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3/2005 zeit & medien Thema: Audiovisuelles Gedächtnis „Schatzgräber“ vom Küniglberg Medienarchive im digitalen Umfeld Fernseharchive im europäischen Vergleich Mediathek: audiovisueller Spiegel Zur Glaubwürdigkeit elektronischer Medien Jahrgang 20 Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart ISSN 0259-7446 4,40 medien & zeit 3/2005

medien & zeit 4,40 · 2015-04-01 · schung – wo man die Archivare ausbildete – kon-zentrierte man sich auf Kaiser- und Papsturkun-den und war stolz, wie zügig die Aufarbeitung

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3/2005

zeit&medien

Thema:Audiovisuelles Gedächtnis

„Schatzgräber“ vom Küniglberg

Medienarchive im digitalen Umfeld

Fernseharchive im europäischen Vergleich

Mediathek: audiovisueller Spiegel

Zur Glaubwürdigkeit elektronischer Medien

Jahrgang 20

Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart

ISSN 0259-7446€ 4,40

medien & zeit

3/2005

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ImpressumMedieninhaber.

Herausgeber und Verleger:Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung

(AHK)“, A-1180 Wien, Postfach 442http://muz.pub.univie.ac.at

WAP: http://muz.pub.univie.ac.at/wap/

© Die Rechte für die Beiträge in diesem Heft liegen beim„Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“

Vorstand des AHK:Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Obmann),

a.o. Univ.-Prof. Dr. Fritz Hausjell (Obmann-Stv.),Mag. Fritz Randl (Geschäftsführer),

Mag. Bernd Semrad (Geschäftsführer-Stv.),Mag. Claudia Spitznagel (Schriftführerin),

Christian Schwarzenegger (Schriftführer-Stv.),Mag. Wolfgang Monschein (Kassier),

Marion Linger (Kassier-Stv.)

Redaktion:Gaby Falböck, Bernd Semrad

Lektorat und Layout:Gaby Falböck, Bernd Semrad

Redaktion Buchbesprechungen:Gaby Falböck ([email protected])

Korrespondenten:Prof. Dr. Hans Bohrmann (Dortmund),

Univ.-Prof. Dr. Hermann Haarmann (Berlin),Univ.-Prof. Dr. Ed Mc Luskie (Boise, Idaho),

Univ.-Prof. Dr. Arnulf Kutsch (Leipzig),Dr. Markus Behmer (München),

Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg)

Druck:Buch- und Offsetdruckerei Fischer, 1010 Wien, Dominikanerbastei 10

Erscheinungsweise:Medien & Zeit erscheint vierteljährlich

Bezugsbedingungen:Einzelheft (exkl. Versand): € 4,40

Doppelheft (exkl. Versand): € 8,80

Jahresabonnement:Österreich (inkl. Versand): € 16,—

Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): € 21,80

StudentInnenjahresabonnement:Österreich (inkl. Versand): € 11,60

Ausland (inkl. Versand auf dem Landweg): € 17,40

Bestellung an:Medien & Zeit, A-1180 Wien, Postfach 442

oder über den gut sortierten Buch- und Zeitschriftenhandel

ISSN 0259-7446

Die „Schatzgräber“ vom Küniglberg Anmerkungen zur Geschichte der größten

audiovisuellen Sammlung Österreichs

im ORF 4

Peter Dusek

Medienarchive im digitalen Umfeld 12

Herbert Hayduck

Verborgene Schätze? Fernseharchive und ihre Zugänglichkeit

im europäischen Vergleich 17

Alexander Hecht

Audiovisuelles Gedächtnis – audiovisuelles Spiegelbild 22

Rainer Hubert

Flüchtig aber authentisch – Zur Glaubwürdigkeit elektronischer Medien in ihrer Anfangszeit Eine Spurensuche zwischen Röhrenradio

und Schwarz-Weiß-Fernseher 25

Jo Adlbrecht

Rezensionen 44

medienzeit&

Inhalt

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Editorial

Eine „neue Sicht“ auf die Geschichte der ZweitenRepublik, aufbereitet für eine „neue Generation“,versprach Hugo Portisch für seine vierteiligeDokumentation „Die Zweite Republik – eineunglaubliche Geschichte“. Der Rückgriff aufhistorisches Filmmaterial, das schon in „Öster-reich II“ verwendet wurde, war dabei unerläss-lich. Man könne ja „die Russen nicht noch ein-mal einmarschieren lassen“.Damit thematisiert Hugo Portisch indirekt auchein Dilemma heutiger wie künftiger (For-scher-)Generationen: Wird man in Zukunft sehrwohl darauf angewiesen sein, etwa zeitgeschicht-liche Ereignisse wie den Einmarsch der RotenArmee nachzustellen, weil Teile des audiovisuel-len Gedächtnisses verloren gehen bzw. gar nichterst nachhaltig gesichert wurden?

Die Brisanz dieses Themas wurde im Rahmen derdiesjährigen Tagung der Fachgruppe Kommuni-kationsgeschichte der DGPuK in Kooperationmit dem Studienkreis Rundfunk und Geschichteim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Wies-baden diskutiert. Während etwa in Deutschlandbereits Mediathekenverbünde geschaffen wurden,die Deutsche Bibliothek nunmehr daran geht,Strategien zur Speicherung von Web-Inhalten zuentwickeln und auch verwertungsrechtliche Fra-gen ausgiebig diskutiert werden, finden Anstößezu dieser Auseinandersetzung hierzulande wenigResonanz. Vor dem Hintergrund ambitionierterDigitalisierungs- und Mediatheken-Projekte stel-len sich für die Wissenschaft u.a. folgende Fra-gen:

• Was muss das audiovisuelle Gedächtnis einerNation, einer Gesellschaft erfassen? Wer solltedie Verantwortung für die langfristige Bewah-rung audiovisuellen Gehalts tragen, wasspricht für und wider ein „staatliches Gedächt-nis“? Kann es in Zukunft gar eine Nationalbi-bliothek für Bild und Ton geben? Und nicht zuletzt: Wie kann die freie Zugäng-lichkeit für Forschung und Öffentlichkeiterreicht werden?

• Technische Aspekte: Ist die Datensicherheitgewährleistet? Was droht wenn die Lesbarkeitvon Archivbeständen nicht garantiert werdenkann – Stichwort Datenmigration?

• Archivwürdigkeit: Welche Programme bzw.Inhalte werden aufbewahrt – und von wem?Gibt es eine historische Deutungsmacht derArchivare? Welchen Stellenwert haben privateTV-Anbieter? Liefern diese neue Perspek-tiven?

• Inhaltliche Aspekte: Was wird gesichert? Werwählt aus? Was geht verloren?

Das vorliegende Heft versammelt Beiträge aus derSicht der Archivpraxis. Peter Dusek nähert sichoben genannten Fragen aus der Sicht „seines“Archivs, der größten audiovisuellen Sammlungdes Landes an, und beschreibt die Verantwortungund Probleme eines Gedächtnisspeichers, der erstim Zuge seines Bestehens von einem reinenZulieferer von wiederverwertbaren Programm-fragmenten zu einer Institution der Kulturbewah-rung wurde. Herbert Hayduck, ebenfalls imORF-Archiv leitend tätig, fokussiert auf das Pro-zessuale, den Status der Digitalisierung der Archi-vbestände. Alexander Hecht begibt sich hernachauf die Suche nach„Veborgenen Schätzen“ in aus-gewählten europäischen Rundfunkarchiven undvergleicht deren rechtlicheVerfasstheit und diedaraus abzuleitende Zugänglichkeit. HinterHecht dokumentiert Rainer Hubert die Stellungder „Österreichischen Mediathek“ zu diesen Fra-gen.

Jo Adlbrecht gibt mit seinem abrundenden Bei-trag Einblick in die Rezeptionsgeschichte desfrühen Radios bzw. Fernsehens und lässt sich glei-chermaßen als eine rückwärts verstandene Quel-lenkunde lesen – wo die Relevanz von audiovisu-ellen Inhalten zunehmend die Erinnerung an ver-gangene Epochen bestimmt und bestimmenwird, stellt sich auch die Frage wie es um dieGlaubwürdigkeit der Archivmaterialien bestelltist.

Es kann in diesem Heft nur ein schmales Seg-ment aus dem Angebot der audiovisuellen Sam-melstellen zu Wort gebeten werden. Der hiereröffnete Problemhorizont wird aber die Wissen-schaft und damit natürlich auch medien&zeitweiter beschäftigen.

FRITZ HAUSJELL

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Mitunter kommt man sich als Leiter desORF-Fernseharchivs wie ein „Schatzgrä-

ber“ vor – etwa wenn Hugo Portisch bei seiner„Unglaublichen Geschichte“ auf Material zurück-greifen kann, das seit 60 Jahren nicht mehröffentlich gezeigt wurde, oder wenn Eliette vonKarajan bei einem Besuch im Fernseharchiv Auf-nahmen aus ihrer Ehe mit Herbert von Karajanfindet, die auch sie bereits völlig vergessen hat.Auch bei Sendungen wie „Wiesner fragt“, „Sen-dung ohne Namen“ oder bei der Austropop-Show bzw. bei Helmut Zilks Sendereihe „Lebens-künstler“ verblüffen die Archiv-Mitarbeiter im-mer wieder durch Bewegtbilder, die als verschol-len galten bzw. an deren Existenz sich nicht ein-mal die Gestalter von einst erinnern konnten. Neben dem vielen Lob bekommt das Fernsehar-chiv im ORF-Zentrum am Küniglberg aber mit-unter auch starke Kritik vorgetragen. Die Archi-vare im ORF-Zentrum verhielten sich wie einstder Fafner in der Nibelungensage, der einen riesi-gen Schatz hütet, aber alle Interessenten ver-scheucht. Leider ist die Problematik des öffentli-chen Zugangs zum größten Medienarchiv desLandes wirklich sehr kompliziert. Da gibt es jedeMenge Rechtsschranken: Urheberrecht, Leis-tungsschutzrecht oder Persönlichkeitsrecht. Sieverhindern den freien Zugang. Darüber hinausrächen sich die Versäumnisse von Jahrzehnten.Denn obwohl das ORF-Fernseharchiv seit 18Jahren zu den modernsten Institutionen seinerArt weltweit gehört, waren die Zustände zuvoralles andere als rosig: Geldmangel und zu wenigqualifizierte Mitarbeiter, dazu eine ständiganwachsende Materialsammlung. Das alles ließdas Fernseharchiv zu einem Ort werden, der anDante’s „Platz der verlorenen Seelen“ erinnerte.Wer also die Benützungshindernisse von heueverstehen will, muss sich mit der Geschichte einerInstitution beschäftigen, an die vor 50 Jahren beider Geburt des Fernsehens überhaupt noch nie-mand dachte.

1. Das vergessene Archiv

Ein Sprichwort sagt: „Aller Anfang ist schwer“und bei den meisten Fernseharchiven war es so,

dass sie einfach vergessen wurden. Man beganndas Fernsehen zuerst unter Ausschluss fast jederÖffentlichkeit und ohne Archiv. Allerdings mussauch eingeräumt werden, dass die Anfänge desFernsehens – an sich improvisiert – exponiertentweder live und ohne Aufzeichnungsmöglich-keit stattfanden oder im Abspulen von Filmenbestand, und die stapelte man zunächst auf Gän-gen in Kellern und im frühen ORF-Fernsehensogar in einem Turnsaal. Man befand sich näm-lich im Gebäude einer ehemaligen Volksschule.Erst im Laufe der ersten Jahre stellte sich heraus,dass man auf die Filme hie und da zurückgreifenmusste: bei Nachrufen etwa oder beim Jahres-rückspiegel bei Illustrationen von Prominentenetc. So entstand ein erstes kleines Fernseharchiv.Die Mitarbeiter waren weder gelernte Archivareoder Historiker noch Zeitungswissenschafter,sondern sie bestanden aus jenen geradezu vomZufallsgenerator ausgewählten Prinzip innovati-ver Medienpioniere, die sich mit neuen Aufgabenso gut es eben ging herum schlugen. Aus demApril 1961 ist das erste Dokument über ein klei-nes und bescheidenes ORF-Fernseharchiv über-liefert. In der vorhin erwähnten (Volksschule)Singrienergasse nahe Schönbrunn gab es im zwei-ten Stock ein Arbeitszimmer für fünf Damen undHerren inklusive Cutterin. In demselben Zimmerbefanden sich Stellagen mit ca. 1000 Alumini-umkassetten für Filme. Weiters wird erwähnt:„Am Gang zum Archiv befinden sich Filme dieteils in Stellagen aber auch aufgestapelt sind. Ca.1000 Filme“. Weiters wird dann vermerkt, dassdie Karteistelle mit weiteren zwei Mitarbeitern inder Dachkammer untergebracht war und dass ineinem Karteikasten 40.000 Kärtchen für denGebrauch zur Verfügung standen. Die Anschaf-fung eines weiteren Kastens wurde empfohlen.Weiters gab es noch eine kleine Kammer im 3.Stock mit sämtlichen Spielfilmen, Kultur- undFernsehaufzeichnungen, die im Archiv bzw. amGang keinen Platz hatten, insgesamt ca. 800Stück. Weitere Orte für Arbeitsbänder, Ton undFilm waren die Gänge im 1. und 2. Stock, derKeller sowie der Turnsaal. Zu diesem Zeitpunkt war das ORF Fernsehenimmerhin bereits sechs Jahre alt. Und wenn aus

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Die „Schatzgräber“ vom KüniglbergAnmerkungen zur Geschichte der größten audiovisuellen SammlungÖsterreichs im ORF

Peter Dusek

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einer älteren Sendung ein Stück verwendetwurde, dann suchte man sich dies am Schneide-tisch im Archiv heraus, zerschnitt das Originalund verpflanzte den meist stark verstümmeltenAusschnitt ohne jeden Vermerk in einen neuen„Trägerkörper“. In diesem Stil ging es noch Jahr-zehnte weiter, wobei die drastische Zunahme derMaterialmengen zu einem ständigen Wachstuman Mitarbeitern führte, die aber nicht genügten,um eine wirkliche Erschließung vorzunehmen. Als das Fernsehen ins ORF-Zentrum übersiedel-te, hatte man einen großen Raum für das Archiveingeplant. Als man jedoch draufkam, dass eineProminenten-Garage fehlte, wechselte man imletzten Moment die Pläne und siedelte das Fern-seharchiv im 1. Stock des ORF-Zentrums an, wodie Zahl der Magnetaufzeichnungen, die es imORF seit 1963 gab, so stark anwuchs, dass mandie Ausweichbaracke in Wien-Liesing weiterhinerhalten musste. Die Geschichte des ORF-Fern-seharchivs ist im Grunde ein klassisches Beispieldafür, wie man neue Chancen verkennen kann.Weder das Fernsehen selbst und schon gar nichtdie Geisteswissenschaften dachten an mehr alsdas was unbedingt notwendig war. Man löschteund löschte, schnitt nicht einmal eine einzige„Zeit im Bild“ mit, sondern bewahrte nur die Bil-der meist ohne Ton auf; man hortete Sport – abereine „Sportstammtisch“-Diskussion ohne Ton istsinnlos. Kurz und gut: Das ORF-Fernseharchivwar das ungeliebte Kind des großen Bruders –man rechnete nur die Raum- und Personalkostenvor und dachte weder an die spätere Nutzungnoch an die wissenschaftliche Aussagekraft einesneuen Mediums. Die Mitarbeiter-Rekrutierungging nach dem Motto vor sich: „Wenn du nichtspurst, kommst du ins Archiv“. Die Bezahlungwar dementsprechend unter dem Sekretärinnen-Niveau – irgendwo zwischen Putzfrauen undLagerarbeitern.

Aber was tat die Wissenschaft? Sie verschlief dieneuen Medien damals weitgehend. Das jetzigeInstitut für Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft hieß noch lange Institut für Zei-tungswissenschaft und hatte als besonderenSchwerpunkt die Aufarbeitung der Flugblätterdes 16. und 17. Jahrhunderts zum Thema. EineDissertation über die Aktivitäten Hugo vonHoffmannsthals für die Propaganda-Abteilungdes Kriegsministeriums war schon fast eine zeit-geschichtliche Arbeit. Und in der Geschichtsfor-

schung – wo man die Archivare ausbildete – kon-zentrierte man sich auf Kaiser- und Papsturkun-den und war stolz, wie zügig die Aufarbeitung derDiplome Friedrich Barbarossas vor sich ging. Die Einzigen, die sich früh um den Film küm-merten, waren die Theaterwissenschafter. Hierhatte der Gründer und Vorkämpfer einer ganzenZunft, Joseph Gregor, sehr früh für die Archivie-rung des Films gekämpft.1 Aber für die Theater-wissenschafter ging es fast ausschließlich um denSpielfilm, sozusagen um das auf Zelluloidgebannte Theaterereignis, selten um Wochen-schauen oder das, was das Fernsehen auszeichnet:eine ganze Palette von neuen Formaten des „Info-tainment“.Meines Erachtens war das Fehlen jedes Metho-den-Bewusstseins in der Geisteswissenschaft eineder Ursachen für die Zustände in den ersten Jahr-zehnten des ORF-Fernseharchivs. Erst Anfangder 80er-Jahre kam es zu einer kopernikanischenWende.

2. Die Gründung des HistorischenArchivs

Im Grunde beginnt die Geschichte des moder-nen Fernseharchivs vor einem Vierteljahrhun-

dert. Damals gab es jede Menge Aktivitäten imZusammenhang mit dem Jubiläum „25 JahreStaatsvertrag“. Eine davon war die Initiative„Medienkoffer zur österreichischen Zeitgeschich-te“, die eine Aufarbeitung der Geschichte Öster-reichs im 20. Jahrhundert zum Inhalt haben soll-te. In dem Herausgeberteam war ich neben Ger-hard Jagschitz, Erika Weinzierl, Anton Pelinkaund Herbert Steiner der „Mann im ORF“, dersich mit der Beschaffung entsprechender Mate-rialien für eine Schallplatte bzw. eine Video-Edi-tion herumschlagen musste. Und da hatte ichmein Damaskus-Erlebnis. Ich war während mei-ner Ausbildung zum Historiker und Germanistenauch in dem Archivkurs des Instituts für Öster-reichische Geschichtsforschung geraten, weil manmir eine Assistentenstelle in der Freien Univer-sität Berlin in Aussicht stellte. Als sich dieser Planzerschlug, wollte ich alles werden – nur nichtArchivar. Und so wurde ich Bildungsjournalist imRadio und musste schon dort entdecken, dass dieaudiovisuelle Überlieferung in Österreich in jederHinsicht im Argen lag. Aber bei der Materialsu-che für „Zeitgeschichte im Aufriss“ erlebte ichUnglaubliches. Da gab es eine Filmrolle zum

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1 Vgl. Peter Dusek: Joseph Gregor. Ein Bibliothekar alsLibrettist, oder: ein österreichischer Kulturbeamter auf den

Spuren Grillparzers. In: Peter Csobádi u.a. (Hrsg.): DasFragment im (Musik-)Theater. Salzburg 2005, S. 574-584.

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Thema Zeitgeschichte von nicht ganz einer Stun-de und dort gab es Aufnahmen von der Ausru-fung der Republik, dem Bürgerkrieg des Jahres1934 oder Hitler am Heldenplatz. Alle diese Bil-der hatte man schon Dutzende Male gesehen unddas war’s! Koordinator der „Medienkoffer“-Pro-gramme war übrigens Hugo Portisch und er kon-zipierte – gemeinsam mit Gerd Bacher – jenesgroße Zeitgeschichte-Projekt, das mit seinemNamen ident wurde: „Österreich II“ – die 24-tei-lige Geschichte der 2. Republik, die später durcheine zehnteilige Serie über die 1. Republik nochergänzt wurde. Als mich Portisch zur Mitarbeitan „Österreich II“ einlud, wurde aus dem Archiv-Saulus ein Fernseharchiv-Paulus.Damit schlug die Geburtsstunde des Histori-schen Archivs, was anfangs sehr viel Arbeitbedeutete, aber auch rasch von Erfolg gekröntwar. Eine kleine Schar von Historikern beganneine Aufholjagd, die vor allem dadurch Nachhal-tigkeit sicherte, weil erstmals Computer groß-flächig eingesetzt werden konnten. Die Mitarbei-ter der ersten Stunde, Herbert Hayduck undAndreas Kafka, sind heute meine Stellvertreterund geben sozusagen den Prototyp der Mitarbei-terausbildung ab: wissenschaftliche Systematik,journalistische Kenntnis und technologischesbzw. juristisches Zusatzwissen. Dies ist dasDreisäulenmodell meiner Mitarbeiter, die heuteschon die 100-Personen-Grenze markieren. DasHistorische Archiv bewies durch innovatives Ser-vice, durch die Schnelligkeit des Computers unddie Vielfalt seiner Aufgaben, wie überfällig dasEinbringen von Qualität im Bereich des audiovi-suellen Medienarchivs war.2

3. Die Reform des Fernseharchivs

Der Ausbau des Historischen Archivs des ORF,das mit einem halben Dutzend Mitarbeiternbegann und zuletzt ca. 20 Mitarbeiter umfasste,ging in den Jahren 1982-1987 vonstatten. Erstdann bekam ich die mehr als schwierige Aufgabe,das riesige Fernseharchiv des ORF mit insgesamt40 MitarbeiterInnen nicht nur zu übernehmenund dem Historischen Archiv zu integrieren, son-dern auch zu modernisieren. Hier gab es jedeMenge Handlungsbedarf: Computerprogrammelösten alte Karteikärtchen ab, der Begriff Origi-nal, Duplikat und Ansichtsformat wurde erst ein-

geführt; ein Musterbuch für die Beschreibung derInhalte musste erst erstellt werden. Und gleich-zeitig ging der Anspruch weiter: Moderne Archi-vare müssen nicht nur fachlich hoch qualifiziertsein, sondern auch journalistische Kenntnissehaben. Eine exemplarische Fingerübung in die-sem Sinne war die Rekonstruktion alter Nach-richtensendungen, die man mit den pensionier-ten ehemaligen GestalterInnen neu aufnehmen,kürzen und bearbeiten musste. Dieses „ZiB dacapo“ oder „Werbung einst und jetzt“ warengelungene Beispiele für neue Formate, die vomORF immer öfter entwickelt werden. Heutegestaltet das ORF-Archiv etwa die Serie „Zeiten-blicke“.Die schwierigste Aufgabe war neben der Integra-tion der Mitarbeiter der Kampf um Budgetmit-tel3, neue Berufsbilder und internationale Veran-kerung. Noch immer sind nicht alle AltbeständeComputer-erfasst; der ständige Formatwechsel inden Aufzeichnungsformaten zwingt zu ständigenGroßaktionen (vgl. den Beitrag von HerbertHayduck in diesem Heft). Insgesamt finden sichHunderttausende Videokassetten und Hundert-tausende Filmrollen im ORF-Fernseharchiv.

4. Zugänglichkeit für Schule undWissenschaft

Neben all den Problemen die auftreten, wennman aus einem der ältesten Fernseharchive

der Welt eines der modernsten machen will, istdie zunehmende Nachfrage nach Benützungs-möglichkeiten für eine breite Öffentlichkeit. Zunächst eine Klarstellung: Nach Definition derklassischen Archivlehre sind wir gar kein „Archiv“sondern eine Registratur. Ein Beispiel dazu: DieRegistratur des Justizministeriums verwaltet etwaScheidungsakten so lange sie aktuell ergänzt undverändert werden. Ist das Verfahren abgeschlossenund eine gewisse Wartefrist verstrichen, dannwerden die Akten der Wissenschaft übergeben,die eine Reduktion vornimmt (Skartierung) unddiese Dokumente dann ins Staatsarchiv übermit-telt. Der ORF verwendet seine Archivalien inerster Linie für die Herstellung von eigenen Sen-dungen und verwaltet auch Basismaterial, das niegesendet wurde und kann deshalb seine Daten-bank nicht jedermann zugänglich machen, weilsie unter das Thema „Redaktionsgeheimnis“ fällt.

2 Peter Dusek: Das Historische Archiv des ORF als Plattformzu Wissenschaft und Schule. In: Zeitgeschichte, Jg. 12(1984), H. 3, S. 100-112.

3 vgl. Peter Dusek: Erschließung und Auswertung im OF-

Fernseharchiv im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit undkulturhistorischer Relevanz. In: Der Archivar, Jg. 47(Februar 1994), S. 62-64.

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Laut geltendem ORF-Gesetz sind wir übrigensnoch immer nicht verpflichtet, unsere Mitschnit-te länger als drei Monate zu archivieren (für denpolitischen Streitfall) und über die Zugänglich-keit nach außen schweigt sich das ORF-Gesetzüberhaupt vollständig aus. In einigen europäi-schen Staaten gibt es echte Medienarchive. Etwain Frankreich, Holland oder Schweden werdendie Sendungen von Radio und Fernsehen nachder Ausstrahlung an ein öffentlich eingerichteteszentrales Medienarchiv übermittelt und sind dortfür kommerzielle Kunden ebenso einsichtig wiefür Schüler oder Studenten. (Vgl. dazu den Bei-trag von Alexander Hecht in diesem Heft). Nachgeltender ORF-Archivordnung sind wir nur fürDiplomarbeiten aufwärts öffentlichzugänglich, sofern das Thema dieNutzung überhaupt sinnvollmacht. Dafür muss beim Admini-strator der beiden Fernsehdirekto-ren, derzeit (September 2005)Mag. Oswin Kozissnik, eineGenehmigung eingeholt werden –in deren Kompetenzbereich fällt das Fernsehar-chiv. Weder die Raum- noch die Personalkapa-zitäten des Fernseharchivs ermöglichen eine brei-tere Öffnung. Dennoch ist uns klar, dass derDruck der Öffentlichkeit auf Zugänglichkeitunserer Bestände immer größer wird. Immerhinhaben wir seit der großen Archivreform des Jah-res 1988 etwa die Sendeleitungs-Mitschnitte auf-bewahrt, die wir laut Gesetz nur drei Monatebehalten müssen. Leider droht hier ein anderesProblem, das für Medienarchive besonders gilt:Die Haltbarkeit dieser Sendeleitungs-Mitschnitteist sehr begrenzt und ein Teil der Mitschnittebeginnt schon – wie es in der Fachsprache heißt– „abzuschmieren“, d.h. das Abspielen der Video-kassetten ist zeitweise von akustischen und opti-schen Störungen begleitet. Gegenwärtig findet imORF eine große Ablöse an Formaten statt und inZukunft werden nicht VHS-Mitschnitte archi-viert, sondern DVDs. Leider kann niemand pro-gnostizieren, wie es um die Haltbarkeit dieser inihrer Struktur den CDs ähnlichen Trägermedienbestellt ist. Der Zeitpunkt ist nahe, wo eine Ent-scheidung zu treffen sein wird, ob dieses Arsenalan Sendeleitungs-Mitschnitten auf DVD umko-piert werden soll oder nicht. Dies betrifft einigeTausend Kassetten, wobei auch die Kostenfragenicht unerheblich ist. Neben den Sendeleitungs-Mitschnitten hat das Archiv auch noch eineandere Aktion gestartet, die für die Forschungeines Tages wichtig werden dürfte. Ein- bis zwei-mal im Jahr wird eine ganze Woche lang das

„gesamte Design“ der ORF-Sendungen mitge-schnitten. Konkret werden auch die Werbe-blöcke, die Ansagen und die Promotion archi-viert. Leider gibt es diese exemplarischen Mit-schnitte nach dem Zufallsprinzip kaum für dieZeit vor der großen Reform. Aber immerhin tau-chen auch aus der Frühzeit immer wieder wert-volle Einzelfunde auf, die unbeabsichtigt waren.Da finden sich etwa noch Reste von „Zeit imBild“-Sendungen, weil der Techniker nach demFußball-Match nicht auf die Stopp-Tastegedrückt hatte. Ein anderes Beispiel: Das ersteFernseh-Totalereignis, die Mondlandung, führtezum ersten Rund-um-die-Uhr-Fernsehen. Welt-weit wurde dieses Programm gelöscht, nur die

Minuten der Mond-landung selbst sindin unserem Archiverhalten. Doch nunist eine ganze Stundeder damaligen Kom-mentare – von HugoPortisch und Peter

Nidetzky – aufgetaucht. Der Grund: Bei einerSchi-Übertragung fiel eine Stunde lang das Pro-gramm aus, das man über die Mondlandung drü-berkopieren wollte. Vielleicht hat aber auch derTechniker nicht ordentlich auf den Aufnahme-knopf gedrückt? Neu für das Historische Archivwar auch eine Sende-Vorschaureihe aus den Jah-ren 1958/59, wo viele frühe Fernsehstars für eineausführliche Programmvorschau extra ins Studiokamen. Fernsehgeschichte betreiben erinnert alsotatsächlich an Medien-Archäologie.

5. Der Deutsche Studienkreis fürRundfunk und Geschichte undseine Österreich-Sektion

In der Bundesrepublik Deutschland wurde derDialog zwischen Forschung und audiovisuellen

Medien viel früher eingeleitet. Seit den 80er Jah-ren existiert der Studienkreis für Rundfunk undGeschichte, der sich von Anfang an auch mitÖsterreich und der Schweiz beschäftigte. Dortlernen sich Theoretiker und Praktiker, Rund-funk- und Fernsehleute bzw. Wissenschafternicht nur kennen, sondern geben die Richtlinienfür wissenschaftliche Arbeiten. Gemeinsam mitFritz Hausjell und Wolfgang Duchkowitsch leite-te ich die Österreich-Sektion dieses deutschenStudienkreises. Seit 1997 findet jährlich EndeNovember ein zweitägiges Symposion im ORF-Zentrum statt, bei dem sich die ehemaligen Mit-arbeiter des ORF, Vertreter der Medienforschung

Dennoch ist uns klar, dass der Druck der Öffent-lichkeit auf Zugänglichkeitunserer Bestände immergrößer wird.

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sowie Studenten treffen. Dieser Studienkreis hatschon viele Arbeiten initiiert, die geholfen haben,weiße Flecken aus der Geschichte des ORF zu til-gen. Die wichtigste Methode ist dabei der Kon-takt zu den ehemaligen Mitarbeitern selbst, dieoft zuhause wichtige kleine Archive über ihreberufliche Tätigkeit aufgebaut haben, ja die sichmanchmal auch die besten Sendungen aufgeho-ben haben bzw. Fotoalben zur Verfügung stellenkönnen. Sie geben auch über die BeweggründeBescheid, die zur Konzeption verschiedensterSendungen geführt hatten. In punkto Benützung der ORF-Überlieferunggilt allerdings eine Hauptregel: Das Materialmuss bereits gesichert sein, denn nur Duplikateoder Ansichtsmaterialien können für die For-schung genutzt werden. Wäre es anders, kämen jajene Originale zu Schaden, die uns aus der Früh-zeit des Fernsehens ohnedies nur in einer sehrfragmentarischen Form überliefert sind. Und dasist auch ein Wermutstropfen für den Studien-kreis. Wer Material kopiert haben will, muss mitrelativ hohen Kosten rechnen. Der Techniker, dervon den Sendeoriginalen eine Kopie zieht, verur-sacht relativ hohe Kosten. Dennoch bestünde beivielen Forschungsprojekten die Möglichkeit,einen Sponsor aufzutreiben. Die Beratungs- undBesichtigungskosten werden hingegen im Regel-fall nicht verrechnet.

6. Medienarchive Austria (MAA)– Zusatzangebote außerhalb desORF

Das ORF-Archiv ist im Übrigen nicht die einzigeStelle, über die man Zugang zu unseren Bestän-den findet. In so mancher Landes-Medienstellewerden die ORF-Regionalsendungen gespeichertund erschlossen. In der Österreichischen Phono-thek, die ein Teil des Technischen Museums ist,werden die wichtigsten Nachrichtensendungenmitgeschnitten und für Studenten angeboten undwer sich einen Überblick über die diversen Mög-lichkeiten verschaffen will, sollte sich an dieArbeitsgemeinschaft audiovisueller ArchiveÖsterreichs wenden, die seit kurzem unter dem Titel MAA (Medienarchive Austria:http://www.medienarchive.at) firmiert.Alle diese Initiativen finden aber mehr oder weni-ger im luftleeren Raum statt, denn es fehlenrechtliche Rahmenbestimmungen, etwa für dieinternationalen Agenturbeiträge, den Daten-schutz oder das Persönlichkeitsrecht. Dies sowieviele weitere Hürden machen die Realisierung derForderung unmöglich, dass der ORF und andere

Medienbetreiber ihre Archivtüren einfach öffnenund das gesamte Material digital zugänglichmachen. Dies gilt auch im internationalen Ver-gleich.

7. Die internationalen Medien-archiv-Organisationen

Kaum ein anderer Berufsstand ist in derGegenwart so großen Veränderungen ausge-

setzt, wie jener der Medienarchivare. Als ich imJahr 1988 zum Hauptabteilungsleiter des Fern-seharchivs ernannt wurde, suchte ich im AuslandVorbilder und im Vergleich zum ORF waren etwadie Medienarchive Frankreichs (INA – InstitutNational de l’Audiovisuel) aber auch die ARD-Anstalten (besonders jene des SWR Baden-Baden) viel weiter entwickelt. Aber für sie allegalt, dass die technologischen Herausforderungenein ganz neues Anforderungsprofil ergaben. Injenen Institutionen, die ein hohes Archivbewusst-sein früh entwickelten wie beispielsweise derBBC oder der RAI kamen Medienarchivare ausder Zunft der Bibliothekare. Als ich beim inter-nationalen Dachverband der Fernseharchive(FIAT) im Jahr 1988 auftauchte und meineErfahrungen vom Historischen Archiv einbrach-te, wurde ich wie ein „Außerirdischer“ bestaunt.Meine Zunftgenossen schüttelten über denAnspruch auf journalistische Erfahrung samttechnologischem und journalistischem Know-how nur den Kopf. Sie wollten mit diesen Dingennichts zu tun haben. In der Zwischenzeit hat sichdie Situation total geändert. Ich kam nicht nurrasch in den Vorstand der FIAT, sondern warauch vier Jahre lang Präsident. Ich bin heute nochVize-Präsident. Und aus dem Fernsehbibliothe-kar von gestern ist heute im ORF-Zentrum ein„digitaler“ Dokumentar geworden, der im aktuel-len Newsroom Dienst versieht und journalistischebenso gefordert ist wie in seinen Fachkenntnis-sen über Technik und Urheberrecht bzw. Persön-lichkeitsschutz. Der Medienarchivar von heutebeginnt seine Arbeit am Beginn des Produktions-prozesses und steuert den Löschvorgang ebensowie er Teile der Produktionsformationen für dieArchiv-Nachhaltigkeit sichert. Weltweit werdenFernseharchivare heute mit Fragen der Produkti-onsabläufe konfrontiert und müssen als Überle-bensstrategie eine Grundkenntnis des journalisti-schen Handwerks haben.Noch etwas Zweites hat sich international durch-gesetzt: So wie ich beim Medienkoffer mit ver-schiedenen Archiven (selten) fündig gewordenbin, der digitale Daten-Highway unterscheidet

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zwischen Tonträgern und Bildmedien relativwenig. Fotos werden eingezäumt und mit Tönenunterlegt; das Schlagwort lautet Konvergenz derMedien und Recherche über die engen Fachgren-zen der Trägermaterialien hinaus. Das zeigt sichauch bei einem kurzen Überblick der internatio-nalen Dachverbände. Da gibt es neben der FIAT(Fédération Internationale des Archives deTélévision) auch die IASA (International Associa-tion of Sound and Audiovisual Archives). Daswar früher die Vereinigung der Tonarchive. Seiteinigen Jahren sind sie auch für Videos zuständig,weil sie sich im Sinne der Digitalisierung füreinen erweiterten Quellenbegriff entschiedenhaben. Die dritte Institution FIAF (FédérationInternationale des Archives du Film) beschäftigtsich mit dem Film, vor allem mit dem Spielfilm.Hier hat sich am wenigsten geändert. Nochimmer ist das Trägermaterial Film nicht durchDigitalisierung zu ersetzen. Die Welt der Cinea-sten ist auch gut organisiert und in Österreichgehören sowohl das Filmarchiv Austria (FAA) alsauch das Filmmuseum zum Dachverband derFIAF. Diese öffentlich-rechtlich organisiertenInstitutionen haben im Regelfall von den Statu-ten her den Auftrag, auch für Wissenschaft undForschung tätig zu sein. Wer also über Spielfilmeoder Wochenschauen arbeiten will, ist vergleichs-weise gut dran.

