau halten, aus dem er hinausspringen kann. 1 Wie oft mssen wir noch hren, dass wir uns mit Geld kein Glck kaufen knnen, dass Macht auch den rechtschaffensten Menschen verdirbt, dass Ruhm die Privatsphre zunichte macht. Misserfolg, Trennung, Krankheit und Tod knnen uns in jedem Augenblick heimsuchen. Wir gehen bereitwillig ein Dutzend Jahre zur Schule und danach noch ein paar weitere auf die Universitt oder in eine Berufsausbildung. Wir trainieren in Fitnesszentren, um gesund zu bleiben, und verwenden eine Menge Zeit darauf, greren Komfort zu haben, den eigenen Wohlstand zu mehren und die gesellschaftliche Stellung zu verbessern. In diese Dinge investieren wir sehr viel Energie, tun jedoch andererseits so wenig, um die inneren Voraussetzungen zu verbessern, die letztlich fr die Qualitt unseres Lebens entscheidend sind. Welche sonderbare Unentschlossenheit, Angst oder Gleichgltigkeit hlt uns davon ab, in dem Versuch, die eigentliche Essenz von Freude und Leid, Begierde und Hass zu erfassen, nach innen zu blicken? Die Furcht vor dem Unbekannten ist gro, und an der Grenze unseres Verstandes verlsst uns der Mut, diese innere Welt zu erforschen. Ein japanischer Astronom gestand mir einmal: Der Blick nach innen erfordert sehr viel Mut. Diese Bemerkung eines Wissenschaftlers auf der Hhe seines Schaffens, eines bodenstndigen und aufgeschlossenen 54

Mannes, hat mich fasziniert. Ein kalifornischer Jugendlicher hat mir krzlich erzhlt: Ich will nicht in mich hineinschauen. Ich habe Angst vor dem, was ich dort entdecken knnte. Warum sollte er vor etwas zurckschrecken, das ein faszinierendes Forschungsprojekt zu sein versprach? Marc Aurel schrieb: Blicke in dein Inneres! Da drinnen ist eine Quelle des Guten.2 Das gilt es zu lernen. Wenn uns innere Konflikte in Verwirrung strzen, haben wir keine Ahnung, wie wir sie lsen knnen, und wenden uns unwillkrlich nach auen. Wir verbringen unser Leben damit, Behelfslsungen zusammenzuschustern, und versuchen, uns vorzustellen, welche ueren Umstnde uns glcklich machen knnten. Die Macht der Gewohnheit sorgt dafr, dass wir diese Lebensweise ganz normal finden: So ist das Leben wird dann zu unserem Wahlspruch. Die Suche nach vorbergehendem Wohlbefinden mag zwar gelegentlich von Erfolg gekrnt sein, dennoch ist es uns nie mglich, die Quantitt, Qualitt oder Stabilitt der ueren Umstnde unter Kontrolle zu bekommen. Das gilt fr fast alle Lebensbereiche: Familie, Gesundheit, Wohlstand, Macht, Luxus, Vergngen. Mein Freund, der Philosoph und praktizierende Buddhist Alan Wallace, hat das so formuliert: Falls du darauf setzt, dass du wahres Glck und echte Erfllung finden wirst, wenn du den vollkommenen Partner triffst, ein dickes Auto fhrst, ein groes Haus kaufst, die beste Versicherung abschliet, dir einen hervorragenden Ruf erarbeitest, eine berufliche Spitzenposition erreichst falls das deine Ziele sind, kannst du dir genauso gut viel Glck in der Lotterie des Lebens wnschen.3 Wenn wir unsere Zeit mit dem Versuch verschwenden, ein lchriges Fass zu fllen, vernachlssigen wir die Methoden, vor 55

