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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) Band 28 2009

Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) · and social life. Inspired by ‘disability studies’ and a ‘history of disability’, various historical disciplines have recently

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Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) Band 28 • 2009

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte

Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Band 28 • Berichtsjahr 2009

herausgegeben von Robert Jütte Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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Medizin, Gesellschaft und Geschichte (MedGG) Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Herausgeber: Prof. Dr. Robert Jütte Redaktion: Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Lektorat: Oliver Hebestreit, M. A. Satz und Layout: Arnold Michalowski, M. A.

Anschrift: Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart Telefon (0711) 46084 - 171 und 172 Telefax (0711) 46084 - 181 Erscheinungsweise: jährlich.

Bezugsbedingungen: Ladenpreis EUR 40,00, Abonnement EUR 34,20, für Studenten EUR 27,60, jeweils zuzüglich Versandkosten. Ein Abonnement gilt, falls nicht befristet bestellt, zur Fortsetzung bis auf Widerruf. Kündigungen eines Abonnements können nur zum Jahresende erfolgen und müssen bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag eingegangen sein.

Verlag: Franz Steiner Verlag, Birkenwaldstr. 44, 70191 Stuttgart

Anzeigenleitung (verantwortlich): Susanne Szoradi

Druck: Rheinhessische Druckwerkstätte, Wormser Str. 25, 55232 Alzey Medizin, Gesellschaft und Geschichte enthält ausschließlich Originalbeiträge mit den Themenschwerpunkten Sozialgeschichte der Medizin sowie Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen. Entsprechende deutsch- oder englischsprachige Manuskripte sind erwünscht. Sie sollten nach den Hinweisen für Verfasser abgefasst und auf PC gesetzt werden. Diese Hinweise, die auch nähere Angaben zu Betriebssystem und möglichen Text-verarbeitungsprogrammen enthalten, können auf der Homepage des Instituts unter www.igm-bosch.de/f5.htm eingesehen oder bei der Redaktion angefordert werden. Der Umfang der Beiträge soll 10.000 Wörter bzw. 30 Manuskriptseiten nicht überschreiten. Die Autoren erhalten 20 Sonderdrucke ihrer Aufsätze gratis, auf Wunsch weitere gegen Bezah-lung. Weder der Herausgeber noch das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung tragen Verantwortung für die in den Beiträgen vertretenen Ansichten. MedGG enthält keine Buchrezensionen. Unaufgefordert eingesandte Besprechungsexem-plare werden nicht zurückgeschickt, sondern von der Institutsbibliothek übernommen.

Articles appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS and AMERICA: HISTORY AND LIFE. © 2010 Franz Steiner Verlag Stuttgart Printed in Germany. ISSN 0939-351X

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Inhalt

Anschriften der Verfasser 6

Editorial 7

I. Zur Sozialgeschichte der Medizin

Themenschwerpunkt: Versehrt durch Arbeit, Krieg und Strafe. Ursachen und Folgen körperlicher Beeinträchtigung im Mittelalter

Cordula Nolte »Behindert«, beeinträchtigt, »bresthafftigen leibs« im Mittel-

alter: Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld 9

Oliver Auge »So solt er im namen gottes mit mir hinfahren, ich were

doch verderbt zu einem kriegsmann« – Durch Kampf und

Turnier körperlich versehrte Adelige im Spannungsfeld von

Ehrpostulat und eigener Leistungsfähigkeit 21

Jan Ulrich Büttner Die Strafe der Blendung und das Leben blinder Menschen 47

Klaus van Eickels Männliche Zeugungsunfähigkeit im mittelalterlichen Adel 73

Claudia Resch »Englischer Schweiß« 1529 in Augsburg: »Suchet man leyb-

särtzney, warumb sucht man nit ärtzney der seelen?« 97

Matthias Blanarsch Die Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn des 18. Jahrhun-

derts, untersucht anhand Johann Storchs Kasuistik zu Mo-

lenschwangerschaften 121

Michael Stolberg Europas ältestes Sterbehospiz? Das Nürnberger Kranken-

haus »Hundertsuppe«, 1770-1813 153

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Florian Mildenberger Robert Ziegenspeck (1856-1918) – der »Don Quichotte« der

ambulanten Gynäkologie. Nachtrag zum Aufsatz über Thu-

re Brandt in Band 26 von »Medizin, Gesellschaft und Ge-

schichte« 179

Jeannette Madarász Gesellschaftliche Debatten um Krankheit: Das Risikofakto-

renkonzept zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft

1968-1986 187

II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

Inge Christine Heinz Samuel Hahnemann: Arzt und Berater der Prinzessin Luise

von Preußen in den Jahren 1829 bis 1835 213

Marion Baschin Carl von Bönninghausen – ein vergessener Homöopath und

seine Lernzeit 239

Phillip A. Nicholls The Dialectic of the Hospital in the History of Homoeopa-

thy 285

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Anschriften der Verfasser

Florian Mildenberger, Dr. Stiftungs-Universität Viadrina Lehrstuhl Sprachwissenschaft II Große Scharrnstr. 58 15230 Frankfurt/Oder [email protected] Phillip A. Nicholls, Prof. Staffordshire University Faculty of Arts, Media & Design College Road Stoke-on-Trent ST4 2DE United Kingdom [email protected] Cordula Nolte, Prof. Dr. Universität Bremen, FB 8 Institut für Geschichtswissenschaft Postfach 330 440 28334 Bremen [email protected] Claudia Resch, Dr. Österreichische Akademie der Wissenschaf-ten Zentrum Kulturforschungen (ZK) Sonnenfelsgasse 19/8 A-1010 Wien [email protected] Michael Stolberg, Prof. Dr. med. Dr. phil. Universität Würzburg Institut für Geschichte der Medizin Oberer Neubergweg 10a 97074 Würzburg [email protected]

Oliver Auge, Prof. Dr. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Historisches Seminar Leibnizstr. 8 24098 Kiel [email protected] Marion Baschin, M. A. Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 70184 Stuttgart [email protected] Matthias Blanarsch, B. A. Simon-Bolivar-Straße 30 13055 Berlin [email protected] Jan Ulrich Büttner, Dr. Universität Bremen, FB 8 Institut für Geschichtswissenschaft Postfach 330 440 28334 Bremen [email protected] Klaus van Eickels, Prof. Dr. Otto-Friedrich-Universität Institut für Geschichte 96045 Bamberg [email protected] Inge Christine Heinz, Dr. med. Sophienstr. 17 95028 Hof [email protected] Jeannette Z. Madarász, Dr. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor-schung Reichpietschufer 50 10785 Berlin [email protected]

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Editorial

»Der [Im]-perfekte Mensch« (2001/02) war eine der erfolgreichsten Son-derausstellungen, die je im Deutschen Hygiene-Museum gezeigt wurden. In der Tat lässt sich in den letzten Jahren auch in den Geschichtswissenschaf-ten ein gesteigertes Forschungsinteresse am Thema »Behinderung« beobach-ten. Davon zeugen nicht zuletzt zwei Sektionen mit dieser Thematik auf dem Historikertag in Dresden im Jahre 2008. Die Referate, die in einer die-ser Sektionen gehalten wurden, bilden den Themenschwerpunkt dieses Bandes, für den Claudia Nolte verantwortlich zeichnet. Nach einigen Be-merkungen zum aktuellen Forschungsfeld aus der Sicht einer Mediävistin folgen drei Beiträge, die unterschiedliche Aspekte des Umgangs mit körper-licher Behinderung im Mittelalter untersuchen. Oliver Auge fragt, was aus den im Kampf und in Turnieren versehrten Adeligen geworden ist. Jan Ul-rich Büttner richtet den Blick auf die Folgen einer Körperstrafe, die uns heute als besonders grausam erscheint: die Blendung. Klaus van Eickels zeigt, dass Zeugungsunfähigkeit im mittelalterlichen Adel mehr als nur ein Problem der Männlichkeit war.

Die Reihe der freien Beiträge eröffnet Claudia Resch mit einer Studie über eine wenig erforschte frühneuzeitliche Seuche, den sogenannten »Englischen Schweiß«, der 1529 vielerorts auftrat, auch in Augsburg. Matthias Bla-narsch nutzt Kasuistiken des frühen 18. Jahrhunderts, um die Arzt-Patient-Beziehung in jener Zeit zu rekonstruieren. Michael Stolberg weist nach, dass es durchaus Vorläufer der heutigen Sterbehospize gab, und belegt seine These am Beispiel eines Nürnberger Hospitals. Florian Mildenberger publi-ziert neuere Funde zur Biographie eines Münchener Gynäkologen, der zu seiner Zeit als medizinischer Außenseiter galt. Jeannette Madarász analysiert die bundesrepublikanische Diskussion um gesundheitliche Risikofaktoren im Zeitraum 1968 bis 1986.

Die Beiträge in der Rubrik zur Geschichte der alternativen Heilweisen be-fassen sich allesamt mit homöopathiegeschichtlichen Themen. Inge Christi-ne Heinz untersucht eine langjährige Arzt-Patient-Beziehung, nämlich die Hahnemanns zur Prinzessin Luise von Preußen. Marion Baschin liefert eine biographische Skizze eines wenig bekannten Sohnes des bedeutenden Ho-möopathen Clemens von Bönninghausen. Phillip A. Nicholls zeigt die Rol-le auf, die das Hospital in der Geschichte der Homöopathie gespielt hat.

Stuttgart, im Frühjahr 2010 Robert Jütte

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MedGG 28 • 2009, S. 9-20 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

I. Zur Sozialgeschichte der Medizin

Themenschwerpunkt: Versehrt durch Arbeit, Krieg und Strafe. Ursachen und Folgen körperlicher Beeinträchtigung im Mittelalter

»Behindert«, beeinträchtigt, »bresthafftigen leibs« im Mit-telalter: Bemerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld

Cordula Nolte

Summary

Injured by work, war, and punishment. Causes and consequences of physical impairment in the Mid-dle Ages

Disabled, impaired (‘bresthafftigen leibs’) in the Middle Ages: Annotations on a current field of re-search The paper provides an introduction into a current field of research on medieval culture and social life. Inspired by ‘disability studies’ and a ‘history of disability’, various historical disciplines have recently begun to cooperate in order to analyse how impaired/disabled people managed to survive and participate in social networks. However, the categories ‘disability’ and ‘impairment’ seem to be problematic with regard to medieval attitudes and behaviour. The paper highlights different strategies for coping with prolonged disease, physical defects and deformities. It argues that the topics war and fighting as well as pun-ishment were chosen for the present focus on disability/impairment because they refer to widespread experiences and practices of different strata of medieval society.

Einführung

Die gesellschaftliche Einbindung körperlich beeinträchtigter Menschen und deren Lebensbewältigung stehen in jüngerer Zeit im Blickfeld verschiedener historischer Disziplinen und Forschungsansätze. Dazu gehören die Kultur- und Sozialgeschichte mit ihrem Blick auf alltägliche Lebenswelten wie auch eine an den »Patienten« orientierte Sozialgeschichte der Medizin, Forschun-gen zur Geschichte des Körpers, die historische Altersforschung ebenso wie die Archäologie und die Anthropologie bzw. Paläopathologie. Den Hinter-grund dieses Interesses bilden aktuelle gesundheitspolitische Diskussionen über die wirtschaftlichen und ethischen Aspekte medizinischer Innovatio-nen und ärztlich-pflegerischer Versorgung, über Verschiebungen innerhalb der Alterspyramide und des gesamten sozialen Gefüges. Dabei erfolgte der maßgebliche Anstoß, Phänomene wie »Behinderung« oder »Handicap« in historischer Perspektive aufzugreifen, seitens der disability studies im angel-sächsischen Raum, eines soziologisch und kulturwissenschaftlich orientier-ten Programms, das emanzipatorische Bewegungen aufgreift und letztlich darauf zielt, »Behinderung« als eine Analysekategorie wie »Geschlecht« oder

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Cordula Nolte 10

»Ethnizität« zu etablieren.1 Diese Richtung wiederum prägte seit den 1990er Jahren den Zweig der disability history aus. Die disability history traf auf ver-wandte Fragestellungen der oben genannten Ansätze, die mit den Stichwor-ten Differenz, Inklusion und Exklusion, Armut, Fürsorge, Pflege- und Ver-sorgungsinstitutionen, soziale Netzwerke, Verkörperung usw. markiert wer-den können. Indem diese Perspektiven nunmehr enger verknüpft wurden, begann sich ein neues Arbeitsgebiet abzuzeichnen, mit dem sich viele Di-mensionen der sozialen und kulturellen Praxis erschließen lassen.

Dass die neue Forschungsrichtung unter dem Label disability history inzwi-schen auch in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft »angekom-men« ist – wenngleich noch ohne eine eigene deutschsprachige Bezeich-nung –, zeigte das Programm des Deutschen Historikertags 2008. Gleich zwei Sektionen bezogen das Tagungsleitthema »Ungleichheiten« auf den Umgang mit beeinträchtigten bzw. behinderten Menschen in der Vergan-genheit. Drei Beiträge der mediävistischen Sektion »Versehrt durch Arbeit, Krieg und Strafe. Ursachen und Folgen körperlicher Beeinträchtigung im Mittelalter« finden sich in diesem Heft vereinigt.2 Sie stehen exemplarisch für den Trend der internationalen, interdisziplinären Mediävistik, im An-schluss an Forschungen zur Moderne nun auch ihrerseits das neue Terrain zu bearbeiten.

Gegenwärtig werden mediävistische Forschungen zu den Lebensperspekti-ven von Menschen mit körperlichen Gebrechen und Auffälligkeiten – ob invalide, siech, pflege- und hilfsbedürftig oder »nur« mit einem »Schönheits-fehler« behaftet – im bremisch-hamburgischen DFG-Projekt »Homo debilis. Soziale Einbindung und Lebensbewältigung beeinträchtigter Menschen im Mittelalter« gebündelt. Das Vorhaben will mit geschichtswissenschaftlichen, archäologischen, anthropologischen und kunsthistorischen Methoden un-tersuchen, inwiefern es beeinträchtigten Menschen gelang, dank der Einbet-tung in soziale Netzwerke zu überleben und gesellschaftlich teilzuhaben. Ein in diesem Kontext erarbeiteter Sammelband mit Beiträgen verschiedener Disziplinen gibt erste Einblicke in die Spannbreite der Thematik und in-formiert über zentrale Fragestellungen, Quellengrundlagen und methodi-sche Probleme.3

Allerdings deuten erste Publikationen darauf hin, dass das von den disability studies konzipierte Modell von »Behinderung« für die vormoderne Gesell-schaft nicht ohne weiteres funktioniert. Die disability studies unterscheiden zwischen individueller Beeinträchtigung (impairment) im Sinne körperlicher, geistiger oder seelischer Funktionsstörungen einerseits und Behinderung

1 Waldschmidt (2003); Waldschmidt/Schneider (2007).

2 Die Beiträge der anderen Sektion werden derzeit für den Druck vorbereitet. Bösl, Els-beth; Klein, Anne; Waldschmidt, Anne (Hg.): Behinderung in der Geschichte. Deutschsprachige Beiträge zur Dis/ability History (Arbeitstitel).

3 Nolte (2009).

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»Behindert«, beeinträchtigt, »bresthafftigen leibs« 11

(disability) als einem soziokulturellen Konstrukt andererseits. Letzteres be-wirke, dass – ausgehend von der Wahrnehmung bestimmter Merkmale – »beeinträchtigte« Menschen benachteiligt, eingeschränkt und ausgegrenzt werden. Vor dem Hintergrund dieses Entwurfs kam Irina Metzler in der bislang einzigen mediävistischen Monographie, die explizit dem Thema »Behinderung« gewidmet ist, zu dem Schluss, dass zwar mutmaßlich viele Menschen mit körperlichem impairment lebten; gleichwohl habe es anschei-nend »very few medieval disabled people« gegeben.4 Inwieweit diese Ein-schätzung von Metzlers vorrangig hagiographischer Quellenbasis abhängt oder von einem für das Mittelalter problematischen Konzept von »Behinde-rung« und »Beeinträchtigung«, bleibt zu prüfen. Möglicherweise führt eine offenere Kategorie wie die der »körperlichen Signifikanz« bei der Auswer-tung mittelalterlicher Zeugnisse weiter.5

Haltungen und Praktiken im Mittelalter

Zweifellos stellte in allen Schichten der vormodernen Gesellschaft die kör-perliche und geistig-seelische Funktionsfähigkeit ein wesentliches Kriterium dafür dar, in welchem Umfang Menschen am sozialen Leben teilhaben und individuelle Lebenschancen innerhalb ihrer Gruppe realisieren konnten. Im Adel galt die physische Unversehrtheit als Leitbild und Merkmal der Herr-schaftstauglichkeit (Idoneität), für städtische Ämter wie für geistliche Wür-den wurde die Integrität von Geist, Sinnesorganen und Gliedern vorausge-setzt, und im Handwerk sowie in der bäuerlichen Basisgesellschaft zählte für Frauen wie für Männer die Fähigkeit, körperliche Arbeit verrichten zu können. Bei der Bewertung von Körperqualitäten kam hinzu, dass sich in der physischen Wohlbeschaffenheit nach zeitgenössischer Anschauung »in-nere Werte« im Sinne standesgemäßer Charaktereigenschaften spiegelten. Überdies wurde ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der körperli-chen Verfassung und dem geistig-seelischen Wohlergehen insofern ange-nommen, als nach der gemeinhin geltenden humoralpathologischen Lehre Gemütsleiden nicht anders als physische Krankheiten aus einem Ungleich-gewicht der Säfte resultierten.

In der mittelalterlichen Überlieferung finden sich etliche Hinweise darauf, dass Defekte und Einbußen an körperlicher Tüchtigkeit Benachteiligung, Abstieg und Ausgrenzung nach sich zogen. Die bildlichen Darstellungen christlicher Caritas gegenüber Blinden, Lahmen, Verstümmelten mit ihren Krücken und Rutschbrettern zum Beispiel scheinen den Absturz ins Elend geradezu zu illustrieren.6 Herrscher wurden mit dem Argument der Regie-

4 Metzler (2006), S. 190.

5 Vgl. dazu demnächst die Dissertation von Bianca Frohne: Signifikante Körper: »Be-hinderung« und langwierige Krankheit in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen (Arbeitstitel).

6 Vgl. die Literatur bei Vavra (2009) und Helas (2009) sowie demnächst die Dissertati-

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Cordula Nolte 12

rungsunfähigkeit abgesetzt oder kaltgestellt7, adlige Töchter ihres »bloden und bresthafftigen leibs« wegen ins Kloster gegeben statt verheiratet8, inva-lide Ehepartner drohten verlassen zu werden9, neugeborene Kinder mit De-formationen wurden gelegentlich ausgesetzt bzw. getötet10. Solche Reaktio-nen wirken vor dem Hintergrund der erwähnten Ideale plausibel, doch sie repräsentieren nur eine Variante sozialen Verhaltens neben anderen. Ihnen stehen in schriftlichen Zeugnissen wie im archäologisch-anthropologischen Befund vielfältige Maßnahmen gegenüber, mit denen Menschen ihre »Han-dicaps« kompensierten und ihren Status wahrten, in soziale Netze einge-gliedert blieben bzw. darin aufgefangen wurden. So dominierte auf dem Feld politischer Herrschaft der pragmatische Umgang mit schweren Er-krankungen und Gebrechen des Regenten bis hin zur positiven Bewertung seiner selbstbeherrscht durchstandenen »Schwäche«.11 Die Verwendung von Prothesen12 und Hilfsmitteln, die Übernahme geeigneter Tätigkeiten je nach Fähigkeit sowie gegebenenfalls eine berufliche Umorientierung sorgten dafür, dass beeinträchtigte Menschen mobil blieben, am Arbeitsleben teil-hatten und zu ihrem Unterhalt zumindest beitragen konnten13. Ein junger Mann zum Beispiel, der seine Stimme weitgehend verloren hatte, klapperte in den Weinbergen mit eigens angefertigten Tafeln, um die Vögel zu ver-scheuchen: »Diese Arbeit nützt den Winzern«, bemerkt der Geschichts-schreiber und Hagiograph Gregor von Tours im 6. Jahrhundert dazu.14 Ein Mann aus Lübeck, dem ein Goldschmied versehentlich ins Knie geschossen hatte, schloss mit diesem dahingehend einen Sühnevertrag, dass er von ihm

on von Sarah Harms: Gebrechlich, versehrt, behindert: Repräsentationen beeinträch-tigter Menschen in mittelalterlichen Bildzeugnissen (Arbeitstitel).

7 Nolte (2000).

8 Nolte (2005), Kapitel »Geistlicher Stand und kirchliche Karrieren«, S. 114-147, hier S. 121, Fußnote 444.

9 Heiligenviten und Wunderberichte thematisieren das Problem, dass ein Ehepartner »accedente infirmitate« verlassen wird. Das kirchliche Recht verbot seit dem 6. Jahr-hundert wiederholt, sich wegen Krankheit oder Körperschäden scheiden zu lassen. Vgl. Schelberg (2000), S. 224ff., 246; Farmer (1998), S. 356; Nolte (1995), S. 298.

10 Zum Jahr 1012 berichten die Jahrbücher von Quedlinburg, die Dorfgemeinschaft von Kochstedt habe ein neugeborenes missgestaltetes Zwillingspaar sterben lassen, »weil ihr längeres Leben für alle ein Schrecken war«. Hier zitiert nach Ketsch (1984), S. 225. Die Nürnberger Hebammenordnung (Ende 15. Jahrhundert) verpflichtet zur Anzeige von »Missgeburten«, damit diese »nicht verduscht werden«. Löhmer (1989), S. 51. Al-lerdings war im Mittelalter die Tötung deformierter Kinder ebenso wenig alltägliche Praxis wie die Kindestötung überhaupt. Vgl. Ulrich-Bochsler (1997), S. 93ff.

11 Jordan (2009); Kehnel (2009).

12 Kahlow (2009).

13 Vgl. zur fortgesetzten Arbeitstätigkeit bei »chronischer« Krankheit Gray (2007).

14 »Hoc opus vinitoribus utile est, cum vinita ab infestantium avium catervis defensare nituntur.« Gregor von Tours (1969), lib. II, cap. 26, S. 618f.

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»Behindert«, beeinträchtigt, »bresthafftigen leibs« 13

im Goldschmiedehandwerk ausgebildet werden sollte, um sich künftig er-nähren zu können – eine regelrechte Umschulungsmaßnahme also.15 In Memmingen war im 15. Jahrhundert der Fleischerberuf ausdrücklich jenen vorbehalten, die aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung »kein ander handwerk treiben« konnten.16 Familie, Verwandtschaft und »Freundschaft«, Nachbarschaft, Haus- und Dorfgemeinschaft fungierten für ihre Angehöri-gen als Solidargemeinschaften. Wunderberichte bezeugen anschaulich, dass hilfsbedürftige Menschen in ihrem Umfeld tatkräftigen Beistand erhielten in Form von Pflege, Transport, Obdach usw. In Paris etwa organisierten arme Frauen im 13. Jahrhundert Selbsthilfenetzwerke, um sich bei langwieriger Krankheit und Arbeitsunfähigkeit gegenseitig zu unterstützen.17 Zünfte und Bruderschaften sicherten ihre männlichen Mitglieder, wenn diese wegen Unfallverletzungen, Krankheiten oder Gebrechlichkeit im Alter ihren Un-terhalt nicht mehr erarbeiten konnten, durch Krankengeldzahlungen oder die Aufnahme in Versorgungsinstitutionen.18 »Zwölfbrüderhausstiftungen« wie die der Familien Mendel und Landauer boten ebenfalls erwerbsunfähi-gen, bedürftigen Handwerkern Nahrung und Unterkunft.19 In Klosterge-meinschaften lebten Menschen mit Körperschäden integriert und zugleich im Kontakt mit ihren Angehörigen außerhalb des Konvents: »Inklusion im Kloster bedeutete nicht Exklusion aus der Familie«20 – wen man ins Kloster schickte, der wurde also nicht zwangsläufig »abgeschoben«. Am immer wieder angeführten Beispiel des seit seiner Kindheit weitgehend gelähmten, kaum sprechfähigen Gelehrten und Geschichtsschreibers Hermann von Reichenau (Hermannus contractus, 1013-1054), der mit sieben Jahren ins Kloster gegeben wurde, wird deutlich, welche Überlebens- und Entfal-tungsmöglichkeiten das geschützte Klosterleben bot.21 Auch Untersuchun-gen von Skeletten mit Deformitäten und Spuren schwerer, langer Krank-heitsprozesse ergaben, dass versehrte Kinder und Erwachsene in verschie-denen Sozialschichten und Milieus – Stadt, Land, Konvent – dank intensi-ver Pflege, Fürsorge und Rücksichtnahme verhältnismäßig lange lebten.22

15 Pauli (1875), S. 327, Nr. XCIV. Ich bedanke mich für den Hinweis bei Yvette Nuckel. Sie erarbeitet derzeit eine Dissertation zum Thema »Arbeitsunfähigkeit im Spätmittel-alter. Ursachen und Folgen der Berufsunfähigkeit oder Behinderung am Beispiel von Handwerkern im norddeutschen Raum«.

16 Wolfisburg (1995), S. 46.

17 Bei Farmer (1998) und (2002) sind die »Miracles de Saint Louis« des Guillaume de St.-Pathus vorbildlich ausgewertet. Vgl. dazu auch Dinges (2002).

18 Fröhlich (1976). Vgl. die Kritik bei Nuckel (wie Anm. 15).

19 http://www.nuernberger-hausbuecher.de/ (letzter Zugriff: 30.5.2009). Auf dieser Web-seite kann man u. a. gezielt nach Krankheiten und Gebrechen der »Brüder« suchen.

20 Knackmuß (2009), S. 364.

21 Borst (1997), S. 107ff.; Berschin/Hellmann (2005).

22 Ulrich-Bochsler (2009).

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Cordula Nolte 14

Aus diesen Befunden sollte man kein harmonisierendes Bild konstruieren. Anteilnahme und Solidarität hatten ihre Grenzen23 und wurden Bedürfti-gen, abhängig von diversen Faktoren wie sozialem Rang, Vermögen und Geschlecht, in ungleichem Maß zuteil. Gleichwohl geraten dank jüngster Studien so manche Vorannahmen über mittelalterliche Haltungen ins Wanken. An der vermeintlich so verbreiteten Vorstellung von Krankheit als Folge von Sünde etwa orientierten sich normative und pastorale Texte an-scheinend wenig24 – und die alltäglichen Handlungsweisen mutmaßlich noch weniger. Ferner spricht vieles dafür, dass die Verantwortung für be-einträchtigte Mitmenschen nicht vorrangig als Belastung wahrgenommen wurde.25

Arbeitsperspektiven

Körperliche Beeinträchtigung im Mittelalter konnte angeboren oder durch Krankheit ausgelöst sein, durch Unfall, Kampf und Krieg verursacht oder die Folge einer Leibesstrafe sein, aus langjähriger Arbeitsbelastung resultie-ren sowie eine Altersbegleiterscheinung darstellen. Aus diesem weiten Pano-rama greift der hier in drei Aufsätzen bearbeitete Themenschwerpunkt »Versehrt durch Arbeit, Krieg und Strafe« exemplarische Untersuchungs-felder heraus, die anhand folgender Überlegungen ausgewählt wurden.

