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20 | Bauwelt 48 2004 Matthew Gandy Lagos trotz Koolhaas „Lagos, gleichermaßen Musterbeispiel wie pathologische Ausnahmeerscheinung der westafrikanischen Stadt, ist für uns ein Rätsel. Das Rätsel liegt in seiner fortdauernden Existenz und Produktivität, denn alles, was im Verständ- nis westlicher Planungsmethoden Stadt ausmacht, ob öf- fentlicher Verkehr, Infrastruktur, Stadtorganisation oder Stadtlandschaft, fehlt hier.“ Rem Koolhaas Nach Jahrzehnten des Vergessenseins sieht sich Lagos plötzlich als Gegenstand unzähliger Untersuchungen, und zwar nicht nur von den Spezialisten, die sich ohnehin mit afrikanischer Forschung beschäftigen. Im Gegenteil, die Stadt ist in den Mittelpunkt vielfältiger interdisziplinärer Studien gerückt, bei denen sich architektonische, kultur- theoretische und stadtkritische Ansätze bündeln. Viel be- achtete Ausstellungen wie „Century City“ im Jahr 2000 in London, „Africa: the Artist and the City“ 2001 in Barcelona, die Documenta XI 2002 in Kassel und das „Harvard Project on the City“ von Rem Koolhaas haben Lagos zum Gegen- stand einer internationalen Debatte über das Verständnis von Stadt gemacht, bei der es darum geht, so Okwui Enwe- zor, der Kurator der Documenta XI, „die Gesetzmäßigkei- ten zu ergründen, zu beschreiben und gegebenenfalls neu zu erfinden, aus denen die Menschen in solchen Städten ihre Vitalität, Kreativität und Erfindungsgabe schöpfen“. Hinter diesem plötzlichen Interesse stecken ganz verschie- dene Analysen, Sichtweisen und Interpretationen. Die so- zialen und wirtschaftlichen Unterschiede in dieser Stadt sind so extrem, dass der neue Blick der Außenseiter die Stadtregion entweder als immenses soziales Forschungs- labor oder aber als gelebte Kunstinstallation sieht. Ich beginne mit den Ideen, die Rem Koolhaas in seinem „Harvard Project on the City“ vorstellt, in dem Lagos eine zentrale Rolle spielt. Ich unterstelle, dass Koolhaas und seine Mitstreiter sich einer neo-organizistischen Perspek- tive bedienen und dabei Armut, Gewalt und das gesamte infrastrukturelle Chaos der Stadt vernachlässigen. Mir kommt es so vor, als ob seine vielen Analogien zu biophy- sikalischen Erkenntnissen nur dafür herhalten müssen, die historischen und politischen Dimensionen der westafri- kanischen Stadtentwicklung zu verschleiern. Mit Verve wird hier etwas vorgeführt, was man als „morphologische Exzeptionalität“ bezeichnen könnte, weil alle strukturel- len Bedingungen, die Wachstum und Veränderung einer Stadt bedingen, systematisch heruntergespielt werden. Ich will im Folgenden versuchen, die Gründe für die immen- sen Probleme, denen sich Lagos gegenübersieht, herauszu- arbeiten und die Verschränkung zwischen politischen Re- formen und der möglichen Rekonstruktion der Stadt dar- zulegen. Die Vorstellung einer „amorphen Stadtstruktur“ dient mir dabei als Leitidee, um die völlig anderen Poten- tiale der Stadt wenigstens bezeichnen zu können. Die po- litischen Turbulenzen in West Afrika spielen dabei eine Rem Koolhaas braucht, wie alle Stadt- theoretiker, die glauben, eine Avant- gardeposition verteidigen zu müssen, immer wieder neue Orte, auf die er seine Theorien projizieren kann. Sei- ner Darstellung des Pearl River Delta im unbekannten Süden Chinas ließ er eine Interpretation von Lagos folgen, dessen chaotischen Überlebenskampf er als brillante Versuchsanordnung für ein dereguliertes Stadtleben preist. Dem widersetzt sich der Autor, weil er die Verhältnisse besser kennt. Er hält den Zustand, in dem sich die Stadt be- findet, für tragisch, aber nicht für unheilbar. Für ihn ist Lagos keine Aus- nahmeerscheinung, sondern eher der Ort, an dem die Probleme der afrika- nischen Stadtregionen am deutlichs- ten sichtbar werden, und der, falls sie hier zu lösen wären, neue Maßstäbe für den Aufbau multiethnischer Gesell- schaften in Afrika setzen könnte. Der Weg dahin ist dornig, der Ausgang un- gewiss. StadtBauwelt 164 | 21 Agege Motor Road, eine der großen Nord-Süd-Achsen, die Lagos mit sei- nem Hinterland verbinden, durch- schneidet auch Oshodi, den Stadtteil, den Rem Koolhaas als den „größten Markt Afrikas“ bezeichnet. Zugleich ist er auch eine der größten Müll- kippen der Stadt, weil die Stadtver- waltung kaum in der Lage ist, öf- fentliche Dienste zu organisieren und eine ausreichende Infrastruktur be- reitzuhalten.