allem aber eine Lebensfhrung, durch die es uns mglich wird, das Glck in uns selbst zu finden. Schuld daran ist in erster Linie der Umstand, dass wir nicht klar zu erkennen vermgen, welche Faktoren Glck und welche Faktoren Leid verursachen. Niemand wrde bestreiten, dass es hchst wnschenswert ist, bei guter Gesundheit mglichst lange zu leben, frei zu sein in einem Land, in dem Frieden und Gerechtigkeit herrschen, zu lieben und geliebt zu werden, Zugang zu Bildung und Wissen zu haben, ber ausreichende Mittel fr den eigenen Lebensunterhalt zu verfgen, in alle Welt reisen zu knnen, so viel wie mglich zum Wohlergehen der Mitmenschen beizutragen und die Umwelt zu schtzen. Soziologische Untersuchungen ganzer Bevlkerungen zeigen eindeutig, dass Menschen, die unter solchen Bedingungen leben, ihr Leben mehr genieen. Wer wrde sich etwas anderes wnschen? Doch wenn wir all unsere Hoffnungen ausschlielich an der Auenwelt festmachen, steht am Ende unweigerlich die Enttuschung. In der Hoffnung, dass Geld uns glcklicher machen wird, arbeiten wir, um mglichst viel Geld zu verdienen. Haben wir es schlielich verdient, sind wir wie besessen von der Idee, es zu mehren. Und wenn wir es verlieren, leiden wir. Ein Freund aus Hongkong erzhlte mir einmal von einem Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte: Er werde eine Million Dollar sparen, dann seine Arbeit aufgeben, um das Leben zu genieen und auf diese Weise glcklich zu werden. Zehn Jahre spter besa er nicht eine, sondern drei Millionen. Und wie stand es nun um sein Glck? Die Antwort war kurz und bndig: Ich habe zehn Jahre meines Lebens vergeudet. Wir streben nach Wohlstand, Vergngen, Status und Macht, um glcklich 56

zu werden. Aber irgendwann vergessen wir den eigentlichen Zweck und vertun unsere Zeit damit, den Mitteln hinterherzujagen. So verfehlen wir das Ziel, und was bleibt, ist ein Gefhl tiefer Unzufriedenheit. Diese Verwechslung von Mittel und Zweck ist eine der grten Fallen auf dem Weg zu einem sinnerfllten Leben. In der Formulierung des konomen Richard Layard liest sich das wie folgt: Manche Leute sagen, man solle nicht an das eigene Glck denken, denn glcklich sein knne man nur als Nebenprodukt von etwas anderem. Welch trostlose Auffassung: eine Anleitung, wie man sich um jeden Preis auf Trab hlt.4 Ist Glck hingegen ein von inneren Voraussetzungen abhngiger Zustand, muss jeder von uns Achtsamkeit walten lassen, um diese Voraussetzungen zu erkennen. Anschlieend gilt es dann dafr zu sorgen, dass sie auch tatschlich eintreten. Glck wird uns nicht geschenkt und Leid nicht aufgezwungen. Wir stehen in jedem Augenblick am Scheideweg und mssen uns entschlieen, diese oder jene Richtung einzuschlagen.

Knnen wir Glck kultivieren?Kultivieren Sie Ihr Glck! - Glck kultivieren?, antwortete ich dem Doktor kurz: Wie stellt man das an? ... Glck ist doch keine Kartoffel, die man in die Erde pflanzt und dngt. Charlotte Bronte, Villette Charlotte Bronte vertritt ihre Ansicht zwar witzig und geistreich, dennoch wre es schade, wrde man das 57

Transformationsvermgen des Geistes unterschtzen. Wenn wir ber Jahre hinweg beharrlich versuchen, unsere Gedanken zu bndigen, negativen Emotionen Einhalt zu gebieten und positive zu nhren, werden unsere Bemhungen zweifellos zu Ergebnissen fhren, die zunchst unerreichbar schienen. Wir staunen, wenn ein Sportler es schafft, 2,50 Meter hoch zu springen. Htten wir es nicht im Fernsehen gesehen, wrden wir nicht glauben, dass dies berhaupt mglich ist, wo doch, wie wir wissen, die meisten von uns nicht einmal 1,50 Meter schaffen. Im Hinblick auf krperliche Leistungen stoen wir schnell an Grenzen, aber der Geist ist weit flexibler. Wieso sollte es beispielsweise Grenzen fr Liebe und Mitgefhl geben? Vielleicht bringen wir unterschiedliche Voraussetzungen mit, um diese menschlichen Qualitten zu entwickeln, aber jeder von uns verfgt ber das Potenzial, durch aufrichtiges Bemhen im Laufe seines Lebens kontinuierlich Fortschritte zu machen. Seltsamerweise stehen viele moderne Denker, um es mit den Worten eines franzsischen Autors zu sagen, auf Kriegsfu mit der Vorstellung, die Entwicklung des Selbst sei eine nie endende Aufgabe.5 Mssten wir grundstzlich von langfristigen Projekten aller Art Abstand nehmen, wrden Begriffe wie Lehrzeit, Ausbildung, Kultur oder persnliche Weiterentwicklung vllig bedeutungslos. Und wenn wir aus diesem Grund den spirituellen Weg verwerfen, warum sich dann andererseits die Mhe machen, Bcher zu lesen, wissenschaftliche Untersuchungen durchzufhren, etwas ber die Welt zu lernen? Der Erwerb von Wissen ist ebenfalls eine nie endende Aufgabe. Warum akzeptieren wir diese, vernachlssigen aber unsere innere Transformation, die doch die Qualitt unserer gelebten Erfahrung bestimmt? Ist es bes58

ser, sich einfach treiben zu lassen? Werden wir damit nicht eine Bruchlandung erleben?