Arbeit und Krieg gehörten zu den Grunderfahrungen mittelalterlicher Men-schen. Im Blick auf die Arbeit erschließen sich alltägliche Lebenszusam-menhänge von Kindern, Frauen und Männern im ländlichen und städti-schen Bereich. Die Fähigkeit, sich selbst und gegebenenfalls Angehörige zu ernähren, war eine wesentliche Voraussetzung für die Behauptung der eige-nen Rolle im sozialen Geflecht. Schriftliche und bildliche Zeugnisse sowie materielle Überreste lassen Schlüsse zu, wie es um Arbeitsbedingungen, Un-fallrisiken und Schutzmaßnahmen stand26, wie stark Frauen und Männer durch körperliche Anstrengungen belastet wurden27 und wer im Notfall durch Familie, Genossenschaften und Fürsorgeeinrichtungen versorgt wur-de. Die Archäologin Uta Halle führte auf dem Historikertag am Beispiel der bleiverarbeitenden Gewerbe und der Rolle des Bleis im Verbraucheralltag anschaulich vor Augen, wie eng eine auf den ersten Blick berufsspezifische Problematik mit den allgemeinen Lebens- und Umweltbedingungen der gesamten Bevölkerung einer Region verknüpft sein konnte.28

23 Irsigler (2009).

24 Büttner (2009).

25 Goetz (2009).

26 Vgl. Zimmermann (1985).

27 Grupe (1997).

28 Der Beitrag wird demnächst gesondert gedruckt. Uta Halle leitet zwei Teilprojekte innerhalb des »Homo debilis«-Projekts. Das Thema »Anthropologisch-osteologische

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»Behindert«, beeinträchtigt, »bresthafftigen leibs« 15

»Krieg und Kriegsführung im Mittelalter« war in den jüngsten Jahren gera-dezu ein Schwerpunkt kulturwissenschaftlicher Forschungen, wobei aller-dings die Frage nach den Verletzten und Invaliden weitestgehend ausge-klammert wurde.29 Dabei melden die Geschichtsschreiber regelmäßig, dass auf dem Schlachtfeld außer Toten auch viele Verwundete zurückblieben. Wie wurden Verunstaltung und Invalidität »überlebenstechnisch« und see-lisch bewältigt? Welche Tätigkeiten konnten Kriegsversehrte übernehmen, wenn sie zum militärischen Handwerk nicht mehr taugten, wie wurden sie samt ihren Familien versorgt, wie ließen sich ritterliche Selbstbilder mit Verkrüppelungen vereinbaren?30 Tief blicken lässt die literarische Verarbei-tung der verheerenden Auswirkungen, die die Verstümmelung des Kriegers auf seine sozialen Bindungen haben mochte, in Herrands von Wildonie Erzählung »Die treue Gattin«: Die Heldin, deren Mann »vil ritterlich« ein Auge verloren hat, sticht sich selbst ein Auge aus, zeigt sich also im Verlust der körperlichen Makellosigkeit mit ihm solidarisch – ein Vorbild an Treue für Ehefrauen, deren Männer entstellt aus dem Kampf heimkehren.31 Das ausdrückliche kirchliche Verbot, sich von Ehemännern scheiden zu lassen, »die von ihren Gegnern geblendet oder an ihren Gliedmaßen verstümmelt werden« (»qui ab adversariis caecantur, aut membris detruncantur«), lässt das Ausmaß des Elends erahnen.32 Oliver Auge erörtert in seinem Beitrag anhand erzählender Quellen unterschiedlicher Genres, inwieweit adlige Kämpfer, deren gesamtes Ethos um die Kampfkraft kreiste, unter ihren Standesgenossen Versehrtheit als Beeinträchtigung der Ehre und Leistungs-fähigkeit erfuhren oder als Auszeichnung deuteten.

Mit gezielten Verstümmelungen, die man als Strafe zugefügt bekam, wird ein Phänomen angesprochen, das in der Politik und Herrschaftspraxis ebenso eine Rolle spielte wie in der Sphäre des Rechts und der Gerichtsbar-keit sowie bei gewalttätigen Auseinandersetzungen im Alltag.33 »Strafe« ist

Untersuchung zu Krankheit und Versehrtheit der Bevölkerung Bremens im Mittelal-ter« wird bearbeitet von Swantje Krause; um »Krankheit, Versehrtheit, Behandlung und Pflege im Mittelalter im Spiegel archäologischer Quellen« geht es bei Simone Kahlow.

29 Rogge (2004); Selzer (2003). Vgl. ferner die in Oliver Auges Beitrag aufgeführten Pub-likationen.

30 Solchen Fragen geht unter der Leitung von Stephan Selzer ein Teilprojekt des »Homo debilis«-Projekts nach (»Versehrte Helden. Kriegsinvalidität im spätmittelalterlichen Italien«). Es wird bearbeitet von Karolina Meyer-Schilf.

31 Herrand von Wildonie (1969). Auf die Episode machte mich Ingrid Bennewitz auf-merksam, bei der ich mich herzlich bedanke.

32 Regino von Prüm: Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis. Hg. von Friedrich Wilhelm August Wasserschleben. Leipzig 1840, Bd. II, S. 128f., hier zi-tiert nach Schelberg (2000), S. 246.

33 Vgl. neben der bei Büttner (2009) genannten Literatur Weitzel (1994); Schuster (2008); Groebner (1995).

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hier im weiten Verständnis aufzufassen. Als politisches Instrument hatte die Verstümmelung von Gegnern und Rivalen selbstverständlich oft nur be-dingt Strafcharakter, vielmehr spielten hier Motive der Rache, Entehrung und Ausschaltung der Herrschaftsfähigkeit zusammen. Vor allem das Aus-reißen bzw. Ausstechen der Augen erschien als ein Äquivalent zur Hinrich-tung, da es den solcherart Gestraften hilflos machte und sichtbar zeichnete. Eingebettet in Überlegungen zum gesellschaftlichen Umgang mit Blinden allgemein zeigt Jan Ulrich Büttner auf, wie sich im Lauf des Mittelalters die Handhabung und Bewertung der Blendung wandelte. Zugleich beleuchtet er die Veränderung des »sozialen Klimas« im Spätmittelalter am Beispiel der Haltung gegenüber blinden Bedürftigen.

Auch Klaus van Eickels schlägt in seinem Beitrag über männliche Zeu-gungsunfähigkeit den Bogen zur Strafpraxis, indem er die gewaltsame Ent-mannung untersucht, die in Verbindung mit der Blendung als eine der Hinrichtung gleichzusetzende Kapitalstrafe galt. In seinen Ausführungen über die Bewertung des männlichen Unvermögens, Nachwuchs zu zeugen, und über die Folgen von Kinderlosigkeit legt er dar, wie wichtig es ist, die Kategorien »Behinderung« bzw. »Beeinträchtigung« gemäß mittelalterlichen Maßstäben zu definieren. Zweifellos bedrohten Impotenz und Unfruchtbar-keit nachhaltig die Wertschätzung von Männern und Frauen in einer Ge-sellschaft, die die Hervorbringung von Nachkommen für ein besonders ho-hes Gut hielt.34

Der Beitrag van Eickels’ verweist zugleich auf die Notwendigkeit, nach »Behinderung« bzw. »Beeinträchtigung« oder »Signifikanz« aus geschlech-tergeschichtlicher Perspektive zu fragen. Die Wahrnehmung von normab-weichenden Körpermerkmalen hatte für Frauen und Männer unterschiedli-che Folgen; die Heiratschancen von Mädchen etwa bemaßen sich stärker nach der Perfektion ihrer äußeren Erscheinung.35 Und mit geschlechtsspezi-fischen Rollen waren unterschiedliche Gesundheitsrisiken verbunden, wie aus den zahlreicher dokumentierten Arbeitsunfällen und verletzungsträchti-gen Gewalthändeln von Männern zu schließen ist.36 Frauen wiederum dürf-ten insofern durch die Gebrechen, Arbeitsunfähigkeit und Hilfsbedürftigkeit von Angehörigen in besonderem Maß betroffen gewesen sein, als sie diese pflegten und als Arbeitskräfte für sie einsprangen. Im Kontext von Zunft-auseinandersetzungen etwa finden sich aufschlussreiche Hinweise darauf, dass Mädchen und Frauen als Handwerkerinnen ihre Eltern während deren

34 Vgl. das Kapitel »Sterility: The pursuit of progeny and the failure of reproductive function« bei Cadden (2003), S. 228-258.

35 Bezeichnenderweise wurden bei einigen Eheanbahnungen adlige Bräute, nicht aber Bräutigame einer Körperschau und medizinischen Untersuchung unterzogen. Vgl. Nolte (2004), S. 79.

36 Vgl. zu Unfällen Signori (1992), S. 149. Zu Gewalttätigkeit Malamud (2003).

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Krankheit und im Alter unterhielten und ihre Familien durchbrachten, wenn die Ehemänner monate- oder jahrelang krank lagen.37

Die hier versammelten Aufsätze greifen Aspekte einer weitgefächerten The-matik auf, die die verschiedensten Lebensbereiche berührt. Im Blick auf verschiedene Zeitstellungen vom frühen bis zum späten Mittelalter deuten sich, besonders akzentuiert in Jan Ulrich Büttners Beitrag, Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensformen an, die in künftigen Studien zur Vormoderne systematisch herauszuarbeiten sein werden. Alle Aufsätze zei-gen, wie disparat die Quellenlage ist und welche Probleme sie aufwirft. Chancen, dennoch weitere Erkenntnisse im Rahmen des hier skizzierten Forschungsprogramms zu gewinnen, liegen in der Neuerschließung altbe-kannter, gedruckter Quellen, wie von den am Themenschwerpunkt beteilig-ten Autoren demonstriert, und in der Auswertung von Archivalien, die ge-rade im Hinblick auf »Behinderung« bzw. »Beeinträchtigung« erstaunliche Lücken bei gedruckten Beständen aufscheinen lassen. Vor allem aber ver-spricht die fächerübergreifende Kooperation, dass sich beim mühseligen Zusammensetzen verstreuter Puzzlesteine das Bild vergangener Erfahrungen mit menschlicher »Mangelhaftigkeit« und Versehrtheit rundet.

Bibliographie

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http://www.nuernberger-hausbuecher.de/ (letzter Zugriff: 30.5.2009)

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37 Vgl. die bei Ketsch (1983), S. 177ff., zitierten Auszüge aus dem Urkundenbuch der Stadt Heilbronn. Vgl. zur Rolle von Frauen im häuslichen Gesundheitswesen Jütte (1988).

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MedGG 28 • 2009, S. 21-46 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

»So solt er im namen gottes mit mir hinfahren, ich were doch verderbt zu einem kriegsmann« – Durch Kampf und Turnier körperlich versehrte Adelige im Spannungsfeld von Ehrpostulat und eigener Leistungsfähigkeit1

Oliver Auge

Summary

“So solt er im namen gottes mit mir hinfahren, ich were doch verderbt zu einem kriegsmann” – No-blemen injured in fights and jousts in the field of tension between honour and ability

Oliver Auge shows in this article that, in the late Middle Ages, the consequences of invalid-ity due to fighting and jousts ranged between exclusion and appreciation – a similar pat-tern to what can be observed in the ancient Roman Republic. As the majority of medieval sources do not provide any information concerning this topic, Auge concludes that af-fected nobles were either seen as disturbing elements within the society or they even re-garded themselves as such. But they met with social approval as soon as they explicitly identified themselves as former participants of wars or jousts that had caused their invalid-ity or if their performance was above the norm. A remarkable amount of evidence for this phenomenon appeared around the year 1500 leading the author to conclude that the view of disability gradually changed with the transition from Middle Ages to Modernity. Ex-amples like that of Götz of Berlichingen’s iron hand or the striking profile of the often portrayed Federico da Montefeltro, on the other hand, show that physical integrity was still the standard.

Ein kurzer Blick auf Film und Epik zu Beginn

König Artus reist in Begleitung seines Knappen durch einen Wald. Dort wird er Zeuge eines Zweikampfs auf Leben und Tod, den schließlich der Stärkere der beiden Gegner, ein ganz in Schwarz gewandeter Ritter, mit einem Schwertstich ins Visier des gegnerischen Helms auf grausam-blutige Weise für sich entscheidet. Voll Bewunderung ermuntert König Artus dar-auf den Sieger, ihm nach Camelot zu folgen. Der Ritter jedoch reagiert nicht, und als Artus nach mehreren erfolglosen Versuchen, dem Fremden überhaupt ein Wort zu entlocken, endlich weiterziehen will, verstellt dieser dem König den Weg. Erneut kommt es zum Kampf, diesmal zwischen Ar-tus und dem Unbekannten, in dem der König aber schnell die Oberhand gewinnt. Durch einen gezielten Streich gelingt es ihm, dem schwarzen Ritter zunächst den linken, dann auch den rechten Arm abzuschlagen. Zu Artus’ Verwunderung gibt der Gegner allerdings nicht auf. Vielmehr spielt er, blutüberströmt, seine schweren Verletzungen als kleine Kratzer und harm-lose Fleischwunden herunter und fordert Artus mit Fußtritten unverdrossen

1 Vortrag anlässlich des Dresdener Historikertags 2008 unter dem Motto »Ungleichhei-ten«. Das Zitat entstammt der Lebensbeschreibung Götz von Berlichingens. Siehe da-zu Ulmschneider (1974), S. 45. Für die mir zuteilgewordene, tatkräftige Unterstützung danke ich Christoph Libutzki, Göttingen, ganz herzlich.

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zur Fortsetzung des Kampfes auf. Also trennt der König, der sich seines Sieges längst gewiss sein kann, mit zwei weiteren Schwerthieben auch die beiden Beine vom Rumpf des Gegners. Doch selbst jetzt will sich der zum wehrlosen Vollinvaliden gewordene Ritter noch immer nicht geschlagen geben: Er beschimpft König Artus wüst und belegt ihn mit Drohungen, als dieser an ihm vorbei einfach seines Weges zieht.

Die hier kurz skizzierte Episode entstammt nicht einem mittelalterlichen Heldenepos oder einem zeitgenössischen Geschichtswerk, sondern ist, wie kundige Cineasten natürlich sofort erkannt haben, eine Szene aus Monty Pythons bekanntem Film »Die Ritter der Kokosnuß« aus dem Jahr 19752. Nahezu zwangsläufig scheint uns dieser Ausschnitt wie überhaupt der ganze Film vom britischen Humor, der für manchen Kontinentaleuropäer be-kanntermaßen nur schwer verdaulich ist, krass satirisch überzeichnet. Eine Kampfszene aus dem Mittelalter, das in Film- und Printmedien unserer Ta-ge ohnehin gern und gewissermaßen stereotyp als brutal und blutdurch-tränkt beschrieben wird, erfährt hier nicht nur eine im Sinne dieser Stereo-typie »authentische« Darstellung, sondern zudem noch einen Umbruch ins Groteske: Ein Ritter nimmt in seinem Kampfeseifer – seiner Ehre wegen oder weil er einfach nichts Besseres zu tun weiß3 – seine Invalidität absolut gleichgültig hin, obwohl er dadurch seine Fähigkeit, weitere Kämpfe führen zu können, ein für alle Mal einbüßt.

Einzelne Motive der Szene und eigentlich der ganze Ausschnitt entbehren freilich keineswegs mittelalterlicher Vorlagen, was wiederum dazu berech-tigt, die beschriebene Filmsequenz als etwas unorthodoxen Einstieg in das Thema des Beitrags zu wählen.4 Schon die Art und Weise, wie der schwarze Ritter seinen ersten Gegner zur Strecke bringt, durch einen Stich ins Visier nämlich, ist in den Kämpfen der Zeit offenbar keine Seltenheit gewesen.5 Die völlige Verstümmelung des schwarzen Ritters, der dieser mit kaltblüti-ger Gelassenheit begegnet bzw. die er in ihrer Konsequenz gar nicht zu rea-lisieren scheint, erinnert an die Schlussszene des »Waltharius«. Dort näm-

2 Gilliam, Terry; Jones, Terry: Monty Python and the Holy Grail, 91 min., Großbri-tannien 1975.

3 Vgl. dazu etwa den historischen Hintergrund bei Borst (1989), S. 212: »Wer ein Ritter heißt, der reitet bewaffnet in die Welt und sucht gleichgerüstete Standesgenossen, mit denen er die Klinge kreuzen kann, nicht um sachliche Gegensätze auszutragen, son-dern um Ritters Art stets neu zu erweisen.«

4 Siehe zur Mittelalterrezeption bei Monty Python allgemein: Neunfeld (2002); Burde (1993); Day (2002) und (1991); Gorgievski (1997); Hoffmann (2002).

5 Erinnert sei z. B. daran, dass Federico da Montefeltro sein rechtes Auge dadurch ver-lor, dass sich ihm eine gegnerische Turnierlanze durchs Visier ins Auge bohrte. Vgl. dazu das im Folgenden zu Federico da Montefeltro Gesagte. – Heinrich II. von Frank-reich kam auf diese Weise bei einem Turnier anlässlich der Heirat seiner Tochter Eli-sabeth mit Philipp II. von Spanien am 29. Juni 1559 ums Leben. Vgl. dazu Babel (1994), S. 74; Gurlt (1964), S. 720.

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»So solt er im namen gottes mit mir hinfahren[…]« 23

lich kämpft Walther gegen den von Hagen unterstützten Gunther.6 Dabei haut er diesem mit einem gewaltigen und erstaunlichen Schlag, »ictum praevalidum ac mirandum«, das ganze (rechte) Bein samt Knie vom Ober-schenkel ab.7 Im Gegenzug verliert Walther seine rechte Hand durch einen Schwerthieb Hagens.8

Doch der hervorrag’nde Held, dem es fremd war, dem Unglück zu weichen, und der’s vermochte, besonnen leiblichen Schmerz zu verwinden, ließ den Mut nicht sinken, […] riß sofort mit der heilen Hand das Halbschwert heraus […] und auf der Stelle nahm er strenge Rache am Gegner. Denn er stieß zu und stach Hagen das rechte Au-ge heraus und spaltete ihm die Schläfe und riß ihm die Lippen gleichzeitig auf und schlug dem Feind sechs Backenzähne zuletzt aus dem Munde. […] da lagen am Boden der Fuß König Gunthers, die Hand von Walther und schließlich Hagens zuckender Augapfel.9

Die Schwerverletzten ergehen sich darauf allerdings weder in Hasstiraden noch in depressiver innerer Einkehr, wie man vielleicht erwarten würde, sondern sie verspotten sich gegenseitig auf derbste Art und Weise ob ihrer Verstümmelungen, wodurch die Szene ein unvermutet versöhnlich-heiteres Finale erhält.10 Der Verlust von Gliedmaßen und des Augenlichts wird von mittelalterlichen Heldenkriegern also mit Gelassenheit, ja Humor getragen, glaubt man diesem Text. Doch bekanntermaßen geht es in mittelalterlicher Epik und in literarischen Werken überhaupt um Stilisierungen und Typisie-rungen, um Botschaften, die durch die Mittel der Deduktion und Kompri-mierung mit Elementen der historischen Realität angereichert werden kön-nen. Keinesfalls ist aber an eine Wahrnehmung und Wiedergabe realer his-torischer Verhältnisse im Maßstab 1:1 zu denken.

6 Waltharius (1994), S. 170-178. – Siehe dazu auch Bertini (2002), Sp. 2002; Wolf (1976), S. 206f.; Zwierlein (1970), S. 153ff.; Wehrli (1965), S. 71.

7 Waltharius (1994), S. 170, V. 1363-1365.

8 Waltharius (1994), S. 172, V. 1381-1383: »Qui dum forte manum iam enormiter ex-eruisset, / Abstulit hanc Hagano sat laetus vulnere prompto. / In medio iactus recide-bat dextera fortis […]«.

9 Waltharius (1994), S. 172-174, V. 1386-1403: »Sed vir praecipuus nec laevis cedere gnarus, / Sana mente potens carnis superare dolores, / Non desperavit [...] / Incolo-mique manu mox eripuit semispatam [...] / Ilico vindictam capiens ex hoste severam. / Nam feriens dextrum Haganoni effodit ocellum / Ac timpus resecans pariterque la-bella revellens / Olli bis ternos discussit ab ore molares [...] / Illic Guntharii regis pes, palma iacebat / Waltharii nec non tremulus Haganonis ocellus.«

10 Waltharius (1994), S. 176, V. 1424, 1443: »Inter pocula scurrili certamine ludunt. [...] / His dictis pactum renovant iterato coactum.« Walther soll als Handattrappe einen Handschuh mit flauschiger Wolle stopfen, Gunther soll sein Schwert beim Beischlaf zur »Umarmung« seiner Frau zu Hilfe nehmen, Hagen schielend Befehle erteilen und Krieger begrüßen.

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Oliver Auge 24

Körperliche Versehrtheit als Thema der Forschung, aber auch der Quellen?

Im Unterschied zur literarischen Fiktion nach genau dem historischen Phä-nomen adeliger Körperversehrtheit durch Krieg, Kampf oder Turnier zu fragen – was im Folgenden geschehen soll –, bot nun der Historikertag des Jahres 2008, der sich »Ungleichheiten« in der Geschichte verschrieben hat-te, bzw. die Sektion, die sich Ursachen und Folgen körperlicher Beeinträch-tigung im Mittelalter allgemein zum Thema gemacht hatte, beste Gelegen-heit.11 Obwohl der menschliche Körper als eine entscheidende Determinan-te der menschlichen Existenz12 schon oft und mit scheinbar steigender Tendenz im Mittelpunkt historisch-anthropologischer Untersuchungen stand13, ist von Mittelalterhistorikern die Frage nach kampfversehrten Ade-ligen noch nicht gestellt worden. Das hängt sicher mit der Quellensituation zusammen. Denn diese ist mehr als bescheiden zu nennen – ein Befund, der sich mit den Beobachtungen Sonja Kerths zur späten Heldendichtung deckt14 und auf den auch die Althistorikerin Loretana de Libero bei ihrer Untersuchung über kriegsversehrte Aristokraten zur Zeit der römischen Re-publik gestoßen ist15. Der Tod auf dem Schlachtfeld, so ihre Worte, sei in einer kriegerischen Gesellschaft wie der römischen oft besungen, erzählt und gerühmt worden, während die Kriegsfolgen, insbesondere die Kriegs-invalidität, kaum als Thema in der antiken Literatur auftauchten.16 »Der Heldentod ließ sich idealisieren, der Gliederverlust nicht.« Das gilt cum gra-no salis auch für das Mittelalter. In literarischen Quellen, Dichtung wie Pro-sa, finden sich Nachrichten über Tote, die Kriege und Turniere forderten, zuhauf.17 Über Verletzte aber lassen sich die Quellen, in schriftlicher oder auch bildlicher Form, viel weniger aus und oft nur, um »sensationslüstern«

11 Vgl. das Programmheft Ungleichheiten (2008), S. 45f.

12 So Le Breton (2000), S. 3.

13 Grundlegend: Bynum (1996). – Siehe z. B. Groebner (2003); Nolte (2004); Fried (1997); Dülmen (1996); Bumke (1994); Lumme (1996); Regnier-Bogner (1990), S. 341ff. (»Der Körper«); Schmitt (2002); Schreiner/Schnitzler (1992). – Vgl. auch die Studien und Sammelbände zu einzelnen Körperteilen und -organen, etwa Wahrig (2006); Gadebusch Bondio (2005); Rochow (2007).

14 Kerth (2002), S. 272: »[…] werden Wunden und körperliche Schädigungen bei den Überlebenden weitgehend verdrängt. Die Helden sterben oder überstehen den Kampf ohne nennenswerte körperliche Zeichnung: traurig, aber gesunt verlassen sie den Schauplatz des Gemetzels. […] Kampfspuren sind in der späten Heldendichtung also nicht ewig dem Körper der Helden eingeschrieben. Sie können wieder ausradiert wer-den […].« – Siehe im Vergleich dazu zum »toten« Körper des Kriegers Lienert (2000).

15 Libero (2002).

16 Libero (2002), S. 172. Hieraus auch das folgende Zitat.

17 Siehe als wirklich beliebiges Beispiel die auf altenglischer Epik beruhende Schilderung der Schlacht von Maldon, die paraphrasiert wird bei Borst (1979), S. 423-425.

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»So solt er im namen gottes mit mir hinfahren[…]« 25

zu berichten, dass eine Verwundung so schwer war, dass sie in der Folge zum Tod führte.18 So erzählt gleich eine ganze Reihe von Chroniken da-von, dass Leopold V. von Österreich bei einem Turnier, zu welchem er 1194 nach Graz geladen hatte, durch einen Sturz vom Pferd so schwere Verletzungen erlitt, dass er, auch nachdem er sich das zerquetschte Bein von seinem Kämmerer hatte abschlagen lassen, bald darauf an Wundbrand starb.19 Mathias von Neuenburg berichtet vom jungen Grafen Diether von Katzenelnbogen, er sei von einem Ritter von Gebweiler im Turnier aus dem Sattel gehoben und dabei so unglücklich getroffen worden, dass er kurz darauf seinen Wunden erlag.20 Und selbst wenn der Betroffene seine Verlet-zungen mit bleibenden Schäden überlebte, sind die wenigen Nachrichten darüber kaum weitergehend auswertbar. So hat sich z. B. zu Robert von Clermont, dem Bruder König Philipps III. von Frankreich, die Nachricht erhalten, dass er im Jahre 1279 gleich bei seinem ersten Turnier so schwere Kopfverletzungen erlitt, dass er für den Rest seines Lebens zum Pflegefall wurde: »decidit in amentiam perpetuam« (»er fiel in immerwährenden Wahnsinn«).21 Über die genauen Umstände seines weiteren Lebens erfahren wir aber nichts. Kaum anders verhält es sich etwa im Falle des Stauferher-

18 Siehe z. B. Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte (1969), S. 232f., wo Regino berichtet, Karls des Kahlen Sohn Karl seien von Albuin aus Versehen so schwere Verwundungen beigebracht worden, dass dieser, an seinen Gliedern gelähmt und im Gesicht verunstaltet, den Vorfall nur kurze Zeit überlebte: »Ille nihil minus existimans quam filium regis, evaginato gladio ex adverso eum in capite percussit moxque terrae prostravit, deinde multis vulneribus confossum semivivum reliquit, arma pariter et ca-ballum secum auferens; debilitatus ergo membris ac vultu deformatus pauco tempore supervixit.«

19 Annales Reicherspergenses (1861), S. 521: »Nam quadam die cum in exercitio et ludo militari tempus deduceret, divina permissione cum equo in terram collapsus pedem confregit, et exinde ingravescente dolore ad extrema perductus monachicum habitum induit.« S. 522: »Et sic tandem cum multa contricione finivit.« Chounradi Schirensi annales (1861), S. 631: »Liupoldus dux Austriae in exercitio militari lapsus equo, abrupto crure, monachus apud Sanctam Crucem factus, bene dispositis rebus suis, post paucos dies obiit«; Ex Rogeri de Hoveden chronica (1885), S. 172: »cum militibus suis luderet, cecidit equus suus«; Ex Radulfi abbatis de Coggeshale historia Anglicana (1885), S. 351: »lusum equitando pergeret«; Ex Radulfi de Diceto Lu-douiensis decani operibus historicis (1885), S. 284: »Die festo sancti Stephani protho-martyris, dum apud Gratiam dux Austrie Limpoldus dies natalicios celebraret et iuxta consuetudinem regionis sui corporis agilitatem inter suos ostenderet commilitones de plano militaribus armis accinctus, flexis in girum frenis, equo cecidit, et pedibus attri-tione subita sauciatus ad necem, urgentissima tandem necessitate compulsus, consilio medicorum pede truncatus est [...].« – Vgl. dazu Fleckenstein (1985), S. 240f.

20 Die Chronik des Mathias von Neuenburg (1984), cap. 38, S. 100: »Ubi […] comes in Katzenelnbogen per […] Grat militem de Gewilr hastiludio prostratus cum maxima penitencia moriens […]«.