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20 | Bauwelt 48 2004

Matthew Gandy

Lagos trotz Koolhaas

„Lagos, gleichermaßen Musterbeispiel wie pathologischeAusnahmeerscheinung der westafrikanischen Stadt, ist füruns ein Rätsel. Das Rätsel liegt in seiner fortdauernden Existenz und Produktivität, denn alles, was im Verständ-nis westlicher Planungsmethoden Stadt ausmacht, ob öf-fentlicher Verkehr, Infrastruktur, Stadtorganisation oderStadtlandschaft, fehlt hier.“ Rem Koolhaas

Nach Jahrzehnten des Vergessenseins sieht sich Lagosplötzlich als Gegenstand unzähliger Untersuchungen, undzwar nicht nur von den Spezialisten, die sich ohnehin mitafrikanischer Forschung beschäftigen. Im Gegenteil, dieStadt ist in den Mittelpunkt vielfältiger interdisziplinärerStudien gerückt, bei denen sich architektonische, kultur-theoretische und stadtkritische Ansätze bündeln. Viel be-achtete Ausstellungen wie „Century City“ im Jahr 2000 inLondon, „Africa: the Artist and the City“ 2001 in Barcelona,die Documenta XI 2002 in Kassel und das „Harvard Projecton the City“ von Rem Koolhaas haben Lagos zum Gegen-stand einer internationalen Debatte über das Verständnisvon Stadt gemacht, bei der es darum geht, so Okwui Enwe-zor, der Kurator der Documenta XI, „die Gesetzmäßigkei-ten zu ergründen, zu beschreiben und gegebenenfalls neuzu erfinden, aus denen die Menschen in solchen Städtenihre Vitalität, Kreativität und Erfindungsgabe schöpfen“.Hinter diesem plötzlichen Interesse stecken ganz verschie-dene Analysen, Sichtweisen und Interpretationen. Die so-zialen und wirtschaftlichen Unterschiede in dieser Stadtsind so extrem, dass der neue Blick der Außenseiter dieStadtregion entweder als immenses soziales Forschungs-labor oder aber als gelebte Kunstinstallation sieht.Ich beginne mit den Ideen, die Rem Koolhaas in seinem„Harvard Project on the City“ vorstellt, in dem Lagos einezentrale Rolle spielt. Ich unterstelle, dass Koolhaas undseine Mitstreiter sich einer neo-organizistischen Perspek-tive bedienen und dabei Armut, Gewalt und das gesamteinfrastrukturelle Chaos der Stadt vernachlässigen. Mirkommt es so vor, als ob seine vielen Analogien zu biophy-sikalischen Erkenntnissen nur dafür herhalten müssen, die historischen und politischen Dimensionen der westafri-kanischen Stadtentwicklung zu verschleiern. Mit Vervewird hier etwas vorgeführt, was man als „morphologischeExzeptionalität“ bezeichnen könnte, weil alle strukturel-len Bedingungen, die Wachstum und Veränderung einerStadt bedingen, systematisch heruntergespielt werden. Ichwill im Folgenden versuchen, die Gründe für die immen-sen Probleme, denen sich Lagos gegenübersieht, herauszu-arbeiten und die Verschränkung zwischen politischen Re-formen und der möglichen Rekonstruktion der Stadt dar-zulegen. Die Vorstellung einer „amorphen Stadtstruktur“dient mir dabei als Leitidee, um die völlig anderen Poten-tiale der Stadt wenigstens bezeichnen zu können. Die po-litischen Turbulenzen in West Afrika spielen dabei eine

Rem Koolhaas braucht, wie alle Stadt-

theoretiker, die glauben, eine Avant-

gardeposition verteidigen zu müssen,

immer wieder neue Orte, auf die er

seine Theorien projizieren kann. Sei-

ner Darstellung des Pearl River Delta

im unbekannten Süden Chinas ließ er

eine Interpretation von Lagos folgen,

dessen chaotischen Überlebenskampf

er als brillante Versuchsanordnung für

ein dereguliertes Stadtleben preist.

Dem widersetzt sich der Autor, weil er

die Verhältnisse besser kennt. Er hält

den Zustand, in dem sich die Stadt be-

findet, für tragisch, aber nicht für

unheilbar. Für ihn ist Lagos keine Aus-

nahmeerscheinung, sondern eher der

Ort, an dem die Probleme der afrika-

nischen Stadtregionen am deutlichs-

ten sichtbar werden, und der, falls sie

hier zu lösen wären, neue Maßstäbe

für den Aufbau multiethnischer Gesell-

schaften in Afrika setzen könnte. Der

Weg dahin ist dornig, der Ausgang un-

gewiss.

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Agege Motor Road, eine der großenNord-Süd-Achsen, die Lagos mit sei-nem Hinterland verbinden, durch-schneidet auch Oshodi, den Stadtteil,den Rem Koolhaas als den „größtenMarkt Afrikas“ bezeichnet. Zugleichist er auch eine der größten Müll-kippen der Stadt, weil die Stadtver-waltung kaum in der Lage ist, öf-fentliche Dienste zu organisieren undeine ausreichende Infrastruktur be-reitzuhalten.

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Die Eko-Bridge verbindet Lagos Islandim Vordergrund mit dem Mainland imHintergrund. Am nördlichen Ende derBrücke ragen zwei Schornsteine einesmaroden Kraftwerks in den Himmel.Die Stromversorgung der Stadt brichtimmer wieder zusammen.An der Lagune von Lagos liegen zahl-reiche Sägewerke, in denen das ausdem Landesinneren herbeigeflößteHolz im Lowtechverfahren weiterver-arbeitet wird. Am Horizont die Third-Mainland-Bridge, die Lagune und Fest-land über eine Distanz von zwölf Kilo-metern überspannt.

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ebenso große Rolle wie die Auswirkungen der weltwei-ten Globalisierung.

