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Universität Leipzig Historisches Seminar HS: Stalinismus PD Lutz Häfner Sommersemester 2005 Hausarbeit Max Weber und die „stalinistische Ständegesellschaft“ Überlegungen zum System hinter der Entartung des Kommunismus eingereicht von: Claudia Schümann 1. HF: Politikwissenschaft (7. FS) 2. HF: Ost- und Südosteuropäische Geschichte (6. FS)

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Universität LeipzigHistorisches Seminar

HS: StalinismusPD Lutz Häfner

Sommersemester 2005

Hausarbeit

Max Weber und die „stalinistische

Ständegesellschaft“Überlegungen zum System

hinter der Entartung des Kommunismus

eingereicht von:Claudia Schümann

1. HF: Politikwissenschaft (7. FS)2. HF: Ost- und Südosteuropäische Geschichte (6. FS)

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Inhalt

I. Einleitung Seite 1

II. Theoretische Vorbemerkungen

a) Sheila Fitzpatrick und die Relevanz des Themas Seite 2

b) Max Weber und der Begriff „Stand“ Seite 3

III. Die Stalinistische Ständegesellschaft?

Stalinismus „ständisch“ gelesen mit Weber Seite 5

a) Ehre und Un-Ehre Seite 5

b) Ständische Sondermonopole Seite 7

c) Distanz Seite 12

d) Ehre und Markt Seite 12

IV. Fazits

a) Stände im Stalinismus Seite 14

b) Doppelter Boden Seite 16

c) Nutzen der Kategorie „Stand“ Seite 16

d) Offene Aspekte & Fragen Seite 17

V. Literatur Seite 19

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I. Einleitung

„The main thesis of this article is that the process of revolutionary ascription produced social

entities that looked like classes in the marxist sense, and were so discribed by contemporaries,

but might more accurately be discribed as Soviet sosloviia.“1

Dieser Satz stammt aus einem Aufsatz von Sheila Fitzpatrick2, in dem sie darüber nachdenkt,

ob die junge Sowjetunion statt als Klassengesellschaft nicht viel eher als eine

Ständegesellschaft beschrieben werden sollte.

Fitzpatricks Gedanke hat mich fasziniert. Zudem überzeugt die inhaltliche Logik dieser Idee,

sodass ihre These als Basis für weitere Überlegungen in der vorliegenden Arbeit dienen soll.

Dieses tue ich auch deshalb, da ihre Anregungen in der Geschichtswissenschaft offensichtlich

nicht weiter aufgenommen wurden,3 obwohl schon einige diesen Gedanken dachten.4

Dies jedoch steht imWiderspruch zu meiner Einschätzung des Fitzpatrick-Aufsatzes. Ich will

also sowohl versuchen, die stalinistische Sowjetunion5 als Ständegesellschaft zu beschreiben

als auch der Frage nach Relevanz oder Irrelevanz des Untersuchungsgegenstandes nachgehen.

In dieser Arbeit geht es explizit nicht um eine Entscheidung zwischen Stände- und

Klassengesellschaft.

Ich werde wie folgt vorgehen:

Zu Beginn rekapituliere ich Fitzpatricks Hauptargumente, was die Relevanz des Themas, also

den geschichtswissenschafltichen Erkenntnisgewinn dieser Um-Schreibung verdeutlichen soll.

Im Anschluss schaffe ich eine begriffstheoretische Arbeitsgrundlage, indem ich mich –

orientiert an den Definitionen, die Max Weber liefert – mit dem Begriff „Stand“

auseinandersetze.

1 Fitzpatrick, Sheila: Ascribing Class: The Construction of Social Identity in Soviet Russia, in: Journal of ModernHistory 65 (1993), S.746. Der Begriff sosloviia geht auf den russischen Historiker Kljucevskij zurück. Er setzt ihmim Kontext der Entstehung der Stände in Russland mit Stand und etat gleich, ohne allerdings zwischen ost- undwesteuropäischem Stand zu differenzieren, wie Schmidt kritisiert. Vgl. Schmidt, Christoph: Ständerecht undStandeswechsel in Russland 1851-1897, Harrassowitz, Wiesbaden 1994, S.9.

2 Siehe Fußnote 1.3 Ich konnte in der wissenschaftlichen Debatte um den Stalinismus keinerlei Reaktionen auf Fitzpatricks Artikel

finden. Auch sie selbst scheint ihre eigene Idee nicht weiterentwickelt zu haben.4 Zum Beispiel Boris Meissner, der der sowjetischen Sozialordnung allgemein „eine ausgesprochene Tendenz zur

Ständegesellschaft“ bescheinigt. Zitiert nach Ruffmann, Karl-Heinz: Sowjetrussland 1917-1977, dtv, München 1967,S.121. Zudem vgl. Plaggenborg, Stefan (Hsg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Band 5, II, Anton Hiersemann,Stuttgart 2003, S.633.

5 Ich beschränke mich auf diesen Zeitraum, da er den Rahmen des vorausgegangenen Hauptseminars bildete.

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Im Hauptteil werde ich Kernbegriffe, die Weber in diesem Kontext seiner Stände-Definition

nennt, auf die stalinsche Sowjetunion anwenden, um somit „vermeintliche Klassen“ und

andere Gruppen als „sowjetische Stände“ beschreiben zu können.

Schließlich werde ich auf mehreren Ebenen Fazits ziehen.

Max Weber hat als großer Soziologe allgemein anerkannte Definitionen zu den Begriffen

„Klasse“ und „Stand“ entwickelt und bietet für diese Arbeit somit eine stabile theoretische

Basis.

Für den Begriff „stalinistische Ständegesellschaft“ bin ich verantwortlich. Ich werde ihn im

folgenden kursiv vom Text abheben.

Aufgrund von Verfügbarkeitsproblemen stütze ich mich in der Literatur zum Großteil auf

deutsch-sprachige Monographien und Sammelbände.

An dieser Stelle muss einschränkend angemerkt werden, dass schon allein die Literaturlage

zum Thema „Stände im Russischen Reich“ äußerst mager ist. Noch problematischer ist dies

beim Thema „Stände im Kontext der Sowjetunion“. Ich kann mich hierbei somit nur auf eine

schmale Literaturbasis stützen.

II. Theoretische Vorbemerkungen

a) Sheila Fitzpatrick und die Relevanz des Themas

Fitzpatrick führt zwei entscheidende Argumente an, um die Relevanz einer solchen

Umformulierung logisch zu begründen.

Erstens stellt sie fest, dass “´classes` of Stalinist society” - verstanden als Stände - die

Beziehung zwischen diesen Klassen bzw. Ständen auf der einen und dem Staat auf der anderen

Seite in den Vordergrund rückt. Das marxistische Klassenkonzept richte den Fokus in diesem

Zusammenhang lediglich auf die Beziehungen zwischen den Klassen. Somit würde die

stalinistische Gesellschaft gerade vor dem Hintergrund der “much-remarked ´primacy of the

state`”6 besser erklärbar.