21 Berichtet in den Gesta Philippi Tertii Francorum Regis (1840), S. 512. – Vgl. dazu auch Keen (1999), S. 135.

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Oliver Auge 26

zogs Friedrich II.22, des Markgrafen Wilhelm I. von Meißen23 oder – weit später – des Herzogs Georg I. von Pommern24 – die Reihe ließe sich leicht um weitere Fürsten und Adelige verlängern. Sie begegnen uns als monoculi, Einäugige, ohne dass sich anhand der vorhandenen Quellen näher bestim-men ließe, auf welche Weise sie sich denn überhaupt ihren Augenverlust zugezogen hatten: krankheits- bzw. altersbedingt oder doch, wie Hagen im »Waltharius«, im Kampf? Mehr erfahren wir über einen der Gefolgsleute des arabischen Autors Amir Usâma ibn Munqid († 1188), um einmal den mitteleuropäischen Rahmen zu verlassen.25 Ihm wurden laut Bericht durch einen Schwerthieb Augenbraue und Augenlid, Wange, Nase und Oberlippe durchtrennt. Die gesamte Gesichtshälfte hing ihm bis auf die Brust herab. Die Verletzung wurde, wie wir weiter erfahren, genäht und so gut behan-delt, dass mit Ausnahme des verlorenen Auges alles wieder so wurde wie zuvor. Doch wie wirkte sich der Augenverlust auf das weitere Leben des Kriegers aus? Darüber schweigt der Chronist. Sogar Selbstzeugnisse lassen für unser Thema zumindest vordergründig an Aussagekraft zu wünschen übrig. Georg von Ehingen berichtet z. B. in seiner Biographie »Reisen nach der Ritterschaft« von einer Schienbeinverletzung, die er bei Kämpfen um Granada durch das Geschoss einer gegnerischen Stockschleuder erhielt und deren Folgeleiden, chronischer Wundfluss, ihn bis ins Alter plagte.26 Die Auswirkungen der Beschwerden auf seinen weiteren Lebensalltag werden von ihm aber in keiner Weise konkretisiert. Rare Quellen also allenthalben, auch im autobiographischen Bereich. Dabei war es doch zwangsläufig un-vermeidbar, dass auf den zahlenmäßig kaum überschaubaren Schlachtfel-dern27 und Turnierplätzen des Mittelalters nicht nur Tote zurückblieben, sondern auch Verwundete, die sich Verletzungen zugezogen hatten, die – trotz der stets herrschenden tödlichen Infektions-, vor allem Wundbrandge-

22 Engels (2005), S. 24: »Friedrich erhielt später den Beinamen ›der Einäugige‹, ein kör-perlicher Defekt, der ihn königsunfähig machte; um beantworten zu können, warum Konrad und nicht er König wurde, wäre es nötig zu wissen, wann er sein Auge verlo-ren hat.« Engels (2000), S. 37: »Deshalb bleibt es rätselhaft, warum nicht Friedrich selbst das Königsamt übernommen hat. Wesentlich später heißt es, er habe ein Auge verloren (sein Beiname ›monoculus‹), doch keiner weiß, seit wann.«

23 Der Sage nach soll Wilhelm der hl. Benno im Traum erschienen sein und von diesem ein Auge ausgestochen bekommen haben. Siehe dazu Flathe (1898).

24 Des Thomas Kantzow Chronik von Pommern in hochdeutscher Mundart (1897), S. 402f.: »Das Auge, das er ausgestochen, was ime doch so widder geheilet, das mans ime nicht wol ansehen khonte, das er nichts mit sahe. Aber dennoch sahe er ein wei-nig grewlicher domit wan mit dem andern.«

25 Dazu und zum Folgenden Jankrift (2005), S. 76.

26 Ehrmann (1979), S. 67, Z. 13ff. – Vgl. zur Textstelle ausführlich Schmidt (1997), S. 52f.

27 Ein anschauliches Bild vermittelt Zeilinger (2007).

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»So solt er im namen gottes mit mir hinfahren[…]« 27

fahren28 – zwar nicht zum Tode führten, andererseits aber auch nicht im Rahmen eines erfolgreichen Genesungsprozesses wieder vollständig beho-ben werden konnten29. Mit anderen Worten: Menschen, die im Kampf und beim Turnier Arme, Beine oder das Augenlicht verloren bzw. sich auffällige Verstümmelungen in irgendeiner Form zugezogen hatten, dürften im Mit-telalter keine Seltenheit gewesen sein, ganz so wie eben bei Monty Python oder im zitierten »Waltharius« der Anschein erweckt wird. Doch steht dazu im Kontrast, dass unsere Quellen von ihnen kaum oder überhaupt nicht berichten. War das Thema, obwohl omnipräsent, wie zu unterstellen ist, nicht von Interesse, oder schwieg man sich darüber sogar ganz bewusst aus? Und schrieben die Betroffenen selbst nicht darüber in »selbstauferleg-te[r] Ausgrenzung des Invaliden, der fürchtet, dass die Gesellschaft sein Leiden als Defizit wahrnimmt und mit Spott oder Mitleid reagiert«?30 Je-denfalls setzt die feststellbare Schieflage von hypothetischem Sachverhalt und objektiver Quellensituation unsererseits eine intensive, im Ergebnis oft wenig bis gar nicht ergiebige Sucharbeit voraus – und angesichts kaum aus-sagekräftiger Quellen eine besondere Aufmerksamkeit für Signalwörter: Was heißt es nämlich, wenn in Brunos »Sachsenkrieg« von Rudolf von Rheinfelden ganz knapp erzählt wird, er habe aus der Schlacht gegen Hein-rich IV. zwei Wunden davon getragen: »uno letali, altero deformi« – deren eine tödlich, deren andere aber »entstellend«31 war? In einem ähnlichen Ton berichtet etwa ein bayerischer Chronist vom Habsburger Albrecht I., der sein Augenlicht – wohlgemerkt durch eine falsche medizinische Be-handlung – verloren hatte: »het nur ain auge und gar einen unwirdichen anplich«.32

28 Vgl. etwa nur den Hinweis auf die Sepsisgefahren bei Jankrift (2005), S. 76.

29 Einen hilfreichen Interpretationsbeitrag kann bei dieser Frage natürlich die Auswer-tung osteoarchäologischen Fundmaterials liefern. So berichtet Jankrift (2005), S. 73, z. B. von einem in Aebelholt (Seeland, Dänemark) gefundenen Skelett eines etwa 40-jährigen Mannes, dem offensichtlich durch einen Schwerthieb ein Knochenspan aus dem linken Schläfenbein abgeschlagen worden war. »Gleichzeitig hatte der Streich den Jochbogen durchtrennt. Zwar überlebte er die schwere Verwundung, doch war in deren Folge die Kaumuskulatur des Mannes inaktiviert. Daneben weist das Skelett ei-ne [ebenfalls kriegsbedingte? – O. A.] Serienfraktur von sechs Rippen auf der rechten Seite auf, die ebenfalls wieder verheilte. Das Schulterblatt und der Oberarm ließen Spuren einer alten Luxation erkennen, während das linke [sic] einen verheilten Bruch zeigt. Am linken Schulterbein war eine Infektion mit einem Brandeisen behandelt worden. Das Ellenbogengelenk auf dieser Seite war nach einer Fraktur in einem 90°-Winkel versteift. Welche Schmerzen der Mann zu Lebzeiten infolge so massiver Ver-letzungen gelitten haben muss, erscheint kaum vorstellbar.«

30 Zitat aus Libero (2002), S. 184.

31 Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. (2000), S. 392.

32 Zitiert nach Krieger (1994), S. 75.

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Oliver Auge 28

Das Gegenbild: Körperliche Unversehrtheit als Ideal

Um solche abfällig wertenden Äußerungen zu verstehen, ist es notwendig, sich der Rolle bewusst zu werden, die ein gesunder, unversehrter Körper in der mittelalterlichen Adelswelt spielte. Wohlgestalt bzw. ein einnehmendes Äußeres war im hohen und späten Mittelalter Teil des Bildes vom idealen Herrscher bzw. Adeligen. Ein harmonisch wirkender Körper entsprach dem christlichen Idealbild, wie wir es z. B. bei Johannes Scotus niederge-schrieben finden:

Si nullus ordo fieret, nulla harmonia. At si nulla harmonia, nulla sequeretur pulchri-tudo. In omnino enim similibus sicut nulla harmonia est, ita nulla pulchritudo. (Wenn also keine Ordnung geschaffen würde, entstünde (auch) kein Einklang. Und wenn kein Einklang entstünde, ergäbe sich auch keine Schönheit. Wenn es nämlich bei völ-lig gleichen Dingen keinen Einklang gibt, gibt es auch keine Schönheit.)33

Der Körper insbesondere des Königs wurde als direktes Zeichen seiner Herrschaftstauglichkeit betrachtet.

Die körperliche Perfektion und äußerliche Harmonie des karolingischen Herrschers steht in einer engen Verbindung zu dessen seelisch-moralischer Vollkommenheit. […] Äußeres und Erfolg eines karolingischen Herrschers sind für den Zeitgenossen […] sichtbares Zeichen des Seelischen und Religiösen.34

Ähnliches gilt für den Adel allgemein. In seinem grundlegenden Beitrag »Nobles and Others« vertritt Timothy Reuter für das Hochmittelalter die These, dass der Adel seine Dominanz als gesellschaftliche Elite u. a. da-durch behauptete, dass er sich mit einer ganzen Reihe von social markers versah, welche diese Dominanz zum Ausdruck brachten und stets von neu-em aktualisierten.35 Dazu rechnet Reuter neben Ritualen im sozialen Um-gang die Sprache, die Kleidung, das Essen und zu guter Letzt die körperli-che Erscheinung. Adelige waren, wie er schreibt, ihrer besseren Ernährung wegen nicht nur durchweg größer als die übrigen Zeitgenossen36, sie waren im Regelfall auch von einem vollkommeneren Körperbau als die anderen, indem nämlich die körperlich beeinträchtigten Adelsgenossen in klösterli-che Einrichtungen »abgeschoben« wurden37. Als Beleg dienen ihm Texte aus dem monastischen Bereich, worin von Klosterangehörigen die Rede ist, die lahm, einäugig bzw. blind oder einarmig, sämtlich aber von Adel gewe-sen seien. In einer Welt, so Reuters Schluss, in der geistige und körperliche Behinderungen allgegenwärtig und sichtbar waren, erschien der Adel durch

33 Johannes Scotus Eriugena (1975), cap. 9, Z. 159ff. – Dazu, auch zum Folgenden, Win-ter (2005), S. 127.

34 Winter (2005), S. 128. – Siehe dazu auch Kühne (1898), S. 40f.

35 Reuter (2000).

36 So auch Fried (1998), S. 233. – Zur Vorsicht, den Größenunterschied nicht überzube-werten, mahnt Winter (2005), S. 108.

37 Reuter (2000), S. 89f., bes. mit Anm. 15.

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»So solt er im namen gottes mit mir hinfahren[…]« 29

die gängige Abschiebepraxis von dieser Geißel kollektiv ausgenommen.38 Über die Frage, inwieweit man die angesprochenen klösterlichen Texte tat-sächlich als Beleg für eine so konsequente Abschiebung zur Wahrung des Anscheins kollektiver körperlicher Unversehrtheit gelten lässt, kann sicher kontrovers diskutiert werden. Andere chronikalische Nachrichten, etwa die bekannte Stelle bei Regino von Prüm, worin von einem Rippenbruch Lud-wigs des Deutschen die Rede ist, den dieser ohne Klagen und Seufzer trotz des Krachens seiner zerbrochenen und aneinanderreibenden Knochen er-trug, um nur irgendwie das körperliche Defizit vor seinem Bruder Karl dem Kahlen zu verbergen39, oder normative Gesetzestexte, z. B. in den altiri-schen Bechbretha40, worin die Absetzung eines durch Bienenstich erblinde-ten Herrschers gefordert wird, weisen allerdings in eine ganz ähnliche Rich-tung und scheinen zu belegen, dass im Hochmittelalter das »Postulat des körperlich unversehrten Herrschers«, von dem Rudolf Hiestand gesprochen hat41, nicht nur den gelehrten Theorien nach, sondern tatsächlich auch be-stand. Ob im Übrigen körperliche Versehrtheit, ähnlich wie anscheinend teilweise Krankheit42, über eine theoretisch-religiöse Reflexion oder verein-zelte exemplaartige Episoden aus dem Bereich der Heldensage43 hinaus im realen Alltag als Ergebnis und Ausweis zuvor sündhaften Lebens und Ver-haltens betrachtet wurde, bleibt noch genauer zu untersuchen. Direkte Zeugnisse hierfür sind bislang nicht beigebracht.

Für die spätere Zeit ist zwar nicht von einem unbedingten Postulat auszu-gehen – immerhin sind wenigstens vereinzelt Herrscher und Adelige mit

38 Reuter (2000), S. 90: »In a world where mental and physical disabilities were common and visible, aristocrats appeared collectively exempt from such scourge.«

39 Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte (1969), S. 230: »[…] ut duae costae eius a sua compage disiungerentur. Et cum omnes accurrissent eumque perisse arbitrarentur, ipse a loco, in quo ceciderat, surgens suis se representavit, asserens se nihil mali pas-sum, et ultra, quam credi potest, dissimulato languore sequenti die contra fratrem ad Marsana proficiscitur. Tanta huius principis duricia, tanta animositas fuit, ut, cum e-tiam fragor fractarum costarum adinvicem collidentium a nonnullis audiretur, nemo tamen propterea audierit eum suspirium trahentem vel gemitum emittentem.«

40 Kelly (1988), S. 19, nach Bechbretha. Hg. von Thomas Charles-Edwards u. Fergus Kelly. (=Early Irish Law Series 1) Dublin 1983, S. 68f., § 31f.

41 Hiestand (1986), S. 66.

42 Auge (2007), S. 85f.

43 Bekanntes Beispiel hierfür ist König Anfortas aus der Parzivalsage Wolframs von Eschenbach, der als Zeichen seiner Sünde an einer nicht heilenden Wunde leidet: Par-zival (2003), Buch IX, S. 477-488, hier besonders S. 482, V. 13-16: »swelch grâles hêrre ab minne gert anders dan diu schrift in wert, der muoz es komen ze arbeit und in siufzebæriu herzeleit« (»Wenn aber der Herr des Grâls Verlangen hat nach Liebe, nach einer Liebe, die ihm nicht jene Schrift ausdrücklich erlaubt hat, dann muß ihm das Kummer bringen und Seufzen und Schmerzen.«).

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Oliver Auge 30

körperlichen Defekten bezeugt44 –, aber zumindest galt körperliche Schön-heit und Unversehrtheit nach wie vor als Herrscher- und Adelsideal, wor-über uns zahlreiche Bemerkungen in Chroniken45 und Fürstenspiegeln46 der Zeit belehren. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Thomas Kantzow in seiner »Chronik von Pommern« bei der Würdigung des pommerschen Herzogs Bogislaw X., in deren Rahmen er auch ausführlich seine körperli-chen Vorzüge beschreibt:

Diesser Hertzog Bugslaff ist [...] von einem aufbundigen, wohlgewachssen, grossem Corper gewest, also das er unter vielen grossen Lewten diesses Landes kein Gleichen gehapt, und ist vor allen anderen wie ein Rise gewest, [...] eins herlichen, wackern und menlichen Angesichts, hoher Stirn, brawlechtiger, großer, lebendiger Augen, einer hupschen Nasen [...], zimlicher Munt, eins hofflichen zuspalten Kyns, breiter starcker Brust, schones Leibes und gerader Schenckel, und in Summa nach seiner Grosse durchaus so wol geproporcioniret, als je ein Mensch sein mochte.47

Nach wie vor wurden im Spätmittelalter daher auch Adelige, deren Körper in irgendeiner Weise versehrt war, ins Kloster oder überhaupt in eine kirch-liche Institution »abgeschoben«, ganz so, wie es Reuter für das Frühmittelal-ter beobachtet hat. Auskunft erteilen uns darüber insbesondere die an die Kurie gerichteten Dispensgesuche, die in großer Zahl erhalten sind.48 Doch handelt es sich bei diesen Dispensen weder um ein adeliges Alleinstel-

44 Das sicher bekannteste Beispiel liefert Johann der Blinde von Luxemburg. Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, welche Rolle der Fakt seiner – offenbar nicht kriegs- oder turnierbedingten – Erblindung bei seinem »Heldentod« in der Schlacht von Crécy spielte. Atten (1997) geht darauf nicht ein. Vgl. aber etwa die Andeutungen da-zu bei Seibt (1997), S. 17.

45 Vgl. auch z. B. die Beschreibungen zu König Sigismund in der »Klingenberger Chro-nik«: »Wo er wandlet, da warend im arm und rich hold, won er hatt ain guot gestalt« (Die Klingenberger Chronik (1861), S. 209) oder bei Eberhart Windecke: »also was […] konig Sigmont ouch der schonste wol redenste wiseste fürste der doch mochte sin zü einem Roemischen konige in Deutschen landen« (Eberhart Windeckes Denkwür-digkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigismunds (1893), S. 105; siehe auch S. 418). – Weitere Beispiele nennt Schubert (1979), S. 60f. – Diese Beobachtungen relati-vieren die »Entdeckung der Schönheit des Körpers« in der Neuzeit, wie sie die For-schung vielfach postuliert, siehe z. B. Verspohl (1998).

46 Siehe zum Thema Körtgen (1982). Zwar geht es hier generell um die Gesundheit des Fürsten, doch impliziert eine solche im Prinzip auch körperliche Unversehrtheit.

47 Des Thomas Kantzow Chronik von Pommern in hochdeutscher Mundart (1897), S. 391. – Siehe etwa auch die nahezu beiläufig niedergeschriebenen Charakterisierungen dieses Fürsten bei Johannes Bugenhagen anlässlich Bogislaws Besuch in Venedig: Pomerania (1986), S. 155: »Admirantur singularem viri formam et egregiam corporis staturam […]«.

48 An Informationen hierzu reich ist das Repertorium Germanicum. Siehe z. B. Reperto-rium Germanicum (2000), S. 84, Nr. 525: »Bernardus de Westerstetten can. eccl. s. Vi-ti in Elwangen August. dioc. qui in pueritia oculum suum dextrum lesit« oder S. 273, Nr. 769: »Hampto Marschalk de Papenham can. eccl. Eistet. […] pars digiti indicis manus sue sinistre abscisa fuit […]«.

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lungsmerkmal – d. h. es kommen auch zahlreiche Versehrte bürgerlicher Herkunft vor.49 Außerdem erfahren wir in den wenigsten Fällen etwas über den genauen Hintergrund der Versehrtheit. Für unser engeres Thema des Umgangs mit der Körperversehrtheit infolge von Kampf und Turnier sind diese Informationen also nur bedingt tauglich.

Folgen wir Cordula Nolte, so handelte es sich beim Adel des späten Mittel-alters um eine gesellschaftliche Gruppe, »die einen ausgeprägten ›Körper-kult‹ trieb in dem Sinne, daß sie bestimmte Körperideale hatte und einen Lebensstil pflegte, bei dem Vitalität und körperliche Gesamtverfassung (›Fitneß‹) eine wichtige Rolle spielten«.50 Adelige Körperlichkeit hatte dabei stets auch eine politische Dimension, wie das Beispiel der Fürsten bestens zeigt:

»Der Fürst mußte seine physische Konstitution in der Jugend stärken, vor allem durch körperliches Training und eine ausgewogene Diät, und zeitlebens sorgfältig seine Ge-sundheit erhalten, um der Regierungsarbeit gewachsen zu sein. Er legte überdies in der politischen Öffentlichkeit Wert darauf, im Vollbesitz seiner Kräfte zu erscheinen. In ritterlichen Wettkämpfen ließ er als Athlet die Muskeln so sichtbar wie möglich spie-len, womöglich gar im Seidenhemd, ohne den schützenden Harnisch. Vor allem ge-genüber politischen Gegnern, die aus seiner Hinfälligkeit hätten Kapital schlagen kön-nen, demonstrierte der Herrscher Vitalität.«51

Herrschen – nach Ernst Schubert nichts anderes als Reiten, Reiten, Reiten52 –, Kämpfen, Jagen, Rennen und Stechen, selbst Tanzen als Kernelemente adeligen Lebens, mittels derer sich der Adel von anderen gesellschaftlichen Schichten abhob und als eigene soziale Gruppe definieren konnte, setzten in der Tat in einem hohen Grad körperliche Intaktheit voraus53. Nur bei vol-len Körperkräften und unbeschränkter körperlicher Mobilität ließ sich in den genannten Bereichen Ruhm und Ehre erlangen, um deren Erwerb oder Erhalt es in der agonalen54 Adelsgesellschaft ganz grundsätzlich ging. Um-gekehrt waren die Adeligen, die Arno Borst nicht ganz abwegig schon ein-mal als »Frischluftfanatiker« bezeichnet hat55, gerade durch diese Tätigkeits-felder – sieht man vielleicht einmal vom Tanzen ab – besonderen Gefahren und körperlichen Belastungen ausgesetzt, welche die Teilnahme am adeli-gen Agon erschweren oder sogar ganz beenden konnten. Zu Johann von Luxemburg, dem späteren Blinden, haben sich gleich mehrere Meldungen

49 Z. B. Repertorium Germanicum (2000), S. 46, Nr. 280, oder S. 720, Nr. 4866.

50 Nolte (2004), S. 45.

51 Nolte (2004), S. 51.

52 Schubert (1998), S. 37.

53 Dazu und zum Folgenden nochmals Nolte (2004), S. 64f. – Siehe zu den Anforderun-gen an adelige »Mobilität« auch Nitschke (1987).

54 Agon = griech. αγων »Kampf«, »Wettstreit«.

55 Borst (1989), S. 219.

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erhalten, welche die Gefährdungen anschaulich nahebringen56: Peter von Zittau z. B. berichtet von Johanns Sturz vom Pferd anlässlich eines Tur-niers, das 1321 am Altstädter Ring in Prag stattfand. Die Pferde seien wei-tergaloppiert und hätten den König schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ein Jahr später stürzte Johann in der Schlacht von Mühldorf in spektakulärer Weise und wurde unter dem Pferd des Marschalls von Pillichdorf begraben, wie wir anderenorts lesen. Bei seiner Vermählung mit Beatrix von Bourbon wurde Anfang 1335 in Paris ein Turnier abgehalten, in dessen Verlauf Jo-hann nach chronikalischer Auskunft so schwer verletzt wurde, dass er eini-ge Wochen außer Gefecht gesetzt war. Einzelheiten über die Verwundungen erfahren wir übrigens in keiner Quelle. Der eine oder andere Schlag aufs Auge dürfte aber durchaus dabei gewesen sein, ohne dass dies wohl den Ausschlag für die spätere Erblindung gab.

Narbenschau: Körperliche Versehrtheit als »Ehrenmal« und Marken-zeichen

Adelige lebten aufgrund der skizzierten Gefahrenlage jedenfalls auch in dem besonderen Bewusstsein, verletzlich und nahezu stets an Leib und Leben gefährdet zu sein.57 Von Kaiser Friedrich III. wird etwa erzählt, er habe seinen Sohn Maximilian, bekanntermaßen ein notorischer Liebhaber des Turnierwesens, gescholten, als dieser bei einem Turnier von Pfalzgraf Phi-lipp vom Pferd gestoßen worden sei.58 Womöglich ging es bei dieser Schel-te gar nicht so sehr um den Ehrverlust, den Maximilian dadurch erlitt und für den sich Philipp sofort auch fußfällig beim Kaiser entschuldigte, son-dern um die Angst des Vaters, dass sein Sohn und potentieller Nachfolger eine schwerere, bleibende Verletzung aus dem waghalsigen Turnier davon-tragen könnte.

Ein anschauliches Beispiel, wie sich ein körperliches Handicap tatsächlich negativ auf den angestrebten Erhalt oder Erwerb von Ehre auswirken konn-te, liefert Oswald von Wolkenstein, der einen schweren Augenschaden hat-te, welcher ihn bei Kämpfen massiv behinderte. Zum Dank für die Wieder-aufnahme in die Gnade Herzog Friedrichs von Österreich, derer er zuvor verlustig gegangen war, musste Oswald 1427 seine Teilnahme an einem Feldzug gegen die Hussiten oder andere Feinde des Hauses Österreich gelo-

56 Dazu und zum Folgenden Bellwald (1997), S. 548f. Quellen bei Macek (1985), S. 377f.

57 Nolte (2004), S. 50.

58 Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. (1989), S. 943f. mit Anm. 4 nach der Koelhoffschen Chronik (1877), S. 867: »[…] Item dairnae in der wechen nae dem sondach jubilate woulden die heren ein vreude machen […]. Ind der paltzgreve rant in [Maximilian – O. A.] af, dairumb keiser Frederich al lachende mit sim sone schimpde. Ind so risch as der konink afgevallen was, sprank der paltzgreve van sime hengste, vallende up sin kniee. Ind begert van der keiserliche majestait, dat niet upzonemmen vur quait, dat zo einre genoichte ind kurtzwile geschiet were.«

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ben.59 Sollte er dazu nun aber physisch nicht in der Lage sein, musste an seiner statt ein Verwandter den gewünschten Kriegsdienst leisten, ausdrück-lich um Oswalds Ehre zu wahren. Die körperliche Beeinträchtigung hätte demnach tatsächlich zur Ehrminderung führen können.

Wohlgemerkt handelte es sich bei Oswalds Augenschaden um einen ge-burtsbedingten Defekt. Wie sah es demgegenüber bei schwerwiegenden Körperschäden aus, die auf den adeligen Agon zurückzuführen waren? Zur Beantwortung der Frage kann eine Episode in der Autobiographie Sieg-munds von Herberstein herangezogen werden.60 Wir erfahren darin, dass sich Georg von Freundsberg im Verlauf eines Streitgesprächs offenbar dem Vorwurf oder Spott ausgesetzt sah, er sei ein »Polsterritter«. Dagegen wehrte er sich mit Verweis auf seinen krummen Fuß, eine wohl im Kampf zugezo-gene Beeinträchtigung.61 Die Beeinträchtigung war, da im Kampf erworben, diesmal also gerade nicht ehrmindernd. Vielmehr diente sie in diesem Fall zur argumentativen Untermauerung des eigenen Ehranspruchs, was den unversehrten Redekontrahenten nun seinerseits unter Druck setzte. Denn er fühlte sich im Gegenzug genötigt, zu erklären, dass er auch nicht am Rock-zipfel erzogen worden, sondern an Kämpfen oft beteiligt gewesen sei. Da Gott ihn behütet habe, sei er nun »nichts dest geringer neben den Geschoß-nen oder Erschoßnen zu achten darumen [er] dan auch mit ritterlicher Wierd und Ehern begabt« worden sei.62 Vorwurf und Spott über einen körperlichen Defekt konnten also beim geschickt platzierten Nachweis, dass es sich um eine Kriegsverletzung handelte, in Achtung und Respekt um-schlagen, die den Versehrten vor dem Unversehrten auszeichneten, voraus-gesetzt, der Träger des Defekts erschien glaubwürdig. Hier fassen wir frühe Spuren hin zu einer Entwicklung, an deren Ende spätestens im frühen 20. Jahrhundert die Umdeutung von Kriegsverletzungen in »Ehrenzeichen«, individuelle Erinnerungsmale an Heldentaten, stehen sollte.63 Diese Umdeu-tung wiederum macht verständlich, warum John McCain, der gegen Barack Obama unterlegene Präsidentschaftskandidat, seine Kriegsverletzungen als Argument dafür verwenden wollte, ihn und nicht seinen Kontrahenten zu

59 Dazu und zum Folgenden Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein (2001), S. 259-262, Nr. 169.

60 Luschin von Eßengreuth (1892), S. 83f., Nr. 25. – Für den Hinweis auf diese Quellen-stelle sei Bianca Frohne, Bremen, herzlich gedankt.

61 Luschin von Eßengreuth (1892), S. 84: »Sagt auch under andern, er ware khain Pols-ter Ritter, darumen het er seine Zaichen sein khrumpn Fueß darauf er mit seiner Handt zaigte.«

62 Luschin von Eßengreuth (1892), S. 84.

63 Möhring (2007), bes. S. 187, aber mit der Richtigstellung, dass der kriegsversehrte Körper trotz aller Beschwörungen von Ehre und Pflichterfüllung weiterhin als »ab-norm« wahrgenommen wurde (S. 188); Assmann (1999), S. 74; Kerth (2002), S. 271.