VerdichtungszonenDie jüngsten Studien über Lagos scheinen sich in zwei La-ger zu teilen: das eschatologische und das „neo-organizisti-sche“. Die Eschatologen (und dafür gibt es Veröffentlichun-gen genug) werfen sich bei ihren Analysen auf Armut, Ge-walt, Krankheiten, ethnische Spannungen, politische Kor-ruption, Verfall, Luftverschmutzung, mangelnde Planung,unkontrollierbares Wachstum und religiöse Besessenheit.Würde man ihnen glauben, dann befände sich die Stadtkurz vor einem Umsturz, halb Bürgerkrieg, halb infrastruk-tureller Kollaps. Und das mit weit reichenden Konsequen-zen für die politische und wirtschaftliche Stabilität in derganzen Region südlich der Sahara. Lagos repräsentiert indiesen Untersuchungen, real und metaphorisch, den Unter-gang der Stadt. Die eschatologische Perspektive verpflanztLagos in eine Welt, wo nichts mehr gilt, wo die Maßstäbe,die Stadtplanung sonst anlegt, längst ad absurdum geführtworden sind. Die Kehrseite einer allgemeinen Globalisie-rung wird vorgeführt durch Städte, die mehr und mehr insAbseits geraten und von dem neu konfigurierten Systemaus Mobilität, technischer Innovation und weltweitem Han-del ausgenommen sind. In einem solchen nihilistisch ge-zeichneten Bild scheinen Städte wie Lagos dazu verdammt,ein für allemal von allen menschlichen Leistungen ausge-schlossen zu sein. Eine Verbesserung ihrer Lage scheintaussichtslos. Diese Sicht ist natürlich irreführend, dennsie übersieht den Einfluss, den die staatlichen Zinszahlun-gen oder aber auch die geopolitische Ausbeutung der vor-handenen Ressourcen auf die Entwicklung afrikanischerStädte haben. Und dann gibt es andere Kommentatoren, die Lagos alsMuster für eine neue Stadtform sehen, die allen Anfech-tungen, die das 21. Jahrhundert bereithält, widersteht. Ausderen Perspektive ist Lagos kein bedrohlich abartiger Ort,sondern der faszinierende Vorläufer für eine neue Art ro-buster städtischer Überlebensstrategie, die in dem teleolo-gischen Denken des Westens bislang keinen Platz hatte.Der neo-organizistische Ansatz von Rem Koolhaas betontdie chaotischen und offenbar unplanbaren Aspekte undverweist auf die organisatorische Komplexität der sozialenund ökonomischen Strukturen, die Lagos aus sich selbstgebiert. Der Terminus neo-organizistisch will besagen, dassWachstum und Wandel dieser Stadt als ein sich selbst re-gulierendes System begriffen werden. Doch während deralte organizistische Ansatz die Funktionsweise der Stadtaus ihren „Organen“ (ihrem Herz, ihrer grünen Lunge, ih-rem Versorgungssystem) herauspräparierte, speist sich der„neo-organizistische“ Ansatz aus Informationstechnologie,Chaostheorie oder biophysikalischen Erkenntnissen. In ih-rem einflussreichen Buch „Mutations“ benutzen Koolhaas

und seine Kollegen Metaphern wie „die Tragfähigkeit derErde“ oder „explosive Populationen“, um dem demografi-schen Druck, der auf Lagos lastet, einen Namen zu geben,aber sie benutzen auch Metaphern aus der Kybernetik, umdie sich überlagernden urbanen Netzwerke zu charakteri-sieren. Das offensichtliche Chaos von Lagos wird von ih-nen überinterpretiert als ein höchst komplexes Netzwerksozialer und ökonomischer Beziehungen, das aus den be-schränkten Ressourcen das Bestmögliche herausholt.„Dass und wie Lagos funktioniert, zeigt uns, welche Effek-tivität im großen Maßstab aus Tätigkeiten hervorgeht, diewir in unserem westlichen Denken als marginal, limitiert,informell oder illegal einordnen würden.“ Rem Koolhaas genießt es geradezu, die westlichen Pla-nungstraditionen zu widerlegen, indem er die informelleÖkonomie als einzige Kraft preist, die das Überleben derverarmten Stadtbevölkerung sichert. In einer radikal post-modernen Pose (jeder kann ein Sozialwissenschaftler sein)bezeichnet er die Bevölkerung von Lagos als eine Art For-schungsteam, das „an der vordersten Front einer globali-sierten Modernität“ kämpft.„Die Überlebensstrategie der Stadtagglomeration von La-gos lässt sich leichter verstehen, wenn man sie sich alseine Art kollektiver Forschungsarbeit vorstellt, an der sichacht bis fünfundzwanzig Millionen Menschen beteiligen.Voraussetzung und Ziel dieser ‚Forschung‘ sind zwar zwei-felhaft, doch das statistische Material belegt eine asympto-tische Tendenz, bei der sich Weg und Ziel annähern.“ Als Alternative zu der teleologischen Auffassung von Mo-dernität in anderen Global Cities beschwört Rem Koolhaasdie „asymptotische“ Entwicklung der Stadt Lagos, die inseinen Augen eine Art Gleichgewicht oder ausgewogenenStillstand gefunden hat. Die Analogie zu komplexen ökolo-gischen Systemen ist unverkennbar. Seine Projektion lässtkeinen Raum für kollektives politisches Handeln, weil erdie städtische Dynamik von jeglicher Planung befreit sehenmöchte.„Asymptotisches Verhalten scheint so etwas wie einen un-abänderlichen Zustand zu charakterisieren, was bedeutenkönnte, dass Lagos uns um zwanzig, fünfzig oder hundertJahre voraus ist, wenn man es mit Städten vergleicht, de-ren Organismen uns vertrauter, erklärlicher sind. Falls dieendgültige Urbanisierung, falls die Eroberung durch denKapitalismus ein lang erwarteter Meilenstein ist oder einenherbeigewünschten Zustand charakterisiert, dann könntendie Strategien und Szenarien, denen wir hier in Lagos be-gegnen, für andere Stadtregionen, die dem Weg der Asym-ptote folgen, höchst lehrreich sein.“Kernstück der These, die Rem Koolhaas und seine Kolle-gen vortragen, ist die Inkompatibilität von Lagos mit al-lem, was man bisher über Stadtplanung und Architekturzu wissen glaubte. Sie unterstellen, dass die „Exzeptiona-lität“ von Lagos eine neue Ära des Urbanismus einleite.