Mssen wir uns damit abfinden, so zu sein, wie wir sind?Nichtsdestoweniger sind einige Leute der Ansicht, um wirklich glcklich zu sein, mssten wir nur lernen, uns selbst so zu lieben, wie wir nun mal sind. Dabei kommt es allerdings entscheidend darauf an, was mit wir selbst sein gemeint ist. Bedeutet es, auf einer Schaukel zu sitzen, die stndig zwischen Befriedigung und Verlangen, Ruhe und Aufregung, Begeisterung und Gleichgltigkeit hin und her schwingt? Sich mit dieser Perspektive abzufinden, whrend man seinen Impulsen und Neigungen freien Lauf lsst, ist der bequeme Weg, ein Kompromiss, ja eine Art Kapitulation. Viele Anleitungen zum Glcklichsein bestehen darauf, wir seien von Natur aus eine Mischung aus Licht und Schatten und mssten einfach lernen, unsere Unzulnglichkeiten ebenso zu akzeptieren wie unsere positiven Eigenschaften. Wrden wir blo davon ablassen, gegen eigene Beschrnkungen anzugehen, so erklren sie, wre ein Groteil unserer inneren Konflikte schon gelst, und wir knnten jedem Tag zuversichtlich und gelassen entgegensehen. Am besten sei es, unserer Natur freien Lauf zu lassen - sie zu unterdrcken werde das Problem nur vergrern. Vor diese Wahl gestellt, wre es natrlich besser, spontan zu leben, statt unsere Tage in stndiger Ungeduld, zu Tode gelangweilt oder voller Selbsthass zu verbringen. Aber ist diese Sicht der Dinge mehr als ein Versuch, unsere schlechten Gewohnheiten in hbsches Geschenkpapier einzuwickeln? 59

Es mag schon sein, dass wir uns vorbergehend von innerer Spannung befreit fhlen, wenn wir uns ausleben, unseren natrlichen Impulsen nachgeben. Aber wir hngen dann auch in unseren blichen Gewohnheiten fest. Eine derart nachlssige Haltung wird kein einziges ernstliches Problem lsen. Denn wer - wie gewhnlich er selbst ist, der bleibt gewhnlich. Bei dem franzsischen Philosophen Alain heit es: Man muss frwahr kein Zauberer sein, um diesen Bann auszusprechen: >So bin ich eben. Dagegen kann ich nichts tun.Auge um Auge, Zahn um Zahn< handeln, wird bald die ganze Welt blind und zahnlos sein. Wre es, anstatt das Gesetz der Vergeltung anzuwenden, nicht besser, den eigenen Geist von der Bitterkeit und dem Hass zu befreien, die ihn vergiften? Selbst wenn solche Kehrtwendungen selten sind - beim Nrnberger Prozess etwa uerte nur einer der Angeklagten, Albert Speer, Reue ber das, was er angerichtet hatte welchen Grund sollte es geben, nicht darauf zu hoffen, dass sie eintreten? Spontan wtend und gewaltttig zu reagieren, wenn jemand uns etwas Schlimmes anzutun versucht, wird manchmal als heroisches Verhalten angesehen. In Wahrheit aber beweisen diejenigen, die frei von Hass bleiben, weitaus greren Mut. Ein amerikanisches Ehepaar, beide Rechtsanwlte, flog im Jahr 1998 nach Sdafrika, um einem Prozess gegen fnf Jugendliche beizuwohnen, die ihre Tochter ohne jeden ersichtlichen Grund brutal auf der Strae gettet hatten. Sie schauten den Mrdern ihres Kindes in die Augen und sagten: Wir wollen euch nicht dasselbe antun, was ihr unserer Tochter angetan habt. Das waren beileibe keine gefhllosen Eltern. Sie hatten einfach erkannt, wie sinnlos es ist, die Verkettung von Hass, Gewalt und Rache immer weiter fortzufhren. Vergebung bedeutet so gesehen nicht, dass man das begangene Unrecht entschuldigt, sondern dass man den Gedanken an Rache vollkommen aufgibt. Miguel Benasayag, Autor, Mathematiker und Psychiater, hat sieben Jahre in argentinischen Militrgefngnissen verbracht und wurde dort monatelang in Einzelhaft gehalten. Oft hat man ihn derart grausam gefoltert, dass sein 215