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wählen: »Ich habe für dieses Land gekämpft, seitdem ich 17 Jahre alt war, und ich habe die Narben, die das beweisen.«64

Ein noch früherer mittelalterlicher Beleg für diese andere Sicht körperlicher Versehrtheit findet sich in einer Predigt des englischen Augustinerchorher-ren John Mirk, die er, fußend auf der »Legenda aurea«, also der von Jaco-bus de Voragine verfassten Sammlung von Heiligenlegenden und Kirchen-festen, bereits in den 1380er Jahren hielt und in der er erklärte, dass ge-beichtete Sünden beim Jüngsten Gericht nicht mehr als Schande, sondern als Ehre gelten würden. Denn wie ein Ritter seine Narben zeigen könne, so könne dies dann auch der tun, der zuvor gebeichtet habe.65

Ein Zeitgenosse Siegmunds von Herberstein war Götz von Berlichingen. Während des Landshuter Erbfolgekrieges wurde ihm bei der Belagerung der Stadt Landshut durch einen Kanonenschuss aus den eigenen Reihen die rechte Hand zwischen Handschuh und Armzeug abgeschossen.66 Die betreffenden Passagen seiner Autobiographie geben das innere Auf und Ab, das die Verstümmelung in Götz hervorrief, gut zu erkennen: Ganz kaltblü-tig, vielleicht noch unter Schock, wendet er, als kümmere ihn die Verwun-dung gar nicht, sein Pferd und entkommt den Gegnern. Auf dem Kranken-bett aber gerät er in tiefe Verzweiflung. »Was ich die zeit für schmerzen er-litten […] kann jeder wol erachten.« Er bittet Gott, »wann ich in seiner gött-lichen gnad were, so solt er im namen gottes mit mir hinfahren, ich were doch verderbt zu einem kriegsmann«. Doch mit fortschreitender Zeit kommt neuer Lebensmut auf. Götz erinnert sich an einen Knecht namens Kochle, der auch nur eine Hand besessen hatte »und het eben so bald ein ding im feld gegen feinden außrichten künden als ein anderer«. Wenn er nur »ein wenig ein behulf« hätte, so sein Wunsch, könnte er »dennoch mit gottes hilf im feld irgend noch als gut alß sunst ein heilloser mensch« sein. Besagter »behulf« wurde bekanntlich gefunden – in Form einer eisernen Hand, die Götz von Berlichingen so berühmt machte. Kein einziges Mal erwähnt Götz fortan, dass er durch den Armverlust bzw. die Prothese in irgendeiner Weise behindert worden sei.67 Auch hier also von Ehrminde-rung keine Spur. Das verwundert nicht, denn dank der eigenen Beharrlich-keit, die Grenzen zu überwinden, welche ihm durch die Kriegsverstümme-lung auferlegt waren, und durch das Wunderwerk menschlicher Technik war Götz ein guter Kriegsmann wie zuvor. Die eiserne Hand wurde gar sein Markenzeichen.

64 Göttinger Tageblatt Nr. 245 vom 18.10.2008, S. 3.

65 Siehe dazu Mirk’s Festial (1905), S. 2: »For ryght as a knyght scheweth Þe wondys Þat he haÞe in batayle, yn moche comendyng o hym; right so all Þe synnys Þat yschewet yn moch honowre to hym, and moche confucyon to Þe fende.« Den wertvollen Hin-weis verdanke ich Katharina Behrens, Göttingen.

66 Dazu und zum Folgenden Ulmschneider (1974), S. 44f.

67 Ulmschneider (1974), S. 46, Anm. 112.

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Auch Federico da Montefeltro machte seine Versehrtheit zu seiner corporate identity. Bei einem Turnier, das der Herzog von Urbino 1451 zu Ehren des Francesco Sforza ausrichtete, prallte die Lanze Guidangelos de’Ranieri von der Rüstung Federicos ab und drang in sein Helmvisier ein, wonach sie das Nasenbein zerschmetterte und das rechte Auge durchbohrte.68 Kaum dass er den schweren Schock darüber verwunden hatte, prophezeite Federico, die Wunde werde gewiss schnell heilen und er dann mit dem verbliebenen Auge besser sehen als mit 100 anderen, wie berichtet wird. Tatsächlich stieg er bald, offenbar ganz unbeeinträchtigt von seiner Behinderung, zum fä-higsten Feldherren seiner Zeit und zu einem bedeutenden Staatsmann in Italien auf. Papst Pius II. meinte deswegen, der Herzog sehe mit seinem ei-nen Auge besser als andere Fürsten mit zweien. Wie kaum ein zweiter Herr-scher des Quattrocento ließ Federico seine charakteristische Physiognomie stets im Profil reproduzieren.69 Der so jeweils angedeutete Verlust des Auges stellte ihn nach Meinung seiner Hofdichter gar in eine Reihe mit Hannibal, der auf einem seiner Feldzüge in Mittelitalien ebenfalls ein Auge verloren hatte.70 Federico wurde, indem er auf der einen Seite die Norm »übererfüll-te« – bis zuletzt, als er sich durch einen Sturz vom Balkon an der Hüfte ver-letzt und ein Bein gebrochen hatte, das nicht heilen wollte71 – und indem er andererseits dezent stets auf seinen Defekt hinwies, zu der »Nase Italiens«.

Können wir gerade aus den letzten beiden prominenten Beispielen also schließen, dass sich Versehrtheit durch Kampf und Turnier für Adelige doch mit Gelassen-, ja Heiterkeit ertragen ließ, wie es der eingangs zitierte »Waltharius« glauben machen will? Mitnichten dürfen wir hier generalisie-ren, scheint es. Denn der Fall Markgraf Friedrichs des Älteren von Bran-denburg-Ansbach, der, wie man mutmaßte, durch Kopfverwundungen im Kampf in furor geraten und gegen sein Umfeld dann wiederholt tätlich ge-worden war, spricht eine andere Sprache: Friedrich wurde 1515 gewaltsam

68 Zum Hergang Roeck/Tönnesmann (2005), S. 10. – Siehe zur Biographie Federicos auch Lauts/Herzner (2001), S. 81f. – Ein ähnlicher, wenn auch weniger bekannter Fall ist im Übrigen der des François de Lorraine, des zweiten Herzogs von Guise (1519-1563), der vor Boulogne einen Lanzenstich über dem Auge nach der Nase hin erhielt. Die Lanze drang auf der anderen Kopfseite zwischen Ohr und Nacken wieder aus. Die Lanzenspitze und ein abgebrochenes Stück des Schaftes steckten so tief, dass sie nur mit einer Schmiedezange herausgezogen und entfernt werden konnten. Nach er-folgter Genesung wurde der Herzog der verbleibenden großen Narbe wegen mit dem (so Gurlt) »ehrenvollen« Beinamen »le Balafré« (Narbengesicht) versehen. Siehe dazu Gurlt (1964), S. 720.

69 Roeck/Tönnesmann (2005), S. 64. – Lauts/Herzner (2001), S. 352f., verweisen auf das antike Vorbild der speziellen Darstellungsweise im Profil: den makedonischen Feld-herren und Herrscher Antigonos Monophthalmos.

70 Siehe etwa Santi (1985), Bd. 1, S. 16 (V. 170), S. 17 (V. 209), S. 20 (V. 75), S. 33 (V. 45), S. 88 (V. 4), S. 271 (V. 102) sowie Bd. 2, S. 517 (V. 125), S. 532 (V. 53); Rossi (1995), S. 33 und passim. – Roeck/Tönnesmann (2005), S. 10.

71 Roeck/Tönnesmann (2005), S. 214.

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abgesetzt.72 Offenbar gab es eine Klassifikation der Versehrtheit in unter-schiedlich schwere Grade bzw. in eine körperliche einer- und eine geistige andererseits, aus der dann jeweils ein unterschiedlicher Umgang damit re-sultierte.

Ein vorläufiges Fazit: Körperliche Versehrtheit zwischen Ausgren-zung und Anerkennung

Was für ein vorläufiges Fazit – denn um mehr kann es sich beim jetzigen Forschungsstand nicht handeln – lässt sich aus dem Gesagten ziehen? Inva-lidität durch Kampf und Turnier bewegte sich im späten Mittelalter zwi-schen Ausgrenzung und Anerkennung, ganz so, wie es auch für die antike römische Republik festgestellt wurde.73 Aus dem weitgehenden Schweigen der Quellen dürfen wir schlussfolgern, dass die betroffenen Adeligen durch-aus als störendes Element innerhalb der Gesellschaft oder eigenen Gruppe verstanden wurden oder sich selbst so verstanden. Wiesen sie sich jedoch ganz ausdrücklich als ehemalige Kriegs- oder Turnierteilnehmer aus, die deswegen zu Invaliden geworden waren, nahmen sie also eine »Narben-schau« vor74, oder übertrafen sie, obwohl versehrt, die Norm, war ihnen die Anerkennung der Standesgenossen augenscheinlich sicher. Markanterweise tauchen die Belege hierfür gehäuft um 1500 auf, so dass wir für den Über-gang vom Mittelalter zur Neuzeit von einem Wandel, von einer allmählich veränderten Sicht in Bezug auf die Versehrtheit schließen dürfen. Als Maß-stab und Wert galt freilich weiterhin körperliche Unversehrtheit, deren – absichtlichen – Anschein ja sowohl die eiserne Hand des Götz von Berli-chingen als auch das eigentümliche Profil des so oft porträtierten Federico da Montefeltro nach dem Motto »anders, aber doch normal« erwecken konnten oder zumindest sollten. Dies trennt die in der historischen Realität anzusiedelnden Adeligen von den erwähnten Helden in Sage und Film.

72 Nolte (2004), S. 72. – Siehe als vergleichbaren Fall den des Landgrafen Wilhelm von Hessen: Nolte (2000).

73 Libero (2002), S. 190.

74 In diesem Sinne lassen sich auch Porträts auf Gemälden oder Grabsteinen verstehen, die auf die Behinderung ausdrücklich hinweisen. Siehe z. B. hier den abgebildeten, verlorenen Grabstein des Markgrafen Wilhelm von Meißen.

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Abb. 1: Zeichnung des eisernen Arms von Götz von Berlichingen.

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Abb. 2

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Abb. 3

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Abb. 4

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Bildnachweise

Grabstein Wilhelms von Meißen, auf dem er als Einäugiger dargestellt ist, aus: http://www.deutschefotothek.de/obj30113473.html (letzter Zugriff: 27.1.2010).

Der ungarische Adelige Gregor Baxi, dem eine Turnierlanze Auge und Kopf durchbohrte. Porträt auf Schloss Ambras, Innsbruck: Foto Auge.

Porträt Federicos da Montefeltro, der »Nase Italiens«, im charakteristischen Profil: Galleria degli Uffizi, Florenz.

Zeichnung des eisernen Arms von Götz von Berlichingen, aus: Graf von Berlichingen-Rossach, Friedrich Wolfgang Götz (Hg.): Geschichte des Ritters Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand und seiner Familie. Leipzig 1861.

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MedGG 28 • 2009, S. 47-72 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Die Strafe der Blendung und das Leben blinder Menschen*

Jan Ulrich Büttner

Summary

The Punishment of Blinding and the Life of the Blind

The article deals with a group of people who were deprived of their eyesight by private acts of force or by executions of lawful sentences. In early medieval texts blinding is fre-quently mentioned in connection with popes, kings, princes or bishops. However, since the High Middle Ages these dignitaries were increasingly spared the loss of their eyes. It may be said that on the whole, from the eighth to the twelfth century, blinding was overwhelm-ingly used to dispose of political adversaries, but did then rapidly turn into a criminal punishment. In the earliest Landfriedensordnungen of the late eleventh century, the loss of the perpetrator’s eyes crops up as punishment for breach of the peace, while later it was applied to a variety of more or less serious offences. The destiny of the blinded in the early Middle Ages is only highlighted by sketches of a few individual cases; for the High and late Middle Ages – apart from a few notable exceptions – it is only possible to reflect on the general situation of blind people in society, since the sources usually do not differenti-ate between those having lost their sight through human violence or due to other causes.

Einführung

Graf Siboto wünschte ungefähr um 1180/1190, dass sein Feind Rudolf von Piesting beseitigt werde. Es ist unerheblich, ob der Brief des Grafen an sei-nen »dilectum hominem suum« Ortwin von Merkenstein echt ist, eine zeit-genössische Fälschung oder ein raffiniert erdachtes Druckmittel, in jedem Fall ist er ein bemerkenswertes Zeugnis dafür, wie ein hochadliger Herr im Hochmittelalter einen Feind aus dem Weg zu räumen gedachte.1 Wie dies

* Geringfügig ergänzte und überarbeitete Fassung des Vortrages auf dem 47. Deutschen Historikertag in Dresden in der Sektion von Cordula Nolte: »Versehrt durch Arbeit, Krieg und Strafe. Ursachen und Folgen körperlicher Beeinträchtigung im Mittelalter« am 1. Oktober 2008; der Vortragsstil wurde beibehalten.

1 Codex Falkensteinensis (1978), Nr. 183, S. 163f.: »S[iboto] comes de Hademarperch O[rtwino] dilecto homini suo de Merchenstain salutem et omne bonum et quicquid amico. Mandatum istud, quod demandamus in secreto, si persolvitis in fide, omnia, quęcumque cara sunt vobis, faciam vobis. Inimicum meum Rǒdolfum de Piesnich, qui multum infestavit me, si deponitis eum, ne fiat vobis et ei in carrinam, quecumque vultis, faciam vobis. Concedo vobis itaque bonum da der Panzinpach also er overhal-be in den Piesnic vellet unde dase da springet. Verbum istud et mandatum, ut fiat ante festum sancti Michaelis, videlicet ut privetur oculis, ne vos vel ipsum videat, ista om-nia certa erunt vobis. Si autem ista non fiant nec possint fieri, rogo tamen, ut sint quasi in corde sculpta.« (»Siboto, Graf von Hartmannsberg, (entbietet) Ortwin, seinem geschätzten Lehensmann von Merkenstein, (seinen) Gruß und (wünscht ihm) alles Gu-te und alles das, was (man) einem Freund (wünschen kann). Diesen Auftrag, den wir insgeheim fordern, wenn Ihr (den) getreu ausführt, werde ich Euch alles erfüllen, was Euch lieb ist. Meinen Feind Rudolf von Piesting, der mich sehr geschädigt hat, wenn Ihr ihn erledigt, (freilich so,) daß Ihr und er [der Mittäter] nicht der Kirchenbuße ver-fallt, werde ich Euch erfüllen, was immer Ihr wollt. Ich übertrage Euch deshalb das

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Jan Ulrich Büttner 48

geschehen sollte, wird weiter unten angegeben: »videlicet ut privetur oculis«, dass er – Rudolf – nämlich seiner Augen beraubt werde. »deponere ali-quem« scheint adliger Jargon gewesen zu sein, der ins Lateinische übertra-gen wurde, es bedeutet so viel wie »jemanden erledigen, fertigmachen, aus-schalten«.2 So schwer der Brief im Einzelnen zu deuten ist, scheint Siboto seinen Widersacher nicht ermorden lassen zu wollen, sondern dieser sollte durch den Verlust des Augenlichts zur weiteren Führung des Konfliktes unfähig gemacht werden. Über den Konflikt ist nichts bekannt, auch nicht, ob der Auftrag ausgeführt wurde. Wie das Ansinnen des Grafen zeigt, machte die Blendung seinen Feind unschädlich. Sie reichte aus, um ihn dem gesellschaftlichen Zusammenleben und der Teilhabe daran zu entzie-hen. Dabei war der Wunsch für Siboto durchaus nicht ungefährlich. Sei-nem Häscher schärfte er ein, dafür zu sorgen, dass Rudolf ihn vor dem An-schlag nicht sah. Und die Unschädlichmachung war ihm einiges wert: Er versprach Ortwin einen Hof.3 So wichtig die Angelegenheit Siboto war, so heikel war sie für ihn. Bei seinem Auftrag handelte es sich um private Will-kür (wohl außerhalb einer Fehde), nicht um eine rechtlich legitimierte Be-strafung. Der Graf hatte durchaus Konsequenzen zu erwarten.4

Der Akt der Blendung findet sich während des Mittelalters in unterschiedli-chen Zusammenhängen, durchaus als Teil der Rechtspflege, als Möglich-keit, in der Fehde Feinde zu schädigen oder zu strafen, aber eben auch als politisches Mittel, Gegner auszuschalten. Unter den Leibstrafen ist die Blendung nur eine von vielen Möglichkeiten, den Körper eines Delinquen-ten zu verstümmeln.5 ›Blendung‹ heißt »blind machen« und ist ein eher harmloses Wort für das, was in den lateinischen Texten des frühen und

Landgut, wo der Panzenbach rauscht, bevor er in die Piesting mündet. Wird dieser Auftrag und Befehl noch vor dem Fest des hl. Michael [29. September] ausgeführt, daß nämlich er [Rudolf] seiner Augen beraubt wird, (jedoch so,) daß er (dabei) weder Euch noch ihn [den Mittäter] erkennt, soll Euch all’ dies sicher sein. Wenn dies aber nicht geschehen wird und nicht ausgeführt werden kann, bitte ich (Euch) dennoch, daß es gleichsam im Herzen eingegraben (d.h. begraben) bleibe.« Übersetzung aus Köhn (1993), S. 284f.) Dies die ältere Forschung, seither dazu: Köhn (1993); Gea-ry/Freed (1994), mit Übersetzung ins Englische und Abbildung der Handschrift. Eine weitere deutsche Übersetzung auch in Arnold (2003), S. 29f.

2 Vgl. dazu Köhn (1993), S. 288, der zuerst darauf hingewiesen hat; vgl. weiter die ver-schiedenen Stellen im Mittellateinischen Wörterbuch (2007), Sp. 354 (I, B, α), Sp. 357 (II, A, 1a, 2 a/b).

3 Hier wechselt der lateinische Text plötzlich ins Deutsche, siehe Text Anm. 1.

4 Eine undatierte Notiz besagt, dass Graf Siboto für einen von ihm begangenen Mord die Kirchenbuße geleistet, aber eine von ihm verschuldete Körperverletzung mit To-desfolge noch nicht gesühnt habe. Ob ein Zusammenhang zu dem Anschlag auf Ru-dolf von Piesting besteht, ist nicht bekannt; vgl. Codex Falkensteinensis (1978), Nr. 182, S. 162f.

5 Die einzige monographische Darstellung noch immer: Schaab (1955); siehe weiter: Bührer-Thierry (1998); Eickels (2004). Zu Leibstrafen s. Kaufmann (1978).

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hohen Mittelalters oft »das Licht der Augen rauben« – »lumen oculorum privare« genannt wird6, in den volkssprachigen Texten des späten Mittelal-ters »die Augen ausbrechen, ausstechen oder ausreißen«7. Jemandem die Sehkraft zu nehmen, bedeutet zuallererst, ihn in einer Weise hilflos bzw. hilfsbedürftig zu machen, wie keine andere Verstümmelung es tut. Abge-hauene Glieder konnten bis zu einem gewissen Grade durch Prothesen er-setzt werden, der Verlust von Ohren, Hoden, der Zunge oder der Nase ver-ursachte eher begrenzte Einschränkungen. Jedoch nichts sehen zu können, zeichnete den Bestraften für jeden in unübersehbarer Weise bei gleichzeitig größter Einschränkung seines Handlungsspielraumes.8 Diese Art der Bestra-fung sollte die Tat nicht nur ahnden, sondern wurde auch deshalb durchge-führt, um bei Diebstahl und Raub, Körperverletzung, Brandstiftung, Ver-gewaltigung und Mord eine Wiederholung zu verhindern. Dies alles sind Vergehen, die ausweislich frühmittelalterlicher Rechtstexte verschiedentlich mit der Strafe der Blendung belegt wurden.9 Für eine ganze Reihe von Blendungen während des frühen Mittelalters passt diese Erklärung jedoch nicht. König Bernhard von Italien – einer der bekannten Fälle von Blen-dung – hatte keines der genannten Verbrechen begangen.10 Oder: Weshalb ließ Karl der Kahle seinem Sohn Karlmann die Augen ausstechen, obwohl er durch die Großen des Reiches zum Tode verurteilt worden war?11 Es reicht also nicht, nur danach zu fragen, wer zu welcher Zeit für welches

6 Paulus Diaconus (2009), lib. VI, cap. 22, S. 172: »Rex igitur Aripert confirmato regno Sigiprandum Ansprandi filium oculis privavit.« (»Nachdem sich nun König Aripert in der Herrschaft gefestigt hatte, ließ er Ansprands Sohn Sigiprand die Augen ausste-chen.«) Nithardi historiarum (1955), lib. I, cap. 2, S. 388: »Qui [Bernhard von Italien] quoniam ab eo [Ludwig der Fromme] paulo post defecit, capitur et a Bertmundo Lug-dunensis provinciae praefecto luminibus et vita pariter privatur.« (»Bald darauf jedoch wurde dieser [Bernhard], weil er von ihm [Ludwig] abgefallen war, festgenommen und von Bertmund, dem Befehlshaber der Provinz von Lyon, des Augenlichts und zugleich des Lebens beraubt.«) Annales Fuldenses (1961), ad a. 866, S. 68: »Quidam enim in ligno suspensi, alii manuum et pedum summitatibus amputatis etiam lumine oculorum privantur.« (»Einige nämlich wurden an den Galgen gehängt, anderen die Spitzen der Hände und Füße abgeschnitten, einigen wurde auch das Augenlicht ge-nommen.«) etc. Gängige Wendungen auch: »oculos extinguere / evellere / eruere / ef-fodere«.

7 Vgl. die Belege im »Deutschen Rechtswörterbuch«: Auge, B II Blendung (1914-1932).

8 Zur Bedeutung von Blindheit und zu den verschiedenen Auffassungen über Blinde vgl. allgemein Jütte (2000), S. 124f., Barasch (2001) und Metzler (2006). Über den Sinn von Verstümmelungsstrafen siehe allgemein: Kroeschell/Cordes/Nehlsen-von Stryk (2008), S. 220-222.

9 Vgl. die Zusammenstellungen bei Grimm (1899), S. 295; Schaab (1955), S. 34-48; His (1920), S. 518f.; zu den Strafen der Blendung in den Leges siehe auch Niederhellmann (1983), S. 269-271.

10 Boshof (1996), S. 141-147; Jarnut (1989) und (2000); Fried (2001).

11 Schaab (1955), Exkurs IX, S. 223-228; Bührer-Thierry (1998), S. 87f.

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Vergehen seine Augen verlor. Vielmehr muss weiter gefragt werden, was die Blendung als Strafe oder Gewalttat leistete oder gewährleistete, was an-dere Verstümmelungen oder gar der Tod nicht leisteten. Kam ihr also eine Bedeutung zu, die über die reine Strafe hinausging?

Gemessen an der eher spärlichen Quellenlage wird im frühen Mittelalter auffällig oft von Päpsten12, Königen, Königssöhnen und Bischöfen berich-tet, wenn von Blendung die Rede ist. Die Blendung machte unfähig zu geistlichen oder weltlichen Ämtern, es sei denn, der Geblendete hatte das Amt schon inne.13 Seit dem Hochmittelalter bleiben diese Amtsträger vom Verlust der Augen zunehmend verschont. Mit Überschneidungen und zeit-lichen Verschiebungen lässt sich bei einer Gesamtschau auf Blendungen während des Mittelalters festhalten, dass sie ungefähr vom 8. bis ins 12. Jahrhundert kaum als Strafe im Rahmen der Kriminalitätsahndung, son-dern vor allem als politische Beseitigungsmaßnahme Anwendung fanden. Ab dem 12. Jahrhundert wurden sie zunehmend als Kriminalitätsstrafe durchgeführt.14 In den ältesten Landfriedensordnungen des späten 11. Jahr-

12 Zum Verlust von Augen und Zungen bei Überfällen auf Päpste: vgl. weitere Fälle aus Rom bei Schaab (1955), S. 50-55; Quellenübersicht bei Schaab (1955), Exkurs V, S. 200-207.

13 Gratianus (1855), Distinctio LV, cap. XII, col. 305 A: »Tempore sinceritatis dignitas accepta sequenti delilitate non amittatur.« (»Wer die Weihen [zum Priester] zu Zeiten erhielt, als er gesund war, soll sie bei nachfolgender Krankheit nicht verlieren.«)

14 Hier sei die Frage nach der Herkunft der Sitte der Blendung nur kurz angeschnitten. Sie hat die Forschung viel beschäftigt, aber es gibt auch einige mittelalterliche Äuße-rungen dazu. Schon hier bestehen verschiedene Ansichten: Gregor von Tours schreibt König Chilperich die Einführung der Blendung im Frankenreich zu. Für Gregor ist es nur ein Punkt in seiner langen Liste der Schandtaten des Königs: Gregor von Tours (1990), lib. VI, cap. 46 (Text siehe folgende Anm.). Die um 1150 entstandene »Deut-sche Kaiserchronik« hingegen sieht im römischen Kaiser Gallienus (260-268) im 3. Jahrhundert denjenigen, der diese Sitte hier eingeführt habe. Deutsche Kaiserchronik (1895), V. 7469f., S. 218: »er [Gallienus] rehuop aller êrist den sit, / daz man die liute stumbelet bî den ougen.« (»Gallienus führte als Erster den Brauch ein, dass man den Menschen die Augen ausstach.«) Vgl. zu dieser Textstelle Petersen (2007), S. 334. Und in Herbords »Vita Ottonis« (entstanden 1159), lib. II, cap. 26, lehnen die Pommern in Stettin die Taufe ab mit der Begründung: »Apud christianos, aiunt, fures sunt, latrones sunt, truncantur pedibus, privantur oculis, et omnia genera scelerum et poenarum christianus exercet in christianum. Absit a nobis religio talis!« (»›Bei den Christen‹, sagten sie, ›gibt es Diebe, Räuber, es werden Füße abgehauen, Augen ausgestochen, und alle Arten von Verbrechen und Strafen übt ein Christ gegen einen Christen. Solche Religion sei fern von uns!‹«) Herbordi dialogus de vita Ottonis episcopi Babenbergensis (1868), S. 737. Diese weit auseinanderliegenden Äußerungen nehmen die Haltung der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts allerdings vorweg. Die Blendung sei etwas Fremdes, das von außen hergebracht wurde, denn sie passe in ihrer Grausamkeit nicht hierher. Die deut-sche Forschung schob sie als »undeutsch« ab und sah ihr Herkommen aus Byzanz. In Frankreich wurde sie als italienische Sitte bezeichnet und in Italien als barbarischer Brauch der Karolinger. Die Byzantinistik wiederum meinte in der Einwanderung vie-ler Orientalen nach Byzanz die Ursache für den dort vielfach belegten Brauch der Blendung zu erkennen, denn diese Grausamkeit sei ein Produkt barbarischen Ge-

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hunderts taucht der Verlust der Augen als Strafe für den Friedensbruch auf, in der Folge werden immer häufiger Vergehen mit Blendung geahndet. Die Frage danach, was aus den blind Gemachten nach ihrer Blendung wurde, lässt sich für das frühe Mittelalter gelegentlich an Einzelschicksalen andeu-tungsweise beantworten, für das Hoch- und Spätmittelalter gelingt dies, von wenigen Fällen abgesehen, nur über die Betrachtung der Situation von blinden Menschen in der Gesellschaft allgemein.

Zu Beginn werde ich vor allem die Zeit bis ins 12. Jahrhundert, im weiteren Verlauf das späte Mittelalter untersuchen.

Blendung als Strafe im frühen Mittelalter

Gregor von Tours lastet König Chilperich etliche Vergehen an; zu diesen Untaten gehöre auch, dass er wahllos Gegnern die Augen habe rauben las-sen.15 In der Vita des heiligen Leodegar lässt der tyrannische Hausmeier Ebroin den Bischof von Autun blenden, weil er seine usurpatorische Herr-schaft bedrohte.16 König und Hausmeier werden bei den beiden Autoren zu ungerechten und willkürlichen Herrschern stilisiert. Beide Male dienen die Taten dazu – vielleicht mehr symbolisch –, Rachsucht und Zorn als Merk-male schlechter Herrschaft zu unterstreichen.