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Die Unterscheidung zu allem Bisherigen besteht in einerReihe morphologischer Beobachtungen, die von den allge-genwärtigen, alles überwuchernden Märkten bis zu sub-tilen Formen des Recycling reichen. Die riesigen Märktevon Oshodi und Alaba werden als „Verdichtungszonen“ be-schrieben, in denen Raum und Dinge umgewälzt und im-mer wieder neu genutzt werden. Die völlig unzureichen-den Transportsysteme fördern die Ausbreitung der Märkte,oder anders, man liest Verkehrsstaus (auch willentlich her-beigeführte) als Chance, schnell einen Markt zu organisie-ren. Die ewigen Staus verwandeln sich in ein System vonsich langsam weiter bewegenden Märkten, begleitet vonfliegenden Händlern, die sich zwischen den Fahrspuren ein-richten. Die so gestellten Autofahrer werden mit Güternüberschüttet, angefangen von Plastikbehältern mit „reinemWasser“ über geröstete Erdnüsse, gefälschte Markenbrillenbis hin zu billigem Schmuck und Ersatzkarten fürs Handy.Was Koolhaas und seine Mitstreiter geflissentlich überse-hen, ist, dass diese weitverzweigten Märkte eine Folge derseit 1980 brachliegenden Ökonomie der Stadtregion von La-gos sind. Diese Märkte erlauben den Ärmsten der Stadt,alles, was sie sich nur beschaffen können, auch wieder anden Mann zu bringen. Sie leisten aber etwas ganz anderesals eine Umverteilung von Gütern, wie sie nur durch einstaatliches Programm in die Wege geleitet werden kann.Der Rückgang der etablierten Ökonomie und der radikaleNiedergang des Lebensstandards haben Millionen von Fa-milien dazu gezwungen, sich auf einen sozialen und realenTauschhandel einzulassen, der ihnen eine Art materielleBasis sichert.Obwohl er die Veränderung der Stadt Lagos als eine typi-sche afrikanische Entwicklung charakterisiert, übersiehtKoolhaas, welche politischen und wirtschaftlichen Faktorenfür das rapide Wachstum der informellen Ökonomie ver-antwortlich sind. Die Transformation der nigerianischenWirtschaft nach 1960 in eine „Petro-Ökonomie“, die immermehr von Ölexporten abhing, zog eine politische und wirt-schaftliche Destabilisierung nach sich: Mit der Schwächungder einheimischen Industrie ging eine Welle der Inflationeinher. 1980 zum Beispiel war ein Naira (die nigerianischeWährung) rund einen Dollar wert, heute besteht ein Wech-selkurs von 150 Naira zu einem Dollar. Die vier nigeriani-schen Ölraffinerien liegen seit Jahren brach, was bedeutet,dass das Land Benzin zu überhöhten Preisen importierenmuss, was nicht unerheblich zur politischen Destabilisie-rung beiträgt. Der Unterschied zwischen Arm und Reichwurde währenddessen immer größer und durch die Raff-gier der politischen Eliten weiter verhärtet, ein Zustand,der das Land in den neunziger Jahren dem brutalen Mili-tärregime von General Sani Abacha in die Hände spielte.Billionen von Dollar waren längst auf Konten außer Reich-weite verlagert. Die westlichen Ölfirmen waren nur allzubereit, von den Ränkespielen im Land zu profitieren und

mischten sich mit privaten Sicherheitstrupps, die die staat-lichen unterstützten, in die Konflikte in den Öl förderndenRegionen ein. Auf diese Weise wurde jeder Widerstand gegen die umweltschädliche und sozial ungerechte Art derÖlförderung von vornherein gebrochen.Wir können feststellen: Das Wachstum des informellenMarktes ist nicht zu trennen von dem wechselvollen Schick-sal, das die nigerianische Wirtschaft in der Zeit nach derUnabhängigkeit erlebt hat. Dadurch, dass der alternativeHandel so gut funktioniert, verliert die Stadtverwaltungihre angestammten Machtbefugnisse. Die ohnehin durchwiderstreitende Kräfte gelähmte Stadtregierung, die nachder Unabhängigkeit 1960 im Amt blieb, ist inzwischen zurBedeutungslosigkeit verkommen. 1979 hatte die Stadtver-waltung einen Entwicklungsplan verabschiedet, den dasMilitär 1983 außer Kraft setzte, um ein für allemal zu de-monstrieren, was es mit einer demokratischen Verwaltungauf sich hat. Strategien zur Minderung des Wohnungspro-blems und angedachte Lösungen für die Verkehrsmiserewurden einfach verworfen, produktives Investment durchKorruption im großen Stil ersetzt. Das politische und dassoziale Gefüge brutalisierten sich. Also mussten alle, obFamilien, Clans oder ganze Kommunen ihre eigenen Über-lebensstrategien entwerfen, um sich Nahrung oder einDach über dem Kopf zu sichern. Eine Vorstellung von „Öf-fentlichkeit“, die in anderen städtischen Zusammenhän-gen zwischen Regierungsmacht und Gesellschaft vermit-telt, konnte hier nicht wachsen.In einer entlarvenden Passage in „Mutations“ (einer Col-lage aus Ideen, Bildern, Informationen) verlangen Rem Koolhaas und seine Koautoren eine „neue Runde postkolo-nialer Forschung“, die mit anderen Vorsätzen und eineranderen Methodik an das Thema herangehen müsse alsdie Kampagnen des 19. Jahrhunderts. Unklar bleibt, in wel-cher Weise sich diese neue Forschungsstrategie von deralten unterscheiden solle. Der nigerianische ArchitektUche Isichei warnt deshalb vor einem hochgestochenen„Orientalismus“, er warnt vor einer „Entdeckung“ von La-gos und anderen afrikanischen Städten als Stoff für die ur-banistische Debatte des Westens. Was Koolhaas an Lagosso reizt, ist weder seine Einmaligkeit noch seine Komple-xität, für ihn ist die Stadt vor allem eine Versuchsanord-nung, mit der man die Folgen mangelnder Planung testenkann. Spontaneität und Improvisation bei der Organisationdes täglichen Lebens betrachtet er wie ein Pilzkultur, dieihm Aufschlüsse geben kann für seine Hypothese, dass diekapitalistische Stadtentwicklung ganz andere dynamischeKräfte freisetzen könnte, wenn man sie nur von dem fürselbstverständlich gehaltenen sozialen oder institutionellenRegelwerk befreit. Wenn man seine Idee zurückverfolgtbis zu dem berühmten Artikel „Non Plan: An Experimentin Freedom“ von 1969 (verfasst von Reyner Banham, PaulBarker, Peter Hall und Cedric Price), wird deutlich, wie sehr