Zweitens ist Fitzpatrick der Ansicht, mit dem Modell der soslovnost` das Phänomen der

sozialen Hierarchie in der stalinistischen Sowjetunion besser beschreiben und erklären zu

6 Fitzpatrick, S.770.

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können, dessen konzeptuellen Rahmen sie als “trübe” bezeichnet.7 Als erläuterndes Beispiel

führt sie die unter Stalin auftretende neue Oberschicht an, “strongly associated with office

holding”. Fitzpatrick hält es für problematisch, hier von einer neuen “ruling class” à la Marx

zu sprechen. Vielmehr ginge es um “a new privileged one”. Sie geht soweit zu sagen, diese

upper class würde im Rahmen einer stalinistischen Ständegesellschaft zu einer “latterday

´service nobility`”8.

Fitzpatrick sieht den Wert einer Beschreibung der stalinistischen Gesellschaft als eine

Ständegesellschaft zusammenfassend im Gewinn eines neuen Erklär- und Verständnisansatzes

für den Stalinismus; oder – weniger neutral formuliert und in meinen Worten – im Gewinn

eines Ansatzes, der es besser versteht, die Realität/en zu fassen, Widersprüche aufzulösen bzw.

erklärbar werden zu lassen und somit einer möglichen Wahrheit vom Stalinismus näher zu

kommen.

b) Max Weber und der Begriff „Stand“

Sowohl „Klasse“ als auch „Stand“ sind nach Weber Phänomene der Machtverteilung in

Gesellschaften.9 Während jedoch Besitz als Grundkategorie Klassenlagen präge10, sei die

entscheidende Grundkomponente beim Stand eine „positive oder negative soziale

Einschätzung der Ehre“, welche sich an eine Eigenschaft vieler knüpft11. Diese Ehre entsteht

nach Weber primär durch eine ständische Lebensführung (Bsp. Berufsstand), sekundär über

Abstammung (Geburtsstand) oder schließlich durch Inbesitznahme/ Verwendung von

„politischen Herrengewalten als Monopole“12 bzw. allgemein ständischen Sondermonopolen,

wie ideellen und materiellen Gütern oder Chancen.13 Im Zusammenhang zu letzterem nennt er

konventionelle Vorzugschancen auf Anstellungen, die sich zu einem rechtlichen Monopol auf

bestimmte Ämter „für bestimmte ständisch abgegrenzte Gruppen“ steigern können. „Güter,

7 Vgl. ebd.8 Ebd.9 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft; Grundriss der verstehenden Soziologie, Hsg: Winckelmann,

Johannes, Mohr, Tübingen 1985, S.253. Auf den Begriff „Klasse“ werde ich kaum eingehen, da sich der Fokusdieser Arbeit auf die Kategorie „Stand“ richtet. Da es hier nicht darum gehen soll, zwischen Klassen- undStändegesellschaft zu entscheiden, stellt das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der Kategorie „Klasse“ für dieseArbeit kein Defizit dar.

10 Ebd.11 Ebd. S.259, vgl. S.262.12 Weber führt hier auch die „hierokratischen Herrengewalten“ an, also Priesterherrschaft. Ich erwähne das jedoch nicht

weiter, da es für den Untersuchungsgegenstand irrelevant ist. Vgl. Weber, S.180.13 Vgl. Weber, S.180, S.265.

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(...) Erwerbszweige werden Gegenstand ständischer Monopolisierung.“14

Weber bringt soziale Ehre mit Macht in Verbindung, indem er feststellt, dass sie Anreiz sein

kann, um Macht zu erlangen. Wobei er bemerkt, nicht jede Macht bringe soziale Ehre mit

sich.15 Hier würde Macht die Basis sozialer Ehre bedeuten. Vor allem an die ökonomische

Macht knüpfe sich eine soziale Sonderschätzung.16 Gleichzeitig könne auch soziale Ehre als

Basis für Macht dienen, denn die mit Ehre einhergehenden Sondermonopole gewährleisten

wiederum das Erlangen von beispielsweise ökonomischer Macht.17

Ein weiterer Aspekt von Stand sei die Beschränkung des gesellschaftlichen Verkehrs, welcher

betontermaßen nicht ökonomisch oder sonst geschäftlich-sachlich gemeint ist. Diese Distanz

zwischen den Ständen gehe „bis hin zur völligen Abschottung“ und bringe ein

einverständliches, ständisches Gemeinschaftshandeln mit sich.18

Wie steht es um das Verhältnis von Markt und Stand zueinander?

Grundsätzlich redet Weber von der Möglichkeit, ständische Lebensführung könne

ökonomisch mitbedingt sein19, eine ständische Lage könne also auf einer Klassenlage ruhen.20

Trotzdem stehe Markt Ehre entgegen. „Er weiß nichts von Ehre. Die ständische Ordnung

bedeutet gerade umgekehrt: Gliederung nach Ehre und ständischer Lebensführung ist als

solche in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die (...) rein

ökonomische Macht als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleiche oder (...) höhere Ehre

verleihen könnte.“21 Es geht also um die Bedrohung ständischer Gesellschaften durch das

kapitalistische System, gegen das sie um so schärfer vorgeht, „je bedrohter sie sich fühlen“22.

Zudem ist Weber der Ansicht, Stände hemmten die „konsequente Durchführung des nackten

Marktprinzips“23. So spielt er auf diejenigen Güter an, „welche die Stände durch

14 Weber, S.265.15 Ebd. S.252. 16 Hier wird eine erste Überschneidung der ständelogischen Ehre- und der wirtschaftstheoretischen Klassen-

Konzeption deutlich.17 Ebd. 18 Ebd. S.260.19 Ebd. S.265.20 „... ist aber nicht allein durch sie bestimmt.“ Vgl. Weber 1990, S.180.

Klassenlage setzt Weber mit Marktlage gleich. Die Art der Marktchance bildet in diesem Zusammenhang die„entscheidende Instanz“. Besitz und Besitzlosigkeit wirken als Grundkategorien aller Klassenlagen. Vgl. WeberS.254.

21 Weber, S.266.22 Ebd. S.266.23 Ebd. S.258, vgl. 267f.

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Monopolisierung dem freien Verkehr direkt entziehen“.24

III. Die Stalinistische Ständegesellschaft?

Stalinismus „ständisch gelesen“ mit Webers

Im folgenden nutze ich die zentralen Begriffe der weberschen Stände-Definition als Katalog,

an dem ich die sowjetische Gesellschaftsstruktur unter Stalin abarbeiten möchte.

Die relevanten Begriffe sind die der Ehre, der ständischen Sondermonopole, der Distanz und

der Marktbezogenheit von Ständen. Die Aspekte ständischer Lebensführung und Abstammung

subsummiere ich unter den Abschnitt „Sondermonopole“.

a) Ehre und Un-Ehre25

Die positiv oder negativ ausfallende soziale Einschätzung der Ehre ist nach Weber eine der

Grundkomponenten der Kategorie Stand.