Für das merowingische Frankenreich sind dies die einzigen überlieferten Fälle. Erst die Gesetze der Westgoten aus der zweiten Hälfte des 7. Jahr-hunderts geben klarere Vorstellungen von der Blendung als Strafe. Wer sich gegen den König erhebt – die Bestimmung stammt von Chindasvinth (642-653) –, solle mit dem Tode bestraft werden, es sei denn, der König gewährt Gnade und schenkt aus Barmherzigkeit das Leben. Er solle aber nicht an-

schmacks, ein Sieg des Orients über den Hellenismus. Der griechische Historiker Odysseus Lampsides bestätigte 1949 diese Ansicht und sieht den Ursprung irgendwo in Asien; die Blendung sei in Byzanz stets fremd geblieben: vgl. Schaab (1955), S. 4-12.

15 Gregor von Tours (1990), lib. VI, cap. 46, S. 84: »nam, si quos hoc tempore culpabilis repperisset, oculos eis iobebat erui. [...] ›Si quis praecepta nostra contempserit, oculo-rum auulsione multetur‹.« (»An wem zu seiner Zeit eine Schuld befunden wurde, dem ließ er die Augen ausreißen. [...] ›Wer unsere Befehle missachten sollte, dem sollen zur Strafe die Augen ausgerissen werden.‹«)

16 Gesta et passio sancti Leudegarii episcopi et martyris (1910), cap. 24, S. 306: »Adver-sarii vero gavisi tamquam ovem inocuam et tamquam lupi suscoeperunt eam in pre-dam, iniquissimum poene excogitantes comentum, nam ab eius capite lumen evelle-runt oculorum, in qua evulsione ultra humana natura incisionem ferri visus est tollera-re.« (»Er [Leudegar] war erfreut, als seine Feinde ihn wie eine Beute gefangen nahmen, so als wären sie Wölfe und er ein harmloses Schaf, und sie einen ganz schrecklichen Plan zu seiner Folter ersannen, denn sie wollten aus seinem Kopf das Licht seiner Au-gen herausreißen. Und es war zu sehen, wie er diese Gewalttat mit übermenschlicher Kraft ertrug, als ihn das Eisen stach.«) Zu »Ebroinus tyrannus« cap. 18, S. 299. Vgl. weiter: Schaab (1955), S. 63f.; Bührer-Thierry (1998), S. 77f.

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ders am Leben bleiben als mit ausgestochenen Augen. Der Sinn dieser Be-stimmung ergibt sich aus dem Folgesatz: Der Aufrührer solle den Tod des Königs nicht sehen, durch den er in seiner Bosheit erfreut werden würde. Und: er solle ständig zu beklagen haben, welches bittere Leben er nun füh-ren müsse.17 Ob hier tatsächlich der Zorn des Königs, wie er Chilperich vorgeworfen wurde, der Gnade Platz gemacht hat, oder ob nicht vielmehr die Strafe verlängert wurde, bliebe noch zu diskutieren. Ergänzend kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Ein Mörder, der sich in eine Kirche ge-flüchtet hat, kann begnadigt werden, aber nur um den Preis seiner Augen, um so zur Abschreckung (»terror«) aller in ein unglückliches Leben entlas-sen zu werden und die Verworfenheit der bösen Tat zu erkennen.18 Ein As-pekt wird hier nicht genannt: der der christlichen Buße und der Möglich-keit, als Blinder Buße zu tun.

In beiden Bestimmungen des westgotischen Rechts ist es ein königliches Vorrecht, die Todesstrafe zur Blendung umzuwandeln. Die ältere For-schung unterstrich hierbei vor allem die Milderung in der Bestrafung.19 Vergehen, die man gewöhnlich mit dem Tode ahndete, wurden abgemildert zugunsten der Zerstörung der Augen.

Unter den Karolingern ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten. Karl der Große ließ sowohl die Verschwörer von 786 als auch die Mitverschwörer beim Aufstand seines Sohnes Pippin statt mit dem Tode mit dem Verlust der Augen bestrafen. Sein Sohn Ludwig ließ mindestens zweimal eine Hin-richtung zugunsten der Blendung aussetzen. Dessen Neffe Bernhard, König von Italien, soll sich mit einigen Getreuen gegen Ludwig verschworen ha-ben, sie ergaben sich aber freiwillig. Dennoch wurden sie auf einem Reichstag zum Tode verurteilt, Ludwig wandelte die Strafen für die Laien in Blendung um, die Bischöfe wurden abgesetzt und in Klosterhaft gegeben. Bernhard – hier ist die Quellenlage unklar – soll sich gegen die Blendung gewehrt haben. Dies soll der Grund sein, weshalb er an den Folgen der Verstümmelung starb.20 Ludwig hielt sich im Falle Bernhards an die Be-stimmungen seines Vaters, der in der »Divisio Regnorum« 806 bestimmt hatte, dass keiner seiner Enkel bei keinerlei Gelegenheit getötet oder ver-stümmelt oder geblendet oder geschoren werden solle ohne gerechte Ver-

17 Liber iudiciorum sive Lex Visigothorum (1902), lib. II, tit. 1, 8, S. 55: »Quod si for-tasse pietatis intuitu a principe fuerit illi vita concessa, non aliter quam effossis oculis relinquatur ad vitam, quatenus nec excidium videat, quo fuerat nequiter delectatus, et amarissimam vitam ducere se perenniter doleat.«

18 Liber iudiciorum sive Lex Visigothorum (1902), lib. VI, tit. 5, 16, S. 282: »[...] nisi omnem oculorum eius visionem extinguat et sic ad aliorum terrorem infeliciter victu-rum dimittat, quatenus, dum malorum pravitas conspicit [...]«.

19 Vgl. die Äußerungen bei Schaab (1955), S. 8f., und seine eigene Einschätzung, S. 44f.

20 S. die Literaturangaben in Anm. 10.

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handlung und Untersuchung.21 Die fand auf dem Reichstag 818 ja statt. Insgesamt hatte diese ganze Verurteilung keinen Bestand: 821 auf dem Reichstag von Diedenhofen wurden den Laien ihre Todes- oder Leibstrafe erlassen und die Geistlichen wieder in ihre Ämter eingesetzt.22 Im Jahr dar-auf tat Ludwig für diese Urteile im Beisein seines ganzen Volkes öffentlich Buße.23 König Bernhard und sein Kämmerer Reginhard scheinen die Ein-zigen gewesen zu sein, an denen das Urteil vollstreckt wurde und die dabei ihr Leben ließen.24

Jedes Mal sind es Verbrechen gegen den König oder den Kaiser, wenn Ur-teile durch seine Entscheidung umgewandelt wurden. Für Geneviève Büh-rer-Thierry wird damit die Blendung zu einer politischen Bestrafung. Hier ist nicht mehr der willkürliche oder zornige Herrscher am Werk wie noch bei Chilperich oder Ebroin, sondern im Gegenteil: In der Umwandlung der Todesstrafen in den Verlust des Augenlichts manifestiere sich die rechtmä-ßige Macht des Herrschers. Durch die gezeigte Milde unterstreiche er seinen Machtanspruch und seine Legitimität. Bührer-Thierry sieht in der Strafe noch einen weiteren Aspekt: Die Herrscher, besonders Karl der Große, Ludwig der Fromme und Karl der Kahle, seien Quelle und Spender des Lichtes, die Strafe der Blendung unterstreiche dies. Auch das kaiserliche »ministerium«, die Idee des »kaiserlichen Amtes«, sei als Quelle des Lichtes zu sehen, womit die Legitimität der Strafe mit der kaiserlichen Macht ver-

21 Divisio Regnorum (1883), 18, Nr. 45, S. 129f.: »De nepotibus vero nostris, filiis scili-cet praedictorum filiorum nostrorum, qui eis vel iam nati sunt vel adhuc nascituri sunt, placuit nobis praecipere, ut nullus eorum per quaslibet occasiones quemlibet ex illis apud se accusatum sine iusta discussione atque examinatione aut occidere aut membris mancare aut excaecare aut invitum tondere faciat; sed volumus ut honorati sint apud patres vel patruos suos et obedientes sint illis cum omni subiectione quam decet in tali consanguinitate esse.« (»Wir wollen aber, dass unsere Enkel, also die Söh-ne unserer schon genannten Söhne, die bereits geboren sind, und diejenigen, die viel-leicht noch geboren werden, von keinem von ihnen und bei keinerlei Gelegenheit ge-tötet oder verstümmelt oder geblendet oder gegen ihren Willen geschoren werden oh-ne gerechte Verhandlung und Untersuchung, wenn einer bei einem von ihnen ver-klagt ist, sondern wir wollen, dass sie von ihren Vätern und Onkeln geachtet werden, und sie selbst sollen diesen in aller Ergebenheit gehorchen, wie es sich für den ziemt, der zu einer solchen Verwandtschaft gehört.«)

22 Annales regni francorum (1955), ad a. 821, S. 126.

23 Annales regni francorum (1955), ad a. 822, S. 128: »[...] publicam confessionem fecit et paenitentiam egit. [...] in praesentia totius populi sui peregit«. (»[…] er [Ludwig] leg-te ein öffentliches Bekenntnis ab und tat deswegen Buße […] in Gegenwart seines ge-samten Volkes«.) In Thegans »Vita Hludowici« folgt die Buße unmittelbar auf die Blendung und den Tod Bernhards. Hier büßt er dafür, dass er seine Ratgeber nicht daran gehindert hatte, die Verstümmelung vorzunehmen: Thegan (1955), cap. 23, S. 232.

24 Vgl. zum Ganzen Boshof (1996), S. 141-147.

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bunden war. Die Strafe liege vor allem darin, den Bestraften vom Licht aus-zuschließen.25

Von den anderen Mitgliedern der karolingischen Familie, die ihr Augen-licht verloren, seien nur noch zwei Fälle genannt. 873 ließ Karl der Kahle im westfränkischen Reichsteil seinen Sohn Karlmann blenden. Dieser war seit 854 Geistlicher und Abt mehrerer Klöster, hatte aber das Kloster verlas-sen und »treulos gegen seinen Vater Ränke geschmiedet«.26 Gut zwei Jahre lang zog er mit einigen Anhängern durch das Westreich und verwüstete ganze Landstriche. Von der Reichsversammlung wurde er zum Tode verur-teilt, von den Bischöfen exkommuniziert. Und obwohl er

kraft der heiligen Gesetze für seine Verbrechen zum Tode verdammt war, wurde er nach milderem Spruch, damit er Zeit und Gelegenheit habe, Buße zu tun, aber keine Möglichkeit, das Schlimmere, auf das er sann, zu begehen, mit aller Anwesenden Bei-stimmung geblendet, damit so die verderbliche Hoffung der Friedensstörer auf ihn zunichte gemacht [...] würde.27

So berichten es die »Annales Bertiniani«, deren Autor zu dieser Zeit Hink-mar von Reims war.

Zwölf Jahre später verdächtigte Karl der Dicke als Kaiser des Gesamtreiches seinen Neffen Hugo, Sohn Lothars II., sich zusammen mit seinem Schwa-ger Gottfried verschworen zu haben, seine Herrschaft in Lothringen wie-derherstellen zu wollen. Karl befahl beide zu sich, beschuldigte sie des Verbrechens, und beide wurden ihres Augenlichts beraubt. Hugo kam ins Kloster nach Fulda, wo er – so der Fuldaer Annalist – »das Ende eines Ty-rannen nahm«.28

25 Bührer-Thierry (1998), S. 79, 81; ähnlich auch in Bührer-Thierry (2009), S. 227f.

26 So Hinkmar in den Annales Bertiniani (1961), ad a. 870, S. 208: »Karlomannus etiam, regis Karoli filius et plurimorum monasteriorum pater, reputatus, quoniam insidias erga patrem suum infideliter moliebatur, abbatiis privatus, in civitate Silvanectis est custodiae mancipatus.« (»Auch Karlmann, der Sohn des Königs Karl und Abt vieler Klöster, wurde, weil er treulos gegen seinen Vater Ränke schmiedete, zur Verantwor-tung gezogen, seiner Abteien beraubt und nach Senlis zur Aufsicht gebracht.«)

27 Annales Bertiniani (1961), ad a. 873, S. 226: »[...] et secundum sacrarum legum de-creta pro admissis suis iudicio mortis addictum mitiori sententia, ut locum et spatium poenitendi haberet et graviora admittendi facultatem, sicut meditabatur, non haberet, luminibus acclamatione cunctorum qui adfuerunt orbari, quatenus perniciosa spes pacem odientium de illo frustraretur [...] non posset.« (»[…] und so wurde er [Karl-mann] gemäß den heiligen Gesetzen für seine Verbrechen zum Tode verurteilt, wurde aber nach milderem Spruch, damit er Zeit und Gelegenheit habe, Buße zu tun, aber keine Möglichkeit, das Schlimmere, auf das er sann, zu begehen, unter der Zustim-mung aller Anwesenden geblendet, damit so die verderbliche Hoffnung der Friedens-störer auf ihn zunichte gemacht und die Kirche Gottes und die Christen in dem Reich außer den Anfeindungen der Heiden nicht auch noch durch verderbenbringende Zwietracht gestört werde.«)

28 Annales Fuldenses (1961), ad a. 885, S. 124: »Hugo Hlotharii regis filius, cuius so-rorem praedictus Gotafrid duxit uxorem, insimulatus est apud imperatorem, quod

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Beide Annalisten berichten zustimmend, bei beiden gibt es keine Kritik an der Entscheidung ihres jeweiligen Herrschers, die wegen Verschwörung den Tod verdienenden Familienmitglieder aus königlicher Milde blenden zu lassen. So wohlwollend der Fuldaer Annalist von der Entscheidung Karls des Dicken berichtet, so sehr empört er sich über das gleiche Verfahren, das Karlmann die Augen kostete: Karl, der Tyrann Galliens, habe unter Miss-achtung des väterlichen Mitgefühls seinen Sohn Karlmann blind machen lassen, obwohl dieser – und das wertet er als zusätzliches Vergehen – das Amt eines Diakons bekleidete.29

Die Argumentation ist zentral bei der Bewertung der Blendung: Im einen Fall ist es die legitime Entscheidung des Herrschers, die Blendung auszu-sprechen, denn sie trifft einen Thronräuber. Im anderen Fall ist gerade die-ses Urteil das Kennzeichen des unrechten Herrschers, die Tat, die ihn zum Tyrannen macht. Die Beurteilung durch die Zeitgenossen hängt also mehr von ihrer politischen Position ab, als dass sich aus den Äußerungen eine allgemeine Einschätzung ergäbe. Dies unterstreicht zusätzlich den politi-schen Charakter, den die Blendung einnahm. Bei Verschwörungen gegen den König oder Kaiser löste sie die Hinrichtung ab. Bei den Karolingern traf sie nicht selten Familienmitglieder. Verwandte töten zu lassen, war eine heikle Angelegenheit, die die Legitimierung des familiären Anspruchs auf die Herrschaft womöglich beschädigt hätte. Jörg W. Busch zufolge zeigt sich in der Tendenz, Familienmitglieder bei Widerstand oder Verrat nicht mehr zu töten, die Verchristlichung, die herrscherliches Handeln seit dem 8. Jahrhundert mehr und mehr erfasste.30 Dieser Gedanke findet sich, aller-dings ohne einen christlichen Bezug, schon in der »Divisio Regnorum«, in der die Achtung eingefordert wird, wie es sich innerhalb einer Verwandt-schaft gehöre.31 Wichtig dabei ist, dass die Blendung leistete, was dem Tod des Verschwörers gleichkommt: Die körperliche Unversehrtheit war zer-stört, die Gefahr, dass er nochmals Anhänger für einen Aufruhr um sich

eiusdem conspirationis Gotafridi contra regnum imperatoris fautor existeret. Quamo-brem ad imperatorem vocatus et noxa convictus lumine oculorum una cum avinculo suo privatus est et in monasterium sancti Bonifatii apud Fuldam retrusus finem suae habuit tyrannidis.« (»Hugo, der Sohn König Lothars, dessen Schwester der vorge-nannte Gottfrid geheiratet hatte, wurde beim Kaiser angeklagt, dass er die Verschwö-rung Gottfrids gegen die Herrschaft des Kaisers begünstigt habe. Deshalb wurde er vor den Kaiser geladen und, nachdem er der Schuld überführt war, nebst seinem On-kel des Augenlichts beraubt und in das Kloster des Heiligen Bonifatius in Fulda ver-bannt; so nahm seine Tyrannei ein Ende.«) Zu den »Annales Fuldenses« vgl. Watten-bach/Levison/Löwe (1990), S. 671-687, für die dritte Fortsetzung der Annalen S. 682f.

29 Annales Fuldenses (1961), ad a. 873, S. 88: »Karolus Galliae tyrannus paterna misera-tione deposita Karlmannum filium suum in diaconatus officio positum excaecare praecepit.« (»Karl, der Tyrann Galliens, ließ seinen Sohn Karlmann, der das Amt ei-nes Diakons bekleidete, jedes väterliche Mitleid außer Acht lassend, blenden.«)

30 Busch (1996) (freundlicher Hinweis von Sören Kaschke).

31 Divisio regnorum (1883), 18, Nr. 45, S. 130, Text siehe oben, Anm. 21.

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scharen könnte, gebannt. Unterstrichen wird dies auch durch Karls Be-stimmung in der »Divisio Regnorum«, die einen kompletten Katalog der Maßnahmen für die Beseitigung politisch missliebiger Familienmitglieder enthält.

Die bislang genannten Fälle bewegen sich alle auf der Ebene Verbrechen gegen den König. In der alltäglichen Rechtspraxis spielte Blendung als Stra-fe eine eher untergeordnete Rolle. Die »Lex Baiwariorum« nennt den Ver-lust der Augen und einer Hand als Strafe für einen Knecht, der Kirchenbe-sitz in Brand gesteckt hat, damit er fürderhin nichts Böses mehr tun kön-ne.32 Im »Capitulare« von Herstal verfügt Karl der Große 779, dass Diebe, wenn sie das erste Mal gefasst werden, ein Auge, beim Rückfall die Nase und erst beim zweiten Rückfall das Leben verlieren sollen.33 Nach einem langobardischen Recht von 836 wird einem Dieb, wenn er auf frischer Tat lebend gefangen wird, das Augenlicht genommen, bevor er seinen Eltern oder seinem Herrn zurückgegeben wird.34 Nur aus einem Heilungswunder aus der »Translatio Sancti Alexandri« ist die Blendung für Falschmünzerei im 9. Jahrhundert zu schließen.35 Insgesamt spielte die Blendung als Krimi-nalitätsstrafe im frühen Mittelalter wohl eine eher untergeordnete Rolle. Sie gewinnt erst ab dem 11. Jahrhundert zusehends an Gewicht, besonders als

32 Lex Baiwariorum (1926), tit. I, Nr. 6, S. 274: »Si quis res ecclesiae igne cremaverit per invidiam more furtivo in nocte et inventus fuerit: si servus est, tollatur manus eius et oculi eius, ut amplius non valeat facere malum; dominus vero eius omnia similia resti-tuat, quicquid in illo incendio arserit.« (»Wenn einer Dinge der Kirche durch Feuer verbrennt und dies aus Hass tut, in der Nacht flieht und entdeckt wird: Wenn es ein Knecht ist, verliert er eine Hand und seine Augen, damit er weiterhin nichts Böses mehr tun kann; sein Herr aber muss alles ersetzen, was auch immer in dem Feuer verbrannt ist.«) In den Handschriften schwankt die Zahl der Augen, die ein Unfreier bei Brandstiftung verliert, einige nennen ein Auge und die Hand, mehrere jedoch bei-de Augen und die Hand.

33 Capitularium Haristallense (1883), cap. 12 (diese Bestimmung nur in der »Forma langobardica«, sie fehlt in der »Forma communis«) und cap. 23, S. 49, 51. Die Be-stimmung über Diebstahl in der langobardischen Fassung, cap. 12, entspricht weitge-hend der allgemeinen Fassung, cap. 23, mit dem wesentlichen Unterschied, dass in cap. 23 beim dritten Diebstahl die Hinrichtung nur dann stattfindet, »si non emenda-verit« (»wenn er den Schaden nicht ersetzt«).

34 Sicardi principis pacito cum Neapolitanis in quinquennium facta (1868), Nr. 10, S. 220: »Quod si vivus deprehensus fuerit ipse fur, in hoc modo, sicut superius legitur, tres personae praebeant sacramentum, ›quia super furtum deprehensus est‹, et de prae-senti tollantur ei oculi, et post data sentencia recipiant eum parentes aut dominus eius.« (»Wenn ein Dieb selbst lebend gefangen wird, soll in folgender Weise verfahren werden, wie oben zu lesen ist: Drei Personen stehen dem Gericht vor, ›weil er wäh-rend des Diebstahls gefaßt wurde‹, und sofort werden ihm die Augen genommen, und nachdem er den Richterspruch empfangen hat, wird er seinen Eltern oder seinem Herrn zurückgegeben.«)

35 Translatio Sancti Alexandri (1933), cap. 9, S. 432; Zitat siehe unten, Anm. 45.

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Strafe für Diebstahl. Aber auch hier zeigt sich schon, dass die Blendung nicht selten eine Beistrafe zu weiteren Verstümmelungen oder Exil war.

Allerdings kam es bei Auseinandersetzungen auch zu Angriffen auf die Au-gen des Gegners. Die »Lex Saxonum« bestraft den Verlust beider Augen mit dem vollen Wergeld.36 Das »Capitulare Italicum« von 801 berechnet für einen Hoden, ein Auge, eine Hand, einen Fuß und die Zunge das halbe Wergeld, für den Verlust beider Hoden, Augen, Hände, Füße das ganze.37 Im konkreten Fall konnte die Konfliktbeilegung anders aussehen, wie eine Episode aus den »Casus s. Galli« belegt: Ekkehard berichtet von einer Aus-einandersetzung im Kloster, die jedoch weit darüber hinaus ausstrahlte. Vic-tor, Mönch in St. Gallen und Angehöriger einer mächtigen rätischen Fami-lie, geriet mit Abt Craloh in Streit. Als er mit Erlaubnis das Kloster für eine Reise verließ, wurde er auf Anweisung des Abtes (der seine Flucht zu einem Verwandten und Gegner Cralohs vermutete) von dessen Vasallen überfal-len. Sie sollten ihn ins Kloster zurückbringen. Der Überfall geriet außer Kontrolle, Victor schlug den Ritter bewusstlos, aus Wut rissen seine Knech-te dem Mönch die Augen aus. Die Bestürzung im Kloster war groß. Notker der Arzt heilte die Augenhöhlen Victors. Angehörige seiner Familie brach-ten währenddessen den Ritter um und knüpften seine Knechte auf. Dies ereignete sich in den 950er Jahren.38 Es war die Eskalation eines länger währenden Konfliktes zweier Familien, wobei hier die Blendung Victors als spontaner, nicht geplanter Akt geschildert wird. Bemerkenswert ist, dass Craloh einen eigenen Gefolgsmann schickte, um Victor aufzuhalten. Dessen Knechte werden womöglich nicht gewagt haben, einen Angehörigen einer sehr mächtigen Familie zu töten. Es wäre aber vermutlich zu weit gedacht, die Blendung als einen Auftrag Cralohs zu begreifen.39

36 Leges Saxonum (1918), cap. XI u. XII, S. 19f.

37 Capitulare Italicum (1883), cap. 5, S. 205: »Si quis alterum praesumtive sua sponte castraverit et ei ambos testiculos amputaverit, integrum wirigildum suum iuxta condi-tionem personae conponat; si virgam absciderit, similiter; si unum testiculum, me-dietatem solvat. Hoc de oculis, manibus et pedibus vel de lingua sancimus, ut, si unum eorum abscisum fuerit, medietas wirigildi, si ambo, integritas pro facti emenda-tione conponatur.« (»Wenn einer einen anderen vorsätzlich entmannt und ihm beide Hoden abschneidet, muss er ihn gemäß der Stellung der Person [gemeint ist: frei/unfrei/halbfrei] mit dem [jeweils] vollen Wergeld entschädigen. Wenn er eine Jungfrau schändet, ebenso, wenn er einen Hoden abschneidet, zahlt er die Hälfte. Ebenso bestrafen wir bei Augen, Händen und Füßen oder der Zunge, also: wenn ih-nen ein/e genommen wird, das halbe Wergeld, wenn beide, dann das ganze [Wergeld] zum Schadensersatz.«)

38 Ekkehard IV. (1980), cap. 77f., S. 162ff.

39 Den gesamten Konflikt hat Patzold (2000), S. 63-90, ausführlich dargestellt und analy-siert.

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Einzelschicksale geblendeter Menschen

Victor ist es auch, über dessen weiteres Schicksal einiges bekannt ist. Der Schock über die Tat war in der Mönchsgemeinschaft so groß, dass er ein-vernehmlich das Kloster verlassen durfte, nachdem seine Wunden verheilt waren. Er ging nach Straßburg, wo sein Verwandter Erkanbald Bischof war, und führte einige Jahre lang die bischöfliche Schule. Nach dem Tode Erkanbalds zog Victor sich als Einsiedler in die Vogesen zurück, wo er bis ins Greisenalter lebte und in seinen letzten Tagen viele Wunder wirkte.40

Bei wenigen Geblendeten ist so viel über ihr Leben als Blinde bekannt wie bei dem Mönch Victor. Der Nachrichtenwert erschöpft sich in der Regel mit der Bestrafung. Berichte über medizinische Versorgung fehlen. Stellte die Blendung eine Strafe dar, war zumindest im frühen Mittelalter beabsich-tigt, die Betroffenen leben zu lassen. Dennoch gab es immer wieder Fälle, in denen die Prozedur tödlich verlief. Herzog Salomon der Bretagne mag ver-blutet sein, man fand ihn am Morgen nach der Tat tot auf.41 Auffällig häu-fig ist die Nachricht, der Tod sei nach drei Tagen eingetreten.42 So auch bei Bernhard von Italien.43 Weniger aus Scham vor der Strafe als aus Angst vor einem Leben in Dunkelheit beging der normannische Ritter Lucas de Barré 1125 lieber einen grausamen Selbstmord. Er war gleichzeitig mit zwei Rit-tern von König Heinrich zur Blendung verurteilt worden. Den Rittern wur-de Verrat vorgeworfen, Lucas de Barré sollte für seine unzüchtigen Lieder und unbedachten Torheiten büßen; eine davon war, an einem Angriff auf den König teilgenommen zu haben.44 Unklar ist, ob Petrus de Vinea 1249

40 Ekkehard IV. (1980), cap. 78, S. 164: »Multasque virtutes, ut ibi celebre est, in extre-mis suis faciens, sanctissimus circumquaque habitus diem senex obiit.« (»Und wäh-rend er in seinen letzten Tagen viele Wunder wirkte, wie man dort rühmt, beschloss er sein Leben als ein weitum verehrter hochheiliger Greis.«)

41 Annales Bertiniani (1961), ad a. 874, S. 234: »Sicque ab eis excaecatus, in crastinum mortuus est repertus«. (»Von diesen [den Franken] wurde er [Herzog Salomo der Bre-tagne] dann geblendet und am folgenden Tag tot aufgefunden.«)

42 Vgl. Schaab (1955), S. 148.

43 Diese Nachricht bei Thegan (1955), cap. 23, S. 232: »Tertio die post amissionem lu-minum Bernhardus obiit.« (»Drei Tage nach dem Verlust des Augenlichts starb Bern-hard.«)

44 Orderici Vitalis Historia Aecclesiastica (2002), lib. XII, cap. 39, S. 352f.: »Lucam quoque de Barra pro derisoriis cantionibus et temerariis nisibus orbari luminibus im-peravit. [...] Carnifices itaque iussa compleuerunt. Porro Lucas ut aeternis in hac uita tenebris condempnatum se cognovit’ [sic] miser mori quam fuscatus uiuere maluit, et lanistis perurguentibus in quantum potuit, ad detrimentum sui obstitit. Tandem inter manus eorum parietibus et saxis ut amens caput suum illisit, et sic multis merentibus qui probitates eius atque facetias nouerant miserabiliter animam extorsit.« (»Er [der König] befahl ebenso, dass Lucas de Barré das Augenlicht genommen werde als Strafe für seine unzüchtigen Lieder und unbesonnenen Torheiten. [...] So begannen die Hen-ker ihre Befehle auszuführen. Als aber Lucas de Barré erfuhr, dass er zu immerwäh-render Dunkelheit in seinem Leben verdammt worden war, entschied er, lieber einen

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an den Folgen der Blendung starb, zu der ihn Friedrich II. verurteilte, oder ebenfalls durch Selbstmord, wie Dante berichtete und dies für seine eigent-liche Schuld hielt.45

Die Geblendeten lassen sich im frühen und hohen Mittelalter als Gruppe nicht fassen. Lediglich vereinzelte Nachrichten eröffnen ein gewisses Spekt-rum der Möglichkeiten, die einen Geblendeten erwarteten.