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In Oshodi bieten Händler ihre Wareunmittelbar neben den illegalen Märk-ten an Verkehrsknotenpunkten an, die längst so groß geworden sind wiedie offiziell zugelassenen. Der Will-kür der Stadtverwaltung bleibt es über-lassen, in welcher illegalen „Markt-Zelt-Stadt“ Räumungsaktionen überNacht durchgeführt werden, wenn esan der Zeit scheint, Handlungsfähig-keit demonstrieren zu müssen.

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Koolhaas in seiner Interpretation auf die gegenwärtigenArchitekturströmungen reagiert, wenn er dem Zustand derStädte mit ästhetisierten Konzepten zu Leibe rücken will.Sein Konzept eines „morphologischen Exzeptionalismus“demonstriert genau das, was Hanno Rauterberg in seinemArtikel vom 4. April 2002 in „Die Zeit“ als „Arroganz derAvantgarde“ anprangert. In der städtischen Kosmologie ei-nes Rem Koolhaas ist für die ethische Dimension von Stadt-planung kein Platz mehr, für ihn ist sie aus der Mode ge-kommen und kann mit der Dynamik moderner Stadtent-wicklung nicht Schritt halten. Die Luftbilder von Lagos, wiesie in „Mutations“ publiziert werden, haben den Reiz frak-taler Bilder à la Mandelbrot oder den genetischer Algorith-men à la Deleuze, sie irritieren zwar, sind aber, real undmetaphorisch, allzu weit entfernt von der gelebten Realitätin großen Städten.Warum aber hat sich, bei all den nachweisbaren Schwä-chen, keiner gefunden, der Rem Koolhaas offen kritisierthätte? Wenn wir uns die Folge seiner Publikationen an-sehen, dann hat sich die Originalität von „Delirious NewYork“ aus dem Jahr 1978 ganz allmählich zu einem „fauxradicalism“ hin entwickelt, der den Eindruck erweckenwill, er biete eine kritische Sicht auf die Dinge, währender sich in Wirklichkeit im Einklang mit der neo-liberalenAgenda befindet und glaubt, auf alles, was mit sozialer Ge-rechtigkeit zu tun hat, verzichten zu können. Merkwürdiggenug mutet es an, dass sich Theoretiker vom Format ei-ner Beatrice Colomina, eines Frederic Jameson oder ScottLash mit fliegenden Fahnen auf seine Seite geschlagen ha-ben. Wahrscheinlich, so vermute ich, hat das PhänomenKoolhaas weit mehr mit dem akademischen Star-System inder postmodernen Lehre zu tun als mit dem Gehalt seinerSchriften.

Amorphe StadtstrukturenDas Lagos von heute präsentiert sich als eine dieser amor-phen Stadtlandschaften, die aussehen, als hätte es nie soetwas wie Planung oder öffentliche Verantwortung gegeben.Da die Wasserversorgung schlecht funktioniert, die Stra-ßen nicht unterhalten werden und der Müll einfach liegenbleibt, lassen sich Steuern kaum rechtfertigen und nochweniger eintreiben. Versiegelte oder verrostete Briefkästen,verbogene Parksäulen und andere Überbleibsel einer ver-suchten Modernisierung verschandeln das Straßenbild.Spontane Siedlungen breiten sich neben geplanten Arealenaus oder durchsetzen sie. Klassifizierungen wie modernoder postmodern erübrigen sich hier. In Gegenden wie Aje-gunle, Ojota oder Mushin gibt es riesige Slums, obwohl die staatliche Seite schon seit 1950 dagegen ankämpft undspontane Siedlungen immer wieder mit brutaler Gewaltniederreißt. Die letzte spektakuläre Aktion dieser Art wardie Zerstörung der riesigen Maroko-Gemeinde im Jahr 1990.Doch die informellen Siedlungen wachsen schneller wieder

