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Max Beckmann: Der eiserne Steg (1922)

Max Beckmann: Der eiserne Steg (1922) · Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme

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Max Beckmann: Der eiserne Steg (1922)

Ernst Stadler: Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht

Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.

Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,

Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis

Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend .. nur sekundenweis ..

Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der Nacht zur Schicht.

Nun taumeln Lichter her … verirrt, trostlos vereinsamt … mehr … und sammeln sich… und werden dicht.

Gerippe grauer Häuserfronten liegen bloß, im Zwielicht bleichend, tot - etwas mußkommen … o, ich fühl es schwer

Im Hirn. Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der Boden plötzlich wie einMeer:

Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne Luft, hoch übern Strom. OBiegung der Millionen Lichter, stumme Wacht,

Vor deren blitzender Parade schwer die Wasser abwärts rollen. Endloses Spalier,zum Gruß gestellt bei Nacht!

Wie Fackeln stürmend! Freudiges! Salut von Schiffen über blauer See! BestirntesFest!

Wimmelnd, mit hellen Augen hineingedrängt! Bis wo die Stadt mit letzten Häusernihren Gast entläßt.

Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr.Kommunion. Und Glut und Drang

Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer.Zum Untergang.

George Grosz: Leichenbegräbnis (ca. 1917)

Georg Heym: Der Gott der Stadt (1910/11)

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.Er schaut voll Wut, wo fern in EinsamkeitDie letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,Die großen Städte knien um ihn her.Der Kirchenglocken ungeheure ZahlWogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die MusikDer Millionen durch die Straßen laut.Der Schlote Rauch, die Wolken der FabrikZiehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.Die Stürme flattern, die wie Geier schauenVon seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagtDurch eine Straße. Und der Glutqualm braustUnd frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.

G. Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 1.- München 1964

Potsdamer Platz (1925)

Erich Kästner: Besuch vom Lande (1929)

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz.Und finden Berlin zu laut.Die Nacht glüht auf in Kilowatts.Ein Fräulein sagt heiser: »Komm mit, mein Schatz!«Und zeigt entsetzlich viel Haut.

Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.Sie stehen und wundern sich bloß.Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.Sie möchten am liebsten zu Hause sein.Und finden Berlin zu groß.

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt,weil irgendwer sie schilt.Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt.Und finden Berlin zu wild.

Sie machen vor Angst die Beine krumm.Und machen alles verkehrt.Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm.Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum,bis man sie überfährt.

Erstdruck: Hier schreibt Berlin. Herausgegeben von Herbert Günther. München: Paul List, 1929. Seite 97.Aus: Ein Mann gibt Auskunft. In: Werke - Band 1. Seite 149

Erich Kästner: In der Seitenstraße (1929)

Hier ist es dunkel. Komm noch etwas näher.Hier ist es fast, als wäre man im Wald.Was soll man andres tun als Europäer?Die Stadt ist groß, und klein ist das Gehalt.

Man liest manchmal in seltsamen Romanenvon Inseln, wo fast keine Menschen sind.Dort gibt es Palmen statt der Straßenbahnen.Und kleine Affen schaukeln sich im Wind …

Und an das Ufer spülen manche Fässer.Darin ist Corned beef und Pilsner Bier.Dort haben es die Liebespaare besser!Wir sind nicht dort, mein Kerlchen, sondern hier.

Hier stört man uns, als täte man's zum Spaße.Die Städte schrein und platzen vor Betrieb.Da stehn wir nun in einer Seitenstraßeund haben uns »nur zur Verrechnung« lieb.

Es sieht fast aus, als wollten wir wen meucheln.Dabei ist unsre Absicht gar nicht bös,Es bißchen küssen … Und ein bißchen streicheln …Ach, wer sich liebt, den macht Berlin nervös.[Erstdruck: Ach, wer sich liebt, den macht die Stadt nervös.]

Was hilft das alles? Reizend war es heute.Vermutlich kriegst du wieder Krach zu Haus.Es ist, als wohnten hier gar keine Leute.Na ja, und ich muß morgen zeitig raus.

Ich bringe dich noch bis zur Haltestelle.Gleich ist es Zeit. Gleich kommt dein Autobus.Hast du mich lieb? Gib mir noch einen Kuß …Und Mittwoch sehn wir uns. Auf alle Fälle.Nun aber Schluß!

Erstdruck: Vossische Zeitung für das Vogtland, 20.12.1929. Seite 7.Aus: Ein Mann gibt Auskunft. In: Werke - Band 1. Seite 148f.

Erich Kästner: Nächtliches Rezept für Städter (1929)

Man nehme irgendeinen Autobus.Es kann nicht schaden, einmal umzusteigen.Wohin, ist gleich. Das wird sich dann schon zeigen.Doch man beachte, daß es Nacht sein muß.

In einer Gegend, die man niemals sah(das ist entscheidend für dergleichen Fälle),verlasse man den Autobus und stellesich in die Finsternis. Und warte da.

Man nehme allem, was zu sehen ist, Maß.Den Toren, Giebeln, Bäumen und Balkonen,den Häusern und den Menschen, die drin wohnen.Und glaube nicht, man täte es zum Spaß.

Dann gehe man durch Straßen. Kreuz und quer.Und folge keinem vorgefaßten Ziele.Es gibt so viele Straßen, ach so viele!Und hinter jeder Biegung sind es mehr.

Man nehme sich bei dem Spaziergang Zeit.Er dient gewissermaßen höheren Zwecken.Er soll das, was vergessen wurde, wecken.Nach zirka einer Stunde ist's soweit.

Dann wird es sein, als liefe man ein Jahrdurch diese Straßen, die kein Ende nehmen.Und man beginnt, sich seiner selbst zu schämenund seines Herzens, das verfettet war.

Nun weiß man wieder, was man wissen muß,statt daß man in Zufriedenheit erblindet:daß man sich in der Minderheit befindet!Dann nehme man den letzten Autobus,bevor er in die Dunkelheit verschwindet …

Erstdruck: Vossische Zeitung, 22.09.1929. Unterhaltungsblatt Nr. 221.Aus: Ein Mann gibt Auskunft. In: Werke - Band 1. Seite 157

Erich Kästner: Berlin in Zahlen (1930)

Laßt uns Berlin statistisch erfassen!Berlin ist eine ausführliche Stadt,die 190 Krankenkassenund 916 ha Friedhöfe hat.

53.000 Berliner sterben im Jahr,und nur 43.000 kommen zur Welt.Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,weil sie 60.000 Berliner durch Zuzug erhält.Hurra!

Berlin besitzt ziemlich 900 Brückenund verbraucht an Fleisch 303.000.000 Kilogramm.Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die glücken.Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.

Berlin hat jährlich 27.600 Unfälle.Und 57.600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,und 700.000 Hühner, Gänse und Tauben.Halleluja!

Berlin hat 20.100 Schank- und Gaststätten,6.300 Ärzte und 8.400 Damenschneiderund 117.000 Familien, die gerne eine Wohnung hätten.Aber sie haben keine. Leider.

Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?Oder ob sie nicht aufschlußreich sind und nur scheinen?Berlin wird von 4½.000.000 Menschen bewohntund nur, laut Statistik, von 32.600 Schwinen.Wie meinen?

Erstdruck: Jugend 36, Nr. 16, 1931, Seite 8.Nachdruck: Um uns die Stadt. Eine Anthologie neuer Großstadtdichtung. Berlin 1931. Seite 72-73.Aus: Nachlese. In: Werke - Band 1. Seite 239f.