Schmidt stellt jedoch zu Recht fest, dass Weber hierbei die westliche Perspektive bemüht. Er

hingegen unterscheidet zwischen „Kohäsionsständen“ und „Adhäsionsständen“. Erstere

bezeichnen die Stände, die aus sich hervorgehen. Sie bilden ein stärkeres Ständebewusstsein

und insofern eine „organische Struktur“ aus. In Bezug auf die russländische Geschichte jedoch

plädiert er für den Begriff der „Adhäsionsstände“, Stände also, die von oben geformt wurden

und in denen eher ein schwacher innerer Zusammenhalt besteht26 - der sich m.E. jedoch

nachträglich entwickeln kann.

Kombiniert man den Ehre-Gedanken Webers mit der schmidtschen Konzeption der

„Adhäsionsstände“, scheint das stalinsche Gesellschaftssystem beschreibbar, denn in der Zeit

des Stalinismus ist eine Ständeformung von oben zu beobachten27 - auch und gerade in

Hinblick auf das Phänomen einer „ständischen Sonderschätzung“, welches im Kontext des

Stalinismus stets auf das Zuschreiben von Ehre oder Un-Ehre hinauslief.

24 Ebd. S.267.25 Un-Ehre hier verstanden als die „negative soziale Einschätzung der Ehre“. Vgl. Weber, S.179, S. 259.26 Schmidt S.31, S.43.27 Ruffmann bezeichnet beispielsweise die sogenannte Werktätige Intelligenz als „Produkt“ Stalins. Ruffmann, S.61.

Insofern könnte sogar eine Kontinuität zwischen Ständen des vorrevolutionären Zarenreiches und den stalinistischenStänden hergestellt werden. In beiden Fällen fand eine Kontruktion von oben statt. Bzgl. der Zeit vor 1917 vgl.Schmidt, S.31, S.43.

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Doch wo sollen Ehre und Un-Ehre in einer Gesellschaft zu verteilen sein, in der der

Klassenkampf offiziell beendet und die Bürger in sozialistischer Eintracht und Gleichheit

leben? Die Stalinverfassung 1936 beendete offziell die Zeit des Klassenkampfes zwischen

antagonistischen Klassen und begründete die Ära der nichtantagonistischen

Klassengesellschaft.28

Meines Erachtens ist das Ehre-Prinzip unter Stalin an den Grad der Hingabe zum System

gekoppelt. Ehre wird denen zuteil, die den Sozialismus mit allen Kräften vorantreiben. Somit

wird Ehre jedoch nur denen zuteil, die dem sozialistischen System gegenüber loyal und so

letztendlich stalintreu sind. Hier ist auf die Bedeutung der Sowjet-Helden hinzuweisen. Die

Inszenierung der Rückkehr der „Celjuskin“-Polarexpedition macht beispielsweise deutlich,

wie sehr das Sowjetische überhöht wurde.29 Das konstruktive Mitarbeiten am Sowjetischen

wurde gerade durch eine solche event-Politik als erstrebenswertes Ziel konstruiert, installiert

und schließlich mit Ehre belohnt.

Was hier deutlich wird, ist ein Ebenen-shift, der die sozialistische Oberfläche mit dem

ständischen Kern in einen logischen Zusammenhang setzt. Das ständische Moment der Ehre

wird unter neuen Vorzeichen der stalinistisch-sozialistischen Ideologie genutzt.

Wie ich oben bemerkte, bin ich der Ansicht, dass sich ein Standesbewusstsein auch

nachträglich bilden kann. Im Sinne einer stabilen Gesellschaft ist dies sogar erstrebenswert -

nicht nur weil es identitätsstiftend wirkt und somit auf der Mikroebene stabilisiert, sondern in

Form einer stabilen Hierarchie auch die gesamte Gesellschaftsstruktur sichern kann. In

Hinblick auf die Ehre, die durch besonderes Mitwirken am Systemaufbau und -erhalt erlangt

werden konnte30, ist die Praxis der Verleihung von „Diensträngen, Orden und Ehrentiteln für

fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens“31 zu nennen. Hier wurde das Ehresystem durch

Reizsetzungen gestärkt.

Allerdings: War Ehre dann jedem „zugänglich“? Wo bleibt das Ständische?

Bezüglich Ehre: Ich denke, im Fall der stalinistischen Sowjetunion wurde eine neue Art

Ständesystem geschaffen – bestehend aus flexiblen Ständen. Dafür sprechen ständige oder

28 Vgl. Stökl, Günther: Russische Geschichte, Kröner, Stuttgart 1997, S.724.29 Vgl. ebd. S.732.30 Vgl. Plaggenborg, S.654: In einer 1950/51 durchgeführten Umfrage unter 2718 während der Kriegswirren

geflüchteten Emigranten kam folgendes Ergebnis zutage: Statt Klassenbewusstsein wirke die Polarisierung zwischenPartei- und Nicht-Parteimitgliedern als gesellschaftsstrukturierende Kraft. Insofern sehe ich mein Argument vonEhre-Rängen entlang von Graden der „Teilnahme“ am System gestützt.

31 Ruffmann, S.121.

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spontane Überlappungen von Standes-Ehren. Betrachtet man beispielsweise die Kategorie

Nationalität im Stalinismus, so erkennt man ständisch genutzte Momente, die unterhalb einer

klassentheoretisch angelegten Oberfläche aktiv blieben, also jederzeit Ehre-bestimmend

aktiviert werden konnten. Es scheint zudem sowohl Ehre-Abstufungen als auch Mechanismen

zur Kompensation von Ehre und Un-Ehre gegeben zu haben.32

Eine solche flexible Stände-Handhabung erscheint gerade im stalinistischen Sinne nützlich, da

das ständische System so weniger auffällig wirken konnte und die Optik der an Klassen

orientierten ideologischen Oberfläche nicht störte. Da Stalin als die Spitze der

Ständehierarchie bezeichnet werden kann und seine Systemvorstellungen das Ehre-System

prägten33, würde ich den oben eingeführten Begriff konkretisieren und von modern-flexiblen

und spezifisch stalinistischen Ständen reden.

b) Ständische Sondermonopole34

Ständische Sondermonopole benennt Weber als etwas, aus dem sich die ständische Ehre-

Zuschreibung speist.

Grundsätzlich nach Weber und auch in Hinblick auf die stalinistische Gesellschaft

unterscheide ich zwischen ideellen und materiellen Gütern oder Chancen.35

Für den Komplex der materiellen Güter oder Chancen erwähnt Ruffmann „die in jeder

Hinsicht bevorzugten Angehörigen der obersten Staatsbourgeoisie, politische und

wirtschaftliche Spitzenfunktionäre ebenso wie hervorragende Künstler und Wissenschaftler“,

denen Luxusgüter aller Art zur Verfügung standen.36 „Die Masse der Bevölkerung blieb eine

32 Im Kapitel „Ständische Sondermonopole“ werde ich auf diese Aspekte eingehen.33 Die vier gesellschaftliche Kräfte, die im Zuge der Stalin-Verfassung 1936 eingeführt wurden, bilden m.E. eine Art

offiziellen Rahmen und Maßstab für soziale Ehre und Ziele gesellschaftlicher Aktivitäten. Die vier Kräfte sind diemoralisch-politische Einheit der Gesellschaft der Sowjetunion, die Freundschaft der Völker der Sowjetunion, derSowjetpatriotismus sowie Kritik und Selbstkritik.