8. Das digitale Foto-Projektzwischen ORF und Österreichi-scher Nationalbibliothek

In einem Nebensegment haben wir eine Koope-ration gestartet, die meines Erachtens

zukunftsweisend ist. Das Historische Archiv desORF hat im Zusammenhang mit der Portisch-Serie „Österreich II“ auch mehr als 1,5 MillionenFotos erworben. Der größte Teil davon (ca. 1Million Negative) wurde nun in die Fotosamm-lung der Österreichischen Nationalbibliothek(NB) transferiert und dort hat man eine gemein-same Aufarbeitung begonnen. Mehr als 10.000Fotos aus der NB, dem ORF aber auch aus ande-ren Foto-Archiven sind bereits digital erschlossen,und zwar in einer Weise, die den Spagat zwischenwissenschaftlicher Zugänglichkeit und kommer-zieller Nutzung ideal schafft, d.h. jeder Interes-sierte kann die Fotos (www.bildarchivaustria.at)dieses Projekts recherchieren und erst im zweitenSchritt kommt dann eine Trennung zwischenwissenschaftlicher Nutzung und kommerziellerVerwendung, etwa für Zeitschriften, Zeitungenoder Bücher. Hier muss die hochauflösende Ver-

sion von den kommerziellen Kunden bezahltwerden, während die Studenten und wissen-schaftliche Projektmitarbeiter ihr Illustrationsma-terial sozusagen in verkleinerter Form weitgehendkostenlos benützen können.In einem Pilot-Projekt hat sich jetzt auch die Aus-tria Presse Agentur (APA) für das heurigeJubiläumsjahr an diesem Kooperations-Modellbeteiligt und es scheint mir nur mehr eine Frageder Zeit zu sein, bis es zu einer großen Lösungzwischen APA, NB und ORF kommt. Die Vor-aussetzung für das Gelingen dieses digitalen Platt-form-Modells ist natürlich die relativ unkompli-zierte Rechtslage. Wenn man bei einem Foto denUrheber kennt und womöglich dort das Negativnachweisen kann, dann ist es lediglich eine Ver-tragsfrage, ob man diesen Weg des Internet-Anbots beschreitet oder nicht. Leider gibt es inallen Sammelstellen für Fotos auch Materialber-ge, die nicht mehr zuordenbar sind, denn dasUrheberrechts-Bewusstsein war früher viel weni-ger ausgeprägt als heute. So wie man früher mitden Filmoriginalen umgesprungen ist, so tat mandies auch mit Fotos und so manch berühmterSchnappschuss wurde so oft verwendet, bis derName des Schöpfers irgendwo nicht mehr ver-merkt war. Dazu kommt, dass ein Foto im Regel-fall nur einen Schöpfer als Urheber hat, währendeine Minute aus der Serie von Hugo Portisch oftzwei Dutzend verschiedene Rechteinhaber auf-weist, die sich oft überlappend verschränken:Foto-Inserts unterlegt von Musik, dazu der Spre-cher-Off-Text. Wenn für fünf Sendeminuten achtverschiedene Rechteinhaber zu kontaktieren sind,wird die Rechteklärung zur Mühsal.

9. Golden Archives

Die Komplexität des Fernsehens wird auf dieDauer nicht verhindern können, dass auchbewegte Bilder öffentlich zugänglich gemachtwerden. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letztenzehn Jahren zu diesem Thema befragt wurde,aber eines scheint mir klar zu sein: Das Prinzipder „Golden Archives“ dürfte besondere Chancenzur Verwirklichung haben. Hier wieder ein kon-kretes Beispiel: Am Historischen Institut der Uni-versität Wien wurde das Projekt „Geschichte On-line“ initiiert. Zunächst hat man an einenZugang zum gesamten Fernseharchiv gedacht,aber relativ rasch davon Abstand genommen.Neben den Rechtshindernissen ist es vor allemnoch die Leitungsproblematik, die Bewegtbilderimmer nur in relativ kleinen Mengen anbietbar

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machen. Wir haben zwar im ORF-Archiv durchdie Einbindung in den digitalen Newsroom aufeinen Teil unserer Bestände zumindest einen ein-monatigen digitalen Sofort-Zugriff, aber dannsind wieder nur Browsing-Formate möglich undauch zu den digitalen Nachrichten gibt es eineZugriffsbeschränkung aufgrund der Leitungspro-blematik.Doch zurück zum Projekt „Geschichte On-line“.Nach den relativ überzogenen Vorstellungen amBeginn begnügte man sich ziemlich rasch miteinem Kompromissvorschlag: Die Geschichte des1. Mai quer durch das 20. Jahrhundert sollte dar-gestellt werden. Dies weist auch einen starkenAussagewert auf, denn bei den ältesten Aufnah-men aus der Monarchie gingen die Arbeiter am 1.Mai noch ganz bürgerlich verkleidet über dieRingstraße. Erst in der 1. Republik entstand das,was es dann auch in der 2. Republik wieder gab.Während der Ständestaat auf historische Umzügesetzte und in der Nazi-Zeit der Brauch des Mai-baum-Kletterns die einstigen Umzüge der Arbei-ter ablöste. Selbst diese relativ kleine Material-sammlung machte monatelange Rechtsverhand-lungen notwendig, denn die ältesten Aufnahmenstammten aus Paris, die Nazi-Zeit wird von derTransit in München verwaltet und die erstenJahrzehnte der 2. Republik sind nur via Wochen-schau darstellbar, die wiederum vom FilmarchivAustria verwaltet werden.Inzwischen ist dieses Modell der Analyse vonBildmaterial – aufgezogen an einem guten Exem-pel – längst als Methode entdeckt worden, denndie Idee der „Golden Archives“ besagt, dass nunder 1. Mai nicht nur in Österreich als Längs-schnitt didaktisch aufbereitet wird, sondern diesauch in Italien, Frankreich, England, Holland,Tschechien oder Russland geschieht. Hier wür-den ganz andere historische Kontinuitäten bzw.Diskontinuitäten auftauchen. Ähnlich könnteman es mit anderen Schlüsselereignissen Europasmachen – etwa das Jahr 1968. Es war das Jahr derStudentenunruhen, der Tschechien-Krise, derBeatles als Symbol der Rebellion der Jugend.Wenn man eine Stunde Summary über 1968 ausverschiedenen geographischen Regionen ins Netzstellen würde, würde eine ansehnliche Material-sammlung entstehen, die für Schulprojekte eben-so genutzt werden könnte wie für wissenschaftli-che Forschung. Eine Stunde Rechtsklärung proLand – das müsste doch wirklich finanzierbarsein! Im Jahr darauf könnte man sich über einanderes Schlüsselereignis einigen, etwa das Jahr1955 mit der Gründung der NATO und desWarschauer Paktes.

Relativ anspruchsvoll aber doch auch ein Beispielfür „Golden Archives“ ist ein EU-Projekt über dieAnfänge des Fernsehens. Sein Abkürzungsnamelautet

10. BIRTH oder die Anfänge desFernsehens in Europa.

Seit 10 Jahren profitiert das ORF-Fernsehar-chiv durch eine intensive Teilnahme an EU-

Projekten. Seien es die so genannten Keyframes,die wir heute zu unseren Aktualitätssendungenliefern können oder das Know-how im Umgangmit den Brüsseler Bürokratiestellen – die Beteili-gung meiner Mitarbeiter an EU-Projekten hatviele Vorteile gebracht. Denn die Integration desFernseharchivs im neuen Newsroom wäre ohnediesen Informationsvorsprung vermutlich ebensowenig zustande gekommen wie das Entsteheneines Projekts, das für die Wissenschaft und inter-essierte Laien geradezu maßgeschneidert ist.Gemeinsam mit dem Joanneum Research in Grazhat der ORF bei diesem Projekt aus der MediaPlus-Gruppe der EU die Federführung übernom-men und immerhin so prominente Partner wiedie BBC, das Holländische Zentralmedienarchiv,das belgische Fernsehen RTBF sowie die ARD-Anstalt SWR. Dazu kommen noch zwei Techno-logiefirmen, Noterik bzw. die FachhochschuleHagenberg. Das Ziel von BIRTH ist seit demOktober des Jahres 2004 an seinem Internet-Por-tal abrufbar (http://www.birth-of-tv.org). Hierwerden aus den Beständen der beteiligten Institu-tionen Videobeiträge aus der Frühzeit des Fernse-hens via Internet abrufbar gemacht und wie dieDinge derzeit stehen, könnte dieses Service nachAbschluss des EU-Projekts von der FIAT bzw.vom Holländischen Zentralen Medienarchiv inHilversum fortgesetzt werden. Nach dem Mottoder „Golden Archives“ sind es zunächst nur ein-zelne Beispiele, die die Hürden der Rechte-klärung überwunden haben bzw. die überhauptaus der Frühzeit des Fernsehens überliefert sind.Aber wenn man diese Methode der Anreicherungfortsetzen könnte, wäre ein entscheidenderDurchbruch zu erzielen. Selbstverständlich müs-ste BIRTH von den gegenwärtig fünf Medien-partnern zumindest auf alle EU-Mitgliedsländerausgeweitet werden. Es fehlt also nicht an Projek-ten, Visionen und neuen Möglichkeiten. Zuletzt noch ein Wort über das zu geringeMethodenbewusstsein, etwa bei der Zunft derHistoriker. Auch hier hat sich in den letzten Jah-ren Entscheidendes verändert.

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11. Ein neues IFÖG-Medien-archivmodul als EU-konformesStudium

Eingangs beschrieb ich, dass ich quasi nurdurch einen Karriere-Betriebsunfall als ausge-

bildeter Mediävist in die Welt der Medienarchiveverschlagen wurde und vor einem Vierteljahrhun-dert die Marktchance für qualitativ hochwertigorganisierte Archive des Fernsehens erkannt habe.Seit rund einem Dutzend Jahren durfte ich meineErfahrungen im Rahmen des Ausbildungslehr-gangs für Archivare am Institut für Österreichi-sche Geschichtsforschung (IFÖG) weitergeben4.Zunächst als Wahlfach, später als Wahlpflichtfachgab es Audiovisuelle Medienkunde sozusagen alsSchnupperkurs für einen Berufszweig, der mit allseinem journalistischen, technologischen undjuristischen Know-how wirklich Neuland betrat.Im vergangenen Jahr schloss der Kurs des IFÖGerstmals mit einem eigenen Vertiefungsmodul ab,bei dem 20 Stunden zu den neuen Themen zuinskribieren waren. Nun wird dieses Medienmo-dul Teil eines neuen EU-konformen Studienan-gebots und im Herbst 2005 startet der erstereguläre Durchlauf. Die einzelnen Übungen bzw.Vorlesungen beschäftigen sich mit:

Erweiterungsmodul „Medienarchive“• Rechtsfragen des Archivwesens (2 Semester-

wochenstunden)• Mediengeschichte, Medienanalyse (4 Seme-

sterwochenstunden)• Analyse und Vermittlung kunsthistorischer

Inhalte durch neue Medien (2 Semesterwo-chenstunden)

• EDV-Anwendungen im Archivwesen I (2Semesterwochenstunden)

• Internationale Recherche (2 Semesterwochen-stunden)

• Technik/Restaurierung/Lagerbedingungen:Video + Ton (2 Semesterwochenstunden)

• EDV-Anwendungen im Archivwesen II (2Semesterwochenstunden)

• Digitaler AV-Arbeitsplatz (2 Semesterwochen-stunden)

• Medienproduktion, Medienvermarktung (2Semesterwochenstunden)

• Technik/Restaurierung/Lagerbedingungen:Film (2 Semesterwochenstunden)

• Archivpraktikum (10 Semesterwochenstun-den)

• Magisterarbeitrecherchen

Ausblick

Fasst man die Geschichte des Fernseharchivsdes ORF zusammen, dann kann man konsta-

tieren: Es dauerte mehr als 30 Jahre, bis der ORFein modernes Medienarchiv erhielt, wobei„Österreich II“ von Hugo Portisch ein Glücksfallfür den heutigen Leiter des Fernseharchivs war.Damals wurden die Versäumnisse ebenso evidentwie die neuen Chancen etwa durch Computer-Einsatz erkennbar wurden5. Nun sind fast 20Jahre seit der Modernisierung vergangen und soviel Zeit wurde benötigt, um den Gesamttorsoder ersten 30 Jahre Fernsehen zu erfassen, zusichern und zu erschließen. In den nächsten zehnJahren könnte es gelingen, durch entsprechendeAbkommen auf nationaler und internationalerEbene den Weg der Öffnung des größtenMedienarchivs Österreichs für Nutzer von außenzu beschreiten.Aber auch diese digitale Revolution kann nurSchritt für Schritt erfolgen und setzt etwa dieTrennung von veröffentlichtem Material undnicht veröffentlichtem Material voraus. Aber„Schatzsucher“ benötigen zu allen Zeiten einegroße Portion Geduld.

4 vgl. Peter Dusek: Die „Gnade“ der späten Reform oder dasMethodendefizit der Historiker im Medienzeitalter. In:Medien & Zeit, Jg. 12 (1997), H. 1, S. 4-14.

5 vgl. Peter Dusek: Am Beispiel Nofretetes – Die Bedeutung

von Medienarchiven für Rundfunk und Fernsehen. In: 30Jahre Österreichisches Filmarchiv, Nr. 105, April 1985, S.29-34.

Peter DUSEK (1945)Promotion zum Dr .phil.1968 (Geschichte). Seit 1972 beim ORF tätig, zunächst als Mit-arbeiter in der Sendungsgestaltung, speziell bei Bildungssendungen. Ab 1982 mit demAufbau des historischen Archivs betraut, seit 1988 als Hauptabteilungsleiter des ORF-Fernseharchivs tätig. Lehraufträge für Mediendidaktik und audiovisuelle Quellenkundean den Universitäten Klagenfurt, Salzburg und Wien. Zahlreiche Publikationen undAufsätze zur „Österreichischen Zeitgeschichte ab 1918“.

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Man muss sich beeilen, wenn man noch etwassehen will. Alles verschwindet.

Paul Cezanne

Paul Cezanne hat im Jahre 1904 mit propheti-schem Weitblick die bevorstehenden, drama-

tischen Veränderungen in der visuellen Kulturvorausgesehen. Der Einbruch der Abstraktion in der BildendenKunst und die schrittweise Entwicklung der tech-nischen Bildmedien führten im 20. Jahrhundertzu einem tiefgreifenden Umbruch in der Kulturder optischen Wahrnehmung. Die Geschwindig-keit dieser Veränderungen hat Cézanne ganzoffensichtlich als bedrohlich empfunden.100 Jahre später sind wir in der Entwicklung derelektronischen Medienlandschaft Zeugen einerhochinteressanten Parallele zur damaligen Situati-on. Die Etablierung der digitalen Technologienführt zu drastischen Veränderungen in den Pro-duktions-, Distributions- und Rezeptionsmecha-nismen der audiovisuellen Medien, derenGeschwindigkeit sehr an die von Cézanne emp-fundene Dramatik erinnert. Audiovisuelle Inhalte werden zu digitalen „con-tents“, die in der jeweils adäquaten technischenQualität über eine Vielzahl von Verteilplattfor-men den interessierten „user“ erreichen sollen. Diese Flexibilisierung und Beschleunigung derErzeugung und des Konsums von technischerzeugten „Ab“-Bildern steht erst am Beginnihrer Entwicklung. Bereits jetzt führt sie zu einerVervielfachung der erzeugten Bildermengen undstellt damit die Gesellschaft schlechthin, ganzkonkret aber die für die Archivierung von audio-visuellen Medien Verantwortlichen vor die Fragenach der sinnvoll strukturierten Erhaltbarkeitdieser Mengen.Eine scheinbar zunächst technische Frage nachquantitativer Bewältigbarkeit wird zu einer Fragenach dem Gedächtnis einer Gesellschaft undihrer Alltagskultur.

Digitalisierung derMedienlandschaft

Die gegenwärtig durchgreifende Digitalisierungder Produktion und Verteilung von audiovisuel-len Medien ist der beschleunigende Faktor für die

Kultur der „Echtzeit“ mit ihrem stetig wachsen-den „Output“. Basierend auf diesem Konzept von online zu-gänglichen permanent verfügbaren und laufendwachsenden Speicherressourcen für digitaleMedienprodukte entwickeln sich die Paradigmender Interaktivität und Non-Linearität, wie sie imWorldWideWeb beispielhaft realisiert sind undnun auf die „konventionellen“ Medieninhalteüberzugreifen beginnen. Der technische Vorgang der Digitalisierungbedeutet die Zerlegung des linearen Kontinuumsan analogen Informationswellen in Reihen vondiskreten Einzelinformationen in Form der Bitsund Bytes. Dieser technische Prozess findet seinedigitale Analogie in der schon vielfach prophezei-ten, aber gerade erst beginnenden Wandlung derMedienrezeption hin zu stärker individualisiertenAngeboten mit interaktiven Anreicherungen. Reizvoll ist es, in der Praxis des Fernseharchivs diedurch die Digitalisierung möglich werdendenneuen workflows und Kooperationsmodelle mit-zuentwickeln und ihre Potenziale zu nutzen.Die Digitalisierung der Medieninhalte und derVerteilnetze schafft die Voraussetzung für dieBelieferung der hausinternen Archivkunden – derproduzierenden Redaktionen – mit den vonihnen gesuchten Archiv-Ausschnitten in Formvon digitalen files, die via Netzwerk an dieArbeitsplätze der Redakteureausgeliefert werden.

Digitale Vorschaumedien für denORF-internen Redaktionsnutzer

Die aus 50 Jahren Fernsehgeschichte des ORFerhaltenen audiovisuellen Dokumente sind

in der ORF-internen Datenbank FARAO (Fern-sehARchiv – und Abfragesystem des ORF)beschlagwortet und damit in textueller Formrecherchierbar. Dieses textuelle Angebot wird seit 1999 in tag-täglicher Arbeit um die dazugehörigen digitalenVorschaumedien ergänzt und damit für denBenutzer mit der audiovisuellen Komponenteangereichert. In den ersten Jahren bestand dieses Angebot ausder Kategorie der „keyframes“ – Einzelbilder, dievon einem Software-Algorithmus automatisch jenach Grad der Veränderung im Bildinhalt aus

Medienarchive im digitalen Umfeld Herbert Hayduck

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dem Videostrom gezogen werden. Für jede Sen-dungseinheit stellen sie in Form eines „lightta-bles“ eine repräsentative Abbildung des Video-Ablaufes dar. Sie bilden eine speicher- und netz-werkschonende Form der Wiedergabe einesVideo-Beitrages, die auch seitens der Redaktions-Benutzer wegen ihrer Übersichtlichkeit und derdamit verbundenen, raschen Bildauswahl sehrgeschätzt wird. Diese Ebene der „keyframes“ wird ab Herbst2005 um die dazugehörigen Vorschauvideos ininternet-ähnlicher Bildauflösung ergänzt. Damit steht dem ORF-internen Archivnutzer dieVorschau- und Auswahlmöglichkeit in denBeständen des Fernseharchivs direkt an seinemRedaktionsarbeitsplatz zur Verfügung. Die inhaltliche Priorisierung der in dieser Formangebotenen Sendungsinhalte wurde seitens desFernseharchivs festgelegt – basierend auf Nut-zungsstatistiken der Bestände und der urheber-rechtlichen Wiedernutzbarkeit der angebotenen„contents“. Die derart aufbereiteten Bestände ste-hen auch als technische Ausgangsbasis für öffent-liche Zugangsmöglichkeiten zum Fernseharchivzur Verfügung.

Von Echtzeit-Angeboten zumLangzeitgedächtnis

Der beschriebene schrittweise Aufbau vonSpeicher- und Recherchestrukturen für die

„born-digital“-Medienprodukte der Gegenwartentspricht der Etablierung eines Kurzzeit-Gedächtnisses für die letzten Jahre der Medien-entwicklung. Parallel dazu droht jedoch der Verlust des Lang-zeitgedächtnisses. Ein halbes Jahrhundert anFernsehgeschichte ist in ihrer Erhaltung existen-tiell bedroht, wenn es nicht gelingen sollte, dieaus dieser Ära in den Fernseharchiven erhaltenenProgramminhalte von den derzeitigen fragilenund verfallsbedrohten, analogen Aufzeichnungs-trägern in abgesicherte Speicherstrukturen zumigrieren. Die von Cézanne vor hundert Jahren empfunde-ne Bedrohung der herrschenden visuellen Kulturwiederholt sich – in neuer Form aber mit ver-gleichbarer Dramatik. Wer sich bei der Rettung des audiovisuellenGedächtnisses nicht beeilt, wird Zuseher bei sei-nem Verschwinden werden. Die digitalen Technologien – vor allem auchderen Anbieter – versprechen Lösungen für dielangfristige Archivierung dieser Mengen anMedienprodukten: wachsende digitale Speicher-

Infrastrukturen sollen mit steigender Verdichtungund Komprimierung die erforderlichen Speicher-kapazitäten für die rasant steigenden Datenmen-gen sicherstellen. Gelingt der schrittweise Aufbaudieser Strukturen, so bleiben Archivinhalte auchim non-linear und interaktiv erweiterten Umfelddas, was sie schon bisher waren: ein wesentlichesElement des audiovisuellen medialen Gesamt-angebotes.

Die Vielfalt der analogentechnischen Formate

Die in Fernseh- und Radioarchiven lagerndenaudiovisuellen Dokumente sind Ergebnisse derProduktionstätigkeit des jeweiligen Rundfunk-senders und sind daher in ihrem technischen Sta-tus eng an die Entwicklungsphasen der professio-nellen Medientechnologie geknüpft. Die hochkomplexen technischen Produktionsbe-dingungen von audiovisuellen Medien warenbesonders im Fernsehbereich sehr kurzen Ent-wicklungszyklen unterworfen und diese kurzenZyklen haben die Archivierungsstrategien indirekter Form mitbestimmt.

Verwandte aus der Kinowelt

Fernsehen war zu Beginn seiner Entwicklungauch aufgrund der technischen Möglichkeitenüberwiegend ein Live-Ereignis. Als Aufzeichnungsträger für bewegtes Bild standnur die seit einem halben Jahrhundert entwickel-te Filmtechnologie zur Verfügung. Im Ablaufeines Sendetages – der anfangs auf wenige Stun-den beschränkt war – wechselten daher live ausdem Studio gesendete Elemente mit eingespieltenFilmbeiträgen. Diese Filmbeiträge waren in klas-sischer Filmtradition vorproduziert und wurdenals „Zuspielungen“ zum tragenden Element derfrühen Fernsehdramaturgie. Mangels anderer Aufzeichnungsmöglichkeitensind aus diesen Anfangszeiten nur die auf Filmvorproduzierten Teile erhalten. Die Live-Elemen-te sind nur in Form von Standphotos und sehrraren Amateurfilm-Aufnahmen direkt vom Fern-sehschirm – und in entsprechend niedriger tech-nischer Qualität – dokumentiert. Diese Form des Mitschnitts mittels Filmkameradirekt vom Bildschirm wurde bereits nach weni-gen Jahren von Fernsehtechnikern adaptiert undals „Filmaufzeichnung“ die erste behelfsmäßigeAufzeichungsmöglichkeit für live ablaufendeFernseh-Sendungen – mit immer noch deutli-

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chen Einbussen in der Bildqualität. Aufgrund derdamit verbundenen Kosten wurde diese Auf-zeichnungsmöglichkeit allerdings nur bei „wert-vollen“ Produktionen zum Einsatz gebracht –Ökonomie war maßgeblich für die Archivie-rungs- und Dokumentationspraxis.Die ersten 5 Jahre des Fernsehbetriebes in Öster-reich waren von diesen Produktionsbedingungenbestimmt. Die im Fernseharchiv erhaltenenDokumente bestehen dementsprechend – tech-nisch gesehen – aus Verwandten der Kino-Tech-nologie. Diese Film-Verwandten blieben auch weiterhinprägend und sind bis heute aus der Fernsehpro-duktion nicht wegzudenken – allerdings nurmehr in genau umrissenen Spezialanwendungenund nicht mehr als Basis-Technologie.

Vom optischen zummagnetischen Träger

In den frühen Sechziger Jahren wurde jene Auf-zeichnungstechnologie etabliert, die seither

geradezu sprichwörtlich als „Arbeitspferd“ derFernsehproduktion im Einsatz ist – die Magne-taufzeichnung (die „MAZ“).Die Technologie der magnetischen Aufzeichnungvon audiovisuellen Signalen auf Magnetbändernwar in den folgenden Jahrzehnten kurzen Ent-wicklungszyklen unterworfen, die von den analo-gen Bandformaten der 2-Zoll und 1-Zoll-MAZzu den gegenwärtigen digitalen tape-Formatengeführt haben. Als entscheidende Entwicklungsstufen sind hierder Wechsel von großvolumigen Formaten aufBandspulen, hin zur kompakten Kassettentech-nologie der Achtziger Jahre sowie der Übergangvon der analogen zur digitalen Aufzeichnung inden Neunziger Jahren zu betrachten. Gemeinsame Grundprinzipien der Videotechno-logie über alle Entwicklungsstufen hinweg sindeinerseits die direkte Bindung der linearen Sig-nalaufzeichnung an einen physischen Bandträgerund andererseits das für eine Wiedergabe unum-gänglich notwendige Zusammenspiel des Band-trägers mit dem entsprechenden Abspiel-Gerät.

Der Verfall steckt im analogen System

Diese beiden Grundprinzipien sind gleichzeitigdie Wurzeln für die sich bedrohlich abzeich-nende Gefahr des audiovisuellen Gedächtnis-verlustes für weite Strecken der Fernseh-geschichte:

• Die Bindung der Aufzeichnung an den Band-träger schafft direkte Abhängigkeit zwischender Qualität der Signalerhaltung und demphysischen Erhaltungszustand des Magnet-bandes. Die Entwicklung der MAZ-Formatewar immer von der Optimierung im Verhält-nis zwischen Signalqualität, Aufzeichnungs-dichte und produktionserleichternden Zusatz-features (mehrere Tonspuren, Signal-Bearbei-tungsmöglichkeiten etc.) bestimmt. Gegenüber diesen Optimierungsstrategien warder für die Archivierung so entscheidendeAspekt der langfristigen Haltbarkeit des Trä-germediums eher nachrangig.Die Grundidee der magnetischen Aufzeich-nung – nämlich die Aufzeichnung als zunächsttemporärer Vorgang mit der Option auf späte-re Löschung des Signals und Wiedereinsatz desTrägers in der Produktion – hat zwar zur Pro-duktionsökonomie, nicht aber zur Langzeit-stabilität beigetragen.Die Einführung eines von Produktionstechno-logien unabhängigen, für die langfristigeSicherung von Archivinhalten optimiertenAufzeichnungsträgers ist aus Kosten- und Pra-xisgründen immer eine Vision der archivalischVerantwortlichen geblieben.

• Die Wiedergabemöglichkeit jeder MAZ-Auf-zeichnung ist abhängig vom Zusammenspieldes Bandträgers mit dem entsprechendenAbspiel-Gerät. Die raschen Entwicklungszyk-len der MAZ-Formate – vor allem im analo-gen Bereich – und die dabei erreichten großenVeränderungsschritte haben über Jahrzehntejegliche Kompatibilität zwischen den Forma-ten verhindert. In der Praxis bedeutet dies,dass auch für technische Formate, die in derlaufenden Fernsehproduktion längst nichtmehr verwendet werden, Abspielequipmentund entsprechender technischer Supporterhalten werden müssen.

Save the content, not the carrier

Als Konsequenz aus dieser Situation wurde inFernseharchiven bereits seit Jahren das archi-

valische Grundprinzip „save the content, not thecarrier“ angewendet: Die Sicherung des audiovi-suellen Inhalts wird als Priorität definiert, nichtaber die Erhaltung des originalen physischen Trä-gers und Archivstückes selbst. Diesem Prinzip folgend erfolgte die notwendigelaufende Sicherung audiovisueller Archiv-Inhaltein Form von aufwendigen 1:1-Überspielaktivitä-

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ten von obsoleten Bandformaten auf die jeweilszeitgemäße, wiederum bandbasierte Aufzeich-nungstechnologie. Diese Form der Langzeitsicherung wurde in denmeisten Fernseharchiven konsequent betriebenund hat bereits bisher gefährdete Archiv-Inhaltevor dem drohenden Verschwinden gerettet –allerdings unter hohem Aufwand und mit systembedingten Verlusten in der Signal-qualität. Walter Benjamin hat in den Dreißiger Jahren dietechnische Reproduktionsmöglichkeit von Wer-ken der Bildenden Kunst als Ursache für den Ver-lust ihrer Aura beschrieben und in ihr die Wurzelfür den Verlust der Kulturerbe-Tradition gesehen.Im reizvollen Gegensatz dazu sind audiovisuelleProduktionen sowohl technisch als auch inhalt-lich zur Reproduktion geschaffene und nur durchReproduktion erhaltbare Werke. Mit der physischen Trennung des Aufzeichnungs-signals von einzelnen Bandträgern und der Eta-blierung von file-basierten, non-linearen Spei-chertechnologien, wie sie seit Ende der 90er Jahredes vorigen Jahrhunderts auch im Medienbereicheinsatzreif werden, entsteht ein Gesamtszenarioeiner völlig neuen und nachhaltigen Archivie-rungsstrategie für audiovisuelle Inhalte, in der diesystembedingten Schwächen der bisherigenSituation überwunden werden. Die permanente und virtuelle Reproduktion vonidenten Kopien wird zum speichertechnischenGrundprinzip – der Benjamin´sche Begriff desOriginals löst sich in digitalen und verteiltenSpeicherstrukturen auf. Die Entwicklung weg vom Bandträger hin zu ver-netzten, online zugänglichen, file-basiertenGroßspeichern ist aus finanziellen und organisa-torischen Gründen nicht in einem Schritt denk-bar. Seitens der Medienarchive muss daher einesinnvoll strukturierte Stufenstrategie für diesenÜbergang entwickelt werden. Wesentlich istdabei die konsequente Umsetzung von einzelnenSchritten im Projektmaßstab, die als Bausteineeines Gesamtkonzeptes auch in Zukunft wirksambleiben.

Projekt Langzeitsicherung im ORF

In einem großangelegten und langfristig vorberei-teten Schwerpunktprojekt wird innerhalb eines3-Jahres-Zeitraums von 2004 bis 2007 die tech-nische Sicherung der verfallsgefährdeten, auf ana-logen Videoträgern archivierten Fernsehpro-grammbestände umgesetzt.

Der in diesen Beständen repräsentierte Zeitraumreicht von Beginn der 1970er Jahre bis Mitte derNeunziger Jahre, die zu sichernde Gesamtmengebeträgt ca. 120.000 Stunden an wertvollem Sen-dungsmaterial, das durch diese „Blitzaktion“ vordem „Verschwinden“ bewahrt wird. Die Sicherung der auf 3 verschiedenen analogenVideoformaten archivierten Inhalte erfolgt inKooperation mit einer technischen Auftragsfirmadurch Überspielung der Sendungsinhalte auf dasmodernste derzeit im ORF im Einsatz befindli-che digitale Videoband-Format und zwei parallelerzeugte DVD-Kopien. Als entscheidender Zwischenschritt zur file-basierten, bandlosen Server-Speicherung garan-tiert diese Überspielstrategie die zukünftige Ein-spielfähigkeit der Video-Inhalte von digitalemtape bzw. DVD in bandlose Speicherstrukturenin mehrfacher Echtzeit inkl. automatischer Feh-lererkennung. Parallel zur technischen Sicherung erfolgt dieAnreicherung der inhaltlichen Dokumentation inder Archivdatenbank und die urheberrechtlicheBeurteilung der Wiederverwendungsmöglichkei-ten der betroffenen Produktionen. Nach Abschluss dieses Langzeitsicherungs-Pro-jektes steht der Kernbestand der Fernsehgeschich-te der letzten 3 Jahrzehnte des 20.Jahrhundertstechnisch gesichert, inhaltlich angereichert undurheberrechtlich beurteilt zur Wiedernutzung zurVerfügung.

Begleitung in EU-Forschungs-projekten…

Durch Partnerschaften im Rahmen von For-schungsprojekten die seitens der Europäi-

schen Kommission gefördert werden, ist dasFernseharchiv in den internationalen Know-howAustausch und wichtige Wissennetzwerke desMedienbereichs eingebunden. Das beschriebene Thema der technischen Lang-zeitsicherung von audiovisuellen Medien steht imMittelpunkt eines Großprojektes der EU im6.Forschungsrahmenprogramm – dem IntegratedProject „Prestospace“ (www.prestospace.org).Das ORF-Fernseharchiv ist Mitglied der Projekt-lenkungsgruppe und damit Teil einer wesentli-chen internationalen Referenz- und Enwick-lungsplattform zum brandaktuellen Thema derSicherung des audiovisuellen Kulturgutes des20.Jahrhunderts. Als Partner im EU-Forschungsprojekt BIRTH(www.birth-of-tv.org) pilotiert das Fernseharchivdie Zugänglichkeit von ausgewählten, audiovisu-

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ellen Archivbeständen über Internet-Plattformen.Gemeinsam mit wesentlichen europäischenRundfunkanstalten und -archiven (BBC, ARD,RTBF, Sound and Vision Amsterdam) wird einerepräsentative Auswahl von Medien-Contentzum Thema „Frühzeit des Fernsehens in Europa“online gestellt und damit rechtzeitig zum 50-jährigen Jubiläum des Fernsehens in den meisteneuropäischen Staaten der Öffentlichkeit zugäng-lich gemacht.

…und nationalen Projekten

Zur Aufarbeitung von historischen Fotobestän-den wurde Mitte 2004 ein strategischer Koopera-tionsvertrag zwischen ORF und ÖsterreichischerNationalbibliothek abgeschlossen, der diegemeinsame Erschliessung und Zugänglichma-chung der in beiden Institutionen vorhandenen,wertvollen historischen Fotosammlungen zumZiel hat. Ca. 1,5 Millionen analoger Foto-Originale wur-den in der Folge als Dauerleihgabe des ORF indie modernen Speicheranlagen der ÖNB ein-gelagert, werden in gemeinsamen Projektenerschlossen und online zugänglich gemacht(www.bildarchiv.at). Dadurch entsteht eine Bün-delung wesentlicher österreichischer Fotobestän-de des 20.Jahrhunderts, die für den interessiertenBenutzer in einem Recherchevorgang zugänglichwerden.