nach, als der Staat überhaupt reagieren kann. In der Re-gion Lagos sind es inzwischen etwa zweihundert. Auf derHalbinsel Lekki zum Beispiel, wo sich die wilden Siedlun-gen immer weiter verdichten, hausen vornehmlich Flücht-linge aus Liberia oder Sierra Leone, die weder ein Wahl-recht besitzen noch irgendwelche städtischen Dienste inAnspruch nehmen dürfen. In solchen Gemeinschaften müs-sen die Menschen alles, was sie brauchen, ob Wasser, Es-sen oder Unterschlupf, selber organisieren. Hinzu kommt,dass sie in ständiger Angst vor kriminellen Gangs oder Erpressern leben, die versuchen, aus ihrer VerletzlichkeitKapital zu schlagen.Den Erwartungen eines Architektur- oder Stadtliebhaberskann Lagos nichts bieten, was auch nur entfernt an einStadtkonzept erinnert. Meilenweit sieht er nur niedrigeHäuser, entweder in der lokalen Bautradition oder selbstgebaut oder aus Abfall zusammengeschustert. Ein unkoor-diniertes Gewebe aus Strukturen und Formen überziehtjeglichen verfügbaren Raum. Diese sich am Boden ausbrei-tende Stadt wird von einer Betonsilhouette überragt, die inStaub und Smog fast verschwindet und durch kein Grüngemildert wird. Wenn überhaupt Natur in dieser Stadt zufinden ist, dann in pervertierter Form: LebensgefährlicheMoskitos brüten und schlüpfen in Abflussröhren und offe-nen Gräben. Nur am Rande der Stadt gibt es noch so et-was wie Gärten, aber auch die sind gefährdet: Landbeset-zer oder Spekulanten könnten längst ein Auge darauf ge-worfen haben.Bestimmte Formen von privatem und öffentlichem Raumgibt es wohl, aber die klassische Trennung zwischen die-sen beiden Bereichen gilt hier nicht. Wenn Wohnsiedlun-gen umzäunt sind, dann spiegeln sie gleichzeitig die tra-ditionellen Siedlungsmuster der Yoruba und die zeitgenös-sischen Formen einer Architektur der Angst. Solche „po-rösen“ Stadtstrukturen, die durch verschiedene Schichtenvon Abgrenzungen eine Steigerung dessen, was innen ist,erzeugen und sich noch dazu räumlich und sozial abson-dern, haben eine ganz andere Funktion als die Trennungvon öffentlich und privat, wie wir sie aus europäischenund nordamerikanischen Städten kennen. AusgeklügelteSchutzmaßnahmen rund um die Häuser erinnern an die„Fortress-cities“ in Brasilien, wie sie die AnthropologinTeresa Caldeira beschreibt, wo selbst die Ärmsten der Ar-men versuchen, sich auf irgendeine Art vor der Gewalt vonaußen abzuschotten. Die Sicherheitsmaßnahmen, die inLagos zu finden sind, haben nicht das Geringste mit jenentechnologischen Netzwerken zu tun, wie sie von William J. Mitchell oder Paul Virilio beschrieben werden. Es sindmeist sehr einfache Vorrichtungen, womit sich die Bewoh-ner schützen, weil die demoralisierte und unterbezahltePolizei ihren Pflichten kaum noch nachkommen kann. Inreicheren Bezirken wie in Victoria Garden City oder aufder Halbinsel Lekki werden die spitzen Eisenzäune und die

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An einer namenlosen AusfallstraßeRichtung Norden werden nicht mehrfahrtüchtige Autos abgestellt und die Wracks Zug um Zug bis zum aller-letzten irgendwie verwertbaren Ma-terial ausgeschlachtet. Die Gerippeund der Restmüll bleiben zurück.In den betonierten Abwasserkanälenfinden auch die Frischwasserleitun-gen Platz.

2. Gandy-imp_ok 13.12.2004 15:37 Uhr Seite 27

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rund um die Uhr besetzten Wachhäuschen hinter Heckenvon Bougainvilleen versteckt. Das Nebeneinander von pri-vatem Reichtum und öffentlichem Unrat sehen wir auch in vielen europäischen und nordamerikanischen Städten,in Lagos ist es nur viel krasser. Die Straßen sind nicht be-leuchtet, und bei einer nächtlichen Autofahrt helfen nur dieab und an beleuchteten Werbetafeln, die ihr schwachesLicht auf Kreuzungen werfen, auf denen die Reste des letz-ten Unfalls noch nicht weggeräumt sind. Bei heftigem Re-gen werden die tiefen Schlaglöcher zu Seen und machendie Straßen, die zu den hell erleuchteten Bürotürmen füh-ren, praktisch unpassierbar. Der Bürodistrikt ist dann vor-übergehend vom Rest der Stadt abgeschnitten. Erwartung und Wirklichkeit klaffen in Lagos so weit aus-einander, dass die Unterscheidung zwischen wirklich undunwirklich sich allmählich verwischt. Lagos gleitet in eineArt Traumwelt, die in einem gewissen Sinn ebenso „wahr“ist wie die sichtbare Welt. In den mehr als abenteuerlichenUmgang mit Bargeld mischen sich Vorstellungen aus derAlchemie, deshalb gilt es keineswegs als absonderlich zuglauben, dass manche Leute Geld kotzen. Große Vermögenwerden über Nacht gemacht und gehen über Nacht wiederverloren, die einheimischen Vorstellungen von Wundernvermischen sich mit den Wundern der Konsumwelt, die dasSatellitenfernsehen verbreitet und die die Billboards ver-künden. Zudem kommt man an die Wunder der Konsum-welt auf irgendeine wundersame Weise heran. Die jungenLeute, die keinen Zugang zu Trinkwasser haben und keinesanitären Einrichtungen kennen, besitzen Nokia Handysund tragen gefakte Designer Klamotten, sie schmücken sichmit den Accessoires eines großstädtischen Lebens, von demsie vielleicht für immer ausgeschlossen sind.Ein tiefes Misstrauen prägt den Umgang miteinander: Weilkeiner Kredit hat, gehen bei jeder geschäftlichen Transak-tion ungeheuerliche Summen Bargeld von Hand zu Hand.Wenn man ein Apartment mieten will, wird im Normalfalleine Vorauszahlung von zwei Jahresmieten zusammen mit„Gebühren“ aller Art verlangt. Will man ein Haus kaufen,wird die Sache noch komplizierter und teurer, weil es keineFinanzierungen gibt. Ohne eine Menge Bargeld ist mangrundsätzlich vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen undkann sich höchstens auf Freunde oder Verwandte stützen.Alle ambitionierten Anstrengungen, die Wohnungsnot zulindern, sind im Sande verlaufen, und wenn jetzt am Stadt-rand neu gebaut wird, dann meist Luxuswohnungen oderfreifinanzierte Siedlungen für die Mittelklasse. Wegen derhohen Bodenpreise lässt sich mit Wohnungen viel Geld ver-dienen, indem man untervermietet. Deshalb sind mancheTeile der Stadt hoffnungslos übervölkert. Viele der Häusersind nicht dicht, und in Regenzeiten werden die niedrig ge-legenen Gebiete häufig überschwemmt. Maximal einer vonzwanzig Haushalten hat Zugang zur öffentlichen Wasser-versorgung, weswegen man sich auf unterschiedliche Art