Gleichzeitig sieht Stökl Stalin als Fixpunkt dieser Kräfte: „Die zuletzt genannte „Kraft“ war nichts anderes als einepseudodemokratische Methode, Parteidirektiven durchzusetzen, die übrigen „Kräfte“ aber waren nichts anderes alsdie „Volksgemeinschaft“ sowjetischer Patrioten, die geschlossen hinter ihrem Staat und ihrem „Führer“ zu stehenhatten.“ Vgl. Stökl, S.729.

34 Im folgenden werde ich synonym zum Begriff der Sondermonopole den Begriff der Privilegierung nutzen. Zudemmöchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass Webers Aspekt der spezifisch ständischen Lebensführung in meinerArbeit nicht direkt angesprochen werden wird, ich ihn aber unter dieses Kapitel subsummiere. Ich mache den Kernder ständischen Lebensführung, den Weber lediglich über das Stichwort „Berufsstand“ konkretisiert, vor allem anPrivilegien und ständischen Sondermonopolen fest, die Alltagsleben und Lebensführung auf allen Ebenenbeeinflussten.

35 Weber, S.265. Vgl. S.180.36 Ruffmann , S.121.

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gegenüber der Nomenklatur unterprivilegierte, arme, wenn auch nicht elende Grundschicht.“37

Dies stützt Webers Annahme von monopolisierten Güter in ständischen Strukturen.38

Ich möchte damit nicht in Abrede stellen, dass auch sozialistische Industriegesellschaften,

„wie alle Gesellschaften, arbeitsteilige Gesellschaften“ sind. Diese „differenzieren sich nach

Berufs- und Einkommensgruppen, wobei allgemein gilt: ungleiche Leistung wird ungleich

belohnt.“39 Interessant wird es jedoch an der Stelle, an der dieses grundsätzliche und

ständeunspezifische Phänomen der sozialen Differenzierung an die stalinistisch-ideologische

Dimension von Ehre bzw. dessen machtmotivierten Kern anknüpft – über

Mobilitätsschranken wird eine Ständeordnung als relativ feste Hierarchie installiert und wirkt

als Puffer für Stalins zentrale Machtposition. Dies betrifft vor allem die Nomenklatur.

Kappeler spricht von der „Nomenklatura“ im Kontext der Nach-Stalin-Zeit. Typisch ständisch

richtete sie ihre Politik nun „verstärkt auf die Absicherung ihrer Stellung. Sie war mit

weitreichenden Privilegien ausgestattet, die den formalen Gleichheitsprinzipien des

Kommunismus widersprachen und sich auf alle Lebensbereiche, auf Sonderläden,

Dienstwagen, Staatsdatschas u.a. erstreckten.“40 Indirekt wird hier die Sonderstellung und

Privilegierung der obersten Bürokratie unter Stalin angesprochen und wie aus ihr der

zunehmende Drang zum Erhalt ihrer Standesprivilegien erwuchs.

Hohe Mobilitätsschranken und die Pufferfunktion sind vor allem für die Nomenklatur

relevant. Erst unterhalb dieser Schicht kommt die besondere Flexibilität der stalinistischen

Ständegesellschaft stärker zum Tragen.

Zu den ideellen Privilegien zähle ich die schon angesprochene Praxis der Verleihung von

Ehrentiteln und Orden41, die u.U. selbst Einzelpersonen innerhalb ihres Umfeldes einen

Stände-Aufstieg ermöglichte, da sich der Ehre-Grad erhöhte. Wenn Stökl von „neuen

emotionalen Fermenten“ im System spricht, meint er gerade diese Art von ideellen Ehre-

Werten.42

Weber sagt, ständische Ehre speise sich nicht nur aus den Sondermonopolen, sondern die mit

Ehre einhergehenden Sondermonopole ermöglichen wiederum das Erlangen von Macht.43

Dem Machtphänomen, dem Weber nicht so viel Aufmerksamkeit widmet, kommt im

37 Kappeler, Andreas: Russische Geschichte, Beck, München 2002, S.58. 38 Vgl. Weber, S.180, S.265. 39 Teckenberg, Wolfgang: Gegenwartsgesellschaften: UdSSR, Teubner, Stuttgart 1983, S.385.40 Kappeler, S.58.41 Ruffmann, S.121.42 Stökl, S.723.43 „Beispielsweise ökonomische Macht.“ Vgl. Weber, S.252.

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Komplex der ideellen Sondermonopole m.E. eine besondere Bedeutung zu. Soziale Ehre

konnte so ideelle Macht bedeuten, die jedem grundsätzlich zugänglich war, denn sie war – im

Gegensatz zu materieller Macht – für das System ungefährlich. Es war vielmehr möglich,

standesintern zu hierarchisieren, zu stabilisieren und gleichzeitig Reize zu setzen, Ehre zu

erlangen – also dazu anzuregen, systemloyal zu agieren.

In Anlehnung an Schmidt plädiere ich zudem dafür, dem Faktor Recht in der Stände-Debatte

mehr Bedeutung zukommen zu lassen. Ein entscheidendes Standesmerkmal sei demnach „der

Rechtsakt des Beitritts zu dem nach den wirtschaftlichen Voraussetzungen jeweils in Frage

kommenden Stand.“44 Mit Blick auf die SU unter Stalin würde ich diese Aussage jedoch

abschwächen, da die rechtliche Dimension hier nur ein Mittel von vielen war, um

standesähnliche Gesellschaftsstrukturen zu etablieren; es sei nur erinnert an den hohen

Stellenwert von ideell angelegter Ehre, der juristisch nicht geregelt war, aber wohl den

größten Anteil hatte an Konstruktion und Stabilität der stalinistischen Ständestruktur.45

Nichtsdestotrotz gab es rechtliche Unterscheidungen, die neue gesellschaftliche Gruppen

schufen. So zum Beispiel Regelungen, die Bevölkerungsgruppen privilegierten bzw.

benachteiligten. Kolchozniki konnten nur mit Zustimmung des Kolchosvorsitzenden den

Arbeitsplatz wechseln, während die Masse der Sowjetbürger, die mit einem Inlandspass über

gewisses Maß an Freizügigkeit verfügte. Weiterhin findet man rechtliche Differenzierung

zwischen der Bevölkerungsgruppe mit Wohnberechtigung für Städte mit über 200000

Einwohnern auf der einen Seite und allen voran Pendler und Kontingentarbeiter mit befristeter

Aufenthaltsgenehmigung auf der anderen Seite.

Laut Weber mitbedingt Abstammung den Grad der ständischen Sonderschätzung. So ist er der

Ansicht, eine „ethnische Komponente“ könne ebenfalls prägend für die ständische

Gesellschaftsgliederung sein.46 Dies ist ein interessanter Aspekt für die SU bis 1953, da nun

auf einer weberschen Basis auch die Nationalitätenfrage in die Theorie einer stalinistischen

Ständegesellschaft integriert werden kann. Eine der vielen unklar verlaufenden

Standesgrenzen könnte somit ungefähr zwischen Russen und Nicht-Russen verortet werden.