Archive und ihre Nutzung

Keine Erzählung kann gelingen, ohne ein gewis-ses Maß an authentischem Material – an Doku-mentation. Sie gibt den Augen und Sinnen sozu-sagen den Kammerton A.

Alexander Kluge

Archivzugriff bedeutet aktive Erinnerung. JedeArchivnutzung bereichert eine Erzählung

um den Aspekt der Spiegelung und Kontrastie-rung einer gegenwärtigen Situation an einemhistorischen Sachverhalt und erzeugt aus derDistanz Hintergrund und Vertiefung.Die digitalen Technologien schaffen bisher unge-ahnte Möglichkeiten der sinnvollen Verbindungzwischen der langzeitigen Sicherung der Materi-albestände und ihrer Öffnung hin zum Nutzer.Die Umsetzung dieser Potentiale ist aus techni-schen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gründenein schrittweiser Prozess, der in langzeitiger Per-spektive gesehen werden muss. Seit den ersten Schritten in die Welt der digitalenMedien Mitte der Neunziger Jahre wurden dieseMöglichkeiten im Fernseharchiv des ORF inimmer neuen Teilprojekten pilotiert und inAnwendungen genutzt. Aus der Gesamtbünde-lung dieser Projekte ergibt sich ein attraktiverGesamtauftritt, der die Möglichkeiten im Über-gangsprozess aus dem analogen in das volldigitaleProduktions- und Archivumfeld jeweils so maxi-mal wie möglich nutzt.

Herbert HAYDUCK (1962)Bereichsleiter Dokumentation, Fernseharchiv ORF.1980-1986: Studium der Geschichte und Politikwissenschaften, Universität Wien Ab 1982Mitarbeit im Historischen Archiv des ORF, Archivrecherche für historische Fernsehdokumentationen (Österreich II u.a.); redaktionelle Gestaltung von Fernseh-beiträgen zu historischen Themen („Zeitzeugen“, „Erinnerungen“, „Zeit im Bild“-Beiträge…).Ab 1988: Leiter Auswertung im Fernseharchiv des ORF verantwortlich für die inhaltlicheDokumentation des Archivbestandes im Fernseharchiv.Seit 1995: neben der Tätigkeit als Bereichsleiter Dokumentation auch Projekt-Manage-ment für die ORF-Beiträge zu EU-Forschungsprojekten im IST- und MEDIA+-Rahmenpro-gramm (u.a. EUROMEDIA, AMICITIA, PRIMAVERA, BIRTH, PRESTOSPACE).

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Audiovisuelle Quellen rücken mehr und mehrin den Blickpunkt verschiedener Wissen-

schaftsdisziplinen. Nicht nur die Publizistik- undKommunikationswissenschaft, auch die Ge-schichte sowie die Theater- und Filmwissen-schaft, ja selbst die Rechtswissenschaft beschäftigtsich – etwa im Rahmen des Urheber- und Per-sönlichkeitsschutzrechtes – mit audiovisuellenMaterialien, wobei vor allem das Fernsehen mitseinem großen Einfluss auf den Medienkonsumder Gesellschaft im Mittelpunkt steht.1

Die Erforschung der Geschichte und Wirkungdes Fernsehens kann jedoch nur unter Einbezie-hung aller verfügbaren Quellen stattfinden –woran es in vielen Teilen Europas mangelt.Während für den archivalischen Bestand anschriftlichen Quellen Regelungen über Zustän-digkeiten, Aufbewahrung und Auswertunggetroffen worden sind2, bleibt der nicht unerheb-liche „Schatz“ an audiovisuellem Material, undhier insbesondere das Archivgut der Fernsehan-stalten, oft unzugänglich für Wissenschaft undForschung.In diesem Beitrag sollen anhand einiger Modelleder Archivierung von Fernsehmaterial die unter-schiedlichen Zugänge, die der Forschergemeindebzw. dem interessierten Laien eingeräumt wer-den, illustriert werden.

1. Österreich

Die Fernsehproduktion in Österreich war überJahrzehnte vom Sonderfall der Monopolstellung

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geprägt.Daher befindet sich in den Archiven des Öster-reichischen Rundfunks die landesweit größteSammlung an audiovisuellen Quellen des öster-reichischen Fernsehzeitalters, das vor 50 Jahrenmit der Aufnahme des regelmäßigen Programm-betriebes begann.3 Die Konzentration des Quel-lenmaterials an einer Stelle wäre eigentlich einGlücksfall für die Wissenschaft – hätte das ORF-Fernseharchiv die Stellung etwa des Österreichi-schen Staatsarchivs, das vom Gesetzgeber denAuftrag zur Archivierung und Sicherung vonArchivgut bekommen hat. Indes ist die Hauptabteilung „Dokumentationund Archive“ des ORF ein Produktionsarchiv,d.h. der Auftrag lautet, die Archivierung undDokumentation von Fernsehmaterialien hin-sichtlich ihrer Wiederverwertbarkeit im Rah-men von Produktionen der Rundfunkanstaltsicherzustellen. Die Hauptaufgabe liegt daher inder Wirkung nach innen und nicht in derZugänglichmachung der Archivbestände fürAußenstehende. Die Leitung der Abteilung, an deren Spitze derHistoriker Peter Dusek4 seit 1988 steht, bemühtsich jedoch immer nach Maßgabe der zur Verfü-gung stehenden Ressourcen, Anfragen aus demBereich der Wissenschaft zu beantworten undWünsche nach Bildmaterial zu bedienen. Mög-lich ist dies derzeit aber nur mit der Zustimmungdes höheren Managements des ORF, um entspre-chende Ressourcen verwenden zu können undnicht die vollen Gebühren für die Benützung derArchiveinrichtungen verrechnen zu müssen.

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1 Vgl. auch John Corner: Television Form and Public Address.London: Arnold 1995, S. 5: „... since it [television, Anm.d. A.] is, on any estimate, one of the defining institutionsof modern society.“ Zum Verhältnis von Geschichts-wissenschaft und audiovisuellen Quellen siehe AlexanderHecht: Die audiovisuellen Quellen im hilfswissenschaftlichenKontext. Eine Einführung in die audiovisuelle Quellenkunde.Diss. Univ. Wien 2005, S. 14ff.

2 Selbst in Österreich, ein Nachzügler auf diesem Gebiet,gilt seit 1.1.2000 das „Bundesarchivgesetz“. Allerdings nurfür „Archivgut des Bundes“ (§ 1,http://www.ris.bka.gv.at/bundesrecht/ , 25.7.2005).

3 Der Bestand an sendefähigem Material in den ORF-

Archiven wird auf derzeit etwa 300.000 h geschätzt.4 Peter Dusek hat sich in den vergangenen Jahren mehrmals

zur Problematik rund um die Medienarchive und ihrerÖffnung für die Wissenschaft geäußert. Siehe denentsprechenden Beitrag im vorliegenden Heft sowie z.B.Peter Dusek: Das Historische Archiv des ORF als Plattformzu Wissenschaft und Schule. In: Zeitgeschichte, Jg. 12(1984), H. 3, S. 100-112 oder Peter Dusek: Archive aufdem Daten-Highway – Zukunftsperspektiven einerVergangenheitszunft. In: Wilhelm Wadl (Hg.): KärntnerLandesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift fürAlfred Ogris zum 60. Geburtstag. Klagenfurt: Verlag desGeschichtsvereines für Kärnten 2001 , S. 661ff.

Verborgene Schätze?Fernseharchive und ihre Zugänglichkeit im europäischenVergleichAlexander Hecht

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Gleichzeitig ist der Anteil an universitär ausgebil-deten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern imORF Fernseharchiv in den letzten zwei Jahrzehn-ten kontinuierlich gewachsen. Dieses Potenzialfür die wissenschaftliche Aufarbeitung der imArchiv liegenden Quellen kann aber nur in derFreizeit der Kolleginnen und Kollegen ausge-schöpft werden, da kein Arbeitsauftrag in dieseRichtung von Seiten der Geschäftsführung desORF besteht. Als persönlich Betroffener (Mitar-beiter der Abteilung und ausgebildeter Histori-ker) hoffe ich in Zukunft auf eine stärkereZusammenarbeit zwischen den Wissenschaftsin-stitutionen und der Geschäftsführung des ORF,um die Bestände des Fernseharchivs auch für dieForschung zugänglich zu machen. Die neuendigitalen Technologien müssten hier im vollenUmfang zum beiderseitigen Vorteil ausgenütztwerden.5 Diese Zusammenarbeit kann aber nurdann erfolgreich werden, wenn auch der Gesetz-geber die notwendigen Rahmenbedingungen fürden Zugang zum und die Auswertung von Videomaterial aus den Fernseharchiven durch die Wissenschaft schafft.6 Derzeit gelten hier diegleichen rechtlichen Beschränkungen bezüglichdes Weitergaberechtes und der Lizenzbestim-mungen wie für kommerzielle Kunden des ORF.

2. Deutschland

Die Fernsehlandschaft in der BRD ist vielglie-drig. Die öffentlich-rechtlichen Sender

haben eine weitgehende Autonomie und nebendem bundesweit agierenden ZDF in Mainzhaben sich neun regionalen Sender in der losenGemeinschaft ARD zusammengeschlossen. DieArchive der einzelnen ARD-Fernsehanstaltenagieren weitgehend unabhängig voneinander, dieArchivleiter treffen sich jährlich einmal zumGedankenaustausch. Auch in der BRD gibt es ein Bundesarchivgesetz,das seit 15. Jänner 1988 in Kraft ist. Ähnlich wiein Österreich regelt dieses Gesetz nur die Siche-rung und Nutzbarmachung von Archivgut desBundes (§§ 1-2). Fernsehmaterial findet auchhier keine explizite Nennung.

In Deutschland wie in Österreich verwaltenArchive audiovisuelle Quellen, an denen sie seltenden vollen Rechteumfang halten, was die Weiter-gabe an Dritte, wie auch an Wissenschaft undForschung, erschwert.Um eine Änderung dieser Situation zu erreichen,hat sich in der BRD das Aktionsbündnis „Urhe-berrecht für Bildung und Wissenschaft“ gebildet.7

Auf der Website des Bündnisses heißt es:

„Bei der Umsetzung der Richtlinie 2001/29/EGin das Urheberrecht hat der Gesetzgeber bishervornehmlich die Belange der Rechteverwerter zurkommerziellen Nutzung der digitalen Medienund der Netze als zusätzliche Vertriebswegeberücksichtigt. Im Vordergrund standen vorallem die Vermeidung von Risiken für die privateRechteverwertung und nicht die Nutzung dermit den neuen technischen Medien verbundenenChancen für die Allgemeinheit. Dies gilt insbe-sondere für den Bereich von Bildung und Wis-senschaft. Die Informationsgesellschaft bietet hierneue Potenziale der Wissensvermittlung und derZusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern.“ 8

Die angesprochenen neuen Potenziale betreffenim deutschen und österreichischen Raum auchdie Quellen in den Fernseharchiven. Daher wäreeine ähnliche Initiative auch in Österreich zubegrüßen.Was den Zugang zu Materialien der Fernsehpro-gramme betrifft, ist der Status quo für Wissen-schaft und Forschung auch in der BRD derzeitunbefriedigend. Zwar gibt es einige Streaming-Video-Angebote (so z.B. auf http://www.zdf.dedie „ZDF Mediathek“), die sich jedoch nur aufkürzlich ausgestrahlte Sendungen beschränkenund zudem nicht auf Festplatten gespeichert wer-den können, um eine längerfristige Wiederbenut-zung zu ermöglichen.Wie schon für den ORF erwähnt wurde, sindauch die Fernseharchive der öffentlich-rechtli-chen Sender in der BRD vornehmlich als Dienst-leistungsabteilungen für die TV-Produktion defi-niert. Wissenschaftliche Aufarbeitung – voninnen oder durch Hilfe von außen – kann nur inAusnahmefällen geleistet werden.

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5 Ein erfolgreiches Beispiel auf europäischer Ebene ist dasaus einem von der EU geförderten Projekthervorgegangene Internetportal BIRTH zur europäischenFernsehgeschichte: http://www.birth-of-tv.org .

6 Die Nutzung von audiovisuellen Quellen für den

Unterrichtsgebrauch ist zwar im Urheberrechtsgesetz §56cgeregelt, nicht jedoch der Zugang zu den Materialien fürBildungsanstalten.

7 http://www.urheberrechtsbuendnis.de/ (7.8.2005).8 http://www.urheberrechtsbuendnis.de/ (7.8.2005).

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Eine Ausnahme bildet dabei der abgeschlosseneBestand des ehemaligen Fernsehens der DDR.Dieser Quellenbestand ist nach der deutschenWiedervereinigung dem Deutschen Rundfunk-archiv (http://www.dra.de) übergeben wordenund wird in verschiedenen Projekten erforscht.9

3. Frankreich

Seit dem 6. Jänner 1975 hat Frankreich einzentrales audiovisuelles Archiv, das „Institut

National de l’Audiovisuel“ (INA). Der Aufgaben-bereich der INA umfasst nicht nur die Konservie-rung und Restauration von Bild- und Tonquel-len, sondern auch die Verwendung und Veröf-fentlichung der Archivbestände für kommerzielleund wissenschaftliche Zwecke.10 Dazu kommtnoch, dass der INA seit 1992 per Gesetz die aus-gestrahlten Sendungen der französischen Fern-sehsender zur Archivierung und Dokumentationinnerhalb von 14 Tagen nach Ausstrahlungsda-tum angeboten werden müssen.11 Durch das„Dépôt légal“ wächst der Bestand in den Archi-ven der INA um jährlich 80.000 Programmstun-den.12

Damit verfügt die INA über einen einmaligenBestand audiovisueller Quellen in Frankreich, derzur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfü-gung steht. Seit dem Herbst 1998 kann ein Teilder Bestände in der „Inathèque de France“, unter-gebracht im neuen Gebäude der französischenNationalbibliothek, für Forschungszwecke kon-sultiert werden. Die Bestände der Inathèqueumfassen die Sendungen der nationalen TV-Sen-der (öffentlich-rechtlich und privat) seit dem 1.Jänner 1995.13 Zudem bietet die „Mediathèque“auf der INA Website die Möglichkeit, über 1700Videoclips aus den verschiedenen Epochen undKategorien zu browsen.14 Die INA selbst pflegteinen engen Kontakt mit dem universitärenBereich, wovon schon allein die zahlreichen

„activités scientifiques“ auf der Website der INA zeugen15, des weiteren ist die INA auch beider Ausbildung zukünftiger Medienfachleutetätig.16

4. Niederlande

In den Niederlanden existiert nach der Zusam-menlegung von drei großen audiovisuellen Archi-ven mit dem „Nederlands Instituut voor Beeld enGeluid“ (BenG) ebenfalls ein nationales audiovi-suelles Archiv, das über 700.000 Stunden anMaterial verwaltet und somit für etwa 70 % desaudiovisuellen Erbes der Niederlande verantwort-lich ist.17

Basierend auf dem niederländischen „CopyrightAct 1912“18 ist es BenG möglich, mit den öffent-lich-rechtlichen Fernsehstationen sogenannte„umbrella licenses“ zu verhandeln. Diese Lizen-zen ermächtigen die Institution an Stelle derRechteinhaber zu agieren und so z.B. auch Ver-käufe des Materials zu tätigen.Basierend auf Artikel 16 des Copyright Act191219 handelt BenG einen „angemessenen“Betrag mit den Universitäten bzw. Forschungs-einrichtungen aus, der für jede Stunde, die anaudiovisuellem Material in Anspruch genommenwird, verrechnet und fast gänzlich an den Rechte-inhaber weitergeleitet wird, was also einer Abgel-tung des Copyrights entspricht.In eigenen Übereinkommen zwischen BenG undden Fernsehstationen wird festgelegt, dass dasMaterial unverzüglich nach der Ausstrahlungdem Archiv angeboten werden muss und dazuauch noch ein bestimmtes Set an Metadatenabgeliefert werden soll.In den Niederlanden sind die Technologien desdigitalen Asset-Managements bereits sehr weitverbreitet, wovon gerade Wissenschaft und For-schung profitieren. In einem von der holländi-schen Regierung finanzierten Projekt namens

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9 So z.B. im Rahmen des DFG-Projektes„Programmgeschichte des DDR-Fernsehens komparativ“,http://www.ddr-fernsehen.de/ (7.8.2005).

10 http://www.ina.fr/entreprise/index.fr.html (7.8.2005).11 http://www.ina.fr/inatheque/presentation/

decret_31_decembre_1993.light.fr.html (7.8.2005,insbesondere Art. 30 ff.).

12 http://www.ina.fr/archives/traitement/collecte.fr.html(7.8.2005).

13 http://www.ina.fr/inatheque/consultation/fonds.fr.html(7.8.2005).

14 http://www.ina.fr/visite/mediatheque/index.fr.html

(8.8.2005).15 http://www.ina.fr/inatheque/activites/index.fr.html

(7.8.2005).16 http://www.ina.fr/formation/recherche.php?Theme=13

(8.8.2005).17 http://www.beeldengeluid.nl/

template_subnav.jsp?navname=english&category=english(8.8.2005).

18 http://www.ivir.nl/legislation/nl/copyrightact.html(8.8.2005).

19 http://www.ivir.nl/legislation/nl/copyrightact.html(8.8.2005).

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„Davideon“ hat BenG gemeinsam mit drei Uni-versitäten einen Pool an 1250 Stunden an digita-lem audiovisuellen Quellenmaterial geschaffen,der nun für Lehre und Forschung zur Verfügungsteht.20 BenG hat mit solchen Projekten in Europa ohne Zweifel eine Vorreiterrolle über-nommen.Während der Schulsektor keine Gebühren für dieNutzung von Material aus dem audiovisuellenArchiv zahlen muss, sind mit den UniversitätenTarife für die Nutzung des Quellenmaterials vereinbart worden, die auf der Anzahl der Studentinnen und Studenten basieren.21

5. Großbritannien

In Großbritannien reicht die Aufsplitterung derFernsehlandschaft zwischen der öffentlich-

rechtlichen BBC und den vielen privaten TV-Kanälen bis in die 1950er Jahre zurück. Vor allemdie Fernsehangebote von ITV22 gehören zu denmeistgesehenen Sendungen der privaten TV-Pro-duktion in Europa.Die BBC nimmt aufgrund auf ihrer langenGeschichte und ihrer Größe unter den öffentlich-rechtlichen Sendern weltweit eine herausragendeStellung ein. Daher erregte vor zwei Jahren derdamalige Generaldirektor der BBC, Greg Dyke,mit folgender Ankündigung großes Aufsehen:

„Up until now this huge resource has remainedlocked up, inaccessible to the public because therehasn’t been an effective mechanism for distribu-tion. But the digital revolution and broadbandare changing all that. For the first time there isan easy and affordable way of making this trea-sure trove of BBC content available to all.“ 23

Diese Vision, deren zumindest ansatzweise Reali-sierung für Wissenschaft und Forschung einenDurchbruch in Frage des Zugangs zu den Quel-len bedeutet und ohne Zweifel eine Vorbildwir-kung für den ganzen Kontinent gehabt hätte, istleider bis heute eine geblieben. Die Ankündi-

gung, die TV-Archive der BBC zu öffnen undonline zugänglich zu machen, um so u.a. weitereine Berechtigung für das Einheben von Fernseh-gebühren zu haben, überraschte nicht nur vieleMitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb derBBC, sondern scheint auch heute noch ein zuambitioniertes Ziel. Die Gründe dafür liegen intechnischen und auch juristischen Fragen, dieungelöst sind.24

Solange der direkte Zugang zum TV-Materialnoch Zukunftsmusik ist, dient das „British FilmInstitute“ als Nahtstelle zwischen den Fernseh-produzenten einerseits und den Wissenschafternandererseits. Das BFI beherbergt mit dem„National Film & Television Archive“ das größteFilm- und Fernseharchiv Europas.25 Dazu bietetdas BFI auch eine Reihe von Hintergrundinfor-mationen zu seinen Beständen und bietet so derForschungsgemeinde die Anlaufstelle für ihreBedürfnisse.26 Die Services sind nicht immer gra-tis, so müssen etwa für das Sichten von Materialvor Ort Gebühren bezahlt werden.

Die genannten Beispiele geben einen Ein-druck, wie unterschiedlich der Zugang zu

Fernsehmaterial in Europa geregelt ist. Es kannmitunter einfacher sein, Material von ausländi-schen Institutionen zu ordern, als es von einhei-mischen Produzenten zu bekommen. Aus Sichtvon Wissenschaft und Forschung ist zu hoffen,dass Modelle wie in Frankreich und in den Nie-derlanden Schule machen. Die modernen Infor-mationstechnologien bieten dabei neue Ansätze,die große oder riskante Materialbewegungennicht mehr nötig machen. Der Zugang zu Material der Fernsehproduktionfür die Forschung sollte immer auch von gegen-seitigem Nutzen sein: Die Wissenschafter könnenfür ihren Erkenntnisgewinn aus den Quellen deswohl mächtigsten Massenmediums des 20. Jahr-hunderts schöpfen und die Rundfunkanstaltensollten die Forschungsgemeinschaft zu Rate zie-hen, wenn es um sensible Fragen wie die derSelektion oder Skartierung geht. Schließlich gehtes um das audiovisuelle Erbe Europas.

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20 http://www.beeldengeluid.nl/template_subnav.jsp?navname=Education_davideon&category=english (8.8.2005).

21 http://www.academia.nl/pages/tarieven.php (8.8.2005).22 Vgl. http://www.itv.com/page.asp?partid=1088 (7.8.2005)23 http://news.bbc.co.uk/1/hi/entertainment/

tv_and_radio/3177479.stm (10.2.05)24 Vgl. auch Hecht, Audiovisuelle Quellen, S. 95ff. Über

http://backstage.bbc.co.uk/ hat die BBC seit einigen

Wochen die Möglichkeit geschaffen, Textfeeds der BBCWebservices über die „Really Simple Syndication“ (RSS)Technologie in eigene Webprojekte einzubauen, solange essich um eine nicht-kommerzielle Nutzung handelt. Damitkönnte zukünftig auch die Verwendung Videofiles mitFernsehmaterial in einer Textumgebung z.B. in Rahmenvon internetgestützter Lehre angedacht werden.

25 http://www.bfi.org.uk/nftva/about.html (7.8.2005).26 Vgl. http://www.bfi.org.uk/nftva/about.html

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Der Zugang zum großen Pool an Fernsehquellenwird nicht immer und überall für Wissenschaftund Forschung unentgeltlich sein. Wie aber dieBeispiele zeigen, scheitert daran nicht zwangsläu-fig die Kooperation zwischen Produzenten und„Auswertern“.

Am Schluss dieses Beitrags muss festgehalten wer-den, dass es gerade im deutschsprachigen Raum

noch an politischer Willensbildung in Hinblickauf einen erleichterten Zugang zu den Quellendes Fernsehzeitalters fehlt. Aber die „verborgenenSchätze“ werden aus den Fernseharchiven nur mitHilfe der Legislative zu heben sein. In diesemSinne tut Lobbying Not, wozu an dieser Stelle alljene aufgerufen sein sollen, denen die Fernseh-quellen und ihre Aufarbeitung am Herzen liegen.

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Alexander HECHT (1974)2005 Promotion zum Dr. phil. (Geschichte). Ab 1998 ständiger freier Mitarbeiter, seit 2004 Angestellter der Hauptabteilung „Archive und Dokumentation“ des ORF. Verantwortlicher von Seiten des ORF Archivs für das EU-Projekt BIRTH (Building of anInteractive Research and delivery network for Television Heritage). 2004 Koordinatordes Ausbildungsmoduls „Medienarchive“ am Institut für österreichische Geschichts-forschung. Ab 2003/04 Lehraufträge für „Mediengeschichte“ am Institut für Geschichteder Universität Wien.

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Augen und Ohren spielen eine zentrale Rollebei den audiovisuellen Medien. Es scheint

mir daher sinnvoll, die Hirn-Metapher „Gedächt-nis“ durch eine Sinnes-Metapher wie „Spie-gel(bild)“ zu ergänzen. Denn Audiovisuelles ist Abspiegelung, ist Abbil-dung durch Geräte.1 Das heißt, dass sie zwar – alsAbspiegelungen einer immer stärker verbalgeprägten Welt – sehr viel Gedankliches, Sprach-liches enthalten, aber eben nicht nur. Audiovisu-elle Aufzeichnungen sind nicht nur Gedächtnis,sie sind auch und vor allem Spiegelbild. Der Spie-gel wird dabei von Menschen geführt und Men-schen blicken wieder in ihn hinein: er zeigt vieles,das über sprachlich Vermitteltes hinausgeht: dasAgieren von Menschen, ihre Umwelt, die Natur –den weiten Bereich des Non-Verbalen.2

Die Macht der Bilder und derTöne... und wo sie endet.

Audiovisuelle Medien sind interessant, solange sieübertragen werden: die Radio- und Fernsehsen-dung, die gerade läuft, oder die gerade wiederge-gebene Musik. Gefroren interessiert der Post-hornton nicht – außer eben die AV-Archive. Unsbetrifft vor allem, was nach Ende der Übertra-gung geschieht: liegt eine Aufzeichnung vor? Aufwelchem Träger, in welchem Format? Wiewurde/wird sie aufbewahrt? Die für die Öffentlichkeit recht wenig interessan-te Tätigkeit des Sammelns und Bewahrens leidetim Falle audiovisueller Archive noch unter einerzusätzlichen Hypothek seltsamer Art. Auf dereinen Seite ist offenkundig und unwiderspro-chen, dass audiovisuelle Medien in steigendemAusmaß unsere Arbeits- und Lebensweltenbestimmen, auf der anderen scheint man sieimmer noch nicht ganz voll zu nehmen und alsden Schrift- und Printmedien ebenbürtig zubetrachten. In Österreich besteht so noch immer

keine Ablieferungspflicht für erschienene AV-Medien. In den Wissenschaften ist es mühsam,AV-Medien als mehr als Illustrationsmaterial oderMittel der Didaktik zu etablieren, wenngleichhier Fortschritte zu beobachten sind.Eine zweite Hypothek audiovisueller Archiveliegt darin, dass ihre Träger und Formate kurzle-big sind – kürzer, als jene der traditionellen Medi-en. Dadurch aber wurden die AV-Archive in einePionierrolle bei der Digitalisierung gedrängt: dasich die ursprünglichen Filme, Photos, Magnet-bänder nicht bewahren lassen, konzentrieren wiruns darauf, die Inhalte auf neue Träger und inneue Formate zu überführen. Das neue digitaleAmbiente erlaubt zwar automatische und poten-tiell verlustfreie Migrationen, fordert aber eineständige Obsorge der Bestände, die in Intensitätund Aufwändigkeit alles übertrifft, was wir bisherkannten (vielleicht entspannt sich das ja inZukunft). Die Verantwortung der Bewahrenden– und ihrer Geldgeber – wird höher.Damit sind wir wieder beim öffentlichen Interes-se und bei der Frage, wer das audiovisuelle Spie-gelbild, das audiovisuelle Gedächtnis, bewahrtund bewahren soll. Wem das soviel wert sein soll,wie es eben kostet.

Eine Lanze für den Staat...

Die Sammlung von AV-Medien – wie die desmeisten Gedächtnis-Materials – ist durch dasAlterungsparadoxon behindert: Brandneues ist inder Regel von hohem öffentlichen Interesse –dann ist es primär die Sache des Marktes undnicht die von kulturbewahrenden Einrichtungen.Haben die es erst einmal, ist es bereits von Aktu-ellerem beschattet und nicht mehr taufrisch. Dar-auf beginnt die „Reifezeit“ des Bewahrten – Jahre,Jahrzehnte, Jahrhunderte, bis es wieder in denFokus allgemeinen Interesses tritt (was vielleichtnie geschehen wird). Bewahrung von Kulturgut

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1 Audiovisuelle Medien lassen sich als apparativeAbbildungen optischer und/oder akustischer Vorgängedefinieren, wenngleich dabei manche Erweiterungen undEinschränkungen zu bedenken sind; siehe dazu: RainerHubert, The definition of AV media, in: IASA Journal No.5, May 1995, S. 35-39, 1995-12

2 Audiovisuelle Medien sind Möglichkeit abzubilden, wo

früher nur in den Formen der Alltagssprache der Kunstoder der Wissenschaft beschrieben werden konnte. Auchdas Herstellen einer Abbildung ist eine Form derBeschreibung, aber sie bedient sich des Verfahrens desAbspiegelns: das ist das Neue und Wichtige an den AV-Medien.

Audiovisuelles Gedächtnis – audiovisuelles SpiegelbildRainer Hubert

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beruht eben auf einer Art von „Generationenver-trag“: Was die AV-Archivare heute sammeln, istvielleicht erst für künftige Generationen von AV-ArchivarInnen von besonderem Wert. Umge-kehrt verwenden wir Material, das vor unsererZeit gesammelt worden ist. Wozu diese Selbstver-ständlichkeit betonen? Nun, weil sie nicht mehrganz selbstverständlich ist, wenn der Erfolg kul-turbewahrender Einrichtungen und Abteilungenvor allem über wirtschaftliche Kenngrößen wieBenützerzahlen und Eigenfinanzierungsgradbemessen wird: da ist es dann weit einfacher, denGenerationenvertrag zu brechen und das zu „ver-markten“, was andere vor uns aufgehoben haben,und selbst immer weniger zu sammeln. Zwar sindaudiovisuelle Archive auch Wirtschaftskörper, diesparsam und effektiv geführt werden müssen undmöglichst auch noch etwas einbringen sollen.Aber das ist nicht die raison d’être von Archiven(Bibliotheken, Museen). Sie haben eine gesell-schaftlich-kulturelle Aufgabe zu erfüllen. Diekostet etwas. Die kostet viel – und was immerdiese Stellen einspielen: die Ausgaben sind höher.Woher aber soll das Geld kommen? Selbstver-ständlich vom Auftraggeber, von der Gesellschaftalso, vertreten durch den Staat.3 Von dessen derÖffentlichkeit gegenüber auskunftspflichtigenOrganen ist eher jene Kontinuität der Unterstüt-zung zu erhoffen, die Archive – und vor allemdigitale – notwendig haben. Von hier ist eher zuerwarten, dass den Institutionen der Freiraumgegeben wird, auch weniger Breitenwirksamesund unmittelbar Einsetzbares zu sammeln undarchivieren. Primär auf Vermarktung und Spon-soren zu setzen, scheint mir gefährlich.

Die Qual der Auswahl.

Bei sehr geraffter Darstellung besteht dieGefahr, bloß Gemeinplätze aneinanderzufü-

gen, wie etwa jenen, dass die Auswahl breitflächiggenug sein muss, um den Interessensverlagerun-gen, die die Zukunft sicher mit sich bringen wird,gewachsen zu sein. Ich greife daher nur zweiAspekte des Themas heraus:Angesichts der geringen Zahl von AV-Archivenund ihrer kärglichen Mittel ist deren enge

Absprache – wie in Österreich im Verein„Medienarchiv Austria“4 – und die Verhinderungvon Zweigleisigkeiten notwendig. Gerade wenndigitalisiert und digital aufgehoben wird, ist sol-che Zusammenarbeit unabdingbar. Von der Kooperation zum Thema, wie ein Archivzu seinem Material kommt. – Sein Sammelgutselbst aufnehmen...

Die klassische Aufgabe von Archiven bestehtdarin, Material von (Verwaltungs-)Stellen

zu übernehmen. Ins Audiovisuelle übertragen istdas die Funktion, aufzuheben, was andere herge-stellt haben: darauf sind wir konzentriert, dafürgibt es theoretische Literatur und darüber wirddiskutiert – und auch hier gibt es gewiss nochVerbesserungsmöglichkeiten. Gerade eineMedienform wie die AV-Medien legt es abernahe, über diese sozusagen passive Haltung hin-auszugehen: mit der nötigen Gerätschaft undExpertise versehen, wäre es sonderbar, wenn dieAV-Archive stets nur auf den „Play-Knopf“, aberniemals auf den Aufnahmeknopf drücken wür-den. Tatsächlich gibt es auf der Welt zahlreicheAV-Archive, die selbst aktiv Quellen herstellen –und hier läge auch ein breites Feld der Aufgabenin Österreich: Die Kulturwandlungen der Gegen-wart, die in ihrer Rasanz das eigentlicheGeschichtsphänomen der Gegenwart darstellen,lassen sich teilweise nur audiovisuell dokumentie-ren: die sich proteusartig verändernden Städteund Landschaften, die sich wandelnden Arbeits-welten, der Alltag als immer neues Augenblicks-phänomen. Gewiss gibt es Journalisten/innenund WissenschaftlerInnen, die darüber wichtigesaudiovisuelles Material anlegen. Immer sind sieaber in der Situation, ein fertiges Produkt vorle-gen zu müssen: einen konkreten Radio/Fernseh-Beitrag, eine wissenschaftliche Arbeit, einen her-zeigbaren Film. Hier wäre es die Aufgabe derArchive und von mit diesen zusammenarbeiten-den Wissenschaftlern/innen, – von Augenblicks-zwecken unabhängig – aktiv dokumentierendeinzugreifen und ergänzend ungeschnittenesQuellenmaterial herzustellen. Es ist dies freilichein Aspekt, der theoretisch viel zuwenig diskutiertund praktisch viel zuwenig erprobt ist. Allerdings

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3 So nützlich und lobenswert Sponsoren sind: WennWirtschaftsunternehmen eine entscheidende Rolle bei derFinanzierung übernehmen, so wäre dies eine Rückkehr zuvor-modernen Zuständen: Mäzenatentum, das nichtauskunftspflichtig ist, warum etwas ausgewählt undunterstützt wurde und etwas anderes nicht. Aber es ist jaauch gar nicht so: Sponsormittel sind – im Vergleich zuden Aufwendungen der öffentlichen Hand – marginale

Summen, um die allerdings viel Wesens gemacht wird. Daist es schon sicherer, wenn das Geld primär direkt vondaher kommt, wo es kommen muss: Aus öffentlichenMitteln, nach überprüf- und diskutierbaren Kriterienverteilt, von verantwortlichen Politikern, vonunabhängigen Beamten durchgeführt.

4 http://www.medienarchive.at/

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möchte ich darauf hinweisen, dass meine eigeneStelle, die Österreichische Mediathek, seit Jahr-zehnten auf diesem Gebiet tätig ist und auchandere Stellen, wie etwa Phonogrammarchiv undVolksliedwerk, bestimmte Themen aktiv bearbei-ten. Dennoch ist Fakt, dass laufend Lücken in deraudiovisuellen Überlieferung entstehen, die zuverhindern gewesen wären. – Ähnliche Aussagenlassen sich über Interviews treffen: hier wird zwarviel Material angelegt, meist aber für eher enggesteckte augenblickliche Ziele. Außerdem fin-den nicht alle Interviews den Weg in ein entspre-chend ausgestattetes Archiv. Wenn schon eineigenes nationales Oral-history-Institut unreali-stisch sein mag (warum eigentlich?) – ein zwi-schen den Interessierten akkordiertes Ziehen-am-gemeinsamen-Strang wäre wünschenswert.Womit wir beim nationalen Sammelplan füraudiovisuelle Medien wären. Dieser Gedankewird dabei in Fachkreisen seit vielen Jahren ange-sprochen – und tatsächlich sind manche Abspra-chen zwischen AV-Archiven als Ansätze in dieseRichtung zu sehen. Ich glaube dabei, dass esweniger schwierig wäre, einen solchen Plan in derDiskussion aller Interessierten zu entwickeln, alsdie strategischen Mittel zu erhalten, die wohlnötig wären, ein paar Schwergewichtssetzungenund strukturelle Verbesserungen vorzunehmen.Ähnliches gilt im übrigen auch von einem natio-nalen Digitalisierungs- und Langzeitarchivie-rungsplan. Zum Abschluss ein in der öffentlichen Diskussi-on – und bei vielen Projekten – immer nochunterschätztes Thema:

Langzeitarchivierung – Diedigitale Arbeit des Sisyphos

Die Einschätzung der technischen Seite digi-talen Bewahrens bewegt sich zwischen

Euphorie und Apokalypse: Manche glauben, dassman nur digitalisieren müsse, um alles zu retten,andere meinen, dass damit der digitale Weltbrandprogrammiert sei. Mit dem nötigen Salz verse-

hen, stimmen beide Einschätzungen – es hängtbloß davon ab, wie man die Langzeitarchivierunganlegt und umsetzt.