Der heilige Alexander heilte zwei Männer, einer war Opfer ungerechter und hasserfüllter Richter geworden und lebte schon 20 Jahre lang blind, bis er das Augenlicht wieder erhielt. Wegen Falschmünzerei war ein anderer auf Befehl Kaiser Lothars blind gemacht worden; auch er überlebte viele Jahre, bis er zum Heiligen kam. Womöglich hatten diese beiden Männer Rückhalt in ihren Familien. Die »Translatio« sagt nichts darüber, sondern liefert nur diese dürren Angaben.46 Der Adlige Egino, der seinen Lebensunterhalt vor allem durch Raubzüge bestritt, wurde 1074 von einigen Einwohnern eines von ihm überfallenen Dorfes gefangen und geblendet. Lampert berichtet, er fiel in solche Armut, dass er vor allen Leuten von Tür zu Tür gehen und um Almosen betteln musste.47 Der schon erwähnte Karlmann war exkom-muniziert, zum Tode verurteilt und zur Blendung begnadigt worden. Nach der Bestrafung wurde er ins Kloster Corbie gegeben. Von dort gelang ihm

elenden Tod zu sterben als ohne Augenlicht zu leben. Verzweifelt versuchte er sich selbst zu verletzen, als die Henker ihn fesseln wollten. Schließlich hauchte er in bekla-genswerter Weise seine Seele aus, indem er wie wahnsinnig seinen Kopf gegen die Wände und Steine schlug, als sie ihn festhielten. Er wurde von allen sehr betrauert, die ihn wegen seiner Tapferkeit und seiner fröhlichen Scherze wegen kannten.«) Interes-sant ist dieser Passus auch noch, weil der Graf von Flandern (der Gerichtstag fand in Rouen statt) anmerkte, dass die Verurteilung von Rittern, die im Dienste ihres Herrn gefangen wurden, ihren Gepflogenheiten widerspräche. König Heinrich erwiderte aber, die Ritter und ihre Herren seien seine Gefolgsleute gewesen und hätten ihn verra-ten, als sie ihren Eid brachen. Lucas habe ihm zwar nie gehuldigt, ihn aber angegrif-fen auf der Burg Pont-Audemer. Deswegen seien die Urteile gerecht und rechtens.

45 Dante Alighieri (1960), Inferno, Gesang XIII, Z. 40-78, S. 84f., hier Z. 70f.: »Voll Trotz und Mißmut währte mein Gemüt / der Schmach durch Freitod zu entgehen, und ich, / der Rechtliche, übt Unrecht gegen mich.«

46 Translatio Sancti Alexandri (1933), cap. 6, S. 431: »Igitur quidam vir de pago Tregwi-tie, propter invidiam inimicorum suorum, qui sedem legislatorum possidebant, oculo-rum lumine iam 20 annis aut eo amplius privatus [...]« (»Als nun ein Mann aus dem Gebiet Tecklenburg, der durch den Hass seiner Feinde, welche die richterliche Gewalt in Händen hatten, das Licht seiner Augen schon seit 20 Jahren, oder noch darüber, eingebüßt hatte [...]«) und cap. 9, S. 432: »Libet me quoque adhuc aliquod miraculum, quod a dicentibus, audivi, narrare de quodam viro nomine Gerhard, qui Ludharii im-peratoris iussu obcaecatus, eo quod artem trapacetarum cum fraude exercebat.« (»Ich will auch noch ein Wunder erzählen, das ich vom Hörensagen kenne, von einem ge-wissen Gerhard, welcher auf Befehl des Kaisers Lothar wegen Falschmünzerei geblen-det worden war.«)

47 Lampert von Hersfeld (1973), ad a. 1074, S. 214; der Adel und seine Schandtat (fal-sche Anschuldigung gegen Otto von Nordheim) ergeben sich aus ad a. 1070, S. 124.

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die Flucht ins Ostreich zu seinem Onkel Ludwig, der ihn schließlich zum Abt des Klosters Echternach machte. Laut der Echternacher Lokalüberliefe-rung soll er dort sieben Jahre lang bis zu seinem Tode geblieben sein. Wahrscheinlicher ist, dass er schon 876 starb.48 Eine gewisse Wertschät-zung Karlmanns zeigt sich darin, dass er das alte karolingische Hauskloster Echternach erhielt. Selbst wenn er nicht mehr den geistlichen Stand an-nahm, sondern als Laienabt wirkte, ging keine Gefahr mehr von ihm aus. Für Ludwig hatte er keinerlei politischen Wert mehr, den er gegen seinen Halbbruder Karl hätte verwenden können. Dieser »ließ sich durch die Nachricht« der Flucht ins Ostreich auch »nicht sehr beunruhigen«, wie die »Annales Bertiniani« vermerken.49

Eher ungewöhnlich ist das Schicksal einiger französischer Kriegsgefangener, die Richard Löwenherz 1198 blenden ließ. Dies tat er, weil der französische König Philipp August ihm 15 britische Gefangene geschickt hatte, die ge-blendet worden waren und denen er einen Einäugigen als Führer mitgege-ben hatte. Guillaume le Breton berichtet, dass Philipp August über die Tat so schockiert war, dass er zeitlebens für die Opfer gesorgt habe.50 Der engli-

48 Annales Bertiniani (1961), ad a. 873, S. 230; Regino von Prüm (1960), ad. a. 870, S. 232: »ubi [Echternach] non multo post tempore mortuus est et sepultus« (»dort [in Echternach] starb er nicht lange danach und wurde begraben«); Annales Xantenses (1961), ad a. 873, S. 368: »Ibique [Aachen] [...] venit ad regem quidam clericus orbus, filius Karoli fratris sui, regis Galliae, quem ipse pater luminibus privari iussit et postea in monasterium retrudi, promittens inferre peiora, presidium petens.« (»Und als da-selbst [in Aachen] alles gerecht geordnet war, kam zu dem König ein blinder Geistli-cher, der Sohn seines Bruders Karl, des Königs von Gallien, dem der Vater selbst das Augenlicht hat nehmen und danach ins Kloster stecken lassen, mit dem Versprechen, ihm noch Schlimmeres anzutun, und forderte Schutz.«)

49 Annales Bertiniani (1961), ad a. 873, S. 230: »Unde non magnopere est Karolus con-turbatus, sed iter coeptum peragens.« (»Karl ließ sich durch diese Nachricht nicht sehr beunruhigen und setzte seinen Zug fort.«)

50 Der französische Chronist erzählt die Geschichte in genau umgekehrter Reihenfolge. Sie fehlt in den Monumenta Germaniae Historica. Scriptores (in Folio). Bd. 26, S. 301-317, hier zitiert nach: Guillaume le Breton (1878), hier Buch V, Verse 316-322, 325-327, S. 178: »Protinus exoculat ter in ipso carcere quinos / Monoculumque du-cem dat eis, ut sic regat illos, / Francorum ad Regem: qui, justa concitus ira, / Anglos supplicio simili mulctavit eodem / Sub numero, tractosque simul de carcere Regem, / Unius illorum duce conjuge misit ad Anglum, / Atque alios scopulo tres praecipitavit ab alto; [...] Providet his qui propter eum sunt exoculati, / Datque relevari quibus illi rebus egebant, / Ut sat eis sit quod ad vitae competat usum.« (»Gleich darauf ließ er [König Richard] 15 in ihren Kerkern die Augen rauben und gab ihnen einen Einäugi-gen als Führer mit, damit er sie zum König der Franzosen bringe, der – durch gerech-ten Zorn erregt – die gleiche Zahl Engländer mit derselben Strafe zurichten ließ, und er gab ihnen als Führer die Ehefrau eines von ihnen mit und schickte sie nach Eng-land, auch ließ er drei andere von ihnen eine hohe Klippe herabstürzen. [...] So ver-sorgte er [König Philipp] sie, weil sie geblendet worden waren, und gab ihnen zur Linderung, was sie an Dingen nötig hatten, damit ihnen genug zukomme, was sie zum Leben brauchten.«)

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sche Chronist Roger de Hoveden seinerseits legt nahe, dass es die neuartige Grausamkeit Philipps gewesen sei, die König Richard zur gleichen unheili-gen Tat veranlasste. Über den Verbleib der britischen Gefangenen berichtet er hingegen nichts.51 Uns geht es mit diesen Gefangenen nicht anders als mit den meisten Menschen, denen entweder zur persönlichen Strafe oder zur Strafung ihres Herren das Augenlicht genommen wurde. Drei Genera-tionen später, in den 1250er Jahren, gründete Ludwig IX. ein »domum magnam caecorum pauperum« in Paris.52 Es ist nur eine unter einer Viel-zahl frommer und mildtätiger Stiftungen des Königs, aber sie ist explizit den Blinden vorbehalten. Das Hospiz ist den Blinden von Paris gewidmet; 300 oder 350 Personen sollte es fassen, ob es auch für Geblendete offen-stand, ist nicht sicher.53 Unabhängig davon, ob sie rechtmäßig verurteilt

51 Roger de Hoveden (1853), hier Bd. 4, S. 54: »Rex autem Franciae nouum genus gras-sandi in populo reperiens, fecit quamplures de hominibus regis Angliae, quos captiuos tenebat excaecare; et sic prouocabat regem Angliae, licet inuitum ad consimile inpieta-tis opus.« (»Der König der Franzosen wütete in neuer Weise gegen das Volk, er ließ sehr viele von den Männern des Königs der Engländer, die er als Gefangene hatte, blenden, und auf diese Weise veranlasste er den König der Engländer gegen seinen Willen nämlich zur gleichen unseligen Tat.«)

52 So bei Gaufridus de Belloloco (1840), cap. XIX, S. 11: »Domum etiam magnam cae-corum pauperum Parisiis construi fecit, ubi plus quam trecenti quinquaginta caeci pauperes commorantur, in capella ibi constructa divinum servitium audientes.« (»Er ließ aber ein großes Haus für die armen Blinden von Paris errichten, wo mehr als 350 blinde Arme untergebracht wurden. In der Kapelle, die dort gebaut wurde, hörten sie den Gottesdienst.«)

53 Die ausführlichste Beschreibung in der Vie de Saint Louis par Le Confesseur de la Reine Marguerite (1840), cap. XI, S. 93 E-94 A: »Et ausi li benoiez rois devant diz fist acheter une piece de terre delez Saint Ennoré, ou il fist fere une grant mansion, pource que les pures avugles demorassent ilecques perpetuelment, jusques a trois cens; et ont touz les anz de la borse de roi, pour potages et pour autres choses, rentes: en laquele meson est une eglise que il fist fere en leneur de saint Remi, pource que lesdiz avugles oient ilecques le servise Dius. Et pluseurs foiz avint que il benoiez rois vint as jours de la feste saint Remi, ou lesdiz avugles fesoient chanter sollempnelment loffice, en leglise, ces avugles presenz entour le saint roi, et donna rente a leglise.« (»Außerdem ließ der vorgenannte gnädige König ein Stück Land bei Saint Honoré kaufen, wo er ein großes Haus errichten ließ, in dem die armen Blinden ständig wohnen konnten, bis zu 300, und alle von ihnen bekamen aus der Börse des Königs eine Rente, für die Nahrung und für andere Dinge. In diesem Haus gibt es eine Kirche, die dem Heiligen Remigius geweiht ist, wo die vorgenannten Blinden die Gottesdienste hören können. Und mehrere Male kam der gnädige König am Tage des Festes des Heiligen Remigius hierher, wo die genannten Blinden feierlich die Heilige Messe sangen. In der Kirche zeigten sich diese Blinden dem heiligen König und bekamen ihre Rente.«) Bei Jean Si-re de Joinville (1868), cap. CXLII, S. 258, findet sich nur die knappe Erwähnung: »Et fist faire la maison des Aveugles delès Paris, pour mettre les povres aveugles de la citei de Paris; il lour fist faire une chapelle pour oyr lour servise Dieu.« (»Er gründete das Haus für die Blinden von Paris, um dort die armen Blinden der Stadt Paris unterzu-bringen; dort ließ er eine Kapelle bauen, um dort dem Gottesdienste zuzuhören.«) Die Jahreszahl 1255 findet sich bei Guillaume de Nangis (1840), ad a. 1255, S. 406f. Die oft erzählte Geschichte, Ludwig habe die Stiftung zum Gedenken an 300 durch die

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wurden, Opfer eines Überfalls in einer Fehde waren, im Krieg durch Ver-letzung erblindeten oder als Gefangene geblendet wurden: In den Quellen tauchen die einzelnen Blinden, aber auch die Blinden/Geblendeten als Gruppe nur wenig auf.

Das Leben blinder Menschen im Spätmittelalter

Wenn im frühen und hohen Mittelalter die Strafe der Blendung nur für Ma-jestätsverbrechen oder in wenigen Fällen in den Leges oder Capitularien vorgesehen war, taucht der Verlust der Augen seit dem späten 11. Jahrhun-dert immer öfter in Strafbestimmungen auf. Der Bayrische Landfrieden von 1094 verfügt, dass, wer mehr stiehlt, als 5 Solidi wert sind, den Frieden stört oder eine Jungfrau schändet, entweder mit beiden Augen, einer Hand oder einem Fuß büßt.54 Wer weniger als den Wert von 5 Solidi raubt, wird erst im Wiederholungsfall geblendet, so die ergänzende Bestimmung des Main-zer Landfriedens von 1103.55 Vor allem wird Diebstahl mit dem Verlust der Augen und/oder einer Hand geahndet. In den verschiedenen Weistü-mern von Landschaften und Städten wird diese Strafe immer wieder ge-nannt, auch wenn sie wohl nicht den Rang des Verlustes einer Hand oder der Todesstrafe einnahm. Quantifizieren lässt sich die Zahl der zur Blind-heit Verurteilten kaum.

Die meisten – schon vor der Blendung nicht reich oder nicht in einen star-ken sozialen Verband eingebettet – werden danach auf Almosen und Bette-lei angewiesen gewesen sein. So gehen sie ein in die Gruppe der Bettler und

Sarazenen im Heiligen Land geblendete Ritter gemacht, stammt wohl aus späterer Zeit, sie findet sich jedenfalls in Louis-Sébastien Le Nain de Tillemonts monumentaler Lebensbeschreibung, entstanden Ende des 17. Jahrhunderts, allerdings nicht auf zeit-genössischen Quellen beruhend: Le Nain de Tillemont (1847-1851), Bd. 4, S. 226f. Hirschberg (1890), S. 99-101, beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die Gründung mit Augenerkrankungen während des Kreuzzuges zusammenhing, kommt aber zu keinem abschließenden Ergebnis. Auch Covey (1998), S. 180, schildert dies so (ohne Belege) und nennt weitere Heimgründungen des 14.-16. Jahrhunderts für Blinde, eben-falls ohne Belege. Aus der Stiftung entwickelte sich das heutige »Centre Hospitalier National d’Ophtalmologie des Quinze-Vingts«.

54 Pax Bawarica (1893), § 3, S. 610: »3. Si quis ultra precium quinque solidorum furetur aut pacem violare praesumpserit aut virginem rapuerit, oculi eius cruantur aut pes aut manus abscidantur.« (»Wenn einer mehr als den Wert von fünf Solidi gestohlen hat oder vorsätzlich den Frieden bricht oder eine Jungfrau schändet, dem werden die Au-gen ausgerissen oder ein Fuß oder eine Hand abgehauen.«)

55 Pax Moguntina (1893), S. 125f.: »Si furtum commiserit valens minus V solidos, capil-los amittat et virgis cedatur et furtum reddat; et se ter tale furtum fecerit vel rapinam tercia vice, oculos vel manum amittat.« (»Wenn ein Dieb weniger als im Wert von fünf Solidi gestohlen hat, dann werde ihm das Haupthaar abgeschnitten, er werde mit dem Stock verdroschen und gebe das Diebesgut zurück, hat er aber auf diese Weise dreimal gestohlen oder das Raubgut den dreifachen Wert, verliert er seine Augen oder eine Hand.«)

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Almosenempfänger allgemein. In Bettlerordnungen oder Stadtrechten ver-suchten Städte die Armenfürsorge zu organisieren und die Almosen zu ka-nalisieren. Blinde sind nur eine Gruppe innerhalb der Bettler und Almosen-empfänger, und innerhalb der Blinden bilden die Geblendeten wiederum eine Untergruppe. Nur die norditalienische Stadt Novara nennt sie aus-drücklich in ihrem Stadtrecht von 1277. Es bestimmt, dass keiner, der ge-blendet worden war, sich länger als eine Nacht in der Stadt aufhalten dürfe. Ausgenommen sind nur Bürger Novaras, die in einer Fehde gegen einen auswärtigen Feind die Augen verloren. Wer einen Geblendeten beherbergte, wurde mit einer Geldstrafe belegt.56 Brescia hatte ähnliche Bestimmungen.

Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts versuchten mehr und mehr Städte durch Armenordnungen des wachsenden Heeres Bedürftiger und Bettelnder Herr zu werden. Die Ordnungen hatten verschiedene Ziele: Die Zahl der Almosenempfänger und der Bettler sollte eingeschränkt werden, möglichst auf die eigenen Bewohner, fremde Bedürftige sollten ausgeschlossen werden; arbeitsfähige Arme oder Arme mit arbeitsfähigen Kindern (ab dem 8. Le-bensjahr) hatten auch keinen Anspruch auf städtische Zuwendungen. Dazu wurden Listen erstellt und Kennzeichnungen verteilt, sei es durch eine Stoffmarke oder durch ein Schild. Die Zeit und die Orte, an denen Betteln erlaubt war, wurden stark eingeschränkt.57 In der zweiten Bettlerordnung Nürnbergs von 1478 zeigt sich eine gewisse Bevorzugung von Blinden, Lahmen und Krüppeln (eine Gruppe, die häufig zusammen genannt wird), die auch werktags vor den Kirchen betteln und sie bei Regen und Unwetter betreten, in ihnen jedoch nicht betteln durften.58 Sie galten als ehrbar be-dürftig, weil sie nicht erwerbsfähig waren.59 Grundvoraussetzung, um über-haupt für das Betteln in den Städten zugelassen zu werden, war die nicht selten überprüfte ehrbare Bedürftigkeit.60 Dies machte es für die durch die Rechtsprechung Verstümmelten und dadurch Gezeichneten schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich, innerhalb der Städte zu betteln. Für Geblendete muss die Abwehrhaltung der Städte und ihrer Obrigkeit noch viel ausge-prägter gewesen sein als für bedürftige und behinderte Arme insgesamt. In Köln verfügte der Rat um 1435, dass die Kranken und Gebrechlichen beim

56 Statuta communitatis Novariae anno 1277 lata (1872), § 132, S. 62; diese Angabe nach Schaab (1955), S. 44.

57 Vgl. ganz allgemein: Geremek (1988); Mollat (1984); Thomas Fischer (1979).

58 Nürnberger Bettlerordnung von 1478, in: Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert (1861), S. 316-320, hier S. 317; neuhochdeutsche Überset-zung in Sachße/Tennstedt (1980), S. 64-66.

59 So auch in Straßburg 1531, zit. nach Thomas Fischer (1979), S. 118, weitere Beispiele S. 119, Anm. 2.

60 Eine exemplarische Bettelordnung wurde 1527 in Memmingen erlassen. In sie flossen nicht nur ältere städtische Bestimmungen mit ein, sondern auch Elemente der Straß-burger, Augsburger und Nürnberger Ordnungen, vgl. Frieß (1993).

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Betteln ihre Wunden, Verwachsungen und Verstümmelungen verdecken müssen und sie nicht öffentlich zeigen dürfen. Dies sollte mutwilliger Ver-stümmelung und der Aufmerksamkeit versprechenden Zurschaustellung drastischer Wunden und Krankheiten vorbeugen.61 Die Formen der Zu-rückdrängung und der Abwehr zeigen sich nicht nur in einer zunehmenden Reglementierung der eigenen, besonders aber der fremden Armen, sondern auch – wie Werner Röcke es nennt – in der theatralischen Inszenierung der Armen, Kranken, Gebrechlichen, zu denen die Blinden gehörten. Eine be-sondere Form der Inszenierung von Blinden und Blindheit ist das Schwei-neschlagen.62

Zu Fasnacht 1386 hatte sich in Lübeck Folgendes zugetragen: Lübecker Jungherren (»domicelli«) wählten zwölf Blinde aus, steckten sie in alte Pan-zer und Harnische, setzten ihnen die Helme verkehrt herum auf, damit sie auch nichts sähen, wenn sie die Blindheit nur vorgetäuscht hätten, bewaff-neten sie mit Knüppeln und trieben sie in ein umzäuntes Areal auf dem Marktplatz. Hierin befand sich ein großes Schwein. Das sollten die Blinden erschlagen, dann dürften sie es behalten und verzehren. Das Spektakel be-stand nun vor allem darin, dass die Blinden wild um sich schlugen und sich mehr gegenseitig trafen als die zunehmend panische Sau. Es war ein inszenierter Kampf jeder gegen jeden. Schließlich wurde der Sau eine Glo-cke umgehängt, damit die Blinden sie besser treffen konnten. Der Chronist Hermann Korner beschreibt den weiteren Verlauf:

[Es] schlugen die Armen nun um so heftiger und mehr als sonst aufeinander los, denn da das Schwein mit der Glocke klingelte, glaubte jeder, es sei dicht bei sich, und stürz-ten zuweilen drei oder vier auf einen mit ihren Keulen los und streckten ihn verwun-det zu Boden. Endlich wird das Schwein mehr durch die Hetze als die Hiebe ermüdet von den Blinden hingestreckt und getötet und so das Spiel beendet.63

Für das städtische Publikum muss es eine großartige Unterhaltung gewesen sein. Das Schweineschlagen ist noch 1415 in Stralsund, 1425 in Paris, 1498 in Köln64 und 1510 in Augsburg belegt. In der Wahrnehmung der städti-schen Obrigkeiten rückten Arme, Bettler und Blinde mehr und mehr in die Nähe von Betrügern, Kriminellen und Gesindel. Die stärker werdende Kri-minalisierung war ein Phänomen der Angst, nicht einer tatsächlichen Er-eignislage. Für Röcke bestand der Sinn dieser Inszenierungen darin, die als Bedrohung empfundene Gruppe durch Gelächter und Gewalt zu bewälti-

61 Erneute und vermehrte Morgensprache [...], in: Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert (1895), Nr. 170, S. 281-284, hier § 23, S. 283.

62 Grundlegend, worauf ich mich im Folgenden auch beziehe: Röcke (2005).

63 Korner (1885), S. 83, 324f., hier S. 325, die Übersetzung ist Röcke (2005), S. 69, ent-nommen.

64 Vgl. Die Chroniken der niederrheinischen Städte: Cöln (1877), S. 905, hier zitiert nach Röcke (2005), S. 68.

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gen und abzuschwächen. Wie lange sich der Brauch gehalten hat und wie weit er verbreitet war, ist schwer abzuschätzen.65 Doch noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts beschreibt Hans Sachs in seinem Fasnachtsschwank »Der plinden kampff mit der sew« das Schweineschlagen mit ganz identi-schem Verlauf. Sachs versetzte in dem 1563 entstandenen Schwank die Szenerie nach Augsburg im Jahre 1510 anlässlich eines Reichstages des Kaisers Maximilian.66 Ein reicher Bürger und Vertrauter des Kaisers schenkt Maximilian diese »kurczweil«. Hier sind es die zwölf Blinden der Stadt, die, ausgestattet mit rostigen Helmen und Knüppeln, eine angeleinte Sau erschlagen sollen. Das Spektakel dauert zwei Stunden unter dem Ge-lächter einer schier unübersehbaren Zuseherschaft, dann ist die Sau erschla-gen, und ein Glücklicher kann sie mitnehmen. Immerhin werden die mit Beulen, blauen Flecken, Schrammen und Wunden übersäten zwölf Blinden abends von dem Bürger zu einem herrlichen Nachtmahl eingeladen.67 So wird die Marginalisierung (zumindest in dem Schwank) bis zu einem gewis-sen Grade aufgehoben, und die Blinden, eben noch zur Schau gestellt, wer-den im gemeinsamen Mahl wenigstens zeitweise wieder Teil der Gesell-schaft.

Die Blinden gehen in den Polizeiordnungen meist in den armen Bedürftigen auf. Inwieweit die Geblendeten wiederum in diesen Blinden aufgehen, ist kaum zu sagen. So häufig die Strafe der Blendung in den Rechtstexten vor-kommt, so schwer ist es zu ermitteln, wie viele dazu verurteilt und wie oft die Strafe auch wirklich exekutiert wurde. Im ganzen 14. Jahrhundert wur-den in Frankfurt am Main niemandem die Augen ausgestochen. Für das 15. Jahrhundert sind acht Fälle belegt. Und für die Jahre zwischen 1500 und 1532 sind es wiederum acht Vollstreckungen.68 Daraus ließe sich die Ten-denz ableiten, die Strafe würde im Reich häufiger verhängt werden. Doch obwohl der Scharfrichter der Stadt Nürnberg, Franz Schmidt, in seinem Verzeichnis jede denkbare Leib-, Todes- und Verstümmelungsstrafe auf-führt, ist nicht eine einzige Blendung darunter.69

65 Außer den literarischen und historiographischen Quellen gibt es noch mindestens zwei Abbildungen: einen Brüssler Gobelin, entstanden ca. 1550-1570, heute im Pala-cio Real, Madrid, mit dem Schweineschlagen im Hintergrund links und eine Zeich-nung von Jan Verbeeck, nur vage zu datieren auf die 2. Hälfte des 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts, heute in der École des Beaux Arts, Paris; hier findet das Spektakel allerdings in einem Innenraum statt. Beide abgebildet bei Röcke (2005), Abb. 1 und Abb. 2, S. 64 und S. 66.

66 Ob Hans Sachs dabei auf das für 1510 belegte Schweineschlagen in Augsburg an-spielt, ist nicht klar. Wenn er das Ereignis nicht aus eigener Anschauung kannte, muss er gute Quellen gehabt haben, denn seine Schilderung ist sehr genau und detailliert.