44 Schmidt, S.42f.45 Dies entschärft den schmidtschen Gedanken, es gäbe notwendige wirtschaftliche Voraussetzungen zur

Standeszugehörigkeit. In vielerlei Hinsicht wog ideelle Ehre mehr als eine starke ökonomische Basis. Auch sieheRuffmann, S.117: „Etablierung und Konsolidierung einer neuen Klasse von politischen, wirtschaftlichen, geistigenFührern – nicht auf Basis des Eigentums, sondern auf der der Ausbildung und Funktion.“ Letztere können zwar mitmateriellen Voraussetzungen und Nachfolgen in Verbindung gebracht werden, sind aufgrund der besonderenVerbindung zum „Dienst“ am Systemaufbau/-erhalt aber in der ideellen Ehre-Dimension anzusiedeln.

46 Weber, S.262.

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Die Zeit der Korenizacija ist als besondere ständegesellschaftliche Phase hervorzuheben.

Diese Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre hatte zum Ziel, im Sinne des Marxismus-

Leninismus über das Etappenziel der Erschaffung der Nation dieselbe zu überwinden, um

dann im Sozialismus aufzugehen. Dies brachte vielerorten die Unterstützung nationaler

Sprachen und Kultur sowie Privilegierung der Titularnation/en mit sich.47 Da es vor allem

darum ging, die Nation zu überwinden und das sozialistische System zu implementieren,

waren die Parteizentren der Sowjetrepubliken das Hauptziel der stalinschen Korenizacija-

Politik. Es ging darum, loyale nationale Eliten zu schaffen.48

Das Ehre-Prinzip erfuhr insofern eine Verlagerung, als dass für einen begrenzten Zeitraum

neue, „nationale“ Stände geschaffen wurden, deren Wert und Funktion weniger an Ehre als

vielmehr funktional an der Ideologie ausgerichtet waren.

Zwischen Sowjetrepubliken und auch innerhalb der einzelnen SSRs waren Unterschiede im

Grad der Privilegierung der Titularnation/en zu beobachten. Während Aseri in der

Azerbajdzanischen SSR zügig die russischen Parteiposten besetzten, wurden im Fall der

höheren Fabrikposten eher Russen und Armenier – die beiden großen Minderheiten der ASSR

– eingesetzt.49 Die offensichtliche Benachteiligung der Aseri in der Arbeitsplatzpolitik der

Fabriken ist auf den verhältnismäßig niedrigen Aus-/Bildungsstand der Titularnation

zurückzuführen und auf die Angst, ethnische Auseinandersetzungen im Fabrikalltag zu

provozieren und so die Produktion zu gefährden. Die Privilegierung der Aseri in der

Kaderpolitik hing mit der ideologischen Zielsetzung zusammen, nationale und systemtreue

Eliten zu schaffen.

Ende der 1920er Jahre zeigt sich, dass die Idee dieser Einwurzelungspolitik nicht aufgeht,

sondern im Gegenteil neue Grenzen und neues Konfliktpotential schafft. Nationalbewusstsein

wuchs statt überwunden zu werden, und schließlich wurden in den Säuberungen der Jahre

1936-1938 in allen nichtrussischen Republiken die gesamte Führungsschicht abgesetzt und

umgebracht50. „In die freigewordenen Spitzenämter wurden vorwiegend loyale Russen

eingesetzt.“51 Selbstverständlich betraf der Terror dieser Zeit auch Russen, „doch war der

Anteil der Überlebenden bei den Russen größer als bei den Nichtrussen, die zusätzlich noch

als potentielle Nationalisten und Separatisten verfolgt wurden“52. Das Wort „zusätzlich“

47 Vgl. Kappeler, Andreas: Russland als Vielvölkerreich, Beck, München 2001, S.304.48 Vgl. Kappeler 2002, S.74.49 Baberowski, Jörg: Stalinismus an der Peripherie: Das Beispiel Azerbajdzan 1920-1941. In: Hildermeier, Manfred

(Hsg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg, Oldenbourg, München 1998, S.307-336.50 Ebd.51 Kappeler 2001, S.307.52 Ebd.

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spricht für die These von sich überlappenden, kompensierenden oder verstärkenden Ehre-und

Un-Ehre-Graden. Wenn man zur falschen Nationalität gehörte, konnte selbst errungene Un-

Ehre noch an Wert verlieren.53

Fitzpatrick stellt Stand und Ethnie ebenfalls in einen Zusammenhang: „There is an intriguing

possibility that the shadow of soslovnost` hung over the construction of nation as well as

social identity in the Stalin period.”54

Auch am Phänomen der Sondermonopole wird deutlich, dass ständische Momente die

stalinistische Gesellschaftsstruktur durchziehen, während jedoch keine so klare Weber´sche

Abgrenzung zwischen den Ständen an sich sichtbar wird. Bestimmte Sondermonopole waren

Personen unterschiedlicher Stände55 zugänglich.

Doch bedeutet das m.E., wie oben angesprochen, keinen Widerspruch. Auch hier mache ich

die Idee von modern-flexiblen und spezifisch stalinistischen Ständen geltend: Ehre und somit

die entsprechenden Sondermonopole wurden denen zuteil, die dem System treu und aktiv

dienten, die im Sinne des Sowjetpatriotismus das sozialistische Projekt verfolgten. Die

Angehörigen der Oberschicht hatten hierzu wesentlich bessere materielle Voraussetzungen als

beispielsweise Arbeiter und Bauern. Dennoch war auch in den Unterschichten zu beobachten,

dass über Ordenverleihungen und ähnliches niederen Standesangehörigen höhere Standesehre

zuteil werden konnte. Diese diffusen Standesgrenzen passen durchaus in das System.

Letztendlich - obwohl getarnt als Kampf für den Sozialismus in einem Lande - lief alles stets

auf die Konservierung der Macht derer hinaus, die an der Spitze des Ständesystems standen,

allen voran Stalin.56 Diese Konservierung funktionierte im besten Fall über eine stabile Basis,

die ebenfalls in Richtung der Systemsicherung arbeitete. Anreize dazu wurden über eine

Politik der diffusen Standesgrenzen geliefert. Diese suggerierte im Sinne des propagierten

sozialistischen Gesellschaftsideals die Gleichheit aller, da alle für das System arbeiten und

somit allen die entsprechenden Ehren zukommen konnten, bedeutete aber de facto lediglich

ein Zuckerbrot. Sonderprivilegierung und Ehre-Zuschreibung dienten letztlich stets dem Ziel

des Systemerhalts.

53 Während des 2. Weltkrieges kam es zu weiteren „Sonderbehandlungen“ - also negativen Sondermonopolen oderSonderschätzungen - gegenüber Russen. Auch letztere wurden deportiert, doch im Zuge von Kollaborationsgefahrwaren Nicht-Russen wesentlich verdächtiger. Ganze Ethnien wurden deportiert. „Alle galten im nationalenGeschichtsbild als Verräter und Erbfeinde der Russen.“ Vgl. Kappeler 2001, S.308f.