Ein paar Feststellungen in gebotener Kürze

• gerade audiovisuelle Träger und Formate erfor-dern zu ihrer Erhaltung der Digitalisierung(Film ist dabei derzeit aus einer Reihe vonGründen noch problematisch); es wird daher– mehr oder weniger professionell – digitali-siert

• born-digital-(AV-)Material – also Information,die bereits in digitaler Form das Licht der Welterblickt – nimmt einen immer größeren Teildes Zuwachses ein

• digitale Träger und Formate sind nicht langle-biger als analoge – eher im Gegenteil; daherkeine gedankliche Fixierung auf bestimmteDauerlösung (mit dem Speichern digitalerDaten auf CD-ROM oder DVD ist das Pro-blem der Langzeitarchivierung keinesfallsgelöst – vielmehr beginnt es damit oft erst)

• digitales Kopieren ist verlustfrei (zumindestkann es verlustfrei sein!) und automatisierbar;daher stehen derzeit Lösungen, die oftmaligesMigrieren von Träger zu Träger, von Format zuFormat vorsehen, im Vordergrund; digitaleDaten müssen derzeit bewegt werden wie diePferde – und zwar ohne Unterbrechung!

• die Bewahrung auf digitaler Basis ist derzeitweder einfacher noch billiger als die alten ana-logen Verfahren, aber es gibt keine Alternativedazu.

• Inhalte werden in der Regel – nicht immer! –durch Digitalisierung leichter zugänglich.

• die Komplexheit der Arbeitsabläufe drängtdazu, Digitalisierung, Langzeitarchivierung,und Benützung via Datenbanken zu einersystemischen Einheit zusammenzufassen; ausder Erfahrung der Österreichischen Media-thek gesprochen: es ist mühsam, zu einem sol-chen System zu kommen, aber ohne geht eseigentlich nicht mehr!

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Rainer HUBERT (1950)1974 Promotion zum Dr. phil. (Zeitgeschichte). Seit 1974 in der ÖsterreichischenPhonothek (jetzt Österreichische Mediathek), ab 2001 Leiter dieser Stelle (Abteilungdes Technischen Museums Wien), 2002 Vorsitzender der MAA (Medien Archive Austria,früher AGAVA), 2003 Vice-President International Advisory Committee for „Memory ofthe World“ der UNESCO.Publikationen zu historischen, kulturhistorischen und archivalischen Fragen; Vortragen-der für AV-Medienwesen im Rahmen von Bibliothekars- und Dokumentalisten-ausbildung und an der Fachhochschule Burgenland.

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„Glaubwürdigkeit“ ist eine zentrale Bewertungs-kategorie jener Medien, die nicht nur unterhal-ten, sondern auch informieren wollen. DieseDimension ist umso wichtiger, je größer dieinter- bzw. intramediale Vielfalt ist. Wann immerein neues Medium wachsende Verbreitung findet,stellt sich die Frage, wie weit es zur Übermittlungvon Nachrichten, im Besonderen von politischerInformation, geeignet ist und wie das Publikumseine „Glaubwürdigkeit“ einstuft. Das Radio wardas erste Medium, das der Tagespresse das Mono-pol der aktuellen Nachrichtenübermittlung strit-tig machte. In diesem Beitrag wird versucht, Spu-ren des Konzepts der „relativen“ Glaubwürdigkeitdes frühen Radios und später des Fernsehens inÖsterreich in Relation zur Tagespresse zu finden.

„Glaubwürdigkeit“ kann im historischen Kontextnicht als Antwort auf eine präzise gestellte Frageverstanden werden. Dezidierte Intermedia-Ver-gleiche liegen für Österreich erst ab 1961 vor.„Glaubwürdigkeit“ ist in den über 35 Radio-Jah-ren davor ein Konglomerat, das Vertrauenswür-digkeit, Image, Objektivität und Wirkungs-Ver-mutungen umfasst. Dabei interessieren in diesemBeitrag weniger Einzelmeinungen, sondern empi-rische Studien zur Medienglaubwürdigkeit ausder Sicht der Publika. Langzeitstudien zuMediennutzung und -Bewertung stehen fürÖsterreich nicht zur Verfügung. Auch Ad-hoc-Studien fehlen für viele Jahre bzw. sind nurschwer auffindbar, nicht immer zugänglich undbisher nicht systematisch aufgearbeitet. Eine Aus-nahme sind die Jahre 1946 bis 1954, in denen die

US-Army vorerst im amerikanischen Sektor undspäter auch darüber hinaus intensive Meinungs-forschung betrieb.1 Diese Studien bilden denSchwerpunkt des Beitrags. Die vorliegendeZusammenstellung kann nur eine Skizze sein, diedurch ein Forschungsprojekt zu vertiefen wäre,das den medialen Wandel anhand der einschlägi-gen Modelle beschreibt.2

Die „hohe Zeit“ des Radios als tagesaktuellesLeitmedium begann in den 30er Jahren. Im

März 1933 wies Goebbels die Intendanten an,dass der Rundfunk die Zustimmung zum Natio-nalsozialismus zu gewinnen und zu verteidigenhabe. Das Volk muss mit den „geistigen Inhaltenunserer Zeit“ so innerlich durchtränkt werden,„dass niemand mehr ausbrechen kann.“3 Am 18.März 1933 eröffnete der nationalsozialistische,bayerische Justizminister und Reichstagsabgeord-nete Hans Frank „das verbale Feuer über dieÄtherwellen“ gegen Österreich.4 Zum 10-Jahres-Jubliläum der RAVAG 1934 schrieb KanzlerSchuschnigg in seiner Grußbotschaft: „Nunmehrdarf und muss auch der Rundfunk vom Staate zuseinen Zwecken in einem erhöhten Maße heran-gezogen werden.“5 Zu dieser Zeit hatten wenigerals die Hälfte der österreichischen Haushalte einRadiogerät. Der große Boom kam erst 1938.

Ursprünglich ausgehend von der Sowjetunion,wurde Radio von den Diktaturen und ab 1937auch von den Demokratien essentiell für die poli-tische Propaganda genutzt. „Mit dem Radiowurde ein Mittel geschaffen, das dem Staatschef,

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1 An dieser Stelle danke ich Herrn A.o. Univ. Prof. Dr. FritzHausjell (Institut für Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft) und Herrn Univ.-Doz. DDr. OliverRathkolb (Institut für Zeitgeschichte der UniversitätWien) für das Überlassen von Dokumenten aus demBestand des National Archives (Records of United StatesOccupation Headquarters, World War II) in Maryland.Wenn nicht anders angeführt, stammen die im Folgendenzitierten US-Studien aus diesem Bestand.

2 Zuletzt für Österreich ab den 60er Jahren: Plasser, Fritz /Ulram, Peter A.: Öffentliche Aufmerksamkeit in derMediendemokratie. In: Plasser, Fritz (Hg.): Politische

Kommunikation in Österreich. Ein praxisnahesHandbuch. Wien, 2004. 37-99.

3 Frei, Norbert / Schmitz, Johannes: Journalismus imDritten Reich. München, 1989, 83.

4 Diller, Ansgar: „Das deutsche Radio wirkt mächtig“. Vor50 Jahren ging der deutsch-österreichische Rundfunkkriegzu Ende. In: Funk-Korrespondenz, 30/84 / 27.07.84, P1-P3.

5 Zehn Jahre Rundfunk in Österreich. ÖsterreichischeRadioverkehrs-AG: 10 Jahre Radio Wien. Festnummer. (=Radio-Wien, 1/34, 11. Jg., Freitag, 28.09.1934, 3.

Flüchtig aber authentisch – Zur Glaubwürdigkeitelektronischer Medien in ihrer AnfangszeitEine Spurensuche zwischen Röhrenradio und Schwarz-Weiß-FernseherJo Adlbrecht

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dem politischen Führer die Möglichkeit gibt, injedem Augenblick zu seinem Volk zu spre-chen...“6 Dieser Gestus der Authentizität dergesprochenen Sprache scheint in der vielerortsnoch stillen Welt der 30er Jahre sehr eindrucks-voll gewesen zu sein.

Glaubwürdigkeitsforschung

„Jeder, der etwas glauben muss, was durch eigeneAnschauung nicht prüfbar ist, muss auf Sehende

vertrauen – ohne jedoch sicher sein zu können, dass jene tatsächlich zu sehen vermögen.“ 7

Die Nutzung von Nachrichten zum Zweckdes Informationsgewinns macht nur dann

Sinn, wenn diesen ein Mindestmaß an Glaub-würdigkeit entgegengebracht werden kann. Es istfür die Massenkommunikation charakteristisch,dass es kein aus persönlichen Erfahrungengewonnenes Vertrauen oder Misstrauen gegenü-ber dem Überbringer einer Botschaft gibt. Derfehlende persönliche Kontakt muss durch einGeflecht aus eigenem und fremdem Wissen undErfahrungen ersetzt werden. Nützlichkeit undGlaubwürdigkeit sind für den RezipientenDimensionen zur Beurteilung massenmedialerInhalte, wobei die Glaubwürdigkeit auf dieMerkmale zielt, die dem Kommunikator zuge-ordnet werden.8

Die Glaubwürdigkeit als Resultat einer ima-ginären Beziehung zwischen Kommunikator undRezipient, wurde vielfach untersucht. Die erstenStudien gab es während des zweiten Weltkriegs inden USA. Die Yale-Gruppe um Carl Hovlandformulierte unter der Annahme eines streng kau-salen Wirkungsmodells glaubwürdigkeitsrelevan-te Eigenschaften eines Kommunikators, wie „Ver-trauenswürdigkeit“ und „Kompetenz“ welchespäter im Hinblick auf das Fernsehen noch durch„Dynamik“ ergänzt wurden. Dieses Modell wirktin modifizierter Form bis heute. Die in den USAAnfang der 80er Jahre konstatierte Glaubwürdig-keitskrise führte zu einer intensiven Forschung-stätigkeit. An dieser wurde kritisiert, dass sie

weder dem Konstrukt „Glaubwürdigkeit“ nochder Komplexität des Publikums gerecht wurde.Dem kommunikatorzentrierten Modell wirdheute ein rezipientenorientiertes Modell entge-gengestellt.9 Glaubwürdigkeit wird „als mehrdi-mensionales Konzept verstanden, das gerade beider Medienkommunikation dadurch Relevanzgewinnt, dass der Wahrheitsgehalt von Aussagennicht nachgeprüft werden kann.“10

Für eine historische Betrachtung kann nicht aufStudien zurückgegriffen werden, die den theore-tischen Standards der neueren Glaubwürdigkeits-forschung entsprechen. In der Medienpraxis istdie Frage nach der Glaubwürdigkeit ein Teilas-pekt unterschiedlicher Studien der Markt- undMeinungsforschung neben anderen Indikatorender Medienleistung wie Reichweite, Nutzungsin-tensität oder Bindung. In erster Linie geht esdabei um den Vergleich des Glaubwürdigkeits-prestiges (= relative Glaubwürdigkeit) in Bezugauf Information. Charakteristisch für diese meistrepräsentativ angelegten Studien ist die Fragestel-lung: „Wem glauben Sie in Bezug auf Informati-on mehr: der Presse, dem Rundfunk, dem Fern-sehen, Freunden oder Bekannten?“ Die Fragewird als relevant angesehen, weil man davon aus-geht, dass die Glaubwürdigkeit auf die Wahrneh-mung und Akzeptanz politischer Berichterstat-tung oder Werbebotschaften ausstrahlen kann.Die grundlegende Annahme ist, dass eine hoheGlaubwürdigkeit mit einer hohen Wirkung aufdas Publikum verbunden ist.11 Das Spektrummöglicher Fragestellungen reicht von der „har-ten“ Formulierung „Wenn Sie sich in einer poli-tischen Frage informieren wollten, was ist für Sieda die glaubwürdigste Informationsquelle?”, überImagefragen, die Medienbindung (Entbehrlich-keit) bis zur Insel-Frage.

80 Jahre intermedialerWettbewerb

Glaubwürdigkeit war in der mono-medialen Weltvor der Einführung des Radios nur eine Frage desWettbewerbs zwischen den Zeitungen. Erst mit

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6 Huth, Arno: Radio heute und morgen. Zürich u.a. 1944,67.

7 Görke, Alexander: Den Medien vertrauen? In: Löffelholz,Martin (Hg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen undPerspektiven der Krisenkommunikation. Opladen, 1993:127-144, hier: 127.

8 Vgl. Weischenberg, Siegfried: Journalistik. Theorie undPraxis aktueller Medienkommunikation. Band 2:Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure.Opladen, 1995, 293-303.

9 Vgl. Deimling, Susanne / Bortz, Jürgen / Gmel, Gerhard:Zur Glaubwürdigkeit von Fernsehanstalten. Entwicklungund Erprobung eines Erhebungsinstruments. In:Medienpsychologie. Zeitschrift für Individual- undMassenkommunikation, 3/93, 203-219.

10 Weischenberg, Journalistik, 303. 11 Koschnick, Wolfgang J.: Standard-Lexikon für

Mediaplanung und Mediaforschung in Deutschland.München u.a., 1995. sv Glaubwürdigkeit.

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der zunehmenden Differenzierung der Medien-landschaft und des damit verbundenen inter- undintramedialen Wettbewerbs um die Aufmerksam-keit und das Zeitbudget der Menschen, wurdenFragen der Glaubwürdigkeit und des Vertrauensso interessant, dass sie anhand spezifischer Fragenin einschlägigen Studien erhoben wurden. „Jegrößer die Konkurrenz im Informationssektor ist,desto größer ist vermutlich die Bedeutung diesesFaktors.“12 Auftraggeber dieser teuren Untersu-chungen waren und sind Medienunternehmenoder politische Parteien.

Eine zusammenfassende Darstellung der Ent-wicklung des intermedialen Wettbewerbs seit

1924 ist nur näherungsweise über Haushaltsda-ten13 möglich, wobei die Datenqualität variiert.Die Verbreitung des Hörfunks lässt sich anhandder Anmeldungsstatistik verfolgen. Bis in ganzÖsterreich zumindest in den Zentren die RAVAG

empfangbar war, dauerte es mehr als zehn Jahre.Erst am 15. November 1933 nahm der provisori-sche Vorarlberger Sender seinen Betrieb auf.

Bei den Tageszeitungen fehlen vor 1950 dieDruckauflagen größtenteils. Die Erhebungsstan-dards wurden erst im Laufe der Zeit präzisiert.Eine Erklärung für den Auflagenpeak unmittel-bar nach dem Krieg ist „eine Art ,Nachrichten-hunger‘ nach den Jahren der Diktatur, aber auchein Bedürfnis der gesellschaftlichen Akteure, dieBevölkerung zu informieren und von den jeweili-gen Vorstellungen zu überzeugen.“14

Für Radio und Fernsehen gibt es vor 1945 keinepersonenbezogenen Daten. Die erste Studie, dieeinen weitesten Hörerkreis ausweist, ist eineRepräsentativstudie der Survey Section der US-Army im Oktober 1946.15 In Wien waren 74 %der Bewohner des amerikanischen und britischen

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12 Bentele, Günter: Der Faktor Glaubwürdigkeit.Forschungsergebnisse und Fragen für eine Sozialisations-perspektive. In: Publizistik, 2-3/1988, 406-426, hier: 421.

13 Ältere Daten für Privat-Haushalte liegen nur teilweise vor.Angaben zwischen den Volkszählungsjahren sind vor derEinführung des Mikrozensus 1967 Schätzwerte. DieVerdoppelung der Privathaushalte seit 1924 ist neben dergestiegenen Einwohnerzahl und dem Trend zuSingelhaushalten auch auf die Aufteilung vonMehrgenerationen-Haushalten zurückzuführen.

14 „Die Zeitungen erschienen, so zeitgenössische Berichte, inhoher Auflage, aber mit wenigen Seiten (daskontingentierte Papier wurde also eher zur Erhöhung derAuflage als zur Erhöhung des Umfangs verwendet); alle

Besatzungsmächte vergaben in allen Bundesländern an alledemokratischen politischen Parteien Lizenzen zurZeitungsherausgabe, was eine regionale Vielfalt hervor-brachte, die nach dem Fall des Lizenzzwangs Mitte 1947unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht zu haltenwar.“ Dr. Josef Seethaler, Österreichische Akademie derWissenschaften, Kommission für historische Presse-dokumentation in einem E-Mail (09.09.04) an den Autor.

15 US-Army / Survey Section Report: Preliminary report onRadio listening in General in the US and British Sector ofVienna. October 1946. The National Archives. RecordGroup No. 260. ACA Austria ISB – Survey Section –Report. 7 S.

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Sektors Radiohörer. Dieser Wert kann nicht alsNäherungswert für ganz Österreich herangezogenwerden. Die Radioversorgung in der Bundes-hauptstadt war mit einem Anteil von knapp 40 %der angemeldeten Radios atypisch hoch. Durchdie Nähe zu den Radiosendern war der Empfangauch mit einfachen Geräten möglich. Die ersteStudie mit einer Radio-Reichweite für Gesamtö-sterreich wurde erst zwanzig Jahre spätergemacht.16 Laut erster Media-Analyse von 1965haben 67 % „gestern Radio gehört“, wobei es in95 % der Haushalte ein Radiogerät gab. Betrach-tet man die jährlichen Zuwachsraten, dann hatdas Radio bereits Ende der fünfziger Jahre seinenSättigungsgrad erreicht.17 Setzt man den abgefrag-ten Wert in Relation zu den gebührenzahlendenHaushalten, ergibt sich für 1965 ein Schwarzhö-reranteil von rund 5 %.18 Die Kurve der Radio-Anmeldungen liegt um diesen Wert unter demtatsächlichen Versorgungsgrad.

1965 besaßen laut Media-Analyse (MA) 30 %der Haushalte ein Fernsehgerät. Vergleicht manbeim Fernsehen Haushaltsbesitz und Meldungen,beträgt die Differenz zu dieser Zeit einen Pro-zentpunkt. Gegenwärtig geht man von einerSchwarzseherquote von acht Prozent aus. Die ver-mutlich ersten empirisch erhobenen Fernsehda-ten stammen ebenfalls aus der MA. Über 1,6 Mil-lionen bzw. 33 % der 14-69-jährigen hatten einTV-Gerät im Haushalt. Es wurde intensivgenutzt. 91 % der Personen in Fernsehhaushaltenhaben „gestern ferngesehen“.19

Vom „Kleinen grünen Kaktus“zum „Krieg der Welten“

The War of the Worlds (30.10.1938)20

In den 20er Jahren galt das Radio vor allem alsapolitisches Unterhaltungsmedium. Sein spezifi-

sches Potential als schnelles Informationsmediumunterlag anfangs noch technischen Beschränkun-gen und konnte sich vor allem durch die ein-schränkende Gesetzgebung nicht entfalten.Durch seine schnelle Verbreitung und die politi-schen Krisen entwickelte sich aus dem Hörfunk,von Kritikern anfangs nur „als fesselndes, quälen-des und eigenartiges Spielzeug“ angesehen, inmehr als einem Jahrzehnt ein Informationsmedi-um.

Neben den traditionellen Legitimationsver-fahren des Radios wie Expertenvorträgen

oder Bildungsprogrammen gab es anfangs Tages-neuigkeiten nur in Form verlesener amtlicherMitteilungen. Vorerst sah man in Österreichkeine Konkurrenz zur Tagespresse, da aktuelleInformation und Werbung verboten waren. Spä-testens 1935 hat sich das geändert. „Für die Pres-se ist es zweifellos schmerzlich, wenn das Infor-mations- und Aufklärungsmonopol, das sie bis-her besessen hat, plötzlich von einer neuen tech-nischen Errungenschaft gestört wird, doppeltschmerzlich, als sie diese Beeinträchtigung ineiner Zeit des schwersten Existenzkampfes über-rascht hat.“21 Die intermediale Konkurrenz durchdie RAVAG war vergleichsweise gering, aber derFernempfang ausländischer Nachrichten warMitte der 30er Jahre selbstverständlich. Laut Pro-gramm der „Radio Woche“ gab es Anfang 1935täglich zwischen 06:05 und 22:30 Uhr sieben-undzwanzig deutschsprachige Nachrichten-sendungen auf siebzehn Sendern.22

Als wirklich neuartiges, medienspezifisches Legi-timationsverfahren entwickelte sich das Prinzipder Live-Berichterstattung, die Ohrenzeugen-schaft.23 Durch diese bis dahin unbekannte, ver-meintliche Nähe zu der alltäglichen Erfahrungdes Angesprochen-Werdens ist der Rundfunk einRückgriff vortypographischen Verstehens. Inner-

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16 Von Lintas und J. Walter Thompson 1962 initiierte. Giltals erste europäische „single source”-Studie, da Print, TV,Radio und Kino gleichzeitig erhoben wurden. Davor sindkeine größeren österr. Studien bekannt, so FranzAlexander Späth, wesentlichen Promotor der MA in einemE-Mail (20.08.04) an den Autor.

17 Stiefel, Dieter: Wirtschaftsgeschichte des österreichischenFernsehens. Band 25: ORF Berichte zurMedienforschung, Forschungsarbeiten “25 JahreFernsehen”. Wien, 1980, 22.

18 In der Anfangszeit des Radios dürfte derSchwarzhöreranteil noch deutlich höher gewesen sein. DieMonopolbehörde ging 1924 von ungefähr 30.000 Hörernaus. 11.000 waren beim Sendebeginn der RAVAGangemeldet. Czeija, Oskar: Vor zehn Jahren – und heute!In: Österreichische Radioverkehrs-AG: 10 Jahre Radio

Wien. Festnummer. (= Radio-Wien, 1/34, 28.09.1934),15-16.

19 Vgl. Gehmacher, Ernst: Trends der TV-Nutzung inÖsterreich. (= Band 6: ORF Berichte zurMedienforschung, Forschungsarbeiten „25 JahreFernsehen“.) Wien, 1980.

20 Hörspiel von Orson Wells auf CBS Radio. 21 [N.N.]: Rundfunk und Presse. In: Beilage zum

„Gewerkschafter”. Der Journalist. Fachbeilage derGewerkschaft der Journalisten Österreichs. April 1935,Folge 4, 1.

22 „Deutschsprachige Nachrichten“ In: Radio Woche, 5/35,26. Jänner 1935, 2.

23 Vgl. Lenk, Carsten: Die Erscheinung des Rundfunks.Einführung und Nutzung eines neuen Mediums 1923-1932. Opladen, 1997, 249.

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halb kurzer Zeit erreichte das Radio einen Glaub-würdigkeitsgrad, der über die bloße Legitimationvon via Radio verbreiteten Inhalten deutlich hin-ausging. Schon zwölf Jahre vor Orson Wellessimuliertem Experteninterview24 gab es inDeutschland das Hörspielexperiment „Der Mini-ster ist ermordet” (1926), in dem der Tod desdamaligen Außenministers Streseman vorgespieltwurde und das in Berlin „Entsetzen und Verwir-rung“ bewirkte.25

Frühe Radiostudien

„Keine Politik, keine Börse, keine Predigt!”

Die Studien der frühen Radiotage sind Hörer-befragungen nach Vorlieben für bestimmte

Programmgenres ohne Repräsentativitätscharak-ter. Mit dem Beginn des regulären Radiobetriebsin Deutschland am 29. Oktober 1923 erschienendie ersten Fachzeitschriften für den „Radiosport“.Ein oft behandeltes Thema war die schon deut-lich weiterentwickelte amerikanische Radioszene.Die amerikanische Radiopresse organisierteschon bald große Leserbefragungen nach denHörerwünschen, über die berichtet wurde.26 Diefrüheste Erhebung in Österreich ist ein Preisaus-schreiben der Zeitschrift „Radiowelt“ vom Früh-jahr 1924.27 Die RAVAG hatte seit Februar eineKonzession. Im März gab es das erste Konzert deskommerziellen Radio-Hekaphon, im Juli begannder regelmäßige Probebetrieb.28 Die Mehrheit dersechzig Einsender forderte Ordnung im Fre-quenzbereich sowie „Amateurfreiheit”, also eineliberale Rundfunkgesetzgebung. Weiters ging ausden Zuschriften hervor „dass der Wienerhauptsächlich Unterhaltung, der Provinzler

Belehrung und Bildung sucht.“ Im Sommer 1924wurde in der Zeitschrift von einer groß angeleg-ten Studie dreier Sendestationen in Chicagoberichtet. Am beliebtesten sei in den USA nun-mehr die volkstümliche Musik.29 Im Dezember1924 veranstaltete die österreichische „Radio-welt“ ihre zweite Hörerbefragung.30 Die Rück-laufquote ist nicht bekannt, aber das pointierteFazit: „Keine Politik, keine Börse, keine Pre-digt!“31 Am beliebtesten waren neben den Zeitan-gaben die Konzerte. Ebenfalls unbekannt ist dieFallzahl der „Stimmzettel“ der Befragung derdeutschnationalen „Radio-Woche“ vom Jänner1928.32

Anfang 1928 gab es rund 292.000 Radioabon-nenten. Bis Ende 1931, dem Untersuchungszeit-punkt der RAVAG-Hörerbefragung unter derLeitung von Paul Lazarsfeld, stieg die Zahl auf469.000 an. Näherungsweise umgelegt auf Perso-nen, hatte knapp ein Viertel der BevölkerungZugang zu einem Radiogerät. Die RAVAG gabdiese erste Studie unter wissenschaftlicher Lei-tung in Auftrag, um die Gründe für die steigen-den Abmeldungen zu analysieren. Fragen, die aufdie Bewertung der Informationsleistung desRadios im Vergleich zu Zeitungen oder Magazi-nen zielen, wurden nicht gestellt. 1937 wurde mitdem Verweis auf das festgestellte große Unterhal-tungsbedürfnis die Programmabteilung „Unter-haltung“ gegründet. Die methodische Innovationdieser Untersuchung, die differenzierte Darstel-lung der Programmpräferenzen nach sozial rele-vanten Schichtungen wie Alter, Beruf oder Ein-kommen, wurde ein Standard der Sozialfor-schung.33 Bei den Studien der US-Army ab 1946war eine derartige Aufschlüsselung bereits selbst-

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24 Cantril, Hadley: Die Invasion vom Mars. 14-29. In:Prokop, Dieter (Hg.): Medienforschung. Band 2.Wünsche, Zielgruppen, Wirkungen. Frankfurt am Main,1985.

25 Lenk, Erscheinung des Rundfunks, 249. 26 [H.G.]: Was die Radioamateure hören wollen. In: Radio

für alle. Unabhängige Zeitschrift für Radiotechnik undRadiosport. Stuttgart, Nr. 1 / 1924, Jänner 1924, 52.Zeitschrift „Wireleß Age“ / Herbst 1923 / n = 100.00. 30% wollen hauptsächlich klassische Musik und Opern, 29% hauptsächlich Tanzmusik.

27 In der ersten Nummer der Zeitschrift Radiowelt Nr.1 / 9.März 1924 wurde ein Preisausschreiben mit dem Titel„Das ideale Broadcasting“ angekündigt. Ergebnisse in:[N.N.]: Das Ideale Broadcasting. Unser Preisausschreiben.In: Radiowelt, Nr. 16 / 22. Juni 1924, 1.

28 Vgl. Zehn Jahre Rundfunk in Österreich. Eine Chronik inSchlagworten. In: Österreichische Radioverkehrs-AG, 10Jahre Radio Wien, 76-77.

29 29 % der 263.410 Wunschzettel-Einsender bekundetendies. [N.N.]: Was wollen die Rundfunkteilnehmer hören?

In: Radio für alle. Unabhängige Zeitschrift fürRadiotechnik und Radiosport. Stuttgart, Nr. 10 / 1924,128.

30 Zusammenfassung der Hörerumfrage der Radiowelt von1924 bei: Mark, Desmond: Entstehungsgeschichte,kulturelles Umfeld und Rezeption der RAVAG-Studie von1932. In: Mark, Desmond (Hg.): Paul Lazarsfelds WienerRAVAG-Studie 1932. Der Beginn der modernenRundfunkforschung. Wien u.a., 1996, 75-104, hier. 77 f.110.312 Hörerinnen und Hörer füllten einen Fragebogenaus.

31 [N.N.]: Sie haben gesprochen! In: Radiowelt. IllustrierteWochenschrift für Jedermann, Nr. 19 / 9.5.1925, 1.

32 Zusammenfassung der Umfrage der Radio-Woche vomJänner 1928: Mark, Entstehungsgeschichte, 75-104, hier:78 f.

33 Neurath, Paul: Paul Larzasfelds Beitrag zu den Anfängender Massenkommunikationsforschung. Nr. 4 der Arbeitendes Paul F. Lazarsfeld Archivs an der Universität Wien,Institut für Soziologie. In: Werbeforschung & Praxis,2/1989, 52-58.

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verständlich. Breit angelegte Hörerbefragungenzur Ermittlung der technischen Ausstattung undHörerstruktur gab es Mitte der 30er Jahre auch inUngarn und Polen.34

Ab Anfang der 30iger Jahre fand das Radiohörenseine heutige technische Form. Die Radioappara-te hatten oft schon einen eingebauten Lautspre-cher. Die Bedienung der Geräte wurde standardi-siert und erforderte immer weniger technischesKnow-how. Im November 1933 überstieg dieZahl der registrierten Teilnehmer erstmals einehalbe Million. Über 12 % der täglichenRAVAG-Sendezeit von elfeinhalb Stunden entfie-len auf Nachrichten.35

„Die gesprochene Zeitung“ –Unaktuelle amtlicheMitteilungen.

Von Radionachrichten erwartete man sichwährend des Testbetriebs der RAVAG noch,

„dass die gesprochene Zeitung des Wiener Radio-senders eine Zeitung von gleichmäßig hohemNiveau, eine reichhaltige, interessante, moderneZeitung sein muss.“36 Die Realität sah anders aus.Mittels Bescheid wurde der RAVAG nur erlaubt,neben Wetterberichten Nachrichten, die von derAmtlichen Nachrichtenstelle (ANA) bezogenwurden, ungekürzt zu verlesen.37 Aktive Politikerhatten Sprechverbot, weder marxistische nochreligiöse Themen wurden behandelt. Als „beschä-mend und empörend“ wurden die RAVAG-Nachrichten empfunden, die sich mit ausländi-schen Belanglosigkeiten beschäftigten und dieangespannte innenpolitische Lage ignorierten.Gegen den großen Widerstand der Presse wurdevon der ANA ein eigener Rundfunk-Nachrich-tendienst eingeführt, der kurze, radiotauglicheMeldungen lieferte.38 Damit die Wettbewerb-

schancen der Tagesblätter dennoch gewahrt blei-ben, erreichten die Verleger, dass die „farblosen“Nachrichten auch noch einen Tag zeitversetztausgestrahlt wurden. Damit war das Radio alsaktuelle Informationsquelle besonders in Städtenmit Zeitungsdruckereien vorerst nur mäßig inter-essant. Die technische Weiterentwicklung führteEnde der 20er zum „wandernden Mikrophon“,das zuerst noch am Kabel hing, bald aber durchKurzwelle ortsunabhängig mit dem Studio ver-bunden war. Spätestens mit der Live-Übertragun-gen von sportlichen Großereignissen wie demFußballspiel Österreich gegen England aus Lon-don im Dezember 1932 wurde deutlich, dass dieUnmittelbarkeit einer Radioübertragung denPrintmedien überlegen ist.39 Konsequenzen fürdie Gestaltung der Radionachrichten hatte daskeine. „Durch die lakonische Kürze der Meldun-gen, ihre unsensationelle Aufmachung, durchAusschaltung von Kriminalmeldungen, allgemei-nen Gerichtssaalmeldungen, normalen Tagesneu-igkeiten usw. – ein Grundsatz, der nur in außer-ordentlichen Fällen durchbrochen wird – kannnie eine Beeinträchtigung der Verbreitung derZeitung mit ihrer Fülle von Lesestoff erfol-gen,...“40

Bei den Ereignissen des Jahres 1934 war derRundfunknachrichtendienst der ANA bereits einunentbehrliches Verlautbarungsorgan des Stände-staates geworden. Dem Radio wurde eineimmense Wirkung zuerkannt.41 Mit dem Rund-funk könne man „auf die Willensbildung derMasse ungeheuren Einfluss nehmen. In diesemSinne ist er politisch von weittragender Wichtig-keit, da durch ihn an Millionen Menschen diepolitische Lehre vermittelt werden kann.“42 Dem-entsprechend umkämpft war der Rundfunk. Esgibt Hinweise, dass die massive politische Propa-ganda nicht sehr beliebt war. Die zeitweilige

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34 Ungarische Befragung mit 279.000 Antworten (83 %Rücklauf ) im Mai 1934. Ungarische Statistik: In: RadioWoche, 13/35, 23.03.35, 4. Es wird auch von einerpolischen Studie berichtet, die zum wiederholten Maledurchgeführt werden soll.

35 Im ersten Jahrzehnt der RAVAG wurden im Jahresschnitt10,7 % Nachrichten gesendet, wobei es in der Anfangszeitnoch keinen regelmäßigen Nachrichtendienst gab. [N.N.]:Der österreichische Rundfunk in Zahlen. In: Öster-reichische Radioverkehrs-AG, 10 Jahre Radio Wien, 73.

36 [Anderle, Franz]: Die Sendung des Wiener Senders. In:Radiowelt. Illustrierte Wochenschrift für Jedermann.Wien. Nr. 23/24, 10.08.24, 1-2.

37 Zu den amtlichen Rundfunknachrichten der RAVAG vgl.Dörfler, Edith / Pensold, Wolfgang: Die Macht derNachricht. Die Geschichte der Nachrichtenagenturen inÖsterreich. Wien, 2001. 328-333.

38 Initiator war der Leiter der amtlichen NachrichtenstelleDr. v. Pfaundler-Hadermur. Scheuer, Heinrich: 75 JahreAmtliche Nachrichtenstelle. Wien, 1934. 55 f.

39 Marschik, Matthias: Die Geburt der Nation aus demUnterseekabel. Eine Momentaufnahme aus ÖsterreichsRundfunkgeschichte. In: Medien & Zeit, 3/04, 16-24.

40 [N.N.]: Rundfunk und Presse. In: Der Journalist.Fachbeilage der Gewerkschaft der Journalisten Österreichs,Mai 1935, 4.

41 Ein Erklärungsansatz dafür ist das damalige Vorherrschender Stimulus-Respons-Theorie. Vgl. Burkart, Roland :Kommunikationswissenschaft. Grundlagen undProblemfelder. Umrisse einer interdisziplinärenSozialwissenschaft. Wien, 1995, 186.