67 Sachs (1894), Z. 19-144, S. 373-378, schildert den Kampf.

68 Zahlen nach Rau (1916), S. 135.

69 Das Tagebuch des Meister Franz (1980); Maister Franntzn Schmidts Nachrichters inn Nürmberg all sein Richten (1979).

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Wer sein Augenlicht auf ehrbare Weise im Krieg verlor, war vor Verun-glimpfung dennoch nicht sicher. Zumindest in der Literatur begegnet uns häufiger die Figur des »betrogenen Blinden« als Ziel des Spotts.70 In der gleichnamigen Märe verheiratet ein Ritter aus Armut seine schöne Tochter einem reichen Blinden. In der Hochzeitsnacht bemerkt dieser, dass sie keine Jungfrau mehr ist, und beschwert sich. Sie hält ihm vor, seine beiden Augen seien der größere Mangel. Der Blinde verteidigt sich, seine Augen hätten ihm die Feinde genommen, er verdiene deswegen keinen Spott; darauf wendet sie ein, dass ihr Schaden noch weniger zu tadeln sei, da er von Freunden stamme.71

Insgesamt wendet sich im 14. und 15. Jahrhundert die Bewertung von blin-den Menschen wie von Bedürftigen überhaupt ins Negative. Ihnen wurde mit Misstrauen begegnet und vorgeworfen, betrügerisch die Blindheit vor-zutäuschen, womöglich berechnend geblendet worden zu sein, um besser betteln zu können, Lügengeschichten zu erzählen und die Almosen durch Diebstahl aufzubessern. Regelmäßig werden Blinde und Geblendete in den Listen der Betrüger und Diebe genannt. In den »Basler Betrügnissen«, ent-standen um 1430/1444, wird den natürlich Blinden (»Blochart«72 genannt) vorgeworfen, sie ergaunerten sich Mützen (und andere Kleidungsstücke) unter dem Vorwand, sie seien bestohlen worden, um sie dann zu verkaufen. Die Geblendeten (die »Hantblinden«) setzten sich mit gemalten Schildern vor die Kirchen, behaupteten, in Rom, Santiago oder gar Jerusalem gewe-sen zu sein, erzählten von großen Wundern, die dort geschehen seien (und auf den Schildern abgebildet waren), und wollten so Almosen ergattern. Die »mit dem Bruch gewandelten«73 schließlich seien jene Geblendeten, die schon vor Jahren die Augen verloren, aber mit blutgetränkten Tüchern vor den Augen behaupten, eben erst Opfer eines Überfalls geworden zu sein, um so die Mildtätigkeit der Leute zu erreichen, »daz doch alles ein betrúgnisse und ein beschiß ist«, wie der Basler Autor meint74. Diese Liste betrügerischer Blinder und Geblendeter unter den Bettlern und Almosen-

70 Uther (1979).

71 Vgl. das Regest in Hanns Fischer (1968), S. 391.

72 Die Worterklärung zu »blochart« bei Jütte (1988), S. 183, bezieht sich inhaltlich je-doch auf die »hantblinden«, die im »Liber Vagatorum« nur »blinde« genannt, hier von den »blochart« aber deutlich unterschieden werden. Womöglich war der Autor der »Basler Betrügnisse« nicht sicher in der rotwelschen Nomenklatur und hat die ver-schiedenen Gruppen der blinden/geblendeten Bettler falsch beschrieben. Da zumin-dest der »Liber Vagatorum« und womöglich auch die Chronik des Matthias von Kemnat auf ihn zurückgehen, schrieben sich die Bezeichnungen mit den jeweiligen Beschreibungen fort, vgl. zum Verhältnis der Quellen zueinander Jütte (1988), S. 106-117.

73 Vgl. zur Worterklärung Jütte (1988), S. 206.

74 Die Basler Betrügnisse der Gyler, in: Kluge (1987), S. 13 (freundlicher Hinweis von Robert Jütte).

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Die Strafe der Blendung und das Leben blinder Menschen 67

empfängern findet sich noch öfter.75 Im Hintergrund steht immer der Vor-wurf, faul zu sein und nicht arbeiten zu wollen. Dazu kommt das Gefühl des vermuteten Schadens, der durch betrügerisch ergatterte Almosen ent-stand.76 Ganz in diesem Sinne erzählt Jacques de Vitry schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von einem Blinden und einem Lahmen, die vor einer Kirche einer Prozession des hl. Martin begegnen. In dem Wissen, dass sie sofort geheilt würden, wenn sie dem Körper des Heiligen begegnen, nimmt der Blinde den Lahmen auf die Schulter, um schneller fliehen zu können. Denn sie wissen, dass niemand ihnen mehr Almosen geben wird, wenn sie geheilt und so auf ihrer Hände Arbeit angewiesen wären. Die Pro-zession holt sie dennoch ein, und beide werden gegen ihren Willen geheilt. Die Geschichte endet mit der Feststellung: Es ist also offenbar, wie viele Schlechte unter den Armen sind und wie viele der ins Elend geratenen Übeltäter die Gegenwart Gottes missbrauchen.77 Auch ein Prediger wie

75 Mit ganz ähnlichen Worten und gleicher Reihenfolge finden sich die Vorwürfe in der Chronik von Matthias von Kemnat (1475) und noch 1510 im »Liber Vagatorum«, cap. XI: »Von den Zickissen«. Beides bei Kluge (1987): Matthias von Kemnat auf S. 25f, der »Liber Vagatorum« auf S. 45f. Zum cap. XI des »Liber« vgl. Jütte (1988), S. 84f. Der »Liber« steht den »Basler Betrügnissen« nach Sprache und Ausdrücken, ja in ganzen Wendungen sehr nahe, vgl. dazu Jütte (1988), S. 108f.

76 Vgl. dazu exemplarisch die Einleitung zur Nürnberger Bettlerordnung von 1478, in: Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert (1861), S. 316-320, hier S. 316; ebenso in der Memminger Bettelordnung (1993).

77 Jacques de Vitry (1967), Nr. CXII, S. 52: »Licet autem paupertas et alie tribulationes bone sint quidam tamen illis abutuntur. Unde legimus quod quando corpus beati Martini processionaliter ferebatur sanabat omnes infirmos qui occurebant. Erant au-tem juxta ecclesiam duo trutani mendicantes quorum unus erat cecus, alius contractus, qui ceperunt loqui ad invicem et dicere: ›Ecce corpus sancti Martini jam defertur ad processionem, et si nos invenerit statim sanabimur, et nemo de cetero nobis elemosi-nas dabit sed oportebit nos propriis manibus operari et laborare.‹ Cecus autem con-tracto: ›Ascende super humeros meos quia fortis sum et tu qui bene vides mihi prestabis ducatum.‹ Quo facto, cum fugere vellent apprehendit eos processio et cum pre turba fugere non possent sanati sunt contra voluntatem suam. Patet igitur quod multi mali pauperes sunt et multi in tribulationibus afficiuntur deteriores qui visita-tione divina abutuntur.« (»Wenn auch Armut und andere Trübsal gut sind, werden sie doch oft missbraucht. So lesen wir, dass der Leichnam des Heiligen Martin, als er in einer Prozession umhergetragen wurde, alle Kranken heilte, denen sie begegneten. Nun standen aber vor der Kirche zwei bettelnde Landstreicher, von denen einer blind, der andere lahm war. Sie fingen an, sich zu unterhalten und sagten: ›Schau, schon wird der Körper des Heiligen Martin zur Prozession getragen. Wenn er uns trifft, wer-den wir sofort geheilt, und niemand mehr wird uns Almosen geben, sondern wir wer-den mit eigenen Händen arbeiten müssen.‹ Da sagte der Blinde zu dem Lahmen: ›Steige auf meine Schultern, denn ich bin stark, und du, der du gut siehst, wirst mich führen.‹ So machten sie es, als sie aber fliehen wollten, gerieten sie in die Prozession und konnten der Menge nicht entkommen und wurden so gegen ihren Willen geheilt. Es ist also offenbar, wie viele Schlechte unter den Armen sind und wie viele der ins Elend geratenen Übeltäter die Gegenwart Gottes missbrauchen.«) Vgl. auch Uther (1979), Sp. 456, gekürzte deutsche Übersetzung in Wesselski (1909), S. 183, Nr. 141.

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Jacques de Vitry rückt von den Bedürftigen ab, weil er unter ihnen mehr Betrüger und Blender vermutet als ehrbare Arme.

Die Blendung erfüllte meist einen doppelten Zweck: mit dem Verlust der körperlichen Unversehrtheit eine weitgehende Hilflosigkeit und Hilfsbedürf-tigkeit hervorzurufen und den Geblendeten in unübersehbarer Weise und unwiderruflich zu zeichnen. Wer nicht eingebunden war in einen starken sozialen Verband, wie der Mönch Victor, der gleich doppelt, sowohl im Kloster wie in seiner Familie, Unterstützung fand, der war von Armut und Ausgrenzung bedroht. Im Spätmittelalter wurden Blinde als Gruppe vor allem als Bettler und Almosenempfänger wahrgenommen. Als solche wur-den ihnen Misstrauen und Furcht entgegengebracht, und sie litten so wie alle Bedürftigen unter den zunehmenden Reglementierungen und Ausgren-zungen der städtischen Obrigkeiten. Manche Stadtbewohner reagierten mit inszenierten Spektakeln, die Literatur begegnete ihnen mit Spott und Hohn. Für das Selbstbild der Betroffenen mag es einen Unterschied gemacht ha-ben, auf natürlichem Wege erblindet, als Kriminelle gestraft worden zu sein oder als Opfer in Kriegen oder Fehden die Augen verloren zu haben. Im Hinblick auf die Auswirkungen auf ihr alltägliches Leben und auf die An-sichten der Zeitgenossen machte das, zumindest ausweislich der Quellen, kaum einen Unterschied.

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MedGG 28 • 2009, S. 73-95 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Männliche Zeugungsunfähigkeit im mittelalterlichen Adel*

Klaus van Eickels

Summary

Sterility in medieval noblemen

The social competence of the medieval nobleman was closely associated with his male sense of honour. One essential aspect of his masculinity was the ability to produce prog-eny. The childlessness of a good ruler needed special justification, the childlessness of a bad ruler was seen as God’s punishment. In terms of canon law, the inability to procreate was irrelevant as long as the marriage could be consummated. Considering the importance of the procreative capacity and its symbolic significance one must ask to what extent it was possible to ascertain sterility in the Middle Ages. In the case of noblemen one can assume that they could obtain certainty about their fertility through their premarital and extra-marital intercourse. This might explain why some rulers and nobles accepted a childless marriage without deeming it necessary to take another wife (or plan their itinerary in a way that enabled them to produce progeny).

Einführung

Ist die Zeugungsunfähigkeit des Mannes eine Behinderung oder körperliche Beeinträchtigung? Ein Blick in unser Strafrecht scheint auf den ersten Blick die Auffassung der körperlichen Beeinträchtigung zu bestätigen: Der Ver-lust der Fortpflanzungsfähigkeit wird dort neben dem Verlust von Glied-maßen, Lähmungen oder schwerer Entstellung als ein Tatbestandsmerkmal der »schweren Körperverletzung« aufgeführt. Die ursprüngliche, bis 1994 gültige Fassung des Paragraphen 224 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 sprach sogar ausdrücklich vom »Verlust der Zeugungsfähigkeit« und stellte damit den Fall der durch Verletzung herbeigeführten Infertilität des Mannes in den Mittelpunkt.1

In der heutigen Auffassung kommt der Sterilität des Mannes wie der Frau jedoch eine Sonderstellung unter den körperlichen Beeinträchtigungen zu: Im Gegensatz zu anderen Formen der »schweren Körperverletzung« wird die Sterilisation durch die Einwilligung des Betroffenen auch dann zum erlaubten medizinischen Eingriff, wenn kein zwingender medizinischer Grund vorliegt. In einer Gesellschaft, in der sich sehr viele Menschen für eine Lebensplanung ohne Kinder entscheiden und sich nur sehr wenige Menschen eine sehr große Zahl von Kindern wünschen, erscheint die Ent-scheidung, die eigene Zeugungsfähigkeit zu beenden, als eine legitime Opti-on. Sehr viele zeugungsunfähige Männer fühlen sich in keiner Weise beein-trächtigt, sondern haben diesen Zustand sogar bewusst herbeigeführt, da er ihnen zusätzliche Handlungsmöglichkeiten eröffnet: die uneingeschränkte

* Autoren-Korrekturen wurden vom Autor leider nicht ausgeführt.

1 Joachim Müller (1985). Zur Begrifflichkeit vgl. Scheffler (1996).

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Entfaltung ihrer potentia coeundi (Beischlafsfähigkeit) ohne Rücksicht auf mögliche unerwünschte Folgen ihrer potentia generandi (Zeugungsfähigkeit). Sie sind nicht disabled, sondern differently abled im eigentlichen, nicht im euphemistischen Sinne des Wortes.

Diese Sicht ist jedoch das Ergebnis einer relativ aktuellen Entwicklung: Zwar steht mit der Unterbrechung der Samenleiter seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein im Gegensatz zur Kastration weitestgehend nebenwir-kungsfreies Verfahren zur gezielten Herbeiführung männlicher Infertilität zur Verfügung, doch wurde dessen Einsatz zunächst in den USA und bald auch in Europa lange Zeit fast ausschließlich unter eugenischen Aspekten verhandelt.2 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Vorstellung durch, dass Vasektomie und Tubenligatur ein akzeptables Mit-tel der Familienplanung seien. In Frankreich war bis vor wenigen Jahren die freiwillige Vasektomie einwilligungsfähiger, gesunder Erwachsener ver-boten, und auch in Deutschland gilt sie erst seit dem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 27.10.1964 als allgemein erlaubt.3

Mit der in sexuellen Fragen üblichen zeitlichen Verzögerung spiegelt die Rechtsentwicklung hier einen tiefgreifenden gesellschaftlich-kulturellen Umbruch: Seit dem späteren 19. Jahrhundert rückte die Fähigkeit des Mannes als potenter Liebhaber in den Mittelpunkt der Männlichkeitsvor-stellungen, während zuvor seine Hoden als Sitz der Zeugungsfähigkeit im Vordergrund gestanden hatten. In seinem Buch »Castration. An Abbrevia-ted History of Western Manhood« hat Gary Taylor in einer Kapitelüber-schrift diese Entwicklung vor einigen Jahren auf die knappe Formel »The Rise of the Penis and the Fall of the Scrotum« gebracht.4 Dieser Verschie-bung des Blickwinkels müssen wir uns bewusst bleiben, wenn wir im Fol-

2 Drake/Mills/Cranston (1999). Vgl. Gugliotta (1998); Sofair/Kaldjian (2000).

3 Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14.7.1933 und der § 226b StGB (Strafgesetzbuch) vom 18.3.1943 hatten die Möglichkeit eröffnet, Personen, de-ren Fortpflanzung aus der Sicht der nationalsozialistischen Ideologie unerwünscht war, auch gegen ihren Willen unfruchtbar zu machen, die freiwillige Sterilisation ge-sunder Personen dagegen untersagt. Nachdem durch das Kontrollratsgesetz vom 30.1.1946 § 226b ersatzlos gestrichen worden war, das »Gesetz zur Verhütung erb-kranken Nachwuchses« aber nicht formell als NS-Unrecht aufgehoben, sondern ledig-lich durch die Aufhebung der Erbgesundheitsgerichte nicht mehr angewendet werden konnte, blieb die Rechtslage umstritten, bis 1964 höchstrichterlich entschieden wurde, dass die freiwillige Sterilisation auch dann nicht als »sittenwidrig« einzustufen ist, wenn keine medizinische oder eugenische Indikation vorliegt (BGHSt [Entscheidun-gen des BGH in Strafsachen] 20, 81). Hauberichs (1998); Eser/Koch (1984); Scheulen (2005). – In Frankreich, wo seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Bevölkerungspoli-tik einen durchgehend hohen Stellenwert im öffentlichen Diskurs hatte, wurden sterili-sierende chirurgische Eingriffe erst 2001 gesetzlich erlaubt; Huyg-he/Blanc/Nohra/Kehdis/Labarthe/Rouge/ Plante (2007).

4 Taylor (2002), S. 85.

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genden nach Vorstellungen von Männlichkeit und der Wahrnehmung ihrer Beeinträchtigung in der Vormoderne fragen.

Weitaus mehr als heute war die Zeugungsfähigkeit des Mannes im Mittelal-ter eine sozial relevante Kategorie: Die soziale Handlungsfähigkeit eines mittelalterlichen Adligen beruhte wesentlich auf seiner männlichen Ehre. Ein wesentliches Attribut dieser Männlichkeit war, neben der Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, auch die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen. In der »Chanson de Guillaume«, die vermutlich um 1150 in der nordöstlichen Normandie entstand und in einer englischen Handschrift des frühen 13. Jahrhunderts überliefert ist, rechtfertigt sich Gui, der Neffe und Erbe Wil-helms von Barcelona, für die an sich ehrlose Tötung des schwerverwunde-ten, wehrlosen Sarazenenkönigs Deramed (= Abd-er-Rahman) mit den Worten: »Wenn er auch keine Füße zum Laufen mehr hatte, besaß er doch Augen zum Schauen und Hoden, um Kinder zu zeugen.«5

Im Mittelpunkt steht hier der Aspekt der Blutrache: Ein Adliger oder Kö-nig, der keine Kinder hatte, konnte nicht davon ausgehen, dass ein Unrecht, das er selbst nicht abwehren konnte, in der nächsten Generation durch sei-ne Nachkommen gerächt werden würde. Aber auch jenseits solch dramati-scher Zuspitzung war seine Fähigkeit, eigene (möglichst männliche) Nach-kommen zu zeugen, für seine Stellung von entscheidender Bedeutung. Wenn die Großen eines Reiches oder eines Territoriums wussten, dass ihr König oder Landesherr keinen Erben haben würde, war ihre Loyalität ge-schwächt, denn sie konnten nicht davon ausgehen, dass ihr Einsatz für ih-ren Herrscher auch über dessen Tod hinaus belohnt werden würde. Die im römischen Recht gegebene Möglichkeit der Einsetzung zum Erben durch Adoption ging im Verlauf der ersten Jahrhunderte des Mittelalters weitge-hend verloren.6 Frühzeitig einen anderen männlichen Verwandten als Nachfolger aufzubauen, war zwar möglich, barg aber Gefahren, da die An-erkennung einer solchen Regelung durch die Großen des Reiches (bzw. im Fall von Adligen durch den Lehnsherrn) keineswegs sicher war.7 Die Frage,

5 Wathelet-Willem (1975), Bd. 2, V. 1969-1971 (dt. Übers.: ed. Schmolke-Hasselmann, S. 177): »s’il n’aveit pié dunt il peüst aller, / il aveit oilz dunt il poeit garder, / si aveit coilz pur enfanz engendrer«; zur Datierung und Lokalisierung vgl. Wathelet-Willem (1975), Bd. 1, S. 651-655. Dieser explizite Verweis auf die Hoden (»Entmannung«) als Sitz der Zeugungsfähigkeit ist in der französischen Epik singulär; vgl. Ménard (1969), S. 141.

6 Jussen (1991).

7 Die Gefahren, denen ein Herrscher ohne männlichen Erben ausgesetzt war, zeigt be-sonders deutlich ein Blick auf die englische Geschichte des 12. Jahrhunderts: Nach dem Tod seines Sohnes William Atheling 1120 baute König Heinrich I. zunächst sei-nen Neffen Stephan von Blois als Nachfolger auf. Als jedoch seine Tochter Mathilde nach dem Tod ihres Gemahls, Kaiser Heinrichs V., 1125 nach England zurückkehrte, verpflichtete Heinrich I. stattdessen die englischen und normannischen Barone, Ma-thilde und ihren neuen Gemahl Gottfried von Anjou als seine Erben anzuerkennen. Da Stephan nicht auf seine Ansprüche verzichten wollte, kam es nach dem Tod Hein-

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ob ein mittelalterlicher Herrschaftsträger Kinder zeugen konnte oder nicht, richtet sich somit auf ein fait social von großer Wichtigkeit und darf daher nicht als Marginalie einer anekdotischen Geschichtsschreibung betrachtet werden.

Forschungsstand

Trotz ihrer offenkundigen Bedeutung ist die Fragestellung in der neueren Forschung kaum berücksichtigt worden. Die 1957 von Wilhelm Müller in Würzburg eingereichte medizinhistorische Dissertation »Über die Bedeu-tung der Infertilität des Mannes in der Medizingeschichte mit Beispielen aus der Weltgeschichte« ist eine der wenigen monographischen Behandlungen des Themas.8 Eine neuere pharmaziehistorische Dissertation untersucht die ungewollte Kinderlosigkeit vor dem Hintergrund der antiken und mittelal-terlichen Zeugungstheorien und geht in diesem Zusammenhang auch auf therapeutische Maßnahmen ein.9 Mittelalterliche Quellentexte, die auf For-men und Ursachen der Unfruchtbarkeit aus medizinischer Sicht eingehen, hat 2001 der Hamburger Medizinhistoriker Hermann Grensemann zu-sammengestellt.10 Das weitgehende Desinteresse der Forschung ist auch der Tatsache geschuldet, dass die Quellenlage ungünstig ist. Kirchenrechtlich war nicht Sterilität, sondern Impotenz des Ehemannes das für die Auflös-barkeit einer Ehe entscheidende Kriterium.11 Eine kinderlos bleibende Ehe war zwar sozial in vieler Hinsicht dysfunktional, nach kirchlichen Vorstel-lungen aber nicht anfechtbar. Die Erektionsfähigkeit des Ehemannes konnte daher in Prozessen Gegenstand eingehender Diskussion und Untersuchung sein (bis hin zum Einsatz ehrbarer Frauen als Gutachterinnen)12, die Frage

richs I. zu einem langjährigen Bürgerkrieg (»the anarchy of King Stephen’s reign«). Hollister (2001); Chibnall (1991); Crouch (2000); Davis (1990). Ebenso problematisch war für Richard Löwenherz die Regelung seiner Nachfolge. Obwohl Richard Johann Ohneland zeitlebens misstraute, gelang es ihm nicht, seinen jüngeren Bruder durch ei-nen Thronfolger eigener Wahl zu verdrängen. Gillingham (1999).

8 Wilhelm Müller (1957).

9 Josephs (1998).

10 Grensemann (2001).

11 Saar (2002); Brundage (1982); Makowski (1977); Weigand (1970); Le Bras (1968). Die rechtliche Praxis wurde v. a. für England untersucht: Pedersen (2000); Helmholz (1974). Erst 1587, als den führenden Medizinern entgegen der aristotelischen Auffas-sung die Hoden als eigentliche Produktionsstätte des Samens galten, führte Papst Six-tus V. als zusätzliches Kriterium für den Vollzug des ehelichen Aktes neben der Penet-ration den Erguss von semen verum in die Scheide der Frau als Kriterium ein und un-tersagte kastrierten Männern die Eheschließung: McGrath (1988). Zur Praxis vgl. Beh-rend-Martínez (2007) und (2005).

12 Das bekannteste Beispiel ist die Aussage einer »ehrbaren Frau«, die als sachverständige Gutachterin vom erzbischöflichen Gericht in York herangezogen wurde: »Und diesel-

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seiner Zeugungsfähigkeit war dagegen allenfalls insofern von Bedeutung, als das Vorhandensein von Kindern die Geltendmachung der Impotenz des Ehemannes von vornherein ausschloss.

Quantitative Relevanz

Zu stellen ist zunächst die Frage nach der quantitativen Relevanz, d. h. nach der Häufigkeit stark eingeschränkter Zeugungsfähigkeit und absoluter Zeugungsunfähigkeit bei Männern. Heutige Schätzungen in westlichen In-dustriegesellschaften belaufen sich auf etwa 2 %. Absolute Infertilität, d. h. vollständige Azoospermie, ist relativ selten. Sozial ebenso relevant war je-doch bis zur Einführung der modernen Reproduktionsmedizin eine Subfer-tilität des männlichen Partners, die so stark ausgeprägt ist, dass eine Zeu-gung von Kindern auf natürlichem Wege im Verlauf einer Ehe als sehr un-wahrscheinlich (wenngleich nicht gänzlich ausgeschlossen) erscheint.

Ob heutige Werte in das Mittelalter zurückprojiziert werden dürfen, ist al-lerdings umstritten. Nicht wenige neuere Studien verweisen auf ein dramati-sches Absinken der durchschnittlichen Spermaqualität bei jungen Männern seit dem Beginn qualitativer Spermaanalysen in den 1930er Jahren.13 Selbst wenn die Infertilitätsquote mittelalterlicher Männer niedriger gelegen haben sollte als heute, da sie in ihrer Umwelt weniger stark hormonell wirksamen chemischen Substanzen ausgesetzt waren, und auch wohl das medizinische Risiko, sich die Fruchtbarkeit beeinträchtigende sexuell übertragbare Krankheiten zuzuziehen, im Mittelalter geringer war als im 19. und 20. Jahrhundert, so ist doch nicht anzunehmen, dass die Zeugungsunfähigkeit des Mannes im Mittelalter als ein quantitativ gänzlich marginales Problem zu betrachten wäre.

Das Wissen um die Zeugungsfähigkeit

In welchen Fällen aber und, wenn ja, wie konnte ein mittelalterlicher Mann wissen, ob er zeugungsfähig war oder nicht? Die Feststellung der Ursachen der ungewollten Kinderlosigkeit eines Paares impliziert heute eine Kette aufwendiger medizinischer Untersuchungen und bleibt gleichwohl oft ohne

be Zeugin zeigte ihm ihre entblößten Brüste und hielt und massierte mit ihren Hän-den, die sie zuvor am Feuer erwärmt hatte, den Penis und die Hoden des genannten Johannes. Sie umarmte und küßte ihn mehrfach und versuchte, so gut sie es konnte, seine Männlichkeit und Potenz zu erregen, indem sie ihn ermahnte, um Schande zu vermeiden, sich hier und jetzt als Mann zu erweisen. Verhört und sorgfältig befragt gab sie an, daß der Penis die ganze Zeit über etwa 3 Zoll lang blieb ohne Vergröße-rung oder Verkleinerung.« McLaren (2007), S. 25; Helmholz (1974), S. 89; Murray (1990); Brundage (1987), S. 457, 505, 566; Gigot (1987); Weigand (1988), S. 173, 176f.; Löffler (1958), S. 339.

13 Carlsen/Giwercman/Keiding/Skakkebæk (1992). Vgl. jedoch Orejue-la/Lipshultz/Lamb (1998).

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zufriedenstellendes Ergebnis. Mit den medizinischen Mitteln des Mittelalters war männliche Infertilität nicht festzustellen. Die entscheidenden Einsichten erfolgten erst im 17. Jahrhundert. Erst die Erfindung des Mikroskops um 1600 ermöglichte Antoni van Leeuwenhoek 1677 die Entdeckung der Spermien und ihrer Bedeutung für die Fortpflanzung.

Gleichwohl ist davon auszugehen, dass im Mittelalter Männer der Ober-schicht leicht wissen konnten (und oft frühzeitig wussten), ob sie ohne Schwierigkeiten Kinder zeugen konnten oder nicht. Bis zur Zeit Karls des Großen waren Konkubinatsverhältnisse neben oder anstelle einer ehelichen Beziehung weit verbreitet, da sie keine rechtliche Schlechterstellung der dar-aus hervorgegangenen Kinder nach sich zogen. An der Peripherie Europas (insbesondere in Skandinavien und im normannischen Raum) galt dies so-gar bis zur Zeit um 1000 und teilweise darüber hinaus.14 Vorehelicher Ver-kehr mit Konkubinen unterhalb des eigenen Standes blieb auch im Hoch- und Spätmittelalter üblich und erregte keinen Anstoß. Wer sich dieser Pra-xis verweigerte, setzte sich unter Umständen sogar unangenehmem Ver-dacht aus. Wilhelm der Eroberer, der selbst aus einem Verhältnis seines Vaters mit einer Wäscherin hervorgegangen war, lebte, wenn wir Wilhelm von Malmesbury glauben dürften, in seiner frühen Jugend (»prima adules-centia«) so keusch, dass sich das Gerücht allgemein verbreitete, »er vermöge nichts mit einer Frau« (»castitatem suspexit in tantum, ut publice sereretur nichil illum in femina posse«).15 Auch während der Ehe zeugten viele mit-telalterliche Herrscher und Adlige uneheliche Kinder. Dies lässt erkennen, dass es ihnen im Zweifelsfall leicht möglich war, ihre eigene Zeugungsfä-higkeit zu erproben.