54 Fitzpatrick, S.770.55 Auf die Frage, welche nun eigentlich die stalinistischen Stände sind, wird an späterer Stelle einzugehen sein.56 Stökl stellt „konservativ-diktatorisches, der Erhaltung und Vermehrung von Macht dienendes Handeln“ in das

Zentrum stalinistische Politik. Stökl, S.723. Auch vgl. S.737: „Systematische Akkumulation der Macht.“

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c) Distanz

Die Distanz und zum Teil „völlige Abschottung“ zwischen Ständen ist nach Weber ebenfalls

ein Charakteristikum ständischer Gesellschaften.57 In der stalinistischen Sowjetunion wird

man in diesem Kontext schnell fündig. Weber meint Distanz „namentlich nicht ökonomisch

oder sonst geschäftlich sachlich“58, doch bin ich der Ansicht, dass Distanz auf dieser Ebene

die Distanz auf anderen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Ebenen mitprägte. Ein

Beispiel sind Gesetze zu Erbrecht und privatem Wohnbesitz. Sie ermöglichten den obersten

Schichten, „für den eigenen Bedarf auf vom Staat zur unbefristeten Nutzung überlassenem

Bauland ein- oder zweistöckige Häuser zu errichten, zu kaufen und zu vererben.“59 Hier wird

ständische Abschottung in mehrerer Hinsicht deutlich: Zum einen zeigt sich die forcierte

Abschottungspolitik von Staatswegen, die auf eine Art Koalition mit den ihr nahestehenden

Ständen abzielt. Durch das Moment der Vererbung von Privilegien konnte die ständische

Distanz zum anderen – hier in Form von unterschiedlichen Lebensbedingungen – auch für die

Zukunft und über Generationen gesichert werden.

Grundsätzlich stellt auch die Bestätigung der Sonderstellung der Neuen Intelligenz einen

Schritt Stalins in Richtung ständischer Abschottung dar. Noch im November 1936 hatte er

gesagt, die Werktätige Intelligenz wäre nie eine Klasse gewesen und könne nie eine sein,

sondern müsse „sich ständig aus den beiden proletarischen Klassen der Arbeiter und Bauern

erneuern“. Indem Stalin sie 1939 jedoch offiziell als eigene Klasse anerkannte, schuf er eine

Distanz zwischen Proletariat und Intelligenz, die die Mobilität von der ersten zur zweiten

Gruppe erschweren musste60 und offensichtlich Abstand nahm von der Idee der Erneuerung

der zweiten aus der ersten Gruppe.61 Dies ist für mich Indiz für eine Ständestruktur.

d) Ehre und Markt

In ständischen Gesellschaften sei die „konsequente Durchführung des nackten

Marktprinzips“62 gehemmt, so Weber, und Güter-monopolisierende Stände ein Beispiel für die

57 Weber, S.260.58 Ebd.59 Ruffmann, S.121. Zudem bzgl. Sonderstellung der über staatliches Eigentum verfügenden Bürokratie: vgl.

Teckenberg, S.434.60 „Sozialordnung mit unverkennbarem Verlust an Mobilität.“ Meissner, Boris zit. nach Ruffmann, S.121.61 Ebd. S.117.62 Weber, S.258. Vgl. auch S.267f.

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ökonomisch irrationalen Konsumbedingungen.63 Damit stellt er die Ständegesellschaft der

kommunistischen Gesellschaft grundsätzlich relativ nah, denn auch hier kann sich kein freier

Markt entwickeln.

Zudem redet Weber von der Möglichkeit, „ständische“ Lebensführung könne ökonomisch

mitbedingt sein.64 Eine ständische Lage könne also auf einer Klassenlage ruhen.65 Da er

zusätzlich keine Grenzbestimmung zwischen Klasse und Stand vornimmt, bleiben die

Übergänge zwischen den beiden Kategorien unklar.66

Es soll in diesem Kapitel nicht darum gehen, Stände über deren ökonomischen Hintergrund zu

definieren67, sondern darum zu zeigen, dass eine konzeptionelle Gemeinsamkeit bei Stände-

Konzept und kommunistischem System zu finden ist: Beide widersprechen dem freien

Marktprinzip.

An einigen Stellen expliziert Weber das Verhältnis der Ständegesellschaft zum Markt; so zum

Beispiel wenn er festhält: „Gliederung nach Ehre und ständischer Lebensführung ist als solche

in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die (...) rein ökonomische

Macht als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleiche oder (...) höhere Ehre verleihen

könnte.“68 Es geht also um die Bedrohung ständischer Gesellschaften durch das kapitalistische

System, gegen das sie um so schärfer vorgeht, „je bedrohter sie sich fühlen“69. Doch auch in

der marxistisch-leninistisch begründeten Ideologie Stalins kämpft man gegen das

kapitalistische System; laut Propaganda ein Kampf gegen die alten Eliten und für die

Herrschaft der Arbeiter und Bauern. Hinter der Propaganda vermute ich jedoch dasselbe

Bedrohungsszenario wie oben angesprochen – die obersten Ebenen der gesellschaftlichen

Hierarchie70 fühlen sich in einem kapitalistischen System in ihrer Vormachtstellung bedroht.

Eine Regulierung des ökonomischen Systems ist zur Stabilisierung der Herrschafts-

63 Vgl. Weber , S.180.64 Ebd. S.265.65 Vgl ebd. S.180. 66 Wobei er nicht sagt, es könne nur entweder Stände- oder Klassengesellschaft geben. Klassen seien in der

Wirtschaftsordnung, Stände in der sozialer Ordnung beheimatet („Verteilung sozialer Ehre“). Von dort ausbeeinflussen sie “einander und die Rechtsordnung”. S.269. Doch auch dieser Aspekt verschafft keine Klarheit überden Ort der beiden Phänomene gerade im Verhältnis zueinander. Im Gegenteil: Wo Stand und Klasse in Bezugzueinander verlaufen, bleibt im Unklaren. Auch vgl. Herz, Thomas. A.: Klassen, Schichten, Mobilität, Teubner,Stuttgart 1983, S.36.

67 Das hat Teckenberg zur Genüge getan. Im übrigen ist er – zumindest in „Gegenwartsgesellschaften: UdSSR“ - vielzu wenig auf das ständische Ehre-Moment eingegangen, um Stände in der UdSSR umfassend denken zu können.

68 Weber, S.266.69 Ebd. 70 Es steht zur Debatte, inwiefern es sich hierbei nur um Stalin oder um Stalin sowie die Nomenklatur und Teile der

Intelligencija handelte.

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verhältnisse notwendig.