42 Titelstory der Radiowelt 1931. Keyserling, Hermann Graf:Die Politische Bedeutung des Rundfunks. In: Radiowelt,15 / 1931, 11.04.1931, 1.

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„Überfrachtung des Rundfunks mit unpopulärerpolitischer ‚Systemwerbung‘“43, aber auch diewirtschaftliche Depression machte sich in Öster-reich durch sinkende Zuwachsraten bei denRundfunk-Anmeldungen bemerkbar.

„Goebbels Schnauze“

Nach 1938 stiegen die Teilnehmerzahlen wie-der an. Ursache war ein Bündel von Förde-

rungsmaßnahmen durch die Nationalsozialisten,wie ein Kontingent von Gratis-Geräten, dererweiterte Kreis von Gebührenbefreiten oder diestark verbilligten Empfänger. Begünstigend wirk-ten das angestiegene Realeinkommen und diezurückgehende Arbeitslosigkeit. Die Nachrich-tendienste wurden zulasten von Musikangebotenständig erweitert. Der Wortanteil stieg mitunterauf mehr die Hälfte der Sendezeit an.44 Durch diedramatischen Geschehnisse des Zweiten Welt-kriegs wurde Radio zum führenden Informati-onskanal.45 Der vorläufige Höhepunkt wurde1943 mit 1.073.671 Teilnehmern erreicht.

Vor dem Hintergrund gesetzlicher Beschränkun-gen der Möglichkeiten des Radios und seinerpolitischen Instrumentalisierung, besondersdurch das streng kontrollierte Rundfunkwesen ab1934, waren empirische Studien weder notwen-dig noch erwünscht. Die Zensur aller Medienund die beschränkte Auswahl machten die Fragenach der „Glaubwürdigkeit“ oder „Objektivität“uninteressant. Die WirtschaftspsychologischeForschungsstelle in Wien wurde bereits 1936 vonder Polizei geplündert und 1938 von den Natio-nalsozialisten geschlossen.Empirische Studien zur Mediennutzung und -wirkung wurden im totalitären Deutschland

nicht durchgeführt.46 Der wissenschaftlicheErtrag der hochgradig instrumentalisierten Zei-tungswissenschaft des Dritten Reiches gilt insge-samt als bedeutungslos.47

Theodor Venus geht davon aus, dass spätestens ab1940 dem Rundfunk vor allem durch seine aktu-elle Berichterstattung eine höhere Glaubwürdig-keit als der Presse zugeschrieben wurde.48 Durchdie „Schnelligkeit, Dramatik, die Farbigkeit,Direktheit, Ausführlichkeit und nicht zuletzt auf-grund der ihm zugeschriebenen größeren Objek-tivität“ wurde der Rundfunk augenscheinlichsogar trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit mitdem Radioangebot der Nationalsozialisten alsrelativ besser eingestuft. Schließlich erhielt manvia Radio, wenn schon nicht objektive, so zumin-dest schnelle Informationen über den Kriegsver-lauf. Gegebenenfalls konnten die Meldungen desGoebbels-Rundfunks durch Abhören von„Feindsendern“ relativiert werden.

Zensurdekret „Informations-Freiheit“

Am 6. Juni 1945 nahm die Sendergruppe Rot-Weiß-Rot (RWR) des Psychological WarfareBranch der US-Army, gegründet als Gegenstückzur Propaganda Nazideutschlands, in Salzburgden Sendebetrieb auf.49 Infolge knapper personel-ler Ressourcen war vorerst der ebenfalls von denAmerikanern am 27. August 1945 gegründeteWiener Kurier das führende Instrument der ame-rikanischen Informationspolitik. Den Radio-nachrichten wurde von Anfang an eine großepolitische Bedeutung zugemessen.50 Nach deroffiziellen Propagandarichtlinie der InformationServices Branch (ISB) sollte der Sender amerika-

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43 Vgl. Venus, Theodor: Bis zum Ende gespielt – ZurGeschichte des „Reichssenders Wien“ im Dritten Reich.In: Oliver Rathkolb / Wolfgang Duchkowitsch / FritzHausjell (Hrsg.): Die veruntreute Wahrheit. HitlersPropagandisten in Österreich 38’. Salzburg, 1988, 108-158, hier: 143.

44 Huth, Radio heute, 54. 45 1922 gab es in Europa sieben Stationen. 1944 waren es

594, weltweit 3.110. Vgl. Huth, Radio heute.46 Anders in Italien. 1940 führte die EIAR (Ente Italiano per

le Audizioni Radiofoniche) eine Hörerbefragung mit 80Fragen durch, an der sich 75 % der Hörerschaft beteiligte.Huth, Radio heute, 83.

47 Haas, Hannes: Zeitungswissenschaft und CommuncationsResearch 1918 bis 1945. Ein methodologischer,theoretischer und paradigmatischer Vergleich. In:Rathkolb, Oliver / Duchkowitsch, Wolfgang / Hausjell,Fritz (Hg.): Die veruntreute Wahrheit. HitlersPropagandisten in Österreich ’38, Salzburg 1988, 252-272, hier: 272.

48 Venus, Bis zum Ende gespielt, 148.

49 Vgl. Ulrich, Andreas: Modernes Radio? US-amerikanischeRundfunkpolitik in Österreich (1945-1955) am Beispielder Sendergruppe „Rot-Weiß-Rot”, Studio Wien. Dipl.Arb., Wien 1993.

50 Mit RWR-Wien konnten an die 2 MillionenÖsterreicherinnen und Österreicher angesprochen werden.Im Vergleich dazu hatte „Wiener Kurier“ eine Verkaufs-auflage von 300.000 Stück. Zur Auflagenentwicklung desKurier: Harmat, Ulrike: Die Medienpolitik der Alliiertenund die österreichische Tagespresse 1945-1955. In:Melischek, Gabriele / Seethaler, Josef (Hg.): Die WienerTageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 5: 1945-1955.Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresseder Zweiten Republik bis 1998, Frankfurt a. Main u.a.,1999, 57-96. Zu den Nachrichtensendungen in Rot-Weiss-Rot vgl.Rathkolb, Oliver: Politische Propaganda deramerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis1950. Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges inder Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik. Dissertation,Wien 1981, 484 ff.

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nische Ideale vermitteln und die „Stimme derBesatzungsautorität“ verkörpern. Durch dentechnischen Ausbau seine „Austrifizierung“ undvor allem durch seine populären Sendungen51

wurde RWR-Wien ab Herbst 1945 eine ernsthaf-te Konkurrenz für die unter öffentlicher Verwal-tung stehende Sendergruppe RAVAG / Radio-Wien (I und II) mit Sitz in der sowjetischenZone. Die Mehrheit der Wiener assoziierte mitRadio-Wien die Propagandasendung „RussischeStunde“ der sowjetischen Besatzer. Anders als dieAmerikaner betrieben die sowjetischen Rundfun-koffiziere kein eigenes Radio, sondern kontrol-lierten die RAVAG mit Vor- und Nachzensur.Die Rechtsgrundlage dieser Kontrolle war dasDekret zur „Informations-Freiheit“ des AlliiertenRates vom 1. Oktober 1945, das jede Veröffentli-chung verbot, die Zwiespalt zwischen den Alliier-ten schaffen könne oder die öffentliche Ordnungstöre.52 1946 schien es noch, dass die unter-schiedlichen Sendergruppen, neben RAVAG /Radio Wien und RWR gab es die vollkommenselbständig arbeitende Sendergruppe West undAlpenland, zusammengefasst werden können. Abdem ersten Halbjahr 1947 begannen jedoch dieAmerikaner den Sender außenpolitisch zu einemantikommunistischen Instrument und innenpoli-tisch zur Unterstützung des Marshallplans einzu-setzen.53 Ab Juli 1947 verschärfte sich auch die bisdahin als relativ liberal geltende sowjetische Zen-sur. Ein Höhepunkt der Auseinandersetzungenzwischen Ost und West war der Oktoberstreik1950. Die Rückgabe der Rundfunksender anÖsterreich zog sich in weiterer Folge über mehre-re Jahre. Rot-Weiß-Rot stellte als letzte Sender-kette am 27. Juli 1955 den Betrieb ein.

Das größte Hörerpotential hatte die RAVAG.1945 lagen 57 % der 754.235 angemeldeten

Haushalte in der russischen Zone, jeweils 18 % inder britischen (Sender Alpenland) und amerika-nischen (Sender RWR) und 9 % in der französi-schen (Sendergruppe West).54

Public Opinion Survey Section

„Am liebsten wäre es mir, wenn Sie ,corned beef‘und ,Trockenei‘ senden würden!“55

Ab April 1946 begann die US-Army, im ame-rikanisch und britisch kontrollierten Teil

Österreichs, die politische Gesinnung, im Beson-dern die Einstellung zum Nationalsozialismusund die Parteienpräferenzen, die Meinungen zuSpezialfragen wie die Marshallplanhilfe sowie dieReichweiten und Einstellungen zu diversenMedien zu untersuchen.56 Im amerikanischbesetzten Teil Deutschlands wurden von 1945 bis1949 insgesamt 72 große Studien durchgeführt,unter denen auch jene auf österreichischemGebiet angeführt sind.57 In Österreich gab es vomApril 1945 bis 1954 mindestens 14 Medien-Stu-dien, wobei die Studien bis Mitte 1948 von derSurvey Section selbst durchgeführt und danachextern vergeben wurden. Auch auf Seiten derÖsterreichischen Bundesregierung gab schon imOktober 1946 Überlegungen, ein Institut zurErforschung der öffentlichen Meinung nachBudapester Vorbild der RAVAG anzugliedern,58

was aber nicht realisiert wurde.

Studienergebnisse zu Fragen, die von den Inter-viewten als „besatzungsrelevant“ eingestuftenwurden, müssen mit Bedacht interpretiert wer-den. Spätestens 1953 wurde öffentlich kritisiert,dass Befragungen, welcher Sender in einem bes-timmten Gebiet eines von mehreren Alliiertenbesetzten Landes bevorzugt wird, „schwer-

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51 Von großem Interesse für die Bevölkerung war die Suchenach Vermissten. RWR war auch Initiator derWiedereröffnung der Salzburger Festspiele 1945. Ergert,Viktor: Die Geschichte des Österreichischen Rundfunks.Band II. 1945-1955. Österr. Rundfunk (Hg.), Salzburg,1975, 71 f.

52 Ergert, Geschichte des Österreichischen Rundfunks, BandII, 54.

53 Vgl. Venus, Theodor: Armes freies Wort. Über dieAnfänge der aktuellen Berichterstattung imNachkriegsrundfunk. In: Medien & Zeit, 2/89, 11-16.

54 Ergert, Geschichte des Österreichischen Rundfunks, BandII, 95.

55 Aus einem Fragebogen der RWR-Hörerbefragung, zitiertnach Ergert, Geschichte des Österreichischen Rundfunks,Band II, 125.

56 Die Feldabteilung wurde als „Institut zur Erforschung deröffentlichen Meinung“ bezeichnet. Der österreichischeLeiter war Dipl.-Ing. Siegfried Beckert. Einschließlich

Beckert gab es Anfang 1947 neun „Interrogatoren“, wiedie Interviewer bezeichnet wurden. Mitte 1948 waren esbereits 22 in Wien und in Gesamtösterreich 42, davonjeweils 10 in Salzburg und Linz. Ing. Beckert, Nr. 501:Bericht vom 13.01.1947. 2 S. / ISB Mark Shovar Lt ColInfantry Actg Chief ISB: Proposed discontinuance ofPublic Opinion Survey Section. 09.08.1948. 2 S.

57 Merritt, Anna J. / Merritt, Richard L.: Public Opinion inOccupied Germany. The OMGUS Surveys 1945-1949.Urbana u.a. 1970, 3 ff.

58 Beckert verweist auf den Vorteil, dass die Bevölkerungaller Zonen befragt würde, aber auch darauf, dass damitein Konkurrenzunternehmen entstehen würde. Einer derVorschläge zur Sicherung des Einflusses deramerikanischen Streitkräfte sei eine Institutsgründungunter seiner Verantwortung. Interrogator Ing. Beckert No.501. Bericht: Eröffnung eines „Institutes zur Erforschungder öffentlichen Meinung” in Wien, (um den18.10.1946). 2 S.

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wiegende politische Hintergründe“ haben, „diedas Ergebnis ganz wesentlich beeinflussen.“59 Daswar den Amerikanern durchaus bewusst. Bereitsim Sommer 1948 stellte die US-Army in einerinternen Evaluierung fest, dass der Wert derErgebnisse, nicht zuletzt in Relation zu denKosten, fragwürdig sei.60 Die Interviews wurdennur in der amerikanischen Zone durchgeführtund gelten nur für den entsprechenden TeilWiens, sowie die Städte Salzburg und Linz. DieTendenz der Befragten, alles Amerikanischebevorzugt zu beurteilen, war evident: „Interview-ers are known to represent the American elementand therefore do not always obtain an honestopinion from the subject.“61 Nichtsdestotrotz wardie systematische Meinungsforschung die Grund-lage des außergewöhnlichen Erfolgs des WienerKurier und von RWR. „As a result it has beenable, in large measure, to tailor its programms tomeet the public demand – more music than any-thing else and more light music than any otherkind of music – a fact which is in no small degreeresponsible for its present popularity.“62

Die erste Medien-Studie der US-Army war einegroß angelegte RWR-Hörerbefragung im Som-mer 1946. Dabei wurde nach der Empfangsqua-lität, Lieblingssenders, Hörzeiten und Pro-grammvorlieben gefragt. Neben dem Nachweisder Beliebtheit des Senders brauchte man Argu-mente gegen die Zusammenlegung der öster-reichischen Sendergruppen. Die breite Distribu-tion von rund 250.000 Fragebögen und diePublikation von Zwischenauswertungen63 zeigt,dass auf öffentliches Interesse Wert gelegt wurde.Während die RWR-Studie im Feld war, führteauch die Programmzeitschrift Radio-Woche eineHörerbefragung durch und verglich die Leser-

wünsche zum Radioprogramm mit der Pro-grammstruktur der Sender. Besonders RWR, aberauch die Sendergruppe West kamen den geäußer-ten Hörerwünschen am nächsten.64 Gewünschtwurden wenig Nachrichten und viel Unterhal-tung.

Mit rund acht Prozent war der Rücklauf derRWR-Studie relativ gering.65 Es wurde berichtet,dass die Objektivität der Nachrichten von RWRsowohl bei Weltnachrichten als auch den Öster-reichischen Nachrichten vollste Annerkennungfände und der weitere Ausbau gefordert würde.Auswertungsergebnisse wie „dieses Plebiszites istein außerordentlich hohes Lob für die Loyalitätder amerikanischen Nachrichtenvermittlung“,relativieren sich, wenn man den hohen Anteil vonfehlenden Angaben mit einbezieht. Die „Welt-nachrichten“ wurden von 56 % „sehr gut“ oder„gut“ gefunden. 44 % fanden sie „nicht gut“ odermachten keine Angaben. Die „ÖsterreichischenNachrichten“ fanden nur knapp die Hälfte „sehrgut“ oder „gut“.

Unter erschwerten Bedingungen– Die erste österreichische „Rep“

Als „Confidential“ wurde die erste Repräsenta-tiv- und Medienvergleichsstudie Österreichs

eingestuft, eine Befragung von 1.496 Personenim britischen und amerikanischen Sektor vonWien im Oktober 1946.66 Die Intention dieserStudie war es, zu erkunden, ob das Radio bei denHörern eine wichtige Informations- und Orien-tierungsfunktion erfüllt. Hauptinformationsquelle der Radiohörern wardie Tageszeitung (51 %) und erst mit Abstand dasRadio (46 %).

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59 Rössel-Majdan, Karl: Neue Wege der Hörerforschung. In:Radio-Television. Zeitschrift für Rundfunkforschung.Journal for broadcasting research. 1953. Nr. 1 / Juni 1953,14-22, hier: 17.

60 ISB Mark Shovar, Proposed discontinuance. Die Kostenfür Juli 1948 beliefen sich auf 40.564,54 öS, woraus aufJahreskosten in der Höhe von 486.000.- öS geschlossenwerden kann. Nach heutigem Geldwert sind das ca.390.000.- Euro. Auf Wiener Beschäftigten entfielen imDurchschnitt 974.- öS, in den Bundesländern 832.- öS.

61 ISB Mark Shovar, Proposed discontinuance. 62 DCF / imb Fox, Douglas C., Operations Officer:

Sampling of Public Opinion. To: Lee. cc: Kaghan,Connaughton. 16 June 1949. 2 S.

63 N.N.: Die Sender haben das Wort: Rot-Weiss-Roterforscht die Hörerwünsche. Endlich einmal ein sinnvollerFragebogen. In: Die Radio-Woche, 32 (?), Aug. 1946. DerRücklauf lag zu diesem Zeitpunkt bei 10.000.

64 [dr sch]: Das Vielgelästerte ... In: Die Radio-Woche, Nr.32 / 1946, Aug., 22-23. Über die Fallzahlen der

Befragungen werden keine Angaben gemacht. 65 [N.N.]: Kritik am Sender Rot-Weiß-Rot. Ergebnisse der

Publikumsumfrage. In: Berichte und Information, [Hg.Österreichisches Forschungsinstitut für Wirtschaft undPolitik ], Salzburg, Nr. 28 / 8. Nov. 1946, 15-16. 20.855Fragebögen wurden ausgewertet.

66 US-Army Surveys Branch, ODIC, ONGUS (Rear); APO757: CONFIDENTAL Radio Listening in Vienna. 14December 1946. 18 S. Zusammengefasst in: RadioListening in Vienna. Report No. 30. (14 December 1946).In: Merritt / Merritt, Public Opinion, 115-116.Vorbericht: US-Army / Survey Section Report,Preliminary report on Radio Listening in General in theUS and British Sector of Vienna. Die persönlichen Interviews wurden von geschultenInterviewern aus Wien anhand eines standardisiertenFragebogens in den Haushalten durchgeführt. Diemaximale Schwankungsbreite beträgt 4 %. Wie ausspäteren Untersuchungen hervorgeht, wurden Personenüber 18 Jahren befragt.

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Die Wochenberichte der „Interrogatoren“, denInterviewern, zeichnen ein Bild von den schwie-rigen Umständen, unter denen in der teilweisezerstörten Stadt Meinungsforschung betriebenwurde. Die amerikanische und britische Militär-polizei war über die Marktforschungsaktivitätennur mangelhaft informiert, weshalb anfangs nachden Interviewern gefahndet wurde.67 Interrogato-ren wurden vorübergehend verhaftet und bis zurKlärung der Identität festgehalten. FeldleiterBeckert bat um Berichte über die Meinungsfor-schung in der Tagespresse, damit der Interviewerauch von Privathaushalten nicht als Verbrechergesehen wird, „der versucht auf diese Art undWeise eine Gelegenheit zu einem Raubmord aus-zukundschaften.“ Stromabschaltungen waren ander Tagesordnung. Interviews konnten nichtdurchgeführt werden, weil es keine Taschenlam-pen zum Ausfüllen des Fragebogens in unbe-leuchteten Wohnungen gab. Durch eine Kälte-welle im Winter verkehrten die Straßenbahnenunregelmäßig. Die Leute in mangelhaft geheiztenWohnungen wollten bei einer Außentemperaturvon minus 20 Grad oft keine Antworten geben.

Auch aus anderen Gründen war die Radiofor-schung in den ersten Nachkriegsjahren

schwierig. Viele Befragte zeigten am Anfang derFragen zum Radio großes Misstrauen, weil sieAngst hatten, dass ihnen die Apparate wegge-nommen werden.68 Die Frage nach der beliebte-sten Station war oft unergiebig, da man jenenSender einstellte, „wo gerade im Augenblick dasihnen genehme Programm geboten wird.“69 DieStationserkennung durch die Hörer war durchdie meist mangelhaften Frequenzskalen der Gerä-te und die nicht konsequent formatierten Pro-gramme nicht sehr einfach. In Wien standendamals bereits vier österreichsche Sender zur Aus-wahl. Die Frage, welcher Sender der beste sei,stieß nicht nur deshalb oft auf Schwierigkeiten,weil oft nur RAVAG Wien I empfangbar war,sondern auch weil viele meinten, „jede Stationhätte ihre guten und schlechten Seiten.“70

Im Herbst 1946 hörten im städtischen Bereich73 % Radio, wobei bei 60 % die Nutzungszeitüber zwei Stunden täglich lag und zwischen 18und 20 Uhr am intensivsten gehört wurde. Die

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67 Interrogator Ing. Beckert, Nr. 501: Bericht. Wien,09.01.1947. 2 S.

68 Interrogator Berner, Nr. 502: Wochenbericht vom 7. bis12.10.1946. 1 S.

69 Interrogator Burda, Nr. 505: Erfahrungsbericht für die

Zeit vom 30.9. bis 5.10.1946. Wien, 05.10.46. 2 S. 70 Interrogator Farkac, Nr. 507: Wochenbericht. Wien,

05.10.1946. 1 S. 71 Merritt / Merritt, Public Opinion, 115.

soziodemographische Beschreibung der Hörergleicht frappant den frühen Internet-Nutzern:„Radio listeners were likely to be men, better edu-cated, younger, from upper and middle classes,and from higher occupational status positions.“71

83 % lasen zu dieser Zeit regelmäßig eine Zei-tung. Die Studienautoren stellten fest, dass imGegensatz zu anderen Ländern in Wien dieMehrheit der Radiohörer zustimmte, dass dieZeitungen „more accurate news“ als das Radioliefern. Als Erklärung wurde angeführt, dass dieWiener Presse für ihre genaue, umfangreicheBerichterstattung bekannt sei.

29 % beschwerten sich über zu viel Propaganda.In der US-Zone in Deutschland waren es beiidentischer Fragestellung nur 13 %. Nur 64 %aller Hörer gaben an, dass Radio noch immerzensuriert sei. 18 % behaupteten, dass es keineZensur gäbe. Das ist erstaunlich, denn erst am 1.September 1953 wurde die Zensur aufgehoben.Alle Hörer wurden gefragt, ob sie jemals dasRadio ausgeschalten hätte, weil sie dächten, dass

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das was sie hören, falsch oder unwahr sei. Überein Drittel kannte die Situation und hatte ent-sprechend gehandelt. Die Frage wurde von 96Personen unverlangt kommentiert, wobei dieüberwiegende Mehrheit auf die „Russische Stun-de“ der RAVAG verwies.

Der am öftesten gehörte Radiosender im Herbst1946 war RAVAG Wien I mit 66 %. Damalsnoch weit abgeschlagen folgte RWR mit 24 %.Starke Nutzung ist zu dieser Zeit nicht nur durchaktive Programmwahl von Wienspezifischen Pro-grammen erklärbar, sondern ist abhängig von derSignalstärke der Sender und den technischenMöglichkeiten der Empfänger. Am „liebsten“hingegen hatten die Wiener RWR (40 %) gefolgtvon der RAVAG I (30 %). Als bester österreichi-scher Programmlieferant wurde RWR ganzknapp vor RAVAG I eingestuft. Trotz des 1946noch weniger angespannten Klimas zwischen denSupermächten hatte die RAVAG durch die russi-sche Besatzung schon früh ein schlechtes Image.„…Ravag Wien I wird von dem größten Teil derHörer als ,Russensender’ angesprochen und wirdnicht gerne gehört. Meistens sagen nur die Leute,die keinen anderen Sender bekommen, sie hörenRavag Wien I gerne.“72 Die auffallende Plump-heit der sowjetischen Propaganda, die auch imPrintbereich offensichtlich war, hatte ihre Ursa-chen in der Tatsache, dass sie für ein totalitäresMediensystem ohne innere und äußere Konkur-renz entwickelt worden war.73

Dieses Image von RWR als „besseres“ österreichi-sches Radio beruhte auf dem Einsatz österreichi-scher Mitarbeiter, der Programmgestaltung aufBasis moderner Marktforschung (Hörer-Befra-gungen) sowie auf Hörerbindungskonzeptendurch Publikumsbeteilung.74 Die amerikanischeKontrolle bis 1955 wurde kaum wahrgenommen.Bei den österreichischen Nachrichten kam dazu,dass die Journalisten von RWR unter dem Schutzder US-Besatzungsmacht beinahe alle Einrich-

tungen des Staates kritisieren konnte. „DerUmstand förderte die Beliebtheit von Rot-Weiß-Rot auf Kosten von Radio Wien. Während dieserzehn Jahre wurde keine Gelegenheit versäumt, zudemonstrieren, dass das RWR-Programm besserals jenes von Radio Wien war.“75

„Glaubwürdigkeit“ von Tages-presse und Radio 1947

„What do you think of the Wiener Kurier – is ita very good, rather good or poor newspaper?“76

Die Gleichschaltung bzw. die Einstellung fastaller Tageszeitungen nach dem Anschluss

führten dazu, dass die Auflagenzahlen bei Kriegs-ende ein Minimum erreichten. Nach dem Kriegging es wieder rasch aufwärts. Besonders dieBerichterstattung zum Nürnberger Hauptkriegs-verbrecher-Prozess mit der Urteilsverkündung imOktober 1946 brachte den Tageszeitungen einenenormen Verkaufsschub. Eine Studie der ISB imamerikanischen Sektor Wiens zeigte, dass derWiener Kurier sehr erfolgreich war.77 73 % hattenihn zumindest einmal in den letzten zweiWochen gelesen. An zweiter Stelle folgte das Klei-ne Volksblatt (38 %). Am unbeliebtesten warendie Wiener Zeitung sowie die unter russischemEinfluss stehende Österreichische Zeitung. Aufdie Frage, ob der Kurier, eine „sehr gute“ oder„gute“ Zeitung sei, erhielt der Kurier mit 88 %eine überwältigende Zustimmung.78 Der Erfolg,der von den Amerikanern unterstützten Zeitungwar außerordentlich. Nur auf die Frage nach demPropagandaanteil schnitt der Kurier etwasschlechter ab. Während 59 % der Befragten sag-ten, das Neue Österreich enthalte keine Propa-ganda, waren es beim Kurier 37 %.

Anfang 1947 wurde die erste deutsche Mei-nungsumfrage, bei der Glaubwürdigkeit einThema war, im amerikanischen und britischen

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72 Interrogator Ing. Beckert, Nr. 501: Wochenbericht. Wien,05.10.46. 2 S.

73 Mueller, Wolfgang: Die „Österreichische Zeitung”. In:Melischek, Gabriele / Seethaler, Josef (Hg.): Die WienerTageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 5: 1945-1955.Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresseder Zweiten Republik bis 1998. Frankfurt a. Main, 1999,11-56.

74 Ulrich, Modernes Radio, 152 ff. 75 Feldinger, Norbert P.: Nachkriegsrundfunk in Österreich:

Zwischen Föderalismus und Zentralismus von 1945 bis1957. München, u.a. 1990, 151.

76 US-Army / ISB: The Viennese Newspapers. An Opinion

Research Study. 22 October 1946. 16 Seiten, 14.Zusammenfassung vgl.: The Viennese Newspapers. AnOpinion Research Study. Report No. 23. (22 October1946). In: Merritt / Merritt, Public Opinion, 106-107.

77 US-Army / ISB, Viennese Newspapers. Ca. 500Interviews, wobei sich die Studie auf die 92 %Zeitungsleser bezieht, die zumindest einmal in denvergangenen zwei Wochen eine Zeitung lasen.

78 Dieselbe Fragestellung wurde für Zeitungen in 32 Städtender deutschen U.S. Zone gestellt. Die Summenwerte lagenzwischen 32 und 83 %. „Evidently the Wiener Kurier is ashighly popular as any paper in the American Zone ofGermany.“ US-Army / ISB, Viennese Newspapers, 6.

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Sektor Berlins durchgeführt. Der Glaube an einfunktionierendes Mediensystem stellte sich nurlangsam ein. 85 % der Befragten glaubten, dassNachrichten nunmehr vertrauenswürdiger seien,als während des Krieges.79 Der Hörfunk (24 %)galt als glaubwürdigstes Medium. Die Zeitungen(8 %) folgten mit großem Abstand. Ein gutesDrittel hielt beide für gleichermaßen vertrauens-würdig.

Im Juli 1947 wurde die erste Untersuchung aufösterreichischem Gebiet gemacht, bei der

explizit Fragen nach der „Glaubwürdigkeit“gestellt und Radio und Tagespresse miteinanderverglichen wurden.80 „Wie viele der in den Zei-tungen veröffentlichten Nachrichten stimmenund entsprechen der Wahrheit – die meisten, eingroßer Teil, ungefähr die Hälfte oder weniger?“Die Ergebnisse zeigten, dass das Vertrauen zurPresse im Allgemeinen nicht groß war.81 Dass die„meisten“ Nachrichten stimmen, glaubten 4 %,ein „großer Teil“ 13 %, „ungefähr die Hälfte“ 44%, „weniger“ 26 %. Mehr als ein Zehntel hattenkeine Meinung. Von den Zeitungen brachte derWiener Kurier für 28 % die glaubwürdigstenNachrichten, gefolgt von der Arbeiterzeitung derSPÖ mit 20 %. Radionachrichten wurden mit 27versus 13 %, als deutlich glaubwürdiger einge-stuft als Zeitungsnachrichten. Aber fast jederzweite Wiener macht zwischen Radio und Zei-tung keinen Unterschied. Bei den Sendern hatteRWR mit 35 % gegenüber der RAVAG mit 28 %die glaubwürdigsten Nachrichten. In Summe wardie Glaubwürdigkeit der amerikanischen Medienunbestritten. 51 % der Wiener bezeichneten dieNachrichten des Wiener Kuriers oder die vonRot-Weiß-Rot als am glaubwürdigsten.

Beim Vergleich von Radiosendern muss berück-sichtigt werden, dass dies für gut ein Drittel nichtmöglich war, da RWR von Haushalten mit Klei-nempfängern mit beschränktem Frequenzspek-

trum nicht gehört werden konnte. Auch ein Jahrspäter waren Volksempfänger, Deutscher Klein-empfänger und selbst gebaute Geräte nochimmer stark verbreitet.82

Im Sommer 1947 wurde das Zeitungslesendetaillierter untersucht.83 69 % haben in der US-Zone Wiens regelmäßig eine Zeitung gelesen.Der Kurier lag mit 42 % regelmäßigen bzw. gele-gentlichen Lesern wieder mit Abstand an derSpitze. An zweiter Stelle folgte die Arbeiter Zei-tung. Bei der Abfrage der Nutzungsmotive wurdeauch erhoben, welche „die neutralste, objektivsteund demokratischste“ Zeitung sei. An erster Stel-le lag das Neue Österreich (35 %), was als Beweisdafür angesehen wurde, dass es „dem Herrn Che-fredakteur Fischer (KPÖ) gelungen ist, sich aus-gezeichnet zu tarnen.” Erst an zweiter Stelle lagder Kurier mit 24 %. Auch bei der Frage, ob dieNachrichten der jeweiligen Zeitung „wahrheits-getreu“ erscheinen, lag der Kurier (62 %) nichtan der Spitze. Das höchsten Vertrauenswerteerhielten die Wiener Zeitung (74 %), die Welt-presse (68 %) und die Arbeiter-Zeitung (65 %).In Hinblick auf die Themenbreite schnitt derKurier wieder gut ab. 61% glaubten, dass dieseZeitung „über alles offen und ehrlich“ schreibebzw. dass allgemein interessierende Themen auchbehandelt und nicht umgangen würden. An zwei-ter Stelle lag die ÖVP-Zeitung Kleines Volksblattmit 58 %.

Der „Dritte Mann“ im Wiener„Rundfunkparadies“

„Das zwanzigstündige Geheul und Gedudel ent-flammte nämlich die Begeisterung der Teenagerund Twens, aber auch aller Avantgardisten mit

und ohne Bart“84

Das Wien des „Dritten Mannes“ im Jahres 1948galt aufgrund der großen Senderauswahl als

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79 Bentele, Günter: Der Faktor Glaubwürdigkeit.Forschungsergebnisse und Fragen für eineSozialisationsperspektive. In: Publizistik, 2-3/1988, 406-426, hier: 413.

80 Headquarters United States Forces in Austria. InformationServices Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army:Bericht zur Ermittlung Nr. 8. Wien, 15. Juli 1947.Abgedruckt in: Schönberg, Michael: Die amerikanischeMedien- und Informationspolitik in Österreich von 1945-1950. Phil. Diss., Wien, 1976, Dokumentation II, 583-588. n = 1.000 (Gesamtbevölkerung 293.000) in deramerikanischen Zone Wiens. Wien hatte damals einenAnteil von 68,5 % Frauen und 31,5 % Männer über 18Jahren.

81 Headquarters United States Forces in Austria, Bericht zur

Ermittlung Nr. 8., hier 584. 82 Headquarters United States Forces in Austria. Information

Services Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army:Die Radiohörer und ihre Empfangsapparate. Bericht No.55, Wien, 1. Juli 1948. 12 Seiten. Sammlung Adlbrecht.

83 Headquarters United States Forces in Austria. InformationServices Branch. APO 777, U.S. Army: Bericht zurErmittlung Nr. 11. Wien, 20. Oktober 1947. 14 Seiten.In: Schönberg, amerikanische Medien- undInformationspolitik, Dokumentation II, 412-425.

84 RAVAG-Programmdirektor Dr. Rudolf Henz über denamerikanischen Soldatensender „Blue Danube NetworK“.Zit. n. Ergert, Geschichte des ÖsterreichischenRundfunks, Band II, 132.

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„Rundfunkparadies“. Neben den zwei RAVAG-Programmen, RWR und Alpenland gab es ameri-kanische, französische und englische Soldaten-sender mit „schrägem“ Musikprogramm. AlsFolge der Finanznöte führten RWR und dann alleSender im Frühjahr 1948 die Radiowerbung ein.Eine Untersuchung im Februar 1948, erstmalsauch in Linz und Salzburg, bestätigte einmalmehr die Beliebtheit von RWR.85 Der Kurierwurde in Wien am häufigsten gelesen und RWRam öftesten gehört. Linzer und Salzburger warenhingegen kaum Kurierleser, da die Zeitung dortnur schwer erhältlich war. RWR hingegen wardort praktisch das einzige genutzte österreichi-sche Radio und damit einzige Quelle für Radio-nachrichten, da in Linz und Salzburg RAVAG Ikaum empfangen werden konnte. In Wien hör-ten 43 % RWR bzw. 31 % einen der RAVAG-Sender, um Nachrichten zu hören. Das sich ver-schlechternde Verhältnis der westlichen Besat-zungsmächte mit der Sowjetunion als Folge desKalten Krieges wurde kaum wahrgenommen.Der RWR-Nachrichtenabteilung gelang es, denEindruck zu erwecken, dass alle Besatzungsmäch-te „gleich“ behandelt würden. In Wien sagtendies 47 %, in Salzburg 58 % und in Linz sogar 72%

Mehr als drei Viertel der Bewohner der unter-suchten Städte, rund 367.000 Personen über 18Jahren,86 hörten Anfang 1948 Radio. Zu dieserZeit gab es jeden Monat eine Untersuchungswel-le.87 Bei der Studie im März wurde das Program-minteresse erhoben. Einmal mehr zeigte sich eingroßes Bedürfnis der Bevölkerung nach Unter-haltung. Nur bei 12 % waren Nachrichten das

Lieblingsprogramm. Überhaupt keine politischenSendungen wollten in Wien 55 %, in Linz 59 %und in Salzburg 73 %.