Krper nur noch ein schmerzender Klumpen Fleisch war. Sie haben versucht, erklrte er mir, uns jegliches Gefhl von menschlicher Wrde auszutreiben. Seine Frau und seinen Bruder hat man aus einem Flugzeug ins Meer gestrzt. Sein Stiefsohn wurde einem hochrangigen Offizier berlassen, eine damals bliche Praxis im Umgang mit den Kindern von Regimegegnern. Als Miguel zwanzig Jahre spter den General ausfindig gemacht hatte, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach seines Stiefsohns bemchtigt hatte, stellte er fest, dass er diesen Mann nicht hassen konnte. Ihm wurde klar, dass Hass unter solchen Umstnden keinerlei Sinn ergeben und rein gar nichts in Ordnung bringen oder verbessern wrde. Unser Mitgefhl und unsere Liebe hngen gewhnlich davon ab, mit wie viel Wohlwollen oder Aggression jemand uns selbst oder den Menschen, die uns nahestehen, begegnet. Daher fllt es uns auerordentlich schwer, Mitgefhl fr diejenigen zu empfinden, die uns schaden. Mitgefhl im buddhistischen Sinn beruht indes auf dem von ganzem Herzen kommenden Wunsch, dass alle Wesen ohne Ausnahme vom Leid und seinen Ursachen, insbesondere dem Hass, befreit werden mgen. Und man kann noch einen Schritt weiter gehen, indem man smtlichen Wesen - alle Kriminellen inbegriffen - wnscht, dass sie erkennen mgen, welche Faktoren Glck bewirken. Wissenschaftliche Studien ber Vergebung haben gezeigt, dass nicht enden wollender Hass, die Weigerung, zu vergeben, und Rache den Verbrechensopfern und ihren Angehrigen keineswegs zu innerem Frieden verhelfen. Im Gegenteil: Menschen, die vergeben knnen - und zwar in dem Sinn, dass sie sich von jeglichem Hass auf den oder die Verursacher ihres Leids lsen -, finden am ehesten wieder einen gewissen inneren Frieden. 216

Was die Todesstrafe betrifft, so wissen wir, dass sie nicht einmal zu wirksamer Abschreckung taugt. Ihre Abschaffung in Europa hat nicht zu einem Anstieg der Kriminalitt gefhrt; und ihre Wiedereinfhrung in einigen amerikanischen Bundesstaaten nicht zu einem Rckgang der Straftaten. Da eine lebenslange Haft ausreicht, um einen Mrder von weiteren Delikten abzuhalten, ist die Todesstrafe nichts anderes als eine legalisierte Form der Rache. Einen Menschen zu tten, gleichgltig ob Mord oder legale Exekution, ist in jedem Fall ein schweres Vergehen. Eine Form von Vergebung, die auf mangelndem Interesse, auf Nachsicht oder gar, noch schlimmer, auf billigender Inkaufnahme des den Opfern zugefgten Unrechts beruht, braucht die Gesellschaft gewiss nicht. Dadurch wrde man einer Wiederholung solcher grsslichen Straftaten Tr und Tor ffnen. Die Gesellschaft bentigt Vergebung und Heilung, damit Groll, Gehssigkeit und Feindseligkeit sich nicht ununterbrochen weiter fortpflanzen knnen. Hass hat verheerende Auswirkungen auf die eigene Psyche, und er bringt uns dazu, das Leben anderer Menschen zu zerstren.

Den Hass hassenFr Hass darf es im Grunde nur ein Ziel geben: den Hass selbst. Er ist ein hinterhltiger, gnadenloser und unbeugsamer Feind, der unermdlich Leben beendet und zerstrt. So angemessen es ist, uns den Menschen gegenber, die in unseren Augen zu Feinden geworden sind, in Geduld zu ben, ohne Schwche zu zeigen - dem Hass selbst gegenber ist jede Nachsicht, jegliche Toleranz, 217