Im ständischen und kommunistischen Kampf besteht derselbe Gegner. Wie ich herausgestellt

habe, besteht auch dieselbe Kampfmotivation, nämlich der Erhalt von Macht,

Herrschaftsverhältnissen und Sondermonopolen. Offiziell begründet wird der Kampf gegen

das kapitalistische System unter Stalin jedoch mit ideologisch geprägten Zielen vom Sieg der

proletarischen Klassen und Schutz der Großen Sowjetunion.71

Diese tarnendende Formulierung ist eben darum so erfolgreich möglich, da sich Kern- und

Oberflächenmodell in der Struktur sehr ähnlich sind. Eine Tarnung kann um so besser

funktionieren, je ähnlicher sie der Struktur des Kerns ist. Markttheoretische Gemeinsamkeiten

traditionell ständischer und traditionell sozialistischer Gesellschaftsstrukturen können es den

Tarnenden leicht machen, durch geschickte Propaganda vom Kern abzulenken und die

Gesellschaft entsprechend der Tarnoberfläche zu definieren.72 Dies stützt somit mein Modell

vom systematisch-doppelten Boden unter Stalins Sowjetunion.

IV. Fazits

a) Stände im Stalinismus

Trotz der Kritik Schmidts an der westlichen Perspektive Webers ist dessen Ständedefinition

bis auf einige Anpassungen offensichtlich durchaus geeignet, um ständische

Gesellschaftsstrukturen im Stalinismus nachzuweisen.73

Die erwähnten Anpassungen sind gewissermaßen Konkretisierungen des Weber´schen

Begriffsverständnisses in Bezug auf den konkreten Untersuchungsgegenstand. So schlage ich

zusammenfassend den Begriff der modern-flexiblen und spezifisch stalinistischen Stände vor.

Unter modern-flexibel verstehe ich Stände, die ohne 100% klare Grenzziehungen auskommen.

Sie können äußerst diffus bleiben und passen insofern entsprechend besser zur komplexen

Vielschichtigkeit der modernen sowjetischen Gesellschaft als Webers abstraktes Modell.

71 Ersteres betrifft eher den propagierten antagonistischen Klassenkampf vor 1936, letzteres den Kampf in derpropagierten nichtantagonistischen Klassengesellschaft. Vgl. Stökl, S.724.

72 Die Frage, inwieweit man in diesem Zusammenhang einen bewussten Tarnvorgang nach dem System einesdoppelten Bodens vermuten kann, wird im Fazit zu besprechen sein.

73 Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, sich zwischen der Existenz einer Stände- und einer Klassengesellschaft imstalinistischen Russland zu entscheiden. Analog Weber weise ich darauf hin, dass beide Kategorien neben- bzw.übereinander bestehen können. Aufgabe der Arbeit ist es aufzuzeigen, dass die Dimension der Ständegesellschaftüberhaupt existierte.

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Grundsubstanz stalinistischer Stände sind Ehre und Un-Ehre. Sie waren geknüpft an den

Grad, in dem das sozialistische System unterstützt wurde. Dementsprechend gab es Ehre-

Stufen sowie Mechanismen zur Kompensation von Ehre mit Un-Ehre. Der Ehre-Grad

manifestierte sich in materiellen und ideellen, positiven oder negativen Sondermonopolen.

Wie oben anklang, sind Stände in der stalinschen Ära nicht reflexiv flexibel sondern wurden

flexibel angewandt. Somit komme ich zum Aspekt des spezifisch Stalinistischen. Das

ständische System diente einzig dem Machterhalt Stalins. Stände nach stalinistischem Muster

sicherten durch die Kopplung von Distanz-schaffender Hierarchie und ideologisch

begründeter Ehre-Zuschreibung die Stabilität der Gesellschaftsstruktur im allgemeinen und

hierarchische Machtpuffer im spezielleren.

Welche die einzelnen Stände im Stalinismus waren, ist gerade aufgrund der diffusen und oft

beliebig erscheinenden Grenzen schwer zu sagen. Anlehnen könnte man sich jedoch an das

Schichten-Model74, wie dem des englischen Soziologen Lane.75 An Berufsgruppen und

Qualifikationsgraden orientiert entwickelt er Anfang der 1950 Jahre ein System sozialer

Hierarchie für die Sowjetunion. Aufgrund der von Weber konstatierten ökonomischen

Mitbedingtheit von Ständen ist eine Kombination von Klassen- und Ständesystematik hier

problemlos möglich.

Integriert werden müsste zusätzlich die Stände-Dimension der Nationalität. Sie überlagert

ihrer Natur gemäß sämtliche Stände und Ständeschichten. Es ist zu überprüfen, inwieweit

andere Phänomene ähnlich standesrelevant sind. Wie beeinflussten beispielsweise

Familienbiografien Ehre und Un-Ehre von Personen? Und wie verhielt sich ein

familienbiografischer Ehre-Grad mit einem ethnischem Un-Ehre-Grad?

Zudem sollte bedacht sein, dass Einzelpersonen über ideelle Ehre-Zuschreibungen innerhalb

ihres Standes eine Aufwertung erfahren konnten, die einer Art Standeswechsel gleichkamen.

Das genaue Verorten stalinistischer Stände kann diese Arbeit nicht leisten.

74 In Anlehnung an Teckenberg Schichten hier verstanden als Untereinheiten von Klassen oder Ständen – diese sindjedoch entgegen Teckenberg nicht rein ökonomisch sondern vor allem Ehre-orientiert zu verstehen. Vgl.Teckenberg, S.386.

75 Oberschicht (1. herrschende politische Führung 2. höchste kulturschaffende, technische, akademische Intelligenz)Obere Mittelschicht (3. Ingenieure, Techniker, Manager)Untere Mittelschicht (4. qualifizierte Arbeiter 5. Facharbeiter)Obere Unterschicht (6. unteres Verwaltungs-, Dienstleistungspersonal 7. qualifizierte Landarbeiter und Kolchozniki)

Untere Unterschicht (8. ungelernte Arbeiter 9. ungelernte Landarbeiter und Kolchozniki) Vgl. Plaggenborg, S.656.

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b) Doppelter Boden

Aus dem oben genannten wird deutlich, dass sich in der stalinistischen Ständegesellschaft die

klassenlogisch ausgerichtete Ideologie Stalins mit einer ständischen Gesellschaftsstruktur

verbindet. Wenn man sieht, wie passgenau sich die ständischen Momente in die stalinistische

Ideologie einbetten lassen, könnte man meinen, der Gedanke sei nicht nur nachträglich

konstruiert sondern grundsätzlich so angelegt.

Die These könnte also lauten: Die Ständegesellschaft mit dem Ziel der Machterhaltung

Stalins76 stellt den Kern (der zwecks Systemstabilisierung getarnt werden muss) und die an der

Klassentheorie orientierte stalinsche Ideologie77 die tarnende Oberfläche dar. Dafür spricht die

schon erwähnte strukturelle Ähnlichkeit der beiden Phänomene bzw. Ebenen. Dies wird vor

allem in der Bekämpfung des freien Marktes und in der Rolle ständischer Ehre deutlich, was

Kern und Oberfläche jeweils gemein ist. Systemgemeinsamkeiten können mit Hilfe geschickt

formierter Ideologie und intensiver Propaganda stets entsprechend der tarnenden Oberfläche

formuliert werden.