Outsourcing & Quick and DirtyMarket Research

„The results of this survey were the greatestdisappointment I have received in Europe.“88

Das verschärfte Meinungsklima zwischen Ostund West spürte auch die Feldabteilung der

ISB. Am 21. Juli 1948 wurde ein Interviewer inder russisch lizensierten Österreichischen Zeitungin einem Artikel mit dem Titel „AmerikanischeMeinungsschnüffelei im amerikanischen SektorWiens“ namentlich genannt. StudienleiterBeckert maß diesem Umstand vorerst keineBedeutung zu, da er durch die geringe Reichwei-te des russisch dominierten Blattes keine Beein-trächtigung der Feldarbeit befürchtete.89 Augen-scheinlich zeigte aber das „russische Besatzungs-element“ so großes Interesse an den Meinungs-forschungsaktivitäten, dass „Menschenverschlep-pungen“ aus den Reihen der Interviewer befürch-tet wurden.90

Spätestens ab Sommer 1948 gab es Überlegungender US-Army, die teuren Meinungsforschungsak-tivitäten einzuschränken und auszulagern.91 Diedeutliche Westintegration Österreichs zeigte, dassdie Forschungsaktivitäten reduziert werdenkonnten. Beckert bat im August 1948 noch umdie Entscheidung, ob eine Mehrthemen-Studieam 17. September ins Feld gehen soll, oder ob

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85 Headquarters United States Forces in Austria. InformationServices Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army:The „Wiener Kurier“, the „Red-White-Red“ Station and„The Voice of America“. Bericht Nr. 32. 16.03.1948. 9Seiten. Sammlung Rathkolb. Mehrthemenumfrage vom18.02.-05.03.48, n = 2.000, davon 1.000 in der amerik.Zone Wiens, 500 Linz ohne Urfahr (nördlich der Donaurussisch) u. 500 in Salzburg.

86 Headquarters United States Forces in Austria, Bericht No.55. n = 2.000. Erstmals hochgerechneteRadionutzungszahlen für die Erhebungsgebiete deramerikanischen Zone: Wien 300.670 Einwohner 18+ =>240.536 (80 %) Radiohörer / Linz 95.041 => 72.331 (76%) / Salzburg 68.556 => 54.260 (79 %).

87 Headquarters United States Forces in Austria. InformationServices Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army:Das Programm des Senders „Rot-Weiß-Rot“. Bericht No.38, Wien, 20. April 1948. 8 Seiten. Sammlung Adlbrecht.Mehrthemenumfrage, n = 2.000, Wien, Salzburg, Linz.

88 Siehe Fußnote 95. 89 Headquarters United States Forces in Austria. Information

Services Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army,Wien, 10. August 1948. From: Survey-Section, Dipl. Ing.S. Beckert To: Prof. Dr. Albert von Eerden, Deputy Chief.

90 Laut BMI-Statistik erwähnt in einer SPÖ-Propagandabroschüre (Austria Kriminalakt, hg. RupertRindler, Zell am See 1953, 18), erreichte dieVerschleppung 1948 einen Höhepunkt. 116 Männer und21 Frauen „verschwanden“ in sowjetischen Gefängnissenoder Lagern. 1946 waren es 80 und 1947 102 Personen.Zit. n. Rathkolb, Oliver, Politische Propaganda, 1981,492.

91 ISB Mark Shovar, Proposed discontinuance. In derinternen Untersuchung wird empfohlen, „that ISB beauthorized to discontinue the public opinion SurveySection as an operation within its mission.” Derösterreichische Leiter (Beckert) wolle gegebenenfalls eineigenes unabhängiges Institut gründen, das ganzÖsterreich abdeckt. Des Weiteren erklärte er, dass er bereitwäre, beliebige Umfrageprojekte auf Vertragsbasis mitjeder beliebigen Sektion des amerikanischen Elementsaufzunehmen.

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„eine frühere Auflösung der Survey-Sectionbestimmt wurde.“92 Im Fragebogenentwurf isteine Fragenbatterie zum Vergleich über der Ver-trauenswürdigkeit von Radio- und Pressenach-richten enthalten. Es ist nicht bekannt, ob dieStudie durchgeführt wurde. 1949 wurde dieDienststelle aufgelöst.

Es gab verschiedene Überlegungen zu einerkostengünstigeren Datengewinnung. Besucherder amerikanischen Informationszentren inWien, Linz und Salzburg sollten einen Fragebo-gen ausfüllen oder das Vertriebssystem desKuriers sollte für die Fragebogendistributiongenutzt werden.93 Die Inhalte zensurierter Privat-briefe in Wien wurden quantitativ ausgewertet.94

Im Frühjahr 1949 wurde die vermutlich ersteösterreichische Telefonstudie durchgeführt. DieMitarbeiter von RWR wurden zu einer telefoni-schen Hörerbefragung über Radionutzung undProgrammpräferenzen verpflichtet.95 Im Juli 1949wurden dann wieder mindestens zwei größereprofessionell durchgeführte Studien zum Infor-mationsstand über den Marshall Plan gemacht,die zusammenfassend als Media Impact I bezeich-net wurden.96 Ergebnisse dieser Studien liegenbisher nicht vor.

Im Herbst 1949 führte das „ÖsterreichischeInstitut für Rundfunkforschung“ eine Repräsen-tativstudie erstmals für ganz Wien durch.97 Beider Frage, welche österreichische Sendestation„am meisten“ gehört wurde, wobei darauf geach-tet wurde, dass damit nicht „am liebsten“gemeint ist, lag RWR (38 %) an erster Stelle,

gefolgt von Wien I (37 %) und Wien II (8 %).Die RAVAG-Gesamtreichweite lag damit deut-lich über jener von RWR. Auf die Frage, welcherSender „am besten“ gefalle, erhielt der „bewusstauf anspruchslose Programm eingestellte“ SenderRWR mit 93 % die höchste Zustimmung,obwohl RWR-Hörer über die größte Program-mauswahl verfügten.

Media Impact und Generalstreik 1950

Zwei Drittel lesen „Not identified localNewspapers“

Zur Ermittlung des Kenntnisstandes über dieamerikanische Marshallplanhilfe wurden

auch im Frühsommer 1950 mehrere breit ange-legte Studien unter dem Titel „Media Impact II“durchgeführt. Praktisch jeder Wiener las zumin-dest gelegentlich Zeitungen.98 Täglich waren es76 %, wobei festzustellen ist, dass das Zeitungsle-sen im Wesentlichen aus ökonomischen Gründenaber auch aus geringerem Interesse in den letztenJahren zurückgegangen war. Am häufigsten gele-sen wurden der Kurier (43 %) und die AZ (32%). Die Frage nach der Bedeutung von dreizehnverschiedenen Eigenschaften von Tageszeitungenzeigt, dass knapp 90 % „Nationale Nachrichten“als „sehr wichtig“ oder „wichtig“ ansehen. Manschließt auf eine Überfütterung mit internationa-len Nachrichten. Die am zweithäufigstengenannte Eigenschaft mit 80 % war die „Vertrau-enswürdigkeit“. Die Zeitungen mit den vertrau-enswürdigsten Informationen waren der Wiener

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92 Headquarters United States Forces in Austria. InformationServices Branch. Survey – Section. APO 777, U.S. Army.From: Survey-Section, Dipl. Ing. S. Beckert To: Prof. Dr.Albert von Eerden, Deputy Chief, Information ServicesBranch, USFA APO 777. Wien, 10. August 1948. 8Seiten. Beckert übernahm die Forschungsaktivitäten undarbeitet vorerst ausschließlich für die Amerikaner. Inweiterer Folge entstand daraus das österreichische Gallup-Institut.

93 DCF / imb Fox, Douglas C., Operations Officer:Sampling of Public Opinion. To: Lee. Cc: Kaghan,Connaughton. 16 June 1949. 2 Seiten.

94 Im Zuge der Zensur wurden Inhalte von Privat- undGeschäftspost und von Telefon und Telegraph analysiert.Eine Auszählung nach Inhalten einer Stichprobe von12.000 Exzerpten von den schätzungsweise 700.000Privatbriefen nach und aus Wien im Februar 1949 zeigte,dass Themen zur Besatzung und den Lebensverhältnissendominieren. Mediennutzung war kein Thema derPrivatpost. Civil Censorship Group / Austria ViennaStation AOP 777 US Army / Legault, Joseph L.,Headquarters Disseminator Officer: Public OpinionReport. März 1949. 7 Seiten.

95 69 Mitarbeiter brachten nur 29 brauchbare Reportszustande. „The results of this survey were the greatest

disappointment I have received in Europe. What can wedo for you, and RWR, when nearly 3/4 of the RWR staffwill not help?“ Skornia, H.J., Visiting Expert / To: Ray, E.Lee / Douglas, C. Fox / Vincent, J. Skachinsky: BriefReport No. 11. Radio Listener Survey. 28 July 1949. 8Seiten.

96 Vgl. Zusammenfassung von: Austria Media Impact StudyII, Juli 1950. 117 Seiten. 108 ff. Zum Teil abgedruckt in:Schönberg, amerikanische Medien- undInformationspolitik, Dokumentation II, 606-668.

97 Correspondence between Schneider, Drr. R / Skala Dr. G./ Rössel-Majdan, Drr. Karl / Intendant Reischek, Andreas.27. Juli 1950. Meinungsforschung. ÖsterreichischesInstitut für Rundfunkforschung. Monatsbericht, Mai1950. 20 Seiten.

98 Ekern, Halvor O.: Public Opinion Studies und Surveys onAustria. Vienna Newspaper Survey. Media Impact. Juni1950. Abgedruckt in: Schönberg, amerikanische Medien-und Informationspolitik, Dokumentation II, 426-491.Auftraggeber ISB / USFA. Feldarbeit: Ing. SiegfriedBeckert, Meinungs- und Marktforschung, Wien.Auswertung: Dr. Eric Stern, Foreign Opinion and MarketResearch, New York & The Hague. n = 1.000, Wiengesamt. Zur Haushaltsauswahl heißt es: „The householdsample by this method is a true random sample.“

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Kurier und die AZ mit jeweils 14 % und dasNeue Österreich mit 12 %. Auffallend ist hier,dass jeweils nur rund ein Viertel der Kurier-Leserund der Weltpresse-Leser ihre eigene Zeitungnannten. Die Ursache dieser geringeren Leser-Blatt-Bindung scheint am unterschiedlichenErscheinungsmodus zu liegen. Kurier und Welt-presse waren Abendzeitungen alle anderen Mor-genzeitungen mit deutlich höheren Abo-Antei-len. Um die Vertrauenswürdigkeit des Kurier zuerhöhnen, wurde empfohlen, den Zeitungskopfmit den Namen der österreichischen Herausgeberzu versehen und die Aktualität einer Abendzei-tung – „the Kurier has said first’“ zur Erhöhungder Vertrauenswürdigkeit zu nutzen.

In der Teilstudie, die Ende Juni 1950 durchge-führt wurde, sind vermutlich erstmals alle drei

westlich besetzten Zonen Österreichs sowieWiens untersucht worden.99 Zusammenfassendwird festgestellt, dass die Bevölkerung wenigeroptimistisch als im Vorjahr in die Zukunft blickt.Unter Einbeziehung der ländlichen Bevölkerungsank der Anteil der täglichen Leser um 12 Pro-zent-Punkte auf 64 %. Dabei zeigt sich erstmals,wie groß die Nutzung der Lokalpresse ist. 66 %lasen „Not identified local newspapers“. Umge-legt auf die Gesamtbevölkerung im Untersu-chungsgebiet lesen demnach gut die HälfteLokalzeitungen, knapp 10 % den Kurier und 4 %die AZ. Der größte Teil der Lokalzeitungsleserweist einen deutlich schlechteren Informations-stand über den Marshall Plan auf als Tageszei-tungsleser. Bevorzugt wird die jeweils genannteZeitung, weil sie interessant und die „beste“ Zei-tung ist (21 %) oder weil sie „unpolitisch“ (18 %)ist. Ob sie die Wahrheit schreibt, interessiert nur2 %. Im Sommer 1950 haben laut dieser Studie bereits77 % ein Radiogerät zu Hause. Die Auswertung

zeigt ein deutliches Stadt-Land-Gefälle in derRadioversorgung. In Wien haben 87 % ein Gerätzu Hause, in Orten unter 1.000 Einwohner nur57 %. Für die drei westlichen Besatzungszonenzeigt sich erstmals, dass Alpenland und RWR mitgleich gut genutzt werden.

Weiteres wurden die Reichweiten von Magazinenund Kino abgefragt. Schon 42 % der Bevölke-rung lasen regelmäßig Magazine, wobei die Illu-strierte Wochenschau mit 23 % die höchsteReichweite hatte.100 Die Hälfte der Bevölkerungging mindestens zwei Mal im Monat ins Kino.Knapp drei Viertel haben, als sie das letzte Malim Kino waren, einen Nachrichtenfilm (newsre-el) gesehen.

Im Zuge der Media Impact Studie wurde in Wiensowie Salzburg und Linz, jeweils mit Umgebung,die Radionutzung im Detail erhoben.101 Nur 4 %hatten keine Möglichkeit, irgendwo Radio zuhören. Unter Einbeziehung der genannten Lan-deshauptstädte war RWR (76 %) mit großemAbstand am besten genutzt, gefolgt von RAVAGI (20 %) und weit abgeschlagen RAVAG II undSendergruppe West mit jeweils 2 %. Wohl auf-grund der Tatsache, dass es sich um eine US-Stu-die handelt, lag die Verweigerungsrate auf dieFrage nach der Regelmäßigkeit des Hören undder qualitativen Einschätzung der RAVAG I beiüber 40 %. Jedenfalls wurde RWR sehr gut ein-gestuft. 84 % sagten, dass das Programm vonRWR exzellent bzw. gut sei. Bei der RAVAG Iwaren es 50 %.

Obwohl knapp die Hälfte der RWR-Nachrich-ten-Meldungen aus US-Quellen kamen102, galtder Sender, besonders nach dem Oktoberstreik1950 als „seriös“ und „authentisch“. Der Bunde-spressedienst hatte vorübergehend eine Außen-

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99 Austria Media Impact Study II. Juli 1950. Studienautorwar Dr. Eric Stern (Foreign Opinion and MarketResearch), im Auftrag von Economic CooperationAdministration Office of Special Representative, Paris.Feldarbeit von Dipl.-Ing. Siegfried Beckert, Meinungs-und Marktforschung. Auswertung beim NederlandseStichting voor Statistiek The Hague. n = 2.500persönliche Interviews, die mittels Qutaauswahl nachWohnort, Geschlecht, Alter, Einkommen undBeschäftigung ausgewählt wurden und über alle westlichenBesatzungszonen gestreut waren (GB: n = 828, US: n =642, F: n = 294, Wien: n = 736).

100 Die erste Erhebung von Magazin- und Illustrierten-reichweiten gab es im Juni 1948. 28 % der Bewohner deramerikanischen Zone Wiens gaben an, Magazin- bzw.Illustrierten-Leser zu sein. Headquarters United StatesForces in Austria. Information Services Branch. Survey –Section. APO 777, U.S. Army: Bericht No 57. 9. Juli

1948. Zeitschriften- und Magazinleser. 6 Seiten.101 [vermtl. Ekern, Halvor O.]: Austrian Radio Survey. June

1950. Abgedruckt in: Schönberg, amerikanische Medien-und Informationspolitik, Dokumentation I, 352-355.Zweite Junihälfte 1950. n = 2.000, Wien, Linz undUmgebung, Salzburg und Umgebung. Feldarbeit: Ing.Siegfried Beckert, Meinungs- und Marktforschung, Wien.Auswertung: Dr. Eric Stern, Foreign Opinion and MarketResearch, New York & The Hague.

102 Ende 1948 stammten 46,7 % der Nachrichten ausamerikanischen Quellen. Headquarters United StatesForces in Austria. Information Services Branch. APO 777.U.S. Army. Monthly Report on Operations ofInformation Services Branch for the Period Ending 30September 1948. 30. September 1948. Abgedruckt in:Schönberg, amerikanische Medien- undInformationspolitik, Dokumentation II, 573-582, hier:579.

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stelle bei RWR, wodurch dieser als „Quasi-Regie-rungssender“ aufgewertet wurde.103 Das Fernziel„Volksdemokratie“ des kommunistischen Streik-komitees war beunruhigender, als RWR-Nach-richten, die immer als „directly American slan-ted” verstanden und dementsprechend struktu-riert wurden. Die Zeitungen warnten vor den„Lügensendungen der RAVAG“ und verwiesenauf die Nachrichtensendungen von RWR undAlpenland, was zu einem Tiefpunkt des Ansehensvon Radio Wien führte.104

Rückzug der Alliierten &Österreichische Institute

Die erste bekannte Radiostudie nach derMedia Impact II machte das „Österreichi-

schen Instituts für Markt- und Meinungsfor-schung“105, das Vorläufer-Institut von Fessel-GfKim Mai 1953. Zu jeder Tageszeit hörten in Wien38 % Radio. Mit RWR sind 83 % „größtenteilsbis vollkommen” zufrieden. Wien I erreichte eineZustimmung von 68 %, Wien II von 71 % undAlpenland 73 %. Die russische Zensur für RadioWien endete Anfang November. Die „RussischeStunde” wurde dann nur mehr über Wien Igesendet.

Von 1952 bis 54 gab es am Zeitungswissenschaft-lichen Institut der Universität Wien ein Institutfür Rundfunkkunde.106 Laut Gründungsprotokollsoll der gewichtigste Budgetposten auf die Radio-forschung in Österreich entfallen.107 Bei den inder Institutszeitschrift Radio-Television veröf-fentlichten Studien ist Glaubwürdigkeit keinThema.

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103 Rathkolb, Politische Propaganda, 490. 104 Ergert, Geschichte des Österreichischen Rundfunks, Band

II, 152 f. 105 ÖIM (Österreichisches Institut für Markt- und

Meinungsforschung Dr. Walter Fessel / Dr. WalterGeppert): Befragung der Wiener Rundfunkhörer. 34Seiten. n = 736 im Wiener Gemeindegebiet, eineRepräsentativbefragung (Area-Sample-Methode).Multiclientstudie zur Rundfunkwerbung ohnespezifischen Aufraggeber.

106 Vgl. Dörfler, Edith / Pensold, Wolfgang: DasRundfunkwissenschaftliche Institut an der UniversitätWien. In: Medien & Zeit, 3/98, 49-55.Finanzierungsgrundlage war eine Stiftung aller Sender(Sendergruppe Alpenland Kärnten und Steiermark, Rot-Weiß-Rot, Sendergruppe West Tirol und Vorarlberg,Sender Wien).

107 Auszüge aus dem Gründungsprotokoll. In: Radio-Television. Zeitschrift für Rundfunkforschung. Journal forbraodcasting research. 1953. Nr. 1 / Juni 1953, 10.

108 The Status of Red-White-Red among Austrian RadioListeners. I. Preliminary Report for Vienna and Lower

Austria. Special Report No. 196-S1. 17 May 1954. In:Merritt / Merritt, Public Opinion, 236.Zwischenauswertung, n = 379 im April 1954, Wien undUmgebung.

109 Fessel-GfK: Menschen. Märkte. Meinungen. 50 JahreFessel-GfK. Wien, 2000, 19. Möglicherweise einTeilergebnis einer Studie, die für die USIS (United StatesInformation Services), einem „wichtigen“ Auftraggeber desInstituts bis 1955, durchgeführt wurde. 1954 gab es eineÖsterreichweite Repräsentativstudie, wobei in dersowjetischen Zone aus Gründen der Anonymitätsgarantienur eine Straßenbefragung durchgeführt wurde. (26)

110 Mieder, Wolfgang (Hg.): English Proverbs. Stuttgart,1988, 50.

111 Auch die Amerikaner haben in der Liste der zukontrollierenden Mediendienste „television films“ explizitangeführt. Supreme Headquarters. Allied ExpeditionaryForoe. Psychological Warfare Division. Directive forPsychological Warfare and Control of AustrianInformation Services. 29 April 1945. In: Schönberg,amerikanische Medien- und Informationspolitik,Dokumentation I, 74-110, hier 76.

Anfang 1954 wurden die Rundfunkanlagen derbritischen Zone an die Öffentliche Verwaltungübergeben.Im April gab es die vermutlich letzte US-Studiemit Fragen zur Mediennutzung.108 Laut Zwi-schenbericht der Untersuchung für Wien undUmgebung wurde RWR am meisten geschätzt(82 %), weit abgeschlagen die RAVAG (8 %) undAlpenland (5 %). Die RWR-Nachrichten wurdenals sehr vertrauenswürdig eingestuft. Jeweils 47 %nannten sie „sehr“ bzw. „ziemlich“ vertrauens-würdig.

1954 führte das „Institut für Markt- und Mei-nungsforschung“ von Dr. Walter Fessel einegroße Studie durch, „wie häufig die einzelnenZeitungen gelesen werden“. In Wien lag dieArbeiter-Zeitung knapp vor dem WienerKurier.109 Für die Jahre bis 1961 liegen bisherkeine Studienergebnisse vor, die sich mit derGlaubwürdigkeit auch nur im weiteren Sinnebeschäftigten.

Aus den Ohrenzeugen werdenAugenzeugen

„One eyewitness is better than two hear-so’s.“(1519)110

Besonders seit 1949 hatten die Post und derRundfunk versucht, das Verbot der Alliierten sichmit dem Fernsehen zu beschäftigen zu lockern,was vorerst nicht gelang. Vor allem die Russenbefürchteten einen zu großen westlichen Einflussdurch das Fernsehen.111 Die Vorarbeiten zur Ein-führung begannen im September 1950. Im Sep-tember 1954 wurde das Fernsehen erstmals

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öffentlich präsentiert. Als wichtigster Termin imÜbergang vom Versuchsprogramm zum Regulär-betrieb gilt die Übertragung des „Fidelio“ am 5.November 1955.

Die ersten Fernsehhaushalte gab es in Vorarl-berg. Durch die Aufnahme des deutschen

Regulärbetriebs ab Dezember 1952 und demSchweizer Versuchsprogramm ab Juli 1953, warder Fernsehempfang schon sehr früh möglich.112

Als erster Privat-Haushalt mit TV gilt jener derIndustriellenfamilie Deuring in Hörbranz, inwelchem der Apparat 1953 in Betrieb genommenwurde.113 Den ersten gasthäuslichen „Gemein-schaftsempfang“ Österreichs gab es ab dem 24.Februar 1954 beim Fohrenburg-Wirt AntonDrexel in der Kirchgasse 21 in Bregenz, der dasGerät aus der Schweiz selbst importiert hatte.114

Zum Jahresende 1954 weist die Statistik fürGesamtösterreich bereits 73 Betreiber von Fern-sehrundfunkempfangsanlagen aus, davon alle inBundesländer mit Auslandsempfang.115

Das erste Jahrzehnt des neuen Fernsehens istgeprägt vom steten Wachstum des Programman-gebots. Ab Oktober 1959 sendet das österreichi-

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112 Vgl. Langer, Wolfgang / Pensold, Wolfgang: Im Schattender Funkhoheit. Die Anfänge des Fernsehens inVorarlberg. In: Medien & Zeit, 1/98, 49-55.

113 Das im Bregenzer Radiogeschäft Fawai & Co gekaufteGerät war 15 Jahre in Betrieb und gilt als verschollen.Swoboda-Mark, Marga: Österreichs erster Fernseher inBregenz: „Schwarz-Seher” verkrochen sich unter demTisch... In: Neue Vorarlberger Tageszeitung, 14.01.1981.

114 [VN-gt]: Aus der Geschichte: Erstes öffentliches TV-Gerätin Bregenz vor 50 Jahren. Auf: Vorarlberger Nachrichten,26.02.04, http://www.vn.vol.at/2004-02-26/Lokal_11.asp.

115 Österreichisches Statistisches Zentralamt: Theater, Film,

Rundfunk, Fernsehen. Wien, 1959, 173. 116 Mitteilungen des österr. Gallup-Instituts vom 26.10. bzw.

9.11.1961: Zit. n. Venus, Fernsehpioniere, 112. 117 Vgl. Plasser, Fritz / Ulram, Peter A.: Von der Parteien- zur

Medienverdrossenheit? – Trends in Österreich,Deutschland und den USA. In: Busek, Erhard / Hüffel,Clemens (Hg.): Politik am Gängelband der Medien.Wien, 1998. 107-122.

118 Bentele, Günter: Der Faktor Glaubwürdigkeit.Forschungsergebnisse und Fragen für eineSozialisationsperspektive. In: Publizistik, 2-3/1988, 406-426, hier: 413.

119 Bentele, Faktor Glaubwürdigkeit, 414.

Erstes Philips-Gerät ab 1949RK 9066-22, genannt die „Hundehütte“

sche Fernsehen an allen sieben Wochentagen.Ende der Fünfziger Jahre gibt es 100.000 Fern-seh-Teilnehmer. Laut einer Gallup-Studieerreicht das Fernsehen im Sommer 1961 bereitsregelmäßig 1,9 Millionen Österreicher, wobei 1Million täglich fern sieht und die übrigen ein bisfünf Mal pro Woche.116 Seit dieser Zeit liegt dasFernsehen im Reichweitenvergleich, definiert alsmindestens ein Mal in zwei Wochen, über demKino.

Medienglaubwürdigkeit in denUSA und Deutschland

1959 lag das Fernsehen hinsichtlich seiner Sour-ce Credibility in den USA mit 29 % noch knapphinter den Zeitungen (32 %), gefolgt von Radio(12 %) und Magazinen (10 %).117 1968 ist es(44 %) schon weit vor den Zeitungen (21 %)positioniert (Radio 8 %). Seither hat sich an denGrößenverhältnissen wenig geändert. In denUSA gilt das Fernsehen als etwa doppelt so ver-trauenswürdig wie die Zeitungen, welche wieder-um doppelt soviel Vertrauen genießen wie dasRadio.

Als erste deutsche Studie, die sich mit Glaubwür-digkeit im engeren Sinne beschäftigt, gilt eineEmnid-Umfrage von 1962 nach dem Konzeptder Roper-Frage zur „relativen Glaubwürdig-keit“.118 Zu dieser Zeit besaßen über 90 % derHaushalte ein Radiogerät und etwa die Hälfte einTV-Gerät. Das glaubwürdigstes Medium war für17 % die Zeitung, für 30 % der Hörfunk und für23 % das Fernsehen. In der zweiten Hälfte der60er-Jahre lag schon das Fernsehen an erster Stel-le. „Die Gründe für die Dominanz des Fernse-hens liegen – dies wurde oft bestätigt – vor alleman der Visualität des Fernsehens sowie am quasioffiziösen Charakter öffentlich-rechtlicher Fern-sehnachrichten.“119

In der Langzeitstudie Massenkommunikationwerden seit vierzig Jahren Meinungen über

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Aspekte der politischen Informationsvermittlungwie Wahrheitstreue und Objektivität erhoben.Das Fernsehen lag schon 1964 an erster Stelle.47 % sagten, „dass es wahrheitsgetreu berichtetund die Dinge immer so wiedergibt, wie sie wirk-lich sind.“120 An zweiter Stelle folgt der Hörfunk(45 %) vor der Tageszeitung (31 %). Am meistenhatte der Hörfunk unter der Ausbreitung desFernsehens zu leiden. „Der Besitz eines Fernseh-gerätes beeinflusst Nutzung, Bewertung und Bin-dung an das Angebot des Hörfunks deutlichnegativ. Zwischen den Abendprogrammen derbeiden Medien besteht unmittelbare Konkur-renz.“121 1970 liegt das Fernsehen (56 %) nochdeutlicher vor Radio (47 %) und Zeitungen(23 %). In den Folgeuntersuchungen verringertsich der Abstand der elektronischen Medien zuPrint wieder, wobei das Fernsehen vor allem beijüngeren Altersschichten an Glaubwürdigkeitverliert.

Die Ergebnisse der Langzeitstudie werden inanderen Untersuchungen zum Teil bestätigt. Ben-tele geht davon aus, dass die Medienglaubwürdig-keit nicht nur vom Medientyp, sondern auchvom Ereignistyp und der Entfernung des Rezipi-enten von Ereignissen und der damit verbunden(Nicht-)Möglichkeit der direkten Kontrolleabhängig ist. Nestmann hat in einer Mehrmetho-denstudie auf die Notwendigkeit einer intrame-dialen Differenzierung verwiesen. „Die Beurtei-lung einer bestimmten Sendung im Fernsehen ist[...] nicht unbedingt deckungsgleich mit derGesamtbeurteilung des Mediums und daher auchnicht direkt aus dieser ableitbar.“122

Vom „Bild des Tages“ zur „Zeit im Bild“

Bemühungen zur Einführung einer aktuellenFernsehberichterstattung waren nahe liegend.

Schließlich war die „Tagesschau“ der ARD seit

Ende 1952 auf Sendung. Von einer Programmsit-zung beim Österreichischen Rundfunk im Juni1955 ist dokumentiert, dass nach Möglichkeit„alle erreichbaren Aktualitäten unabhängig vonden Wochenschauen und Filmverleihern in eige-ner Regie filmmäßig zu erfassen“123 seien. Bedingtdurch den Aufbau des Fernseh-Sender-Grund-netzes waren die Ressourcen knapp und manbehalf sich mit Kommentaren zu Standbildern.Dennoch war das „Bild des Tages“ die erste Sen-dung mit fixem Programmplatz.124 Ab 5. Dezem-ber 1955 wurde aus dem „Bild des Tages“ die„Zeit im Bild“. Anfangs noch unregelmäßig,wurde die ZiB um 20 Uhr ab Anfang 1957 einfixer Programmbestandteil.125 1961 verfolgtenerst 8 % die „Zeit im Bild“ täglich.126 Noch imJahr vor dem massiven Ausbau der Fernsehinfor-mation mit der Rundfunkreform 1967 hat dieSendung, seit 1964 um 19:30 Uhr, bereits eintägliches Stammpublikum von 17 %.

Plasser und Ulram beschäftigen sich explizit mitpolitischen Nachrichtenangeboten der Massen-medien. Sie strukturieren den medialen Wandeldes österreichischen Kommunikationssystemsanhand des Drei-Phasen-Modells von Blumlerund Kavanagh.127 Dem „parteien- und printorien-tierten“ Kommunikationssystem entspricht dieZeit von 1945 bis Mitte der 60er Jahre. Die Par-teipresse hatte 1959 noch einen täglich Aufla-genanteil von 36 %. Die wichtigsten politischenInformationsquellen waren 1961 für 47 % derÖsterreicher die Tageszeitungen und für 44 % dieNachrichten im Radio.

Die starke intermediale Konkurrenz wird in den60er Jahren immer größer. 1966 sind 2.159.360Hörfunk-Geräte angemeldet. Die Tageszeitungenhaben eine Auflage von 1.806.000 Exemplare(Zeitungen), Fernsehgeräte gibt es in 781.013Haushalten und die Kinos haben ca. 200.000Besucher täglich.128 1968 gab es in einem Fünftel

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120 Berg, Klaus / Kiefer, Marie Luise: Massenkommunikation.Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung undMedienbewertung. Mainz, 1978, 159.

121 Berg / Kiefer, Massenkommunikation, 51. 122 Nestmann, Frank: Fernsehen im Urteil der Zuschauer.

Eine empirische Analyse von Medienkritik undMedienbewusstsein. Tübingen, 1980, 116.

123 Historisches Archiv des ORF, Programmsitzung vom29.06.1955, Gedächtnisprotokoll. Zit. n. Venus,Fernsehpioniere, 110.

124 Dörfler, Edith / Pensold, Wolfgang: Der Zauberspiegel derNation. Zur Etablierung des Fernsehens in Österreich. In:Medien & Zeit, 2/99, 16-42, hier: 19.

125 Vgl. Rest, Franz: Die Explosion der Bilder. Entwicklung

der Programmstrukturen im österreichischen Fernsehen.In: Fabris, Hans Heinz / Luger, Kurt (Hg.): Medienkulturin Österreich. Film, Fotographie, Fernsehen und Video inder zweiten Republik. Wien, 1988. 265-315.

126 Plasser, Fritz / Ulram, Peter A.: ÖffentlicheAufmerksamkeit in der Mediendemokratie. In: Plasser,Fritz (Hg.): Politische Kommunikation in Österreich. Einpraxisnahes Handbuch. Wien, 2004. 37-99, 54 f.

127 Plasser / Ulram, Öffentliche Aufmerksamkeit, 39 ff. 128 Gegenüberstellung der Medien. Beilage von:

Generaldirektion Österreichischer Rundfunk, Gesellschaftm.b.H, Abteilung Rundfunkforschung: Hörfunk undFernsehen 1965/66 in Grafik und Ziffer. Wien, 1966.

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der Haushalte schon zwei oder mehr Radiogerä-te.129 Dreiviertel der Radios waren UKW-taug-lich. Die Spitze der Radionutzung lag nun zwi-schen 12 und 13 Uhr. Das Fernsehen war dasdominierende Abendmedium geworden. Der amstärksten genutzte Sender bei den UKW-Radiohörern war Ö Regional mit 45 %, deutlichvor Ö3 und Ö1.

Bei traumatischen Ereignissen mit hoherAktualität hat das Radio durch die Möglich-

keit seiner mobileren Nutzung weiterhin einesehr wichtige Funktion. Im September 1968führte der ORF eine Befragung durch, welcheInformationsquelle für die Zeit nach der CSSR-Krise am wichtigsten war.130 Der Hörfunk warnicht nur das am meisten benutzte (52 %), son-dern auch das am meisten geschätzte Informati-onsmittel. An zweiter Stelle lag das Fernsehen(36 %), gefolgt von Tageszeitungen (12 %) undGesprächen (4 %).

Für die zweite Hälfte der 60er Jahre setzen Plas-ser und Ulram der Übergang zur „TV-zentrier-ten“ Phase an. Ab 1968 haben mehr als die Hälf-te der Haushalte ein Fernsehgerät, 1971 waren esbereits 71 %. Die Mehrheit der Österreicher warnun einigermaßen mit dem Fernsehen als„Augen- und Ohrenzeugen“ vertraut. 1971 liegtdas Fernsehen (48 %) als primäre politischeInformationsquelle an erster Stelle vor Tageszei-tungen (33 %) und Radio (20 %).

Die Frage nach der „glaubwürdigsten Informati-onsquelle für politische Informationen“ wurdevon FESSEL-GfK über fast dreißig Jahre sechsMal wiederholt.131 Bei der ersten Befragung 1976(Mehrfachantworten möglich), nannten 66 %

das Fernsehen, 27 % die Zeitungen, 17 % dasRadio und 5 % Zeitschriften. Das Fernsehenerreichte 1976 täglich bereits rund vier MillionenÖsterreicher (70 %). Im Frühjahr 1976 hatte die„Zeit im Bild“ im Tagesdurchschnitt 2,2 und das„Österreichbild“ 1,7 Millionen Seher.132 DerHörfunk hatte 1978 eine Reichweite von 75 %.133

Die Hörfrequenz der Radionachrichten hat sichin Österreich seit 1961 kaum verändert. Der Stel-lenwert der ORF-Radionachrichten und Journal-sendungen im politischen Informationsrepertoirewird vielfach „unterschätzt“.134 Auch 2001 hörtennoch nahezu 68 % täglich und 20 % mehrmalsdie Woche Radionachrichten. Dennoch ist seineBedeutung als primäre politische Informations-quelle spätestens seit Anfang der 60er Jahre stetiggesunken. Das dürfte nicht nur mit der gestiegenTV-Versorgung, sondern auch mit dem Verlustdes offiziösen Charakters durch das Aufkommender Kommerzradios zu tun haben. Leider liegenkeine Studienergebnisse aus der Frühzeit desFernsehens vor, die sich explizit auf die Situationin den TV-Haushalten beziehen. Dort wäre nochdeutlicher sichtbar, dass man sich der Faszinationdes Fernsehens kaum entziehen kann.