behelfen muss: durch Bohrungen oder durch das Anzapfenvon Brunnen, durch illegale Anschlüsse an die öffentlicheWasserversorgung (die dann von Kleinkriminellen kontrol-liert werden) oder durch den Kauf von überteuertem Was-ser von privaten Händlern. Das Abwassersystem erfasst nurTeile der Stadt, weswegen das meiste Schmutzwasser überoffene Kanäle entsorgt wird. Eine Toilette mit Wasserspü-lung ist eine Seltenheit in den Slums, man behilft sich des-halb mit Kübeln und Gräben. In großen Teilen der Stadt gibtes keine Müllentsorgung. Kein Wunder, dass Lagos im Jahr1991 die zweifelhafte Ehre hatte, von der UN zur „schmut-zigsten Stadt der Welt“ erklärt zu werden. Alles, was man bisher unternommen hat, um die Situationzu mildern, blieb Stückwerk. Nach der Rückkehr der Zivil-regierung 1999 hat sich zwar eine Vielzahl privater Unter-nehmen gründen können, aber ohne staatliche Mithilfe undKoordination gibt es wenig Aussicht auf eine Verbesserungder Lage der Ärmsten. Das Misstrauen, das sich in das ge-sellschaftliche Leben eingeschlichen hat, verhindert auch,dass Kapital angespart wird, mit dem man die Rekonstruk-tion von Lagos finanzieren könnte, ohne auf Kredite vonaußen angewiesen zu sein. Die vorsichtige Entwicklunghin zu einer Demokratie in der Ära nach Abacha hat nochnicht wirklich Früchte getragen. Noch sind aus den „Ein-wohnern“ der Stadt keine „Bürger“ geworden, die ihr Rechtauf freie Meinungsäußerung zu nutzen wissen. Dass dasschnell anders wird, darf bezweifelt werden. Deshalb hatLagos große Schwierigkeiten, sich als ein Stadtwesen zu artikulieren, das mehr ist als nur der gemeinsame Raumfür Interessengruppen aller Art. In den Jahren des Militär-regimes waren Hoffnungslosigkeit und Rechtlosigkeit ander Tagesordnung, deshalb fühlt man sich auch heute nochnicht frei genug, um, wie in vergleichbaren Städten inSüdamerika, alternative Visionen mit lauter Stimme vor-zutragen.

Eine Rekonstruktion von LagosWas Lagos antreibt und zugleich gefährdet, lässt sich nichtwirklich verstehen, wenn man die Armut und Unsicherheitin der Region um Lagos außer Acht lässt. Konzepte zur Zu-kunft von Lagos, die nur die Stadt im Blick haben, ignorie-ren die Dynamik der um sich greifenden Verstädterung in West Afrika, die zu einer Eingemeindung riesiger Rand-gebiete tendiert. Von Kamerun bis zum Senegal könntesich eine der größten Stadtagglomerationen der Erde entwi-ckeln. Eine solche Konzentration menschlicher Ressourcenmüsste doch Auswirkungen haben, die nicht nur als Ge-fahr, sondern auch als Chance für die nigerianische Kulturbzw. für die afrikanische Kultur insgesamt gelesen werdenkönnten. Die heftige Debatte über die Zukunft der Städteist ein unverzichtbarer Motor in dem Prozess, der Lagosvon den autokratischen Stadtvisionen, die seine Vergangen-heit bestimmt haben, befreien könnte. Denn wenn die Epo-

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Eine reguläre und regelmäßige Was-serversorgung gibt es nicht in Lagos.Das öffentliche Netz wird überall an-gezapft, egal ob genehmigt oder still-schweigend geduldet, manchmal ziehen Kleinkriminelle daraus Gewinnund verkaufen auf eigene Rechnungsogenanntes „pure water“ in kleinenPlastikbeuteln oder eimerweise.

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Page 6: Matthew Gandy Lagos trotz Koolhaas - bauwelt.de · Rem Koolhaas genießt es geradezu, die westlichen Pla- nungstraditionen zu widerlegen, indem er die informelle Ökonomie als einzige