Dies ist das Kernargument meiner Überlegungen: Es macht deutlich, dass es logisch möglich

ist, die stalinistische Gesellschaft als eine stalinistischen Ständegesellschaft zu beschreiben.

Die anschließende Frage wäre, wie bewusst dieses Tarnsystem angewendet wurde. Das muss

an dieser Stelle offen bleiben.

In jedem Fall ist diese Arbeit ein Vorschlag, Ziel und Zielumsetzung in den stalinschen

Gesellschaftsvorstellungen innerhalb eines logisch geschlossenen Systems zu erklären.

c) Nutzen der Kategorie „Stand“

Abgesehen von einigen konkretisierenden Ergänzungen der Weber´schen Stände-Definition

76 Vor allem im Rahmen der Moskauer Schauprozesse 1936-1938 wird Stalins maximaler Machtdrang sehr deutlich.Hier saßen genau die Männer auf der Anklagebank, die einst das Politbüro Lenins gebildet hatten – alle bis aufStalin. Die Angeklagten waren somit der ehemalige Premierminister der Sowjetregierung, mehrere stellvertretendePremierminister, zwei ehemalige Präsidenten der Kommunistischen Internationalen, der Präsident der Gewerkschaft,der Chef des Generalstabs der Roten Armee, der Oberste politische Kommissar der Roten Armee, dieOberbefehlshaber fast aller Militärbezirke, beinahe alle Sowjetbotschafter in Europa und Asien und nicht zuletzt diebeiden Chefs der politischen Polizei. Die Anklagepunkte waren allesamt unglaubwürdig: Kollaboration mit Nazi-Deutschland, Spionagedienste für westliche Länder, Pläne über die Zerstückelung der Sowjetunion. Nach Ende derProzesse hatte Stalin die gesamte obere Ebene tatsächlicher und potentieller Machtkonkurrenten beseitigt. Vgl.Pirker, Theo (Hsg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938, dtv, München 1963, S.72.

77 Marx ist die theoretische Basis für den stalinistischen Gesellschaftsentwurf, wobei Stökl Stalin einen„schöpferischen“ Umgang mit diesem Fundament bescheinigt. Vgl. Stökl, S.723.

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ist die Kategorie „Stand“ auf die Sowjetunion unter Stalin anwendbar.

In Hinblick auf Fitzpatricks Argumente für eine Umformulierung der stalinistischen

Gesellschaft hat sich herausgestellt, dass sowohl die soziale Hierarchie als auch das

außergewöhnlich starke Primat des Staates – beides bleibt in der kommunistischen Ideologie

unter Stalin immer ein Widerspruch in sich – nun erklärbar wird.

Laut Plaggenborg liegt das konzeptionelle Problem für die Analyse der sowjetischen

Gesellschaft gerade im Mangel terminologischer Alternativen zum Begriff „Klasse“. Er findet

es „bedenklich“, dass der Klassenbegriff à la Weber und Marx nur in marktwirtschaftlich

organisierten Gesellschaften anwendbar sei und das Postulat der klassenlosen Gesellschaft

zudem einen öffentlichen Diskurs über soziale Ungleichheit verhindere.78 Könnte der

Ständebegriff hier Abhilfe schaffen?

d) Offene Aspekte & Fragen

Eine Kartografierung der diffusen Ständelandschaft im Stalinismus wäre m.E. ein

interessantes Forschungsvorhaben. Relevant ist auch die Frage nach unterschiedlichen Phasen

des ständischen Stalinismus. Hierbei spiele ich unter anderem auf die Zäsur von 1936 an, als

mit der Stalin-Verfassung die Ära der nichtantagonistischen Klassengesellschaft heranbrach.

Wie waren die Dimensionen Klassen- und Ständegesellschaft zueinander gelagert?

Zudem steht die Frage nach Kontinuität und Bruch in einer sowjetischen Ständegesellschaft

nach 1953 im Raum. Dieser Aspekt führt zu dem Gedanken, die russländische Geschichte

insgesamt als Stände-Geschichte zu beschreiben. Allerdings betont Schmidt, hierfür sei keine

ausreichende Forschungsbasis vorhanden.79

Vielleicht liegt hier auch der Grund dafür, weshalb Fitzpatricks Gedanke und Teckenbergs

Konzept nicht weitergedacht wurden: Konnten sie gar nicht weitergedacht werden? Eine

stalinistische oder auch russländische Ständegeschichte kann schließlich nicht im luftleeren

78 Plaggenborg, S.631.79 Laut Kljucevskij seien Stände seit der Bauernbefreiung nicht mehr relevant für die russische Geschichte. Diese

Position verurteilt Schmidt. Hier liegt ein erster Anhaltspunkt für die Vernachlässigung der Stände alswissenschaftliche Kategorie vor. Ein weiterer Grund für mangelndes wissenschaftliches Interesse am Stand ist lautSchmidt vor allem im ideologisch-begründeten Ignorieren während des Kalten Krieges zu finden. Vgl. Schmidt,S.10f.

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Raum geschrieben werden. Sie muss eingeornet sein in ein Konzept – geschichtlich-faktisch

und theoretisch.

Laut Plaggenborg hat sich am wissenschaftlichen Desinteresse auch nach Ende der

ideologischen Wirren des Kalten Krieges nichts geändert. Im Gegenteil: „Angesichts der

Tatsache, dass sich der Interessenschwerpunkt der Sozialwissenschaft in Ost wie West nach

der Auflösung der Sowjetunion auf das Problem der Transformationsgesellschaft verschoben

hat, bleiben Teckenbergs Hypothesen [von einer sowjetischen Ständegesellschaft] empirisch

ohne Beleg. Der Mangel an historischer Sozialforschung zeigt sich hier besonders deutlich.“80

80 Plaggenborg, S.633f.

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V. Literatur

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Journal of Modern History 65 (1993), S. 745-770.

Herz, Thomas. A.: Klassen, Schichten, Mobilität, Teubner, Stuttgart 1983.

Hildermeier, Manfred (Hsg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg, Oldenbourg,

München 1998.

I. Baberowski, Jörg: Stalinismus an der Peripherie: Das Beispiel Azerbajdzan 1920-

1941, S. 307-336.

Kappeler, Andreas: Russische Geschichte, Beck, München 2002.

Kappeler, Andreas: Russland als Vielvölkerreich, Beck, München 2001.

Pirker, Theo (Hsg.): Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938, dtv, München 1963.

Plaggenborg, Stefan (Hsg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Band 5, II, Anton

Hiersemann, Stuttgart 2003.

Ruffmann, Karl-Heinz: Sowjetrussland 1917-1977, dtv, München 1967.

Schmidt, Christoph: Ständerecht und Standeswechsel in Russland 1851-1897, Harrassowitz,

Wiesbaden 1994.

Stökl, Günther: Russische Geschichte, Kröner, Stuttgart 1997.

Teckenberg, Wolfgang: Gegenwartsgesellschaften: UdSSR, Teubner, Stuttgart 1983.

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft; Grundriss der verstehenden Soziologie, Hsg:

Winckelmann, Johannes, Mohr, Tübingen 1985.