Gegenwärtig liegen die Österreicher bei derNutzung der Informationsangebote von

Fernsehen, Radio und Presse über dem EU-Durchschnitt, wobei die Vertrauenswerte für dieelektronischen Medien besonders hoch sind.135

Der Rundfunk, aber insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen gilt noch immer als sehr ver-trauenswürdig. Im Vergleich zu anderen emp-fangbaren Fernsehprogrammen schätzt man amORF-Fernsehen insbesondere seine „Glaubwür-digkeit“ und „Aktualität“.136

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129 ORF: Informationen über die Meinungsforschung desORF. 15.05.1968 (Pressekonferenz: Ergebnisse derMeinungsforschung des ORF und die ersten Infratest-Ergebnisse).

130 Österreichischer Rundfunk Gesellschaft m.b.H.:Almanach 1969. Wien, 1969. 185 f.

131 Plasser / Ulram, Öffentliche Aufmerksamkeit, 92. 132 Die Infratest-Reichweiten wurden mittels Tagebuch

erhoben und können mit der heute verwendetenDurchschnittsreichweite des TELETEST, in die dietatsächlich gemessene Nutzungszeit eingeht, nichtverglichen werden.

133 ORF (Zehetner, Hedwig / Diem, Peter): Radio. Datenund Fakten zur Hörfunknutzung in Österreich. (=Berichte zur Medienforschung, 1/81), 2.

134 Plasser / Ulram, Öffentliche Aufmerksamkeit, 80 f. 135 Standard Eurobarometer 59, Juni 2003. Fernsehen /

Rundfunk / Presse in %: EU 15: 57 / 65 / 47; Österreich:67 / 66 / 47; Deutschland: 60 / 63 / 44; Italien: 47 / 58 /45. Plasser / Ulram, Öffentliche Aufmerksamkeit, 90.

136 Bretschneider, Rudolf / Hawlik, Johannes: Programm undAuftrag zwischen Qualität und Quote. ORF (Hg.), Wien,2001, 62-63.

Jo ADLBRECHT (1964)Mag. phil., Absolvent des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft derUniversität Wien. Seit 1993 Mitarbeiter der Abteilung Markt- und Medienforschung desÖsterreichischen Rundfunks in Wien.

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MARGARETH LÜNENBORG: Journalismus alskultureller Prozess. Zur Bedeutung vonJournalismus in der Mediengesellschaft.Ein Entwurf. Wiesbaden: VS Verlag fürSozialwissenschaften 2005, 238 Seiten.

Theorien bemessen sich an ihrem Erklärungs-wert, und die so genannte „Praxis“ besitzt andereReferenzgrößen als die Theorienbildung. Dabeiist richtigerweise zu hinterfragen, von welcherTheorieebene aus die zentralen Begriffsgrößen –im konkreten Kontext – der „Journalismus“ ver-standen werden soll. Margareth Lünenborg gehtin ihrer nun publizierten Habilitationsschrift vonder Prämisse aus, dass es zu einem Bedeutungs-wandel im Journalismus gekommen sei, und dass„diese Phänomene der Entgrenzung und Entdif-ferenzierung von Journalismus gegenüber ande-ren Formen medialer Kommunikation“ (S. 13) inden Mittelpunkt der Ausführungen gestellt wer-den müssen. Dabei wird der Journalismusbegriffauf alle Formen journalistischer Kommunikationausgeweitet und nicht nur primär – wie dieszumeist in der traditionellen Journalismusfor-schung praktiziert wird – auf den Nachrichten-journalismus bezogen. Lünenborg bemängelt,dass das „Publikum“ in der aktuellen Journalis-musforschung ausgeklammert werde und dasssich die meisten Forschungsvorhaben vor allemauf die Analyse der KommunikatorInnen undderen journalistisches Handeln beziehen. Für dieCultural Studies – die als eine unverzichtbareGröße in der theoretischen wie auch forschungs-praktisch orientierten Journalismusforschungeingefordert werden – ist Journalismus „in derselbst-reflexiven Mediengesellschaft der zentraleOrt der kulturellen Selbstverständigung einerGesellschaft“ (S. 91).

Lünenborg gliedert ihre Arbeit in übersichtlichkommentierte Kapitel, wobei es ihr – wie bereitserwähnt – einerseits um die Rolle bzw. die Exklu-sion des Publikums aus der aktuellen Journalis-musforschung geht. In weiterer logischer Folgesollen die Cultural Studies in der Journalismus-forschung verortet werden und neue Forschungs-felder gerade in Anbetracht der sich immer mehrausdifferenzierenden Mediengesellschaft be-stimmt werden. Lünenborg betont die Bedeu-tung von Narrativität im Journalismus und dieUnterscheidung zwischen Fakten und Fiktionali-sierung. Im dritten Teil versucht sie eine Bilanz

der Positionierungsmöglichkeiten von Journalis-mus in der Mediengesellschaft zu ziehen und dieKonsequenzen zu klären, die sich daraus für dieJournalistik ergeben. Wenn man sich mit denPublikationen von Lünenborg auseinandersetzt,wird deutlich, dass ihre Arbeiten (auch gemein-sam mit Elisabeth Klaus) einem roten Faden fol-gen, der sich dahingehend interpretieren lässt,dass es einer Neuausrichtung sowohl der theoreti-schen als auch der praktischen Betrachtungswei-sen von Journalismus bedarf, da die bisher ange-nommene Gleichung non-fiktional ist gleichJournalismus nicht mehr gilt. Und: durch ver-stärkte Publikumsorientierung gewinnt die Aus-einandersetzung mit journalistischer Bedeutungs-produktion an Relevanz.

Um beim Publikum zu bleiben: Dieses wird vonLünenborg zwar in einer Art Status quo-Beschrei-bung, wie es in der Journalismusforschung„behandelt“ wird, dargestellt, sie selbst unter-nimmt jedoch keinen Versuch zu definieren, wassie unter „Publikum“ versteht. Grundsätzlich ver-weist die Autorin auf die systemtheoretischeFokussierung in der Journalismusforschung undbeschreibt auch die Rolle des Publikums in dersystemtheoretischen Journalismusforschung (vgl.S. 27). Sie attestiert: „Das Publikum muss alsUmwelt des Systems Journalismus betrachtetwerden. Eine Integration der Publikumsperspek-tive in die Journalistik erscheint in einer system-theoretischen Konzipierung nicht sinnvoll mög-lich.“ (S. 31). Aber genau darum geht es auch inder Systemtheorie nicht, weil Systembildung aufBasis der Differenz erfolgt. In der Systemtheorieals übergeordnetem Theorierahmen ist das Publi-kum inkludiert und als soziales System möglich,um es inhaltlich zu fassen, bedarf es Zusatztheo-rien. Wie bei Jürgen Habermas „Zur Logik derSozialwissenschaften“ über die Systemtheorie aufSeite 373 nachzulesen ist, wird die „Erhaltung desSystems als eine Ordnungsleistung des Systemsselber im Verhältnis zu seiner Umwelt aufge-fasst“.

In der Auseinandersetzung mit dem „Publikum“und den journalistischen Produktionsleistungenstehen prinzipiell Fragen nach den spezifischenMerkmalen massenmedialer Wirklichkeit im Vor-dergrund, und die basale Frage, was in den unter-schiedlichen Konzeptionen an Einsichten in dieBewusstseinswelten der Massenmedien zu gewin-

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Rezensionen

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nen ist. (Als Stichwort formuliert: welche Sinn-stiftungen erfolgen?). Den Cultural Studies gilt der Journalismus alsBestandteil der Populär- und Alltagskultur unddaraus ergeben sich weitgehende Implikationenfür die Bewertung journalistischer Leistungen.Lünenborg geht es nun darum, eine integrativeJournalismustheorie zu entwickeln – bzw. die ein-zelnen dafür notwendigen Bestandteile aufzuzei-gen –, die Journalismus als „prozessuales Zusam-menwirken von Medienproduktion, demMedientext sowie der Rezeption und Aneignungdurch das Publikum versteht“ (S. 45). Als prakti-sches und aktuelles journalistisches Referenzsy-stem wählt Lünenborg den Fernsehjournalismus,um an dessen Formen und Funktionsvielfalt diekulturelle Selbstverständigung beschreiben zukönnen. Der Wandel der gesellschaftlichen Rea-lität erfordert eine adäquate Auseinandersetzungauch im Bereich Journalismus, der durch teilwei-se konkurrierende Betrachtungen und Teiltheori-en mit unterschiedlich hohem Erklärungs- undErkenntniswert gekennzeichnet ist. Um die Theoriefähigkeit der Cultural Studies fürdie Journalismusforschung zu verankern, schlägtLünenborg vor, „Journalismus integrativ als Pro-zess zu betrachten und dabei das Publikum alszentralen Ort der gesellschaftlichen Bedeutungs-produktion zu integrieren. Das Cultural-Studies-Projekt bietet in seiner theoretischen Anlage dasPotenzial eines solch integrativen Ansatzes, derbislang in der Journalistik noch kaum entwickeltist“ (S. 47).

Die Theoriedurchlässigkeit der Cultural Studiesnimmt Lünenborg zum Anlass, um davon ausge-hend die Erkenntnismöglichkeiten im Sinne die-ses Theorieansatzes in fünf Dimensionen zuunterteilen:• kulturorientierte Theorie: dabei geht es um

den Kulturbegriff und den spezifischen Stel-lenwert von Medien innerhalb der Kultur

• konstruktivistische Theorie: dabei geht es umdas Verhältnis von Wirklichkeit und Medien-wirklichkeit

• prozessuale Theorie: dabei geht es um denintegrativen Anspruch der theoretischen Per-spektive und seine Folgen für die Medienana-lyse

• kontext- und diskursorientierte Theorie: dabeigeht es um die erkenntnistheoretischenGrundlagen

• kritische Theorie: dabei geht es um die gesell-schaftspolitische Positionierung der CulturalStudies

Diese fünfteilige Systematik gibt für Lünenborgdie Struktur vor, um das Erkenntnispotenzial derCultural Studies für die Journalismusforschungzu bestimmen (vgl. S. 47). In der Journalismus-forschung sind bislang keine integrativen Super-theorien zur Beschreibung des Journalismus ent-wickelt worden – darum geht es Lünenborg aberauch nicht, sie stellt essentielle Fragestellungen inBezug auf die Auseinandersetzung mit dem„Journalismus“ selbst. Wichtig ist dabei auch ihr Hinweis, dass durchdie Wettbewerbssituation, die sich zwischen denöffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten undden privaten Anbietern ergeben hat, die narrati-ven und performativen Funktionen des Journalis-mus gegenüber den informativen an Relevanzgewonnen haben (vgl. S. 215). Und auch dieGlaubwürdigkeit des Journalismus steht auf demSpiel: Die zunehmende Abhängigkeit von Politik,PR und ökonomischen Determinanten führen zueiner Desillusionierung des Publikums. Um aufall die Phänomene der Entdifferenzierung, Ent-grenzung und Hybridisierung eingehen zu kön-nen, bedarf es mehr als einer systemtheoretischenAnalyse des Journalismus, „die von einer fort-schreitenden funktionalen Ausdifferenzierung derGesellschaft und ihrer Teilsysteme ausgeht, […]dieses Phänomen nicht angemessen beschreibenund erklären [kann]“ (S. 215). Auch aus demGrund, dass das Subjekt aus der Systemtheorie„verbannt“ ist, worauf auch Lünenborg beharr-lich mit Recht verweist. (Anzumerken ist in die-sem Kontext, dass auch der „Verstehensbegriff“bei Luhmann nicht an den Subjektbegriff gebun-den ist).

Das Konzept „cultural citizenship“, das Lünen-borg in die Diskussion einbringt, ist nach ihrerund Elisabeth Klaus’ Definition ein theoretischerEntwurf, der die Formen der Teilhabe an Gesell-schaft und Gemeinschaft beschreibt, die medialgeprägt sind. So beruft sie sich auch auf Marshall,der bereits 1949 ein dreigeteiltes Konzept ent-wickelte, das „civil, political und social citizens-hip“ unterscheidet (vgl. S. 71). Sie streift die The-matik und geht im Schlusskapitel (vgl. S. 218f )ein wenig ausführlicher auf die begriffliche undinhaltliche Bestimmung von „cultural citizens-hip“ ein. Hier hätte man sich eine tiefer gehendeAuseinandersetzung mit Marshall gewünscht,denn Marshall, dessen Arbeit „Citizenship andSocial Class“ (1949) bis heute die politikwissen-schaftliche Diskussion zum Thema prägt, begreift„citizenship“ vor allem als Bündel von Rechtendes Individuums, die dessen gesellschaftliche Teil-

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habe sichern sollten. Marshalls Konzept entstandwesentlich als historische Analyse und theoreti-sche Legitimation von Wohlfahrtsstaatlichkeit(„social citizenship“), die seiner Ansicht nach erstGleichheit vor dem Gesetz („civil citizenship“)und politische Teilhaberechte („political citizens-hip“) absichert. Kulturelle Homogenisierungdurch den Nationalstaat und hier insbesonderedie allgemeine Schulpflicht sind für Marshall zen-trale Voraussetzungen für die allgemeine Akzep-tanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherung, da erst einegemeinsame materielle Kultur die kulturellenKlassenschranken des Kapitalismus überbrückenkann und jene nationale Solidarität sicherstellt,die Wohlfahrtsstaatlichkeit legitimiert. Damitändert sich das Verhältnis zwischen Bürger undStaat radikal: Ist dieser im liberalen Nachtwächt-erstaat primär Untertan, so entsteht durch dieAusformung der drei Dimensionen von citizens-hip eine qualitativ neue Form der Zugehörigkeit,die nicht mehr auf Unterwerfung, sondern aufrechtlicher Gleichheit und sozialer Sicherheitberuht.

In diesem Kontext erschließen sich Fragen wie:„Was heißt Bürgerschaft im Reich der Zeichen?”(Bernhard Perchinig) – eine von Marshall igno-rierte Dimension. Und darauf verweist Lünen-borg in ihrer Argumentation. Dabei geht es vorallem auch um die kulturelle und begrifflicheHegemonie in einer Gesellschaft. Sah Marshalldie kulturelle Homogenisierung durch denNationalstaat prinzipiell positiv, so stellt sichheute die Frage, wie im Kontext von Globalisie-rung und internationaler Migration kulturelleTeilhabe an einem nationalen Zeichensystemmöglich ist und ob dies tatsächlich mit der Auf-gabe der eigenen Sprache und Kultur zu erkaufenist. Die Erschließung eines kulturellen sprachli-chen Rahmens steht also zur Disposition, dennwer Zugang zum politischen oder in weitererFolge auch medialen System haben möchte, wirdin seiner Rolle als WählerIn oder ZuschauerInund StaatsbürgerIn inkludiert. Und darauf mussnotwendigerweise auch der „Journalismus“ rea-gieren.

Lünenborgs Arbeit oszilliert zwischen berechtig-ten normativen Ansprüchen und den Möglich-keiten und Grenzen empirischer Praktizität, sieformuliert „spannende“ und herausforderndeFragestellungen, mit denen sich auch die Kom-munikationswissenschaft beschäftigen muss.

Petra Herczeg

THYMIAN BUSSEMER: Propaganda. Konzepteund Theorien. Mit einem Vorwort vonPeter Glotz. Wiesbaden: VS Verlag fürSozialwissenschaften 2005, 443 Seiten.

Als 1950 ein Stuttgarter Verlag den in den USAbereits Ende der zwanziger Jahre erschienenenBestseller des Werbefachmanns Claude C. Hop-kins unter dem Titel: „Propaganda. MeineLebensarbeit. Die Erfahrungen aus 37-jährigerAnzeigen-Arbeit im Werte von vollen100.000.000 Dollar für amerikanische Groß-Inserenten“ in einer deutschen Übersetzung her-ausbrachte, fühlte sich der Verlag veranlasst, demBuch ein Glossar beizugeben, worin umständlicherklärt wurde, dass Hopkins mit Propagandanatürlich nicht das meine, was man im deutschenSprachraum darunter verstehe, sondern aus-schließlich Tätigkeiten im Bereich der Wirt-schaftswerbung und des Marketings. Säuberlichwurde in diesem Beiblatt alles, was nach „Propa-ganda“ schmeckte, übersetzt und in die nunangesagte, anscheinend unverdächtige weil alsideologiefrei gehandelte Werbesprache übersetzt.

Der Fall lässt lief blicken, auch wenn die Beflis-senheit des Verlags, der Not der Umstände gehor-chend, Begriffsklärungsarbeit zu leisten, so kurznach Joseph Goebbels besonders verständlichanmutet. Der Fall offenbart aber auch eine exem-plarische, bis heute höchst aktuelle Seite, nichtzuletzt seit die Kommunikationspolitik der US-Administration im Irak-Konflikt Züge offenbarthat, die an Stilfiguren abgelebter Propagandaepo-chen nur allzu deutlich erinnern, angefangenvom aus NS-Zeiten sattsam bekannten Frontbe-richterstatter (wiederauferstanden als „embeddedjournalist“) oder die präjudizierende Zeichnungvon „Gut“ und „Böse“ in den veröffentlichtenPresse- und Bildberichten. Der Fall Irak zeigt,dass allein mit der Nennung des Wortes „Propa-ganda“ automatisch und nach wie vor ein Defini-tionsdilemma im Raum steht, das gewaltigeBereiche geisteswissenschaftlicher Forschungenbetrifft und letztendlich in ihren Erkenntnisbe-strebungen nachhaltig belastet – angefangen vonder Politikwissenschaft über die Kommunikati-onssoziologie, die Gesellschafts-, Kultur- undMentalitätsgeschichte, die Alltagsästhetik undIkonographie, die Ideengeschichte, die Philoso-phie, ja am Ende gar die Theologie.

Um es uneingeschränkt und in aller Deutlichkeitzu sagen: Thymian Bussemer hat mit seinemBuch „Propaganda. Konzepte und Theorien“

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jetzt eine für fast alle der genannten Wissen-schaftsdisziplinen wertvolle Grundlagenuntersu-chung abgeliefert. Sie wird für lange Jahre Maß-stab und Nachschlagewerk bleiben, wo immer esum die Aufarbeitung und Bewertung politischmotivierter Massenbeeinflussung geht. Für dieweitere Forschung steht mit dieser Arbeit erstmalseine lange entbehrte systematische Darstellungpropagandistischer Theorien in Hinblick aufderen Abhängigkeit bzw. Einfluss auf gesell-schafts-ideologische Konzepte als auch auf diedamit einhergehende Fortentwicklung der Mas-senkommunikationstechnologie selbst zur Verfü-gung.

Generell ist Propaganda für Bussemer ein „Dis-kurssystem im 20. Jahrhundert“ (S. 11ff.), dassich durch fünf „Verwendungen in unterschiedli-chen Theoriekonzepten (S. 32ff.) beschreibenlässt. Nach ihm könne ein „polemisches Ver-ständnis von Propaganda“ unterschieden werdenvon einem „kurzfristig-taktischen“ und einem„Kampagnenverständnis“; ebenso könne Propa-ganda als „primäre Integrationsagentur derGesellschaft“ sowie als „Normalmodus gesell-schaftlicher Kommunikation“ aufgefasst werdenund dementsprechend fungieren.

Im Folgenden gliedert Bussemer seine Arbeit indrei historisch strukturierte Hauptkapitel, diezugleich den Weg der Propagandakonzepte durchdas 20. Jahrhundert weisen. Die erste Phase, diemit dem Zusammenbruch des NS-Systems endet,begreift Bussemer unter dem Massenparadigma.Es bestimmte vor allem die Propagandapraxistotalitärer Systeme und beinhaltete immer aucheinen Reflex auf das vorherrschende Men-schenbild, nach dem „die Masse“ der Menschenletztlich ein durch die subtilen Strategien einerMachtelite steuerbares Etwas sei. Theoretiker wieJohann Plenge oder Hans Domizlaff , derenexemplarische Aussagen Bussemer unter derÜberschrift „Frühe deutsche Theoretisierungen“rekapituliert, legten in den zwanziger und dreißi-ger Jahren die theoretischen Grundlagen diesesMassenparadigmas. Mit dem Aufkommen derempirischen Sozialforschung Ende der dreißigerJahre in den USA (Lazarsfeld, Lasswell u.a.) neig-te sich die erste Phase ihrem Ende zu. Ihre politi-sche Relevanz zeigte sich aber erst nach der Been-digung des Zweiten Weltkriegs, die Bussemer als„die empirische Wende“ benennt und charakteri-siert. Propaganda bekommt nun einen anderenStellenwert und ist fortan ein Instrument derSozialtechnik. Die dritte, letzte und bis heute

andauernde Phase von Propaganda definiert Bus-semer als „pluralistisch“; in ihr werde der Begriffzu einem integralen Bestandteil der Moderne.

Am Ende seiner Untersuchung stellt ThymianBussemer Fragen nach dem Verhältnis von Pro-paganda und Demokratie sowie zur Aktualitätdieses Kommunikationsdiskurses in komplexenund offenen Gesellschaften schlechthin: „HatPropaganda ausgedient?“ Seine Zukunftsein-schätzung fällt unter dem Strich positiv aus: „Pro-paganda als Kommunikationstyp stellt in Demo-kratien nach wie vor eine latente Bedrohung derfreien Willensbildung dar, doch bislang hat diedemokratische Öffentlichkeit auf lange Sicht stetsüber die Macht der Propaganda triumphiert.“(S. 413)

So verdienstvoll Ansatz und Durchführung derBussemerschen Arbeit auch sind – der von ihrausgehende Zugewinn an Klarheit und Ordnungfür zahllose kommende Arbeiten und Fallstudienkann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden –, es stellen sich doch einige Fragen, dienicht zuletzt dem verzwickten Thema Propa-ganda selbst geschuldet sind.

1.)Es ist sicherlich eine Kardinal-Frage, ob man,wenn der Propaganda-Begriff so diskursiv dis-kutiert wird wie dies im vorliegenden Fallgeschieht, die mit ihm einhergehenden be-lastenden Konnotationen in den Titel desBuches aufnehmen kann oder muss. Bussemerhat sich dafür entschieden und damit demPropagandabegriff selbst kategoriale Weihenerteilt. Andere haben – eben aus dem Wissenum die Fragwürdigkeit des Begriffs – von des-sen Verwendung in dieser Form bewusst abge-sehen. Für die Forschung ist der Umstand,dass viele Bücher, die von Propaganda (bzw.PR) handeln, den Begriff bewusst nicht imTitel tragen, sicherlich ein Wahrnehmungs-problem. Stefan Stosch etwa hat sich in seinemsehr aufschlussreichen Buch über die Propa-gandaorganisation des Hans Edgar Jahn „DieAdenauer-Legion. Geheimauftrag Wiederbe-waffnung“ von 1994 dagegen entschieden.Auch Volker Ilgen und ich haben uns in unse-rer Untersuchungen über die Beeinflussungs-aktivitäten der Unternehmerorganisation „DieWaage“ in den fünfziger und sechziger Jahrendarauf geeinigt, das präjudizierende Wort Pro-paganda zu meiden und das Buch schlicht(und neutral) mit „Werbung für die sozialeMarktwirtschaft“ überschrieben – obwohl es

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von der Sache her um nichts anderes als PR-bzw. Propagandaaktivitäten – deren Unter-schied zudem in einem längeren Kapitel dis-kutiert wird – ging. Ähnliches gilt für eineUntersuchung wie Peer Heinelts „PR-Päpste“und viele andere mehr. Die Folge für einenPropagandadiskurs wie den von Bussemer vor-gelegten ist, dass solche Untersuchungenimmer wieder einmal aus dem Fokus fallen –was eigentlich nicht sein dürfte.

2.)Von der Sache her bedient sich die Beeinflus-sungs-Technik Propaganda keiner anderenKommunikations-Theorien und -Strategienals die Werbewissenschaft auch. Konsequen-terweise gehörten eigentlich auch deren Kon-zepte wie beispielsweise das Gesamtwerk desWerbefachmanns Johannes Weidenmüller(1881-1936) zum Propagandadiskurs. Auchhier verhindert der kategoriale Gebrauch desPropaganda-Begriffs offenbar die Rezeptionwichtiger Theoriebausteine. Dies ist umso ver-wunderlicher, da seit jeher die Praxis der Wirt-schaftswerbung selbst jenseits dieser theoreti-schen Differenzierungen arbeitet. Zwangsläu-fig machen Werbefachleute immer wieder ein-mal Propaganda (resp. das, was gemeinhin alsPR bezeichnet wird): es müssen nur die Zeitenschlechter werden. Schon die Ankündigungeiner Mobilmachung reicht aus, um Heerscha-ren von ihnen von einer auf die andere Minu-te zu Propagandaspezialisten zu befördern.Julius Pinschewer etwa, der Erfinder des deut-schen Werbefilms, wurde so vom Werber fürMaggi und Autoreifen zum Propagandistenfür Kriegsanleihen. In diesem Punkt bedarf dieBussemersche Untersuchung einer Ergänzungdurch den werbewissenschaftlichen Diskurs,wie ihn etwa Claudia Regnery über dessenEntwicklung zwischen 1900 und 1945unlängst vorgelegt hat.

Natürlich hätte Thymian Bussemer selbst auf die-sen Gedanken auch kommen können. Schließ-lich haben mit Johann Plenge und Hans Domiz-laff zwei seiner Propaganda-Protagonisten auch inder Wirtschaftswerbung deutliche Spuren hinter-lassen: Plenge durch seine werbetechnische Bera-tung der Roseliusschen Kaffeemarke HAG undDomizlaff als der Erfinder und Betreuer Reemts-mascher Zigarettensorten.

Aber vielleicht erscheint die (Wieder-)Zusam-menführung von Werbe- und Propagandatheorieim Augenblick noch etwas viel verlangt. Noch

immer scheinen wir also auf Beipackzettel wieden eingangs zitierten angewiesen zu sein. Plengeselbst war da schon wesentlich weiter. Er hat Pro-paganda als System unmittelbarer Lebensäuße-rungen zu fassen und zu definieren versucht, ganzim Sinne eines Watzlawickschen „Man kannnicht nicht kommunizieren.“

Dirk Schindelbeck

DIETER PROKOP: Das Nichtidentische derKulturindustrie. Neue kritische Medien-forschung über das Kreative der Medien-Waren. Köln: Herbert von Halem Verlag2005, 107 Seiten.

Auf Basis des analytischen Instrumentariums derKritischen Theorie Horkheimers und Adornos„im Schutt der Waren nach Wahrheit wühlen“(S. 90) – diese vermeintliche Quadratur des Krei-ses gelingt Dieter Prokop, indem er den kriti-schen Weg der beiden zentralen Protagonistender Frankfurter Schule erweitert und wenigerrezipierte Versatzstücke dieser Denktradition insZentrum rückt. Naturgemäß entsteht eine sol-cherart gemeisterte Verfeinerung eines historischso maßgeblichen Werks wie der „Dialektik derAufklärung“ nicht von heute auf morgen. DieterProkop, Professor für Soziologie und Medien amFachbereich Gesellschaftswissenschaften derJohann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt,entwickelt seine Forschungsstrategie seit rundzwei Jahrzehnten. Die hier vorliegenden Kon-struktionsanleitungen für sein theoretischesGebäude wurden anno 2002 und 2003 in der„Zeitschrift für kritische Theorie“ abgedruckt.Für Leser der seit 2001 im Jahreszyklus erschei-nenden Buch-Publikationen Prokops, beinhaltendie Texte kaum Neuigkeiten. Ergänzt und aktua-lisiert, versehen mit einem Vorwort, das – für denAutor nicht untypisch – spitze Pfeile des Wider-spruchs hier in Richtung Wissenschaftspolitikabschießt, stellen diese beiden Aufsätze vielmehreine optimale Einstiegslektüre für ein tieferes Verständnis der umfangreichen Monographiendes Begründers der neuen Frankfurter Schule dar.

Schon mit dem Titel seines ersten Beitrags „Dia-lektik der Kulturindustrie“ zeigt Prokop auf, woseine Kritik an den Klassikern der FrankfurterSchule ansetzt. Die Kulturindustrie wird alleinnegativ stigmatisiert, die dem Denkprinzipimmanente Logik, dem Für auch ein Wider ent-

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gegenzusetzen, wird in diesem Kontext nicht bei-behalten. 1944 im amerikanischen Exil kulminie-ren die Eindrücke Adornos und Horkheimers zueiner vernichtenden Diagnose, die gleich einemDogma in der weiteren Arbeit perpetuiert wird.„In der Tat ist es der Zirkel von Manipulationund rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Ein-heit des Systems immer dichter zusammensch-ließt.“ (S. 35) Die neue kritische Kommunikati-onsforschung eröffnet eine erheblich differenzier-tere Sicht der Dinge: Prokop stellt dem „Einer-seits“, das alle Kulturindustrie kapitalistischenZwängen unterwirft, ein „Andererseits“ an kreati-ven Möglichkeiten, einen kleinen Spielraum anFreiheit innerhalb der profitorientierten Produk-tionsmechanismen entgegen. Eine zentraleBegrifflichkeit mit der er arbeitet, ist die aus derMarx’schen Lehre stammende „Tauschabstrakti-on“, die ihre reine Verkörperung im Geld findet.Die Entsprechung des Monetären in der Medien-realität sind spezielle, (mehr oder weniger langwirksame) erfolgreiche Inszenierungen für die derAutor den Begriff „abstraktive medienkulturelleMuster“ einführt. (vgl. S. 30) Er geht die qualita-tive Abwärtsspirale gemeinsam mit Adorno einStück weiter und ortet in den Medien-Komple-xen das Bestreben nach Entmachtung des Publi-kums durch Trennung der Gefühle vom Verstandder Rezipienten (vgl. S. 34). Wenn Adorno eben-so wie Marx aber zur Fetisch-Metapher als Aus-druck der Verblendung greift, trennt sich Prokopvon seinen Wegbereitern, entzaubert zuerst diemystifizierende, dramatisch-pathetische Spracheund führt sie zurück auf eine rationale Ebene.Aus dem – „gläubige Wilde“ implizierenden –Fetisch-Begriff wird der wissenschaftlich weitauspraktikablere Terminus „professionelle Deforma-tion“ respektive „verabsolutiertes Paradigma“(S. 42). Im Anschluss daran leitet er zu seinem„Andererseits“ über, das dem Subjekt sehr wohlMomente der Freiheit attestiert. Unerwarteter-weise stammt das theoretische Fundament dafürneuerlich aus den Schriften Adornos, konkret ausdessen musiksoziologischen Überlegungen.Darin ortet er ein kreatives Potenzial, „Produkti-vkräfte“ genannt, das sich inhaltlich der Standar-disierung, Typisierung und damit Subjektwer-dung entzieht. (vgl. S. 46) Eben diese „Produkti-vkräfte“ überführt Prokop wieder in sein medien-kritisches Instrumentarium und wendet sie amPopulären an. Seine Analyse liefert Elemente desSchreckens und der Katharsis in Quizshows underkennt in der Trashkultur eine Form des Wider-spruchs mitten in der Kulturindustrie, eine mut-willige Bejahung des Kommerziellen, die gleich-

zeitig ein Erkennen der Tauschwert-Mechanis-men impliziert.

Im zweiten Aufsatz schärft Prokop sein medien-kritisches Werkzeug, indem er das „Identische“wie das „Nichtidentische“ abgeleitet aus Adornos„Negativer Dialektik“ in seine Theorie einfließenlässt. „Das ,Nichtidentische’, dabei geht es nachAdorno um ,das Objekt‘, das mit den Identifizie-rungen, vor allem den instrumentellen Begriffen,die man über es bildet, nicht übereinstimmt, aus-geschlossen wird.“ (S. 61) In der Kunst wie in derWissenschaft sollte dieses „Nichtidentische“ eineAusdrucksform finden. Allein diese beiden Syste-me eröffnen dem „Nichtidentischen“ Zugangs-möglichkeiten in die Gesellschaft, womit es umwahr zu werden den Prozess der Identifikationdurchlaufen muss. Prokop wähnt, seinen neuenkritischen Weg einschlagend, das „Nichtidenti-sche“ nicht so sehr in elitären, intellektuellenoder avantgardistischen Bereichen des Medienbe-triebes. Vielmehr sondiert er – getragen von derÜberzeugung der Existenz kritischer Elemente,die nicht Opfer, sondern Akteure innerhalb derStrukturen sind – die Kulturindustrie. Er suchtnach dem Subjekt, das in Kenntnis seines Waren-charakters und der kapitalistischen Mechanismendennoch Widerspruch übt und dadurch Autono-mie gewinnt. Kurzum: „Nicht in Richtung,Nichtidentisches’ oder ,Differenz‘ allein kannsich der dialektische Analytiker – der ja nicht aufKonzern- und Cliquen-Ideologien hereinfallenwill – bewegen, sondern er muss im Falschen, inIdentität, die Spur des darin enthaltenen Richti-gen suchen.“ (S. 77) Sein weiteres Vorgehenbezeichnet er als „Münchhausen-Kunststück derKritik“ (S. 79), er changiert zwischen der Innen-und der Außensicht, versucht gleichzeitig „außerden Sachen“ und „innerhalb der Sachen“ zu sein(S. 81). Wie diese Analyse im Wechselspiel derPerspektiven erfolgen kann, wie seine Wühlarbeitim Schutt aussieht, exemplifiziert Prokop anhanddes Beispiels „Dschungelshows“.

Sein eingangs geäußertes Versprechen, trotz demselbst formulierten Anspruch eine theoretischeOrientierungshilfe zu liefen, dennoch „keine Eis-wüste der Abstraktionen“ zu durchlaufen, hältder Autor verlässlich ein. Dieses kleine, – im Her-bert von Halem Verlag mittlerweile wenig über-raschend – schön gemachte Bändchen, legt kom-plexe Zusammenhänge nachvollziehbar dar undbedient sich einer wortgewandten wie amüsantenSprache. Die bereits erwähnten, für den Autorcharakteristischen Seitenhiebe treffen leider nicht

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nur das neue Management der europäischen Uni-versitäten. Prokop feuert auch auf so manchesTheoriegebäude, das droht auf seinen Baugrundzu ragen, wahre Salven ab. Wenn aus gezieltenSpitzen blindwütige Hiebe werden, erfährt dieLesefreude eine Trübung.

Gaby Falböck

REINHARD SCHLÖGL: Oskar Czeija. Radio-und Fernsehpionier, Unternehmer, Aben-teurer. Wien: Böhlau Verlag 2005, 218Seiten.

„Lasst die Pioniere leben“ – mit diesem Zitat vonChristiane Lohner-Czeija, der Tochter OskarCzeijas, beginnt der Streifzug durch dessenbewegtes Leben. Oskar Czeija ist als Gründer underster Generaldirektor der RAVAG, der Radio-Verkehrs AG, eng mit der Geschichte des Rund-funks in Österreich verbunden. Nichtsdestotrotz,so der ehemalige ORF-Hörfunkintendant Man-fred Jochum im Vorwort, ist Czeija ein Mann„der bisher viel zuwenig gewürdigt worden ist“(S. 9).