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che der Kolonialmacht von Arroganz und Ignoranz geprägtwar, dann zeichnete sich die der Militärregierung durchGewaltherrschaft und Zynismus aus. Lagos ist eine Stadt, die gleichzeitig wächst, sich spaltet,sich polarisiert und verfällt. In einem gewissen Sinn bildetsie eine Variante zu dem gegenwärtigen Trend zur politi-schen und kulturellen Globalisierung. Hier gibt es jedochkeine voraussagbare, gradlinige Entwicklung, sondern ehereine episodische, holprige, eine Entwicklung in Schüben,immer wieder zurückgeworfen durch innere Widersprücheoder plötzliche Abweichungen und zersetzt durch rivalisie-rende Meinungen über den richtigen Weg. Obwohl Lagosohne Zweifel eine post-industrielle Stadt ist, weil sie seit1970 fast alles an produzierendem Gewerbe, was sie je be-saß, verloren hat, wäre es dennoch richtiger, sie als „post-produktive“ Stadt zu betrachten, wodurch ihre Randposi-tion in der globalen Ökonomie genauer beschrieben ist. La-gos ist ein riesiges Verbraucherzentrum, dem es weder an Reichtum noch an Attraktionen mangelt, andrerseits istes eine Stadt, die ihre Einwohner gefangen hält, denn esgelingt keinem so schnell, sie zu verlassen. Die Kräfte, diedie Veränderungen im täglichen Ablauf der Dinge bewir-ken, bleiben meist unerkannt.Die extreme Armut und die ethnische Polarisierung sindeine ständige Bedrohung, was jegliche Initiative zur Re-strukturierung des sozialen Lebens lähmt. Mehr noch, ganzNigeria ist zentrifugalen Spannungen ausgesetzt, die sichstärker erweisen könnten als alle Anstrengungen, ein so-ziales und ökonomisches Gleichgewicht herzustellen. Ob-wohl die informellen Siedlungen die schlimmsten Nöte der Armen lindern, erreichen diese Adhoc-Maßnahmen nie-mals eine Dimension, die strukturelle Auswirkungen aufdie Entwicklung der Stadt haben könnte. Ohne den Staat isthier nichts zu machen. Entscheidend für jede Art von Fort-schritt wären grundlegende Reformen der Gesetzgebung,der Besteuerung und ein Erlass von Regularien, die die pro-fessionellen Umgangsformen verbessern, für eine gewisseTransparenz sorgen und den Maßstab der Verlässlichkeitwieder einführen. Ohne solche Reformen ist das Gespenstethnischer und religiöser Chauvinismen nicht zu verscheu-chen, das sich zum Beispiel in Organisationen wie „ThePeople’s Congress“ äußert, denen es gelingt, unzufriedeneJugendliche zu fanatischen Aktionen gegen so genannte„Feinde“ in ihrer Nachbarschaft zu verführen.Manche der Mitdenker über die Zukunft der afrikanischenStadt stellen sich vor, man könne eine Art komplimentärerRegierungsform etablieren, innerhalb derer die liberale De-mokratie neben traditionellen Formen der Entscheidungs-findung in Afrika ihren Platz hätte. Aber diese eher philo-sophische Position ignoriert die Risiken, die in einer Rela-tivierung ethischer oder moralischer Positionen stecken,nur weil sie in anderen kulturellen Zusammenhängen einsteine andere Bedeutung hatten. In Lagos besteht ohnehin

die Gefahr eines doppelten Rechtsrahmens: Da gibt eseinerseits die reichen Einkaufsviertel, die mit anderen Ein-kaufszentren in anderen Global Cities wetteifern, da istandrerseits die Masse der Armen, die, gefangen in macht-vollen Netzwerken, vom Clan, vom Ältestenrat oder vonanderen selbst ernannten lokalen Autoritäten beherrschtwerden.Vieles, was wir in Lagos beobachten können, widerlegtoder relativiert zwar die bis heute erarbeiteten Kriterien,nach denen Stadt funktionieren müsse. Das heißt abernicht, dass unser Wissen über afrikanische Städte undafrikanische Gesellschaften nicht revidierbar ist. Doch dieAnrufung eines „morphologischen Exzeptionalismus“ à laKoolhaas hilft der Sache nicht weiter, sie macht aus La-gos eine Ausnahmeerscheinung. Obwohl sie sich auf ver-schiedene wissenschaftliche Diskurse stützt, verdunkelt sie doch nur das Verhältnis zwischen Stadtentwurf undpolitischer und sozialer Freizügigkeit. Ich habe, ganz imGegensatz dazu, versucht, die Probleme von Lagos in einengrößeren Zusammenhang zu stellen, um die Stadt ein fürallemal vom Stigma der Andersartigkeit zu befreien. DieKrise der Infrastruktur zum Beispiel lässt sich kaum alsgesondertes Problem erfassen, denn sie ist von politischenund wirtschaftlichen Entwicklungen nicht zu trennen, diesowohl eine regionale wie eine globale Dimension haben.Welche Auswirkungen eine zur Demokratie nie erzogeneGesellschaft auf den politischen Diskurs hat, ist kein ty-pisch afrikanisches Problem. Die Frage, ob eine funktionie-rende Infrastruktur die Menschen für längere Zeit an ei-nem Ort sesshaft werden lässt, stellt sich auch in anderenStädten, die sich mit Armut, sozialer Zersplitterung unddem Versagen des Staates konfrontiert sehen. Nur durchdie Betonung von Gemeinsamkeiten, die über soziale, eth-nische und religiöse Polarisierungen hinausgehen, kannsich Lagos wieder zu einem Stadtsystem entwickeln, dassich auch zentral regieren lässt. Dann hätten die Einwoh-ner auch eine Chance, sich ihre Identität inmitten der Viel-völkerstadt zu sichern, und könnten die soziale Durchläs-sigkeit nutzen, um den gewalttätigen Selbstbehauptungenzersplitterter Randgruppen zu widerstehen. Es gibt nun doch schon eine neue Generation von Archi-tekten, Stadtplanern und Soziologen, die sich um einen wieauch immer gearteten öffentlichen Raum in Lagos küm-mern. Es entstehen auch neue Allianzen, die eine Stadtpla-nungspolitik vorbereiten, vorausgesetzt, die Demokratisie-rung Nigerias schreitet fort. Endlich scheint es möglich zu werden, eine typisch afrikanische Diskussion einzulei-ten, die sich weder in den Fallen der Vergangenheit ver-strickt, noch auf Ideen einlässt, die ihr von weither aufge-pfropft werden.

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Parteien plakatieren ihre Kandidatenanlässlich der Wahlen zur National-versammlung im Jahr 2003 in einerStadt, deren Einwohner noch nicht„Bürger“ geworden sind, die ihr Rechtauf freie Meinungsäußerung nochnicht zu nutzen wissen, weil Armutund ethnische Polarisierung jede Ini-tiative zur Demokratisierung lähmen. Ein Wandbild an der Fassade des französischen Kulturinstituts in Lagosillustriert auf naive Weise eine ge-spaltene Stadtgesellschaft, die in denFallstricken von Unterdrückung, Kor-ruption, religiösem Chauvinismus undVoluntarismus gefangen ist. Der Schöpfer des Gemäldes, Ghariok-wu Lemi, gehört inzwischen zur Rie-ge hochgehandelter Künstler auf deminternationalen Kunstmarkt.

Fotos: Matthew Gandy, London

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