vollkommen unangebracht, und zwar gnzlich unabhngig von den Umstnden. Khyentse Rinpoche: Es ist an der Zeit, den Hass in eine ganz andere Richtung zu lenken. Ihr solltet ihn nicht lnger gegen die gewohnten Ziele, eure sogenannten Feinde, richten. Richtet ihn gegen sich selbst! Euer eigentlicher Feind ist der Hass, ihn solltet ihr zerstren. Es macht keinen Sinn, wenn man Hass zu unterdrcken versucht oder den Hass eines anderen Menschen erwidert. Vielmehr mssen wir unmittelbar bis an seine Wurzeln vordringen und ihm jede Grundlage entziehen. Etty Hillesum hat uns auch dazu etwas mitzuteilen: Sie sprechen von Vernichtung. Besser wre es, das Bse in einem Menschen zu vernichten als den Menschen selbst.4 Individuelle Achtsamkeit, innere Transformation und Beharrlichkeit sind die einzigen Gegenmittel gegen Hass. Das Bse ist ein pathologischer Zustand. Eine Gesellschaft, die der blinden Wut auf einen anderen Teil der Menschheit anheimfllt, ist nichts anderes als eine von Unwissenheit und Hass verblendete, aus Einzelpersonen bestehende Gruppe von Menschen. Allerdings kann die innere Transformation einer ausreichenden Anzahl von Einzelpersonen dazu fhren, dass eine Gesellschaft insgesamt humaner, die chtung von Hass und Rache wie auch die Achtung der Menschenrechte gesetzlich verankert und die Todesstrafe abschafft wird. Wir drfen jedoch niemals die Tatsache aus dem Blick verlieren, dass es keine uere Abrstung ohne innere Abrstung geben kann. Jeder Einzelne muss sich ndern, und dieser Prozess beginnt im eigenen Geist.

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BUNG

ber Liebe und Mitgefhl meditieren Meditation ist eine Methode, mit deren Hilfe wir lernen, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Denken Sie an eine Ihnen nahestehende Person, die leidet, und vergegenwrtigen Sie sich ihr Leid mglichst wirklichkeitsgetreu. Schon bald werden Sie den tiefen Wunsch verspren, das Leid zu lindern und seine Ursache zu beseitigen. Lassen Sie zu, dass Ihr Geist von diesem Empfinden des Mitgefhls ausgefllt wird, und verweilen Sie eine Zeit lang bei diesem Empfinden. Beziehen Sie anschlieend smtliche Wesen in dieses Empfinden mit ein. Machen Sie sich bewusst, dass alle Wesen danach streben, von Leid frei zu sein. Jeder von uns. Verbinden Sie dieses grenzenlose Mitgefhl mit der inneren Bereitschaft, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um Leid zu lindern. Verweilen Sie so lange wie mglich in der Erfahrung allumfassenden Mitgefhls. Falls sich whrend Ihrer Meditation ber die unermesslich vielen leidvollen Erfahrungen aller Wesen ein Gefhl von Ohnmacht und Mutlosigkeit einstellt, wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit solchen Menschen zu, die auf ihre Weise glcklich sind und bewundernswerte menschliche Qualitten aufweisen. Freuen Sie sich ber diese Menschen und ihre Qualitten, und verweilen Sie in dieser freudvollen Empfindung. Sie dient als Gegenmittel gegen Depression und Neid. Wir knnen aber auch Unparteilichkeit in den Blickpunkt der Meditation rcken. Beziehen Sie in

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Ihre Empfindung von Liebe und Mitgefhl in gleicher Weise alle Wesen mit ein - Ihre Lieben, Fremde und Feinde. Rufen Sie sich in Erinnerung, dass unabhngig davon, wie sehr Sie sich von ihnen bedroht fhlen mgen, sie alle danach streben, glcklich zu sein und nicht zu leiden. Ebenso knnen Sie das Augenmerk auf selbstlose Liebe richten, auf den innigen Wunsch, dass alle Wesen Glck finden und zugleich erkennen mgen, welche Faktoren dieses Glck hervorrufen. Geben Sie der Herzensgte innerlich Raum, und ruhen Sie in dieser alles umfassenden Empfindung selbstloser Liebe. Nehmen Sie sich am Ende der Meditation noch eine Weile Zeit, um ber die Verbundenheit und wechselseitige Abhngigkeit aller Wesen nachzusinnen. Machen Sie sich klar, dass Sie, so wie ein Vogel zwei Flgel braucht, Weisheit und Mitgefhl entwickeln mssen. Bevor Sie sich wieder den Dingen des Alltags zuwenden, widmen Sie nun allen empfindenden Wesen all die positiven Erfahrungen, die Ihnen in der Meditation zuteil geworden sind.

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Kapitel 13

NeidWie erbrmlich ist es doch, ber die Freude der anderen bestrzt u