Die vorliegende Biografie, zu großen Teilen einKonglomerat aus Extrakten von Reden OskarCzeijas, sowie Briefen und Aussagen von Beteilig-ten, wie etwa Paul Bellac, Chefredakteur der Pro-grammzeitschrift „Radio Wien“ oder dem späte-ren Programmdirektor der RAVAG, RudolfHenz, soll Abhilfe verschaffen. Informationsquel-le bei den Recherchen waren unter anderemInterviews mit Czeijas Tochter Christiane sowiedie Werke von Viktor Ergert und Theodor Venus. Reinhard Schlögl, der sich schon im Vorfeld mitder Thematik beschäftigt hat (siehe auch sein Bei-trag „Sturm- und Drangzeit des Radios“ zusam-men mit Joseph Braunbeck im Sammelband vonHaimo Godler, Manfred Jochum, ReinhardSchlögl, Alfred Treiber (Hg.): Vom Dampfradiozur Klangtapete. Beiträge zu 80 Jahren Hörfunk inÖsterreich. Wien: Böhlau Verlag 2004, S. 11-31;Rezension in medien&zeit Heft 3/2004, S. 77-79), schafft es, das „Radiofieber“, den „wirelesscraze“ (S. 53) der damaligen Zeit zu rekonstru-ieren. Die Faszination rund ums Radio, das„Wunder Radio“, und DASS man etwas hörte,war in vielen Fällen wichtiger als WAS manhörte. (S. 59)

Czeija, der sich für die Realisierung des Projektes„Radio“ sogar mit eigenen finanziellen Mitteln

vehement eingesetzt hatte, beschritt den mühsa-men Weg eines Pioniers und machte das anfäng-lich belächelte Medium in Österreich salonfähig.Nach zahlreichen zu überwindenden bürokrati-schen wie rechtlichen Hürden ging die RAVAG,geführt nach dem „Konzept eines Monopolrund-funks nach gemeinschaftlichen Grundsätzen“ (S.37), am 1. Oktober 1924 „on air“. Hauptaugen-merk legte Czeija dabei auf niedrige Teilnehmer-beiträge um „sich rasch in den breitesten Schich-ten Eingang zu verschaffen“ (S. 38) ohne dabei,wie er stets betonte, eine politische Schlagseite zubekommen. Wo Czeija politisch zu verorten war,wird nicht näher behandelt, denn primär fokus-sierte er seine Bemühungen auf technische Neue-rungen und postulierte, „dass sich die Politik ausdem Rundfunk herauszuhalten habe“ (S. 161).Von den Nationalsozialisten als PU, „politischunzuverlässig“, eingestuft und am 12. März 1938von seinen Ämtern enthoben und fristlos entlas-sen, versuchte Czeija nach Kriegsende wiederdort weiterzumachen wo er aufgehört hatte. ImNovember 1946 wurde ihm von der „Volksstim-me“ Parteianwärterschaft der NSDAP vorgewor-fen; eine Anschuldigung, die sich weder eindeutigbelegen noch widerlegen ließ, jedoch zum zwei-ten Mal das Ende für Czeijas Karriere beimRundfunk bedeutete. Schlögl versucht mit Aus-zügen aus Briefen an Czeija, beispielsweise vonSektionschef Otto Skrebensky des damaligenBundesministeriums für Unterricht (S. 173f.),dessen Unbescholtenheit zu argumentieren.

Erwähnenswert sind nicht nur Czeijas Ambitio-nen in punkto Radio, sondern auch die von ihmvorangetriebenen Versuche im Bereich „Bild-funk“. Zahlreiche Erfindungen wurden von ihmforciert, wie der „Fultograph“ (S. 77), mit dessenHilfe digitale Bildinformationen mittels Radio-wellen übertragbar gemacht wurden. Die 1940von ihm gegründete „Oskar Czeija KG“ vertriebwiederum eine andere bedeutende Invention: das„Azofor – Lichtpauspapier“ (S. 136). Aus deroptimierten Version dieses „Verfahrens zur Her-stellung von fotografischen Halogensilberemul-sionen“ (S. 137) entwickelte sich das Fotopapier.Zusammen mit dem Physiker Hans Thirring ent-wickelte Czeija das „Selenophon-Verfahren“ undgründete eine gleichnamige Firma. Mit „Seleno-phon“, einem Lichtband, das als Vorläufer desMagnettonbandes anzusehen ist, versuchte er mitErfolg „Tonfilme“ (S. 89) zu drehen und setztedamit erste Schritte in Richtung Bildaufnahme-technik und Fernsehen. Im März 1938 kam eszur Auflösung des Unternehmens durch das

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nationalsozialistische Regime und Czeija wurdegezwungen, sämtliche im Besitz der „Seleno-phon“ befindlichen Rechte zum Preis von einerReichsmark je Patent an „Tobis“ zu übertragen(S. 96).

Summa summarum ist diese Biografie über OskarCzeija eine angenehm zu rezipierende Lektüre,die zwar die detaillierten Quellenangaben derangeführten Zitate oft vermissen lässt, aber nichtüber den Gebrauchswert des Werks hinwegtäu-schen soll. Vielmehr dient der zusammengestellteÜberblick, illustriert mit reichlich Bildmaterialund der beigelegten CD mit Tondokumentenzum Buch, vortrefflich einer ersten Orientierungim Bereich Radiogeschichte in Österreich.Schlögl thematisiert jedoch nicht nur die FigurCzeija als Radio- und Fernsehpionier, sondernzeigt ihn auch als Geschäftsmann, als vom Erfin-dungsgeist beseelten Idealisten und durch widrigepolitische wie gesellschaftliche Barrieren stets amFortschritt gehinderten Visionär.

Gisela Säckl

ALEXANDER C.T. GEPPERT, UFFA JENSEN, JÖRN

WEINHOLD (HG.): Ortsgespräche. Raumund Kommunikation im 19. und 20. Jahr-hundert. Bielefeld: transcript 2005, 378Seiten.

„To everything – turn turn turn.“ So lautet dieRefrainzeile eines Liedes von „The Byrds“ ausdem Jahre 1966. Es ist nicht anzunehmen, dassdieses Lied konstituierenden Einfluss auf dieDenkrichtung von Sozial- und Kulturwissen-schaftern genommen hat, und dennoch findensich in den letzten Jahren vermehrt Schriften, dienach linguistic turn, iconic turn, pictorial turn undzahlreichen weiteren turn-Übungen nun vomspatial turn – der Hinwendung zur Räumlichkeit,der Wiederentdeckung des Faktors Raum – spre-chen. Man würde den Fragen und Antworten, diediesen spatial turn kennzeichnen, Unrecht tun,würde man denken, der Raum sei nun an derReihe, weil es nach und nach – und durch Sta-gnation im Wissensfortschritt befördert – wievon den Byrds besungen, eine Hinwendung zuallem geben würde. Die Raumnahme machtSinn, und die Renaissance, die Raum und imBesonderen auch die Diskussion seines Zusam-menhangs mit Kommunikation, erfahren, ist dieBesinnung auf ein aus unterschiedlichen Grün-den (die negative Belastung des Begriffes, seine

spezifische Verwendung im Nationalsozialismussei nur als ein Beispiel genannt) lange Zeit ver-nachlässigtes Parameter der sozialen Strukturie-rung.

Die „Ortsgespräche“, dieser in der Reihe „ZeitSinn Kultur“ erschienene Band, gehen auf dieletzte eines Zyklus von drei Tagungen zurück, dervon den Herausgebern konzipiert und organisiertwurde. Unter dem alliterativen Titel „Verklärung,Vernichtung, Verdichtung: Raum als Kategorieeiner Kommunikationsgeschichte des 19. und 20.Jahrhunderts“ wurden dabei zweierlei Ziele ver-folgt. Als sehr konkreten Anspruch galt es, diewiedergefundene Kategorie des Raumes durchtheoretischen Rück- und Zugriff auf benachbarteDisziplinen, die bereits profilierter mit demRaumbegriff hantieren, davor zu bewahren, zumreinen Modeetikett zu verkommen und die wis-senschaftliche Anschlussfähigkeit an dieGeschichtswissenschaft zu gewährleisten. Daszweite Ziel bestand darin, die These zu verfesti-gen, wonach es sich in der Phase von 1880 bis1960 um eine „massenmediale Sattelzeit“ handel-te, in deren Verlauf es zu einem fundamentalenWandel von Kommunikationsstrukturen undWirklichkeitsvorstellungen gekommen sei undambitionierter noch, nicht nur mit einem weite-ren Tagungsband den Büchermarkt zu verstopfen– wie es im Vorwort, das Jörn Rüsen dem Bandgewidmet hat, heißt – sondern einen „Bausteinfür eine zukünftige Kommunikationsgeschichteder Gesellschaft“ (S. 10) zu liefern. Ein großesVorhaben, das von wissenschaftlichem Feuerzeugt, ein Feuer in dem der besagte Baustein invier thematischen Abschnitten zu je drei Aufsät-zen gebrannt wird. So wird deutlich, wie vielsei-tig die Betrachtungsmöglichkeiten sind, die sichunter Einbeziehung eines Raumdenkens für dieWissenschaft ergeben, zugleich offenbart sichallerdings auch, welch Sorgfalt vonnöten ist, umin der Vielzahl möglicher räumlicher Bezüge vonKommunikationsprozessen und den ebenfalls inFülle stehenden unterschiedlichen Konzeptionenvon „Raum“ nicht den Überblick zu verlierenoder konkurrierende Denkmuster zu vermengen. Hilfestellung bietet hier die umfassende Einlei-tung der Herausgeber „Verräumlichung. Kom-munikative Praktiken in historischer Perspektive,1840-1930“, die zugleich als hochkonzentrierteEinführung in den gesamten Themenkomplexgelesen werden kann. Ausgehend von einer Mah-nung, Raum nicht nur als neues „sexy label“ zusehen, das Theoretisierungsverweigerern helfenmag, die theoretischen Prämissen des Diskurses

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zu umgehen und sich auf eine vermeintlicheMaterialität außerhalb der Theoreme zu bezie-hen, sondern an der Entwicklung eines Raumbe-griffes zu arbeiten, der relativ, relational und vorallem nicht substantialistisch sein soll, erläuternsie beispielhaft die Kernthese des Bandes: Räumestrukturieren Kommunikation, werden aberselbst erst kommunikativ, durch die kommunika-tive Ein- und Zuordnung, geschaffen. Histori-sche Akteure kommunizieren immer im Raumund über Raum, während sie dabei selbst fort-während neue Raumbezüge herstellen undRaummuster erschaffen (vgl. S. 28). Dargestelltwird dies insbesondere anhand der raumgestalte-rischen Innovationskraft technischer Entwicklun-gen wie Eisenbahn, Telegraph, Automobil undTelefon. Erst durch die Überbrückbarkeit desRaumes wurde dieser zum wichtigen Gegenstandder Kommunikation. Zugleich wurden gänzlichneue Kommunikationsräume – bei der Eisen-bahn etwa die Bahnhöfe oder als Ort sozialerDurchmischung besonders spannend das Eisen-bahnabteil – geschaffen, die neue Kommunikati-onsregeln und -inhalte beförderten. ZwischenEntbettung aus lokalen Bezugssystemen und derversuchten Rückbettung in diese sicheren Syste-me werden drei Gegensatzpaare ausgemacht, dieals „zentrale Fluchtpunkte für die Sattelzeitmoderner Kommunikationsgeschichte gefasstwerden“: Variabilität und Standardisierung,Exklusion und Inklusion sowie Utopisierung undVerlusterfahrung.

Direkt an diese Einführung knüpft der Abschnitt„Raumkonzeptionen“ an, der von AlexanderMejstrik mit „Raumvorstellungen in denGeschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften.Epistemologische Profile“ eröffnet wird. SeinenAusgangspunkt bildet die Feststellung, dassGeschichte zwar üblicherweise für Fragen derZeit als zuständig betrachtet würde, die histori-schen Ereignisse aber durchweg lokalisiert seienbzw. räumliche Entsprechungen fänden. Dieseräumliche Organisiertheit mag zwischen der kon-kreten (Region, Stadtraum, Kulturraum) und derabstrakten (Gesellschaftspyramide, Milieu,Umfeld, Schichtung, Zonierung) changieren, derverörtlichte Bezug jedoch ist evident. Der Aufsatzstellt einen Versuch dar, in der Vielfalt von mög-lichen relevanten Raumvorstellungen derart Ori-entierung zu schaffen, als dass diese Raumvorstel-lungen kontrolliert als Angebote für Erklär- undBelegkonstrukte zur Erfassung historischer Ereig-nisse verwendet werden können. Raumvorstel-lungen, durch den Filter von Animismus, Realis-

mus, Rationalismus und Surrationalismus bese-hen, werden je für sich beschrieben, der Schlussführt die vier epistemologischen Profile jedochzusammen, denn für ein konkretes Raumprofilmüssen alle vier Profile eruiert werden, auchwenn einzelne in der konkreten Situation auchnur als nichtig angenommen werden. „Bemer-kungen zum Wandel geographischer Raumkon-zepte im ausgehenden 20. Jahrhundert“ lässtJudith Miggelbrink in „(Un)Ordnungen desRaumes“ folgen. Während Zeit, nicht zuletztdurch Luhmannsche Systemtheorie zur Antriebs-feder oder zum Entwicklungsprinzip einesdiachronen Prozesses innerhalb dessen Gesell-schaft erst möglich ist, erhoben wurde, wurde derRaum gleichermaßen zu einem äußerlichenBegleitumstand herabgesetzt. Gesellschaft, soweitist die Feststellung noch recht offensichtlichgehalten, findet jedoch immer im Raum statt,wobei Raum kein äußerer Behälter für Gesell-schaft ist, sondern innerhalb der Gesellschaftanzusiedeln ist, in der Gesellschaft erst durchKommunikation konstruiert wird und nichtbegrenzend oder umhüllend, sondern hoch funk-tional und auf die Gesellschaft einwirkend ist.Miggelbrink zeigt, dass es dabei nicht entschei-dend ist, ob Raumkonzepte und räumlicheZuschreibungen, die dabei verwendet werden,physikalisch haltbar oder in sonstiger Weise„wahr“ sind, sondern es vielmehr daraufankommt, wie örtliche Zuschreibungen Orientie-rung schaffen, Interpretationen vorbereiten oderDiskurse lenken. Ein Gedanke, der auch im fol-genden Beitrag von Antje Schlottmann wiederaufgegriffen wird, wenn sie das an ein Raumkon-zept gebundene Festhalten an Wertevorstellun-gen, wie in der Unterscheidung von Ost- undWestdeutschland, ausführt. Ebenso wie sich etwaim Wahlkampf Interesse an einer bestimmtenRegion, beispielhaft wird wieder auf Ostdeutsch-land verwiesen, nur dann glaubhaft vermittelnlässt, wenn auch die räumliche Nähe gesuchtwird, das Interesse durch ein An-Den-Ort-Bege-ben unterstrichen wird. Nach Schlottman gilt es,und diese Sichtweise hat Potenzial, künftig bei-spielhaft zu wirken, falsche Fragen zu überwin-den. Falsche Fragen wären etwa jene nach demWo und auch jene nach der Geschichte von Räu-men. Vielmehr müsste die alltägliche Historisie-rung, die kommunikative Nutzung, die Frage wasmit den reifizierten Containerräumen gemachtwird, welche Bedeutung sie in der „Kommunika-tion über den Raum“ erhalten, an Beachtunggewinnen. Der zweite Abschnitt des Buches gehteinen Schritt Richtung Exemplifizierung und

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beschreibt „Techniken kommunikativer Raumer-schließung“. Alexander Honold widmet sich ineinem, mit dem Bindfaden der Literatur gewobe-nen, Mosaik der Ressource Raum („Pfadfinder.Zur Kolonialisierung des geographischenRaums“), Christian Holtorf beschreibt dieModernisierung des nordatlantischen Raumesdurch die Etablierung des submarinen Telegra-phennetzes. Beschlossen wird dieser zweiteAbschnitt von Werner Konitzers Ausführungenzu „Telefonieren als besonderer Form gedehnterÄußerung und die Veränderung von Raumbegrif-fen im frühen 20. Jahrhundert“. Konitzer expli-ziert die „Eigenarten gedehnter Äußerungen“,also von Äußerungen, die sich über Raum undZeit hinweg ausdehnen, wie dies in der Kommu-nikation über zwischengeschaltete Boten der Fallist, umreißt danach eine Phänomenologie desTelefons und unter Anknüpfung an Luhmann diedoppelte Kontingenz von Telefonkommunikati-on. Durch die Telefonkommunikation treten diedaran Beteiligten neben den Räumen, in denensie sich tatsächlich befinden in einen weiterenRaum, den des Gesprächs und den, auf den die-ses Bezug nimmt, ein, wobei ihr Verhalten indoppeltem Sinne unbestimmt ist. Besondersinteressant auch die Bezugnahme auf das Watzla-wicksche Axiom, wonach man nicht nicht kom-munizieren könnte. Für das Telefon stellt Konit-zer hier die Frage nach dem sinnvollen Beginnder Anwendung. Denn während mit Klingelnund Auflegen Beginn und Ende der Kommuni-kation umgrenzt werden könnten, stellt dochzugleich auch das Ausbleiben eines Anrufes einekommunikative Situation her. Ebenso wie schonallein das Herstellen und oft noch stärker derAbbruch eines Telefonates einen Kommunikati-onsinhalt darstellt, der über den Akt zwischenAbheben und Auflegen hinausgeht.

Der dritte Teil beschreibt „Urbane Topographiender Kommunikation“, und damit das verhaltens-beeinflussende Potenzial von kommunikativ auf-geladenen Räumen, anhand verschiedener urba-ner Settings. Alexa Geisthövel taucht in dasMilieu der Hydropolen zwischen 1830 und 1880ein, jene Kurorte, die aufgrund exzeptionellerAngebote im Bereich der Heilkunst, aber auchund wohl vor allem des gesellschaftlichen Lebensund der Geselligkeit, Attraktoren für Adel undWohlstandsvertreter wurden. Der Kurort wirdzum Synonym für das Zusammentreffen, dieAbgrenzung und die Mischung jener – auchselbsternannten – gesellschaftlichen Eliten, dieden privilegierten Zugang zum exklusiven Ort

ergattern und absichern können. Gleichzeitigwird durch die eingenommene Distanz zu weni-ger erlauchten Personen die soziale Kluft illu-striert. Räumliche Nähe ist somit als Indikatorfür soziale und persönliche Nähe zu sehen, drücktdiese aber nicht nur aus, sondern stellt sie durchentstehende Konversationsokkasionen zugleichauch neu her. Ein Phänomen, das sich von denKurpromenanden des 19. Jahrhunderts nahezunahtlos auf die Horte der Prominenten-und Eli-tengesellung des 21. Jahrhunderts übertragenlässt und die Beständigkeit von Raum als Kom-munikator sozialer Differenz ausweist. ÄhnlicheMechanismen unter gänzlich anderen Vorausset-zungen beschreibt Philipp Müller nachfolgend,wenn er sich mit den Facetten der Kommunikati-on des Lokalen befasst. „Öffentliche Ermittlun-gen und ihre Aneignungen im urbanen Raum.Verbrecherjagden im Berlin des Kaiserreichs.“Angesiedelt ist der Aufsatz im keimenden 20.Jahrhundert und damit in einer deutschen Presse-landschaft, die nach dem Vorbild der Generalan-zeiger lokale Ereignisse zur öffentlichen Angele-genheit erhob. Speziell für die Kriminalberichter-stattung hatte sich dabei eine Kooperationspraxiszwischen Polizeiapparat und Zeitungen etabliert,wodurch einerseits sehr detaillierte Schilderungenzum Stand der Ermittlungen in den zwei tägli-chen Ausgaben dargebracht werden konnten undandererseits durch die Verbreitung der Informa-tionen und deren appellative Aufbereitung einhohes Maß an Aktiviertheit und somit Mithilfeder Bevölkerung herstellten. Durch die Vermitt-lung des Eindrucks, das Geschilderte würde sichunmittelbar auf den lokalen Lebensbereich desEinzelnen beziehen, wurde somit auch erreicht,dass Vorfälle zur persönlichen Angelegenheit stili-siert wurden. In Berlin bleibt auch HabboKnoch. „Schwellenräume und Übergangsmen-schen. Öffentliche Kommunikation in dermodernen Großstadt, 1880-1930“ steht im Zen-trum seiner Betrachtungen, in denen er vor allemGeorg Simmel prominent einbringt. Die Angstder Menschen vor Kommunikationsverlust ange-sichts der kalten, drückenden Macht der moder-nen, als seelenlos begriffenen Großstadt, die Ano-nymität, Kontingenz der Begegnung und Funk-tionalität der Nutzung. Eine Funktionalität derNutzung, die durch semiotische Zeichen vorge-stellt wird und durch ihren Vorzeigecharakter dieKontingenz der Nutzung fortlaufend reduzierensoll. Die kommunikative Steuerung im Raumund durch Räume setzt sich dann im letztenAbschnitt fort, in dessen Mittelpunkt die „Kom-munikation ästhetisierter Räume“ steht. Tanya

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Michalsky mit „Raum visualisieren. Zur Genesedes modernen Raumverständnisses in Medien derFrühen Neuzeit“ und Stefan Paul mit „Kommu-nizierende Räume. Das Museum“ nehmen hierden Beitrag von Alarich Rooch, „Zur symboli-schen Form der städtischen Villa im 19. Jahrhun-dert“, in ihre Mitte. Rooch bezieht sich zunächstauf das Verhältnis von Architektur und Kommu-nikation, und blickt auf den jedem Gebäudeimmanenten Charakter, neben der Inkorporie-rung einer Funktion auch noch einen kommuni-kativen Mehrwert zu haben, als Zeichen für etwaszu stehen. So auch die städtische Villa, das herr-schaftlich, von finanzieller Potenz zeugendeGebäude, ist dabei als Ausdruck bürgerlichenLebensstils von herausragender Symbolwertig-keit. Die statische Abstützung für seinen Theorie-bau bezieht er vor allem von Bourdieu und des-sen Ausführungen zu Handlungen im sozialenFeld und die Einbringung von symbolischemKapital für diese Handlungen, die Villa wirddemnach zu nichts anderem als einer Markierungvon sozialem Status, eine Annonce, die denAnspruch auf Zugehörigkeit zu einem bestimm-ten Feld dokumentiert, ein Nachweis der gesell-schaftlichen Bonität. Anschaulich gemacht wirdder Symbolgehalt von Villen vor allem anhanddreier berühmter Bauten – dem Nicolaischen„Haus Seebach“ und der von Gottfried Semperfür Oppenheim gebauten „Villa Rosa“ inDresden und der Villa Bleichröder von MartinGropius in Berlin – und in weiterer Folge mit derradikalen Antilehre, der völlig ornamentfreienund schmucklosen Bauphilosophie des AdolfLoos. Stadträume sind Seh-räume schließtRooch, und nichts kommuniziert Machtge-füge innerhalb einer Stadt so deutlich wie diesymbolhafte Aneignung von Raum durch Archi-tektur.

So liegt hier ein Buch vor, das es auf faszinieren-de Weise schafft, den Raumbegriff davor zubewahren substanzlose Modeerscheinung zu seinund zeigt, wie viele überaus spannende und wich-tige neue Fragen unentdeckt in oft betrachtetenThemen warten und durch eine Justierung desBlickwinkels sichtbar werden. „Hier meldet sichein neues historisches Fragen und Denken, dasüber die eingefahrenen Gleise etablierter For-schungsstrategien hinausfährt“ beschließt JörnRüsen sein Vorwort und die Fahrt, die gebotenwird, erfolgt durchgängig erster Klasse. Eingroßes, ein wichtiges Buch.

Christian Schwarzenegger

RAINER GRIES, WOLFGANG SCHMALE (HG.): Kul-tur der Propaganda. (= Herausforderun-gen. Historisch-politische Analysen 16).Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2005,360 Seiten.

RAINER GRIES, SILKE SATJUKOW (HG.): UnsereFeinde. Konstruktion des Anderen imSozialismus. Leipzig: Leipziger Univer-sitätsverlag 2004, 560 Seiten.

„Propaganda“ und deren wissenschaftlicheBetrachtung erleben eine Renaissance. Was einstsehr weit (im Sinne jeglicher politischer Wer-bung) und doch sehr eng (in seiner Konnotationmit dem Nationalsozialismus) gefasst wurde,erfährt im vorliegenden Sammelband, herausge-geben von Rainer Gries und Wolfgang Schmale,eine essentielle Schärfung. Ausgehend von einerinterdisziplinären Tagung, die 2001 am Institutfür Geschichte der Universität Wien stattfand,nähern sich die AutorInnen in 12 Beiträgen demPhänomen Propaganda mit entsprechend gewei-tetem Blick. Zum einen wird das Konzept vonPropaganda synchron erweitert und als Systemverstanden, das auch das respondierende Publi-kum als Akteur mit einbezieht. Zum anderenwird durch die diachrone Ausweitung einer pro-zessualen Sichtweise der Vorzug gegenüber her-kömmlichen „statischen“ Betrachtungen gege-ben. Gries plädiert in seinem wegweisenden Beitrag zu„Ästhetik und Architektur von Propagemen“dafür, die „Einengung der Zeithorizonte, die mitden traditionellen Vorstellungen von Propagandaverknüpft werden, zu überwinden“ (S. 12). Zielsei, im Sinne einer umfassenden Kulturgeschich-te der Propaganda, nachhaltig wirksame propa-gandistische Kommunikationsmuster aufzu-spüren. Gries et al. begeben sich damit „erstmaligauf die Suche nach Propagandainhalten, die überlange Zeit, womöglich über Generationen undgesellschaftliche und politische Systeme hinweg,mit Erfolg kommuniziert wurden – und womög-lich immer noch werden“. (S. 13) Solche Kon-stanten werden fortan „Propageme“ genannt.Diese bezeichnen „langfristig [zwischen Akteurenund Publikum] abgeklärte Botschafts-Bedeu-tungs-Komplexe öffentlicher persuasiv-propagan-distischer Kommunikationen“. (S. 25)Der Begriff der „Propageme“ geht auf Erfahrun-gen in einem von Gries mitgeleiteten DFG-Pro-jekt („Propagandageschichte Freiburg & Leip-zig“) zurück und verdeutlicht die kulturwissen-schaftliche Unterfütterung des neu eingeführten

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Formalobjekts. Die Adressaten von Propagandagehen mit den Botschaften nicht zwingend imInteresse des Senders um, sondern eignen sichdiese je nach Lebenswelt, Erfahrungshorizontund Bedürfnissen an. Diese Vorstellung knüpftnahtlos an Rituale, Inszenierungen und Freund-Feind-Dichotomien an wie sie in allen Gesell-schaften existieren. (S. 17) Aufbauend auf dieserdem Reiz-Reaktions-Schema entsagenden Sicht-weise von Propaganda können Verführer post-wendend zu Verführten werden, wenn dieursprünglichen „Empfänger“ von propagandisti-schen Inhalten durch ihre Mitwirkung, durch ihr(intendiertes oder nicht-intendiertes) Feedback,zu Sendern werden. Persuasive Kommunikationbiete somit keinen simplen Stimulus, der bei „denMassen“ die (politisch) intendierte Reaktion her-vorruft, vielmehr sei Propaganda als Dispositiv zubetrachten, das den Rahmen für Wirkungsoptio-nen vorgibt. (S. 11)

Das theoretische Konzept von Gries lässt somitweit über den allzu knapp bemessenen Tellerrandfrüherer Propagandaforschung hinausblicken – indisziplinärer, epochaler wie kultureller Hinsicht.Diese im vorliegenden Band dokumentierte„Entgrenzung“ geschieht einerseits in zeitlicherDimension, Propaganda könne nicht bloß als„Kampagne“ verstanden werden, sondern solle –im Sinne der longue durée – den Prinzipien derStruktur- und Mentalitätsgeschichte untergeord-net werden, nicht jenen „klassischer“ Medienge-schichte. Andererseits werden kulturelle, soziale,politische und ökonomische Faktoren stets in diesystemische Perspektive mit einbezogen undermöglichen somit die Expansion zu einer Kul-turgeschichte der Propaganda.

Das Gewicht der Grundlegung durch Gries führtbisweilen zu einer Schieflage zu Ungunsten derdanach folgenden ambitionierten, aber in unter-schiedlicher Tiefenschärfe ausgeformten Anwen-dungsbeispiele. Während Alice Pechriggl (überdie politische Begriffsgeschichte) sowie HeleneKarmasin (über Propageme in der Werbung) dentheoretischen Teil abrunden, bieten die drei wei-teren Abschnitte Beiträge zu ausgewählten Bei-spielen, Epochen bzw. Kulturen. Das Kapitel„Propaganda mit menschlichem Antlitz“ etwawird angereichert durch Silke Satjukows Betrach-tung des „Helden der Arbeit“, Adolf Hennecke.Dieser verkörperte geradezu „klassische“ soziali-stische Propageme in der DDR. An das „Propa-gemfeld der ,Mitte‘“ nähern sich im nächstenAbschnitt u.a. Stefan Schwarzkopf und Thomas

Ahbe an: Sie untersuchen anhand des „Mitte“-Propagems in der Bundesrepublik DeutschlandBedeutung eines nach wie vor wirkmächtigenKonstruktes der „politischen Mitte“; gleichsamals Epizentrum politischer Wahlwerbung identifi-ziert. Ähnliche Schwerpunkte setzt der dritteAbschnitt, dieser widmet sich dem „Einheits“-Propagemfeld. Mitherausgeber Wolfgang Schma-le analysiert dies anhand der Europapropagandaund deren Beschwörungsformeln in unterschied-lichen Epochen. Der abschließende Beitrag vonAhbe, Gries und Monika Gibas untersucht denHandschlag als gemeinhin anerkanntes Symbolder Einigkeit.

Was in diesem Buch modellhaft skizziert und bei-spielhaft illustriert wurde, erfährt im zweiten hierzu besprechenden, ebenso jüngst vorgelegten,Band bereits eine schärfere Analyse und akzentu-iertere Ausformung: Rainer Gries und Silke Sat-jukow fungieren als Herausgeber eines Kompen-diums, das sich der „Sozialpsychologie des Feind-bildes“ verschrieben hat. „Unsere Feinde“ ver-sammelt 25 Beiträge, die sich der „Konstruktiondes Anderen im Sozialismus“ widmen und Feind-bilder in der Sowjetunion, in den Volksrepubli-ken Polen, Ungarn und Albanien sowie der DDRuntersuchen. Mit deutlichem Schwergewicht aufFeindbildern der DDR und der Sowjetunionwird hinterfragt, ob die „verbrecherischen Visa-gen“ der jeweiligen Feinde lediglich mediale Kon-strukte darstellen oder doch über längere Zeiträu-me gültige Narrationen des Bösen waren. DieseKulturgeschichte der Feindbilder knüpft an dastheoretische Konzept der „Propageme“ an undzerlegt anhand überaus wirksamer und letztlichauch tödlicher Figuren die Mechanismen vonderen Kreation und Anwendung.

Die Beiträge stellen Ergebnisse einer Tagung imHerbst 2003 in Weimar dar, die ihrerseits denGegenpol zu den „Heldenfiguren“ des Sozialis-mus bilden sollte. Im Gegensatz zu Helden ent-wickeln Feindbilder eine ungleich explosivereEigendynamik im Wechselspiel von professionel-ler Propaganda, partizipierender Bevölkerungund perpetuierten Anwendungszusammenhän-gen.Diese Feindbilder „jenseits des Eisernen Vorhan-ges“ sollten legitimieren, integrieren und mobili-sieren. Anhand ausgewählter Beispiele illustrierendie AutorInnen die Denk- und Gefühlswelt des„realen Sozialismus“, offerieren eine Innensicht indie eisigen Machtzentren des Kalten Krieges.Dieser reichhaltig bebilderte und aufwändig

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gestaltete Band erlaubt beispielsweise durch denBeitrag von Monika Gibas aufschlussreiche Ein-blicke in das Feindbild „Bundesrepublik“ in derfrühen DDR, als „Bonner Ultras“, „Kriegs-treiber“ und „Schlotbarone“ kreiert wurden.Christoph Classen de-konstruiert das ambivalen-te Feindbild Faschismus als Gegnerkategorie inderselben DDR-Ära, Ingo Loose dechiffriert dieChiffre „1968“ im Kontext antisemitischerFeindbilder in Polen und Árpád von Klimóschließlich vergleicht „Habsburger“ und„Preußen“ als Feindkonstrukte in Ungarn resp.der DDR. Diese in gebotener Kürze zu nennen-den Exempel verdeutlichen die Dimension diesesForschungsfeldes, unterstreichen die Omniprä-senz von Propagemen – in Diktaturen wie derenNachfolgestaaten.

Denn wie auch andere persuasive Kommunika-tionen wirken die Feindbilder in den seltenstenFällen direkt, mobilisieren nicht stante pede, son-dern entwickeln ihre Wirkungsmacht im stetenWechselspiel zwischen Herrschern undBeherrschten, zwischen Propagandisten und„Plebs“. Und das über lange Zeiträume, überGenerationen und Systeme hinweg.

Insgesamt offeriert Gries (in wechselnden Koope-rationen) ein überaus gewinnendes Konzept, dasan zahlreichen Phänomenen der (vergangenenwie gegenwärtigen) gesellschaftlichen Realitätangewandt werden kann. Mythen, Klischees,Feindbilder – anhand dieser propagandistischenNarrative wird deutlich, welche Gestalt Propage-me annehmen können; und wie diese über räum-liche, zeitliche und politische Grenzlinien hinwegwirksam sind. Dem Plädoyer von Rainer Gries seiein aufforderndes Plädoyer an die kommunikati-onshistorische Forschung hintangestellt: DerBlickwinkel wurde hier skizziert, das methodischeBesteck liegt in der Schublade griffbereit, dieThemen offerieren sich von selbst: StaatstragendeMythen (gerade in bedenklich anachronistischen„Gedenkjahren“), reaktivierte Archetypen alsWerbe-Testimonials, vorurteilsbehaftete Slogansin politischer Werbung und nicht zuletzt dasGeschäft mit der allüberall feilgebotenenGeschichte – dem Phänomen Propaganda kannmit dem hier vorgestellten Rüstzeug fortan besserbeigekommen werden. Ein fruchtbares For-schungsfeld will bestellt werden!

Bernd Semrad

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NEUERSCHEINUNG

Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischenZeitungswissenschaft.

Der Band will erhellen, wie nach 1945 mit demErbe der NS-Zeitungswissenschaft in Deutsch-land und Österreich umgegangen wurde. Wie inanderen wissenschaftlichen Disziplinen verdeck-ten Jahrzehnte des Schweigens folgenreich perso-nelle und inhaltliche Kontinuitäten, verhinder-ten die Remigration vertriebener ForscherInnenund behinderten die Modernisierung des Faches. Das noch junge Fach wurde durch die NS-Herr-schaft in seiner vielfältigen Entwicklung jähgebrochen, ab 1933 zunächst zu einer politi-schen Führungswissenschaft degradiert, danachzur Kriegswissenschaft. Willfährige Vollstrecker,junge Aufsteiger, angepasste Mitläufer und stillDuldende benötigte dieses System. Noch immer zeigen sich weiße Flecken in derErkundung der „braunen“ Vergangenheit.Renommierte AutorInnen aus Deutschland, derSchweiz und Österreich stellen sich in diesemBuch brennenden Fragen nach Wurzeln derheutigen Kommunikationswissenschaft.

2. Auflage