Frauen dagegen hatten keine Gelegenheit, ihre Fruchtbarkeit bereits vor der Ehe durch geschlechtlichen Verkehr mit einem anderen Mann als ihrem Verlobten unter Beweis zu stellen. Selbst die Tatsache, dass eine Frau (etwa in einer früheren Ehe) bereits Kinder zur Welt gebracht hatte, bewies nicht, dass sie weiterhin fruchtbar war, da jede Geburt für Gebärende ein hohes Risiko mit sich brachte, durch Komplikationen oder Infektionen unfrucht-bar zu werden. Die medizinisch unbegründete, aber bis heute verbreitete Vermutung, die Ursachen für ungewollte Kinderlosigkeit eines Paares seien in erster Linie bei der Frau zu suchen, könnte in der sozialen Realität des Mittelalters daher durchaus mehr als nur Ausdruck übersteigerten männli-chen Selbstbewusstseins gewesen sein.

Ursachen männlicher Zeugungsunfähigkeit

Die Ursachen männlicher Zeugungsunfähigkeit waren für den Betroffenen oft wahrnehmbar. Sichtbare Ursachen waren insbesondere fehlende Hoden

14 Eickels (2006); Borgolte (2004); Esmyol (2002).

15 Wilhelm von Malmesbury (2006), III.273.1, S. 500.

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durch Kastration (nicht nur als Strafe, sondern auch iatrogen als Teil einer operativen Behandlung eines Leistenbruchs), als Folge eines Unfalls, einer Kriegsverletzung oder aufgrund von Kryptorchismus (maldescensus testis, Leistenhoden), der heute bei Neugeborenen nicht ganz selten ist und bei ca. 0,2 % aller männlichen Neugeborenen bilateral über das erste Lebensjahr hinaus bestehen bleibt, in den mittelalterlichen Quellen dagegen erstaunli-cherweise kaum erwähnt wird.

Fehlende oder sehr kleine Hoden konnten als Indizien für Zeugungsunfä-higkeit durchaus richtig gedeutet werden. Die Hoden galten zwar nicht als Produktionsstätte des Samens. Dieser wurde vielmehr als im Gehirn und Rückenmark (oder im gesamten Körper) entstehend betrachtet. Jedoch nahm man an, dass der Samen in den Hoden gesammelt wird, so dass eine Entfernung der Hoden oder ihre unvollkommene Ausbildung die natürliche Ausstoßung des Samens verhindert. Durchaus zutreffend beschrieben wird in den medizinischen Fachtexten, die sich teilweise ausführlich mit der Phy-siologie der menschlichen Sexualität befassen, das Erscheinungsbild des Eunuchoidismus.16 Kaum praktische Bedeutung dagegen hatte die aus der hippokratischen Tradition übernommene (und schon von Galen in Zweifel gezogene) Vorstellung, dass der Samen auf seinem Weg in die Hoden auch durch die Venen hinter den Ohren geleitet werde, so dass deren Durchtren-nung Zeugungsunfähigkeit zur Folge habe.17

Nicht äußerlich sichtbar dagegen war Zeugungsunfähigkeit durch Unter-gang von Hodengewebe oder Verschluss der ableitenden Samenwege durch Entzündungen oder Verletzungen. Dies dürfte dem Betroffenen aber in der Regel bewusst gewesen sein, da ein Mann seine Zeugungsfähigkeit in der Regel nicht unbemerkt verliert. Entzündungen, Quetschungen und Verlet-zungen der Hoden und der ableitenden Samenwege sind äußerst schmerz-haft und können vom Betroffenen kaum übersehen werden. Frauen dagegen konnten auch dann, wenn sie schon ein oder mehrere Kinder geboren hat-ten und zwischenzeitlich keine Erkrankung des Unterleibs mehr durchge-macht hatten, nicht davon ausgehen, dass sie auch weitere Kinder bekom-men konnten, da in den mit einer Geburt ohnehin verbundenen Schmerzen

16 Green (2006); Cadden (1993), S. 228-258. Zur sexuellen Typologie der Männer und Frauen vgl. Hildegard von Bingen (1903), cap. 35,17-36,12.

17 Constantinus Africanus (1983); Strohmeier (1993), S. 163f. Die anatomisch auf den ersten Blick abwegige Aussage konnte sich möglicherweise auch deswegen lange hal-ten, da sie eine Erklärung bot, warum mittelschwere und schwere Schädelhirntrauma-ta oft eine Beeinträchtigung der Produktion männlicher Sexualhormone (ausgelöst durch Schädigung der Hypophyse) zur Folge haben. Auch für den Zusammenhang zwischen Mumpsparotitis und -orchitis bot sich hier ein Erklärungsansatz. Näher zu untersuchen wäre, ob man der verbreiteten Schandstrafe des Abschneidens der Ohren auch die Bedeutung beilegte, dass solche Männer in ihrer Zeugungsfähigkeit beein-trächtigt seien.

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die häufigen zu späterer Unfruchtbarkeit führenden Geburtskomplikationen leicht übersehen wurden.

Entmannung

Die Entmannung galt (insbesondere in Verbindung mit der Blendung) als eine der Hinrichtung gleichzuachtende Kapitalstrafe.18 Während die An-drohung und Durchführung der Entmannung vielfach belegt sind, sprechen die Quellen des lateinischen Westens kaum über die Stellung und Wahr-nehmung der so Bestraften. Sie verschwinden aus den Quellen, was die na-heliegende Deutung der Entmannung als sozialer Tod stützen würde.

Eine Ausnahme ist hier jedoch zu erwähnen, der Bericht Thietmars von Merseburg über das Vorgehen Herzog Boleslaws III. von Böhmen gegen seine Brüder Jaromir und Udalrich. Da Boleslaw fürchtete, einer von ihnen könnte ihm die Herrschaft streitig machen, ließ er Jaromir entmannen und versuchte Udalrich zu töten. Dieser Fall ist besonders instruktiv, da er zeigt, dass Entmannung allein offenbar doch nicht ausreichte, die Herrschaftsfä-higkeit eines Gegners zu vernichten: 1004 wurde Jaromir durch Heinrich II. als böhmischer Herzog eingesetzt und konnte sich immerhin bis 1012, als ihn sein Bruder vertrieb, in diesem Amt halten. Ein Versuch Konrads II., Jaromir 1033 erneut als Herzog einzusetzen, scheiterte jedoch. Als sich Udalrich 1034 mit Konrad II. aussöhnte und von ihm als Mitherzog einge-setzt wurde, nahm er Jaromir sogleich gefangen und ließ ihn blenden. Erst die Verbindung von Kastration und Blendung schaltete einen Gegner zu-verlässig aus.19

Dass ein Entmannter doch noch zur Herrschaft gelangte, war aber sicher-lich eine seltene Ausnahme. Insbesondere für das Königtum dürfen wir an-nehmen, dass der Verlust der Hoden eine Erhebung zum König ausschloss, denn sogar in Byzanz, wo Eunuchen in Armee und Verwaltung bis in höchste Ränge aufsteigen konnten, blieb ihnen der Zugang zum Kaisertum verwehrt.20 Söhne, die aufgrund sichtbarer Fehlbildungen der Genitalien absehbar zeugungsunfähig waren, wurden wahrscheinlich von vornherein wie Söhne mit anderen körperlichen Behinderungen einer geistlichen Lauf-bahn zugewiesen. Körperliche Beeinträchtigungen galten zwar als Weihe-hindernis, von dem aber dispensiert werden konnte, soweit die Fähigkeit zum würdigen Vollzug sakramentaler Handlungen gegeben war.

18 Zu Blendung und Entmannung als Strafe für Hochverrat im Mittelalter vgl. Eickels (2005) und (2004).

19 Thietmar von Merseburg (1996), S. 247; Adalbold von Utrecht (1999), S. 192f. (cap. 44); Eickels (2002), S. 272; Tuchel (1998), S. 96-100; Hoensch (1987), S. 52f.

20 Tougher (2008); Ringrose (2003).

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Vorehelicher Verkehr

Die Mehrzahl der Ursachen für männliche Zeugungsunfähigkeit war hinge-gen nicht sichtbar. Dennoch können wir davon ausgehen, dass Männer der Oberschicht, wenn sie eine Ehe eingingen, über ihre eigene Zeugungsfähig-keit recht gut Bescheid wussten. Der Unsicherheitsfaktor bei einer Ehe war daher die Fruchtbarkeit der Frau. Außerhalb des Adels und der städtischen Oberschicht dagegen dürften viele Paare schon im Mittelalter ähnlich vor-gegangen sein, wie es Guy de Maupassant (1850-1893) in seinem 1877 be-gonnenen und 1883 (nach Lektüre des Manuskriptes durch Gustave Flau-bert) veröffentlichten Roman »Ein Leben« schildert. In seiner zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Normandie spielenden Erzählung legt Maupassant einem Landpfarrer die resignierte Klage in den Mund, er habe während seiner 18-jährigen Amtszeit noch kein Paar getraut, bei dem nicht zuvor die Braut eine Wallfahrt zu »Unserer Lieben Frau vom dicken Bauch« gemacht hatte; wichtiger als die Bekämpfung vorehelichen Geschlechtsverkehrs sei es, erforderlichenfalls den Vater eines so gezeugten Kindes ausfindig zu ma-chen und ihn zur Einhaltung seines Eheversprechens anzuhalten.21 Auswer-tungen frühneuzeitlicher Tauf- und Heiratsregister in Bayern und Württem-berg ergaben einen Anteil von 20-30 % vor der Ehe gezeugter, jedoch per subsequens matrimonium (mit später vollzogener Eheschließung) legitimierter erstgeborener Kinder.22

Kinderlosigkeit

Die Möglichkeit, die Verlobungszeit als »Ehe auf Probe« zu nutzen, bestand für Ehen von Adligen und Königen wegen ihrer politischen Bedeutung nicht. Wenn sich eine Ehe als kinderlos erwies, bestanden aber trotz der grundsätzlichen Unauflöslichkeit der Ehe Auswege: zunächst die Eheannul-lierung wegen zu enger Verwandtschaft, die allerdings ab dem 13. Jahrhun-

21 Maupassant (2009), URL: http://www.scribd.com/doc/7796357/Guy-de-Maupassant-Une-vie (letzter Zugriff: 29.8.2009), S. 252f.: »›[…] Voilà dix-huit ans que je suis ici. Oh! la commune rapporte peu et ne vaut point grand-chose. Les hommes n’ont pas plus de religion qu’il ne faut, et les femmes, les femmes, voyez-vous, n’ont guère de conduite. Les filles ne passent à l’église pour le mariage qu’après avoir fait un pèleri-nage à Notre-Dame du Gros-Ventre, et la fleur d’oranger ne vaut pas cher dans le pays. Tant pis, je l’aimais, moi.‹ Le nouveau curé faisait des gestes d’impatience, et devenait rouge. Il dit brusquement: ›Avec moi, il faudra que tout cela change.‹ […] ›L’âge vous calmera, l’abbé, et l’expérience aussi; vous éloignerez de l’église vos der-niers fidèles; et voilà tout. Dans ce pays-ci, on est croyant, mais tête de chien: prenez garde. Ma foi, quand je vois entrer au prône une fille qui me paraît un peu grasse, je me dis: »C’est un paroissien de plus qu’elle m’amène«; – et je tâche de la marier. Vous ne les empêcherez pas de fauter, voyez-vous; mais vous pouvez aller trouver le garçon et l’empêcher d’abandonner la mère. Mariez-les, l’abbé, mariez-les, ne vous occupez pas d’autre chose.‹«

22 Pfister (2007), S. 85-87; Breit (1991); Beck (1983), S. 122; Maisch (1992), S. 295-298; Hörger (1978). Die Quoten scheinen jedoch regional erheblich zu variieren.

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dert aufgrund der Einschränkung des Inzestverbotes auf den 4. Grad durch das Vierte Laterankonzil nur noch bedingt zur Verfügung stand, gelegent-lich auch aufgrund der Einrede der Impotenz durch Verhexung, d. h. der Behauptung, der Mann sei durch magische Einwirkung dauerhaft daran gehindert, mit seiner Frau den Geschlechtsakt zu vollziehen, dazu mit ande-ren Frauen aber durchaus in der Lage.23

Das Wissen um die eigene Zeugungs(un)fähigkeit war für mittelalterliche Könige und Adlige von großer Bedeutung. Wenn die eigene Ehe kinderlos blieb und eine Eheannullierung in Betracht kam, aber auch wenn bei einer möglichen Ehe mit einer minderjährigen Braut oder bei der Gestaltung des Itinerars politische Interessen gegen die rasche Zeugung von Nachkommen abzuwägen waren, musste der Mann wissen, ob er überhaupt Kinder zeu-gen konnte. Anders als heute stand jedoch die medizinische Erklärung durch einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang in Konkurrenz zu anderen, ebenso plausiblen Erklärungsmodellen: Kinder galten als Geschenk Gottes; Kinderlosigkeit wurde daher als Strafe Gottes gedeutet. Als geeignete Ge-genmaßnahmen galten Bußleistungen aller Art (insbesondere Fasten und geschlechtliche Enthaltsamkeit, Wallfahrten und die Teilnahme am Kreuz-zug). Diese erscheinen aus heutiger Sicht eher kontraproduktiv, da sie kör-perlich schwächend wirken und wertvolle Monate, wenn nicht Jahre vor einem erneuten Versuch der Zeugung eines Kindes ungenutzt verstreichen ließen, waren aber im mittelalterlichen Verständnis keineswegs irrational.

Dennoch ist im Mittelalter für das Verständnis der menschlichen Fortpflan-zung, wie in anderen Lebensbereichen auch, davon auszugehen, dass die Betroffenen die Konkurrenz der Erklärungsweisen nicht als widersprüch-lich, sondern als komplementär betrachteten: Das grundsätzlich immer zu bedenkende und letztlich ausschlaggebende Wirken Gottes in der Welt konnte zwar zusätzliche Handlungsoptionen und in Extremsituationen die Hoffnung auf ein Wunder eröffnen, gleichwohl bestimmte im Normalfall das Erfahrungswissen (gegebenenfalls unter Einbeziehung aus der Antike tradierter medizinisch-naturwissenschaftlicher Kenntnisse) die Erwartungs-haltung und das Handeln der Menschen. Der Sieg in der Schlacht konnte zwar als Gottesurteil gelten; gleichwohl vertraute kein mittelalterlicher Heer-führer allein auf den göttlichen Beistand. Selbst in der Schlacht von Hattin 1187, in der Saladin das Heer des Königreichs Jerusalem vernichtend schlug, hatte der Bischof von Akkon, der die Reichsreliquie des Heiligen Kreuzes dem Heer voran in die Schlacht trug, sich mit einer Rüstung ge-schützt und nicht allein auf die wunderwirkende Kraft der Reliquie vertraut. Dies wurde ihm zwar im Nachhinein als Zeichen des Kleinglaubens ausge-legt; jedes andere Verhalten aber wäre eine unzulässige Versuchung Gottes gewesen.

23 Rider (2006), S. 113-134; Rider (2005).

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Männliche Zeugungsunfähigkeit im mittelalterlichen Adel 83

Wie sich theologisches und medizinisches Wissen um die Ursachen der Zeugungsunfähigkeit miteinander verbinden konnten, zeigt ein Blick auf Kaiser Heinrich II. Als dieser 1007 das Bistum Bamberg gründete, erklärte er in aller Offenheit, auf Nachkommen nicht mehr hoffen zu können.24 Woher er dies wusste, bleibt in der Gründungsurkunde offen. Die anlässlich der Heiligsprechung Heinrichs 1146 und Kunigundes 1200 entstandenen Viten führen die Kinderlosigkeit des Herrscherpaares darauf zurück, dass sie bewusst eine Josephsehe geführt, d. h. durch Verzicht auf geschlechtli-chen Verkehr miteinander willentlich auf Nachkommen verzichtet hätten. Dieses Konzept stand jedoch erst seit der Scholastik überhaupt zur Verfü-gung, als Hugo von St. Viktor um 1130 ausführlich darlegte, dass die Ehe nichts anderes sei als ein Bund vollkommener Liebe und Hingabe aneinan-der, der auch dann gültig geschlossen werden könne, wenn beide Partner in wechselseitigem Einvernehmen den geschlechtlichen Verkehr miteinander ausschließen.25

Dass Heinrich und Kunigunde sich diese radikale Form ehelicher Keusch-heit nicht zu eigen machten, zeigt die Formel »die wir zwei in einem Flei-sche sind«, die Heinrich II. in Bezug auf Kunigunde in mehreren Urkunden verwendet.26 Spätestens 1007 aber muss Heinrich II. gewusst haben, dass er keine Kinder zeugen konnte. Möglicherweise hatte er nach sieben bis neun kinderlosen Ehejahren die Hoffnung auf Nachkommen aufgegeben, viel-leicht aber gibt auch die in der Legende als Wunder des heiligen Benedikt bei einem Besuch in Montecassino überhöhte Heilung vom einem Blasen-stein einen Hinweis darauf, warum Heinrich II. bereits in der Anfangsphase seiner Herrschaft seine Kinderlosigkeit als Schicksal hinnahm und auch keinen Versuch unternahm, sich von seiner Gemahlin Kunigunde zu tren-nen. Blasensteine neigen zu Rezidiven und treten oft schon früh im Leben auf. Falls bereits in der Kindheit oder Jugend Heinrichs versucht worden war, ihn durch eine Operation von seinem Steinleiden zu befreien, wäre Zeugungsunfähigkeit eine sehr wahrscheinliche Nebenwirkung. Beim Stein-schnitt wurde der Patient in Rückenlage mit gespreizten Beinen vor dem Steinschneider gelagert, der durch den After versuchte, den Blasenstein zu ertasten und ihn gegen den Damm zu drücken. Sodann durchstach er mit einem raschen Schnitt das Perineum und holte den Stein mit einem geeigne-ten Instrument heraus. Die Gefahr, dass bei dieser Operation die Prostata, die für Erektion und Ejakulation wichtigen Nerven und Blutgefäße oder die Samenleiter verletzt wurden, war sehr hoch.27

24 Weinfurter (1999); Eickels (2007).

25 Eickels (2003); Elliott (1993).

26 Hoffmann (1988).

27 Konert/Dietrich (2003).

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Die Annahme, dass mittelalterliche Herrscher durchaus über ihre Zeu-gungsfähigkeit orientiert waren, bietet eine rationale Erklärung der nicht ganz wenigen Fälle, in denen Könige ihre Herrscherpflicht, einen Throner-ben zu zeugen und die eigene Nachfolge zu sichern, in auffälliger Weise vernachlässigten. Die in der modernen Historiographie hierfür angebotenen Erklärungen bleiben oft unbefriedigend. Die Vermutung, der Herrscher habe die politische Relevanz der Zeugung eines Thronerben nicht erkannt oder einfach nur verantwortungslos gehandelt, ist wenig überzeugend. Auch das Argument, ein Herrscher sei mit 30 oder 35 Jahren noch jung genug gewesen, um die Zeugung von Nachkommen gelassen auf die Zukunft zu verschieben, ist nur bedingt richtig: Ein Sohn musste, um eine reibungslose Übergabe der Herrschaft zu gewährleisten, beim Tod des Vaters nicht nur geboren, sondern auch alt genug sein, um selbständig zu regieren.

Zeugungsunfähigkeit als politisches Problem

Zu einem politischen Problem wurde die Zeugungsunfähigkeit eines Herr-schers erst seit der Durchsetzung des kirchlichen Monogamiegebotes im 9. und 10. Jahrhundert und der damit verbundenen Abschichtung28 uneheli-cher Nachkommen. Solange auch die unehelichen Söhne eines Herrschers nachfolgeberechtigt waren, konnte eine Dynastie kaum aussterben. Wird jedoch der Kreis der nachfolgefähigen männlichen Verwandten des Herr-schers auf die aus legitimer Zeugung hervorgegangenen Linien einge-schränkt, ist dies leicht möglich. Es ist daher nicht erstaunlich, dass unter den Herrscherfamilien des europäischen Mittelalters als erste die mit Hein-rich II. im Mannesstamm aussterbenden Ottonen von diesem Schicksal getroffen wurden.

Ein weiteres frühes Beispiel für die politische Relevanz der Unfähigkeit ei-nes Herrschers, Nachkommen zu zeugen, ist Alfons I. der Streitbare (»el Batallador«) von Aragón. Über ihn berichtet durchaus anerkennend der arabische Chronist Ibn al-Athir, er habe auf die Frage, warum er sich keine der Töchter der von ihm besiegten muslimischen Großen als Konkubinen nehme, entgegnet, ein richtiger Krieger solle mit Männern, nicht mit Frauen zusammenleben. Erst spät im Alter von 36 Jahren heiratete er 1109 die streitbare Königin Urraca von Kastilien, die sich aber nach vier Jahren kin-derloser Ehe von ihm trennte.29

Nicht restlos erklärbar sind auch die drei Ehen Balduins I. von Jerusalem, wenn man nicht annimmt, dass er um seine Zeugungsunfähigkeit wusste. Als nachgeborener Sohn des Grafen Eustachius von Boulogne hatte Baldu-in kein eigenes Erbe zu erwarten. Es gelang ihm jedoch, die Erbtochter ei-

28 Abtrennung eines Vermögensteils für das aus der väterlichen Munt ausscheidende Kind; dann Lösung der zwischen dem überlebenden Gatten und den Kindern fortbe-stehenden Gütergemeinschaft. Vgl. Haberkern/Wallach (1972), S. 20.

29 Vones-Liebenstein (1997).

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ner normannischen Herrenfamilie zu heiraten. Als er 1096 auf den Kreuz-zug ging, nahm er seine Frau mit, vielleicht noch in der Hoffnung, auf dem Weg ins Heilige Land einen Sohn zu zeugen, vielleicht aber auch, weil er befürchtete, die bis zu diesem Zeitpunkt kinderlose Ehe könnte während seiner Abwesenheit aufgehoben werden. Nachdem er sich als Graf von Edessa militärisch durchgesetzt hatte, legitimierte er seine Stellung nicht nur, indem er sich durch den armenischen Herrn der Stadt adoptieren ließ, sondern auch durch die Ehe mit einer Armenierin. Diese aber erschien ihm, als er zwei Jahre später König von Jerusalem wurde, nicht mehr zu seiner Stellung als Herr über das größte der lateinischen Kreuzfahrerreiche zu pas-sen. Er ließ sie zwar von Edessa zu sich nach Jerusalem bringen, jedoch so schlecht geleitet, dass sie auf dem Weg von Muslimen gefangen genommen wurde und sich daher (wie alle aus muslimischer Gefangenschaft befreiten christlichen Frauen) dem Verdacht der incontinentia ethnica (d. h. des uner-laubten Geschlechtsverkehrs mit Sarazenen) ausgesetzt sah. Balduin nutzte die Gelegenheit, um sie in ein Kloster einzuweisen, aus dem sie sich jedoch bald unter dem Vorwand, bei Verwandten in Konstantinopel um Spenden bitten zu wollen, entfernte. Guibert von Nogent, der davon ausgeht, dass sie tatsächlich von ihren sarazenischen Bewachern vergewaltigt wurde, berich-tet, sie habe dort ein Leben als Prostituierte geführt, um ihre durch die Er-fahrungen mit den Sarazenen ins Unmäßige gesteigerte Geschlechtslust zu befriedigen. Balduin blieb daraufhin einige Jahre unverheiratet und schloss schließlich eine dritte Ehe mit der Witwe des Grafen von Sizilien, die die Grafschaft für ihren minderjährigen Sohn verwaltete und eine reiche Mitgift sowie die im Heiligen Land dringend benötigte Flottenunterstützung mit-brachte. Dies kam jedoch dem Verzicht Balduins auf eigene Nachkommen gleich, da Aleidis nicht nur in einem bereits relativ vorgerückten Alter, son-dern vermutlich auch wegen eines Genitalkrebses nicht zum ehelichen Bei-lager fähig war. Es ist kaum anzunehmen, dass Balduin I. dies während der Verhandlungen um die Ehe nicht erfahren hatte. Nicht er selbst, sondern die Barone waren es schließlich, die auf eine Auflösung der dritten Ehe drängten, weil sie die Nachfolge des Sohnes Aleidis’ aus erster Ehe und ei-nen Anschluss des Königreichs Jerusalem als Nebenland der Grafschaft Sizilien fürchteten. Statt aber nun endlich eine geeignete Gemahlin zu wäh-len, um mit ihr an die Zeugung eines Nachfolgers zu gehen, erklärte der inzwischen fast 60-jährige Balduin, er sei weiterhin mit seiner hoffnungslos desavouierten zweiten Ehefrau gültig verheiratet. Hätte Balduin noch Hoff-nung auf eigene Nachkommen gehabt, wäre dieses Verhalten gänzlich irra-tional, war doch absehbar, dass die offene Frage der Nachfolge das König-reich Jerusalem in eine tiefe Krise stürzen würde.30

30 Mayer (1984) (mit ausführlicher Diskussion der Quellen, jedoch der verfehlten Deu-tung, Wilhelm von Tyrus und Wilhelm von Malmesbury gäben Hinweise auf eine homosexuelle Veranlagung Balduins I.).

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Wilhelm von Malmesbury berichtet in seinen »Gesta regum Anglorum« über den Tod Balduins und geht dabei auch auf dessen Kinderlosigkeit ein: »Es steht fest, dass der König keine Nachkommen hatte; dies ist aber nicht verwunderlich bei einem Mann, für den Müßiggang eine Krankheit war, der die Umarmungen der Ehefrau verabscheute und sein ganzes Leben im Krieg zubrachte« (»Illud constat regem prolis inopem fuisse; nec mirum si homo, cuius otium erat aegrescere, uxorios amplexus horruerit, omnem aetatem in bellis deterens«). Hans Eberhard Mayer hat hieraus eine Anspie-lung herauslesen wollen, Balduin I. sei homosexuell gewesen. Ebenso wie der Kommentar Ibn al-Athirs über Alfons I. von Aragón ist die Passage aber erkennbar positiv gemeint. Die Kinderlosigkeit Balduins wird daraus erklärt, dass er durch die Verteidigung des Königreiches zu sehr in An-spruch genommen war, um überhaupt die Muße zu haben, die Zärtlichkei-ten einer Ehefrau zu genießen, und er sei daher (gewissermaßen aus termin-lichen Gründen) nicht zur Zeugung von Kindern gekommen. Nicht nur auf heutige, sondern auch auf mittelalterliche Leser dürfte diese Erklärung we-nig glaubwürdig gewirkt haben. Sie erfüllt in der Lobrede Wilhelms von Malmesbury auf Balduin I. jedoch eine wichtige Funktion, da sie es ermög-licht, die klare Aussage zu vermeiden, Balduin sei trotz entsprechender An-strengungen nicht zur Zeugung eigener Kinder in der Lage gewesen, denn dies hätte als Strafe Gottes gedeutet werden müssen.

Wie wichtig für die Erklärung politisch-dynastischer Handlungsoptionen das Wissen der Zeitgenossen um die Zeugungsunfähigkeit eines Herrschers war, zeigt anschaulich das Beispiel der Ehe zwischen Heinrich VI. (geb. 1165) und Konstanze von Sizilien (geb. 1154), die im Jahr 1186 nach zwei-jährigen Verhandlungen geschlossen wurde. Ob diese Ehe von Anfang an auf die Vereinigung Siziliens mit dem Reich zielte, ist in der Forschung um-stritten. Falls Heinrichs Vater Friedrich Barbarossa diese Möglichkeit als langfristige Perspektive mit berücksichtigte, musste er sich darüber im Kla-ren sein, dass Konstanzes Neffe Wilhelm II. (geb. 1154) zum einen noch ein langes Leben beschieden sein und ihm zum anderen durchaus noch ein Thronfolger geboren werden konnte. Als Indiz dafür, dass Letzteres nicht der Fall sein würde, konnte allerdings schon im Winter 1183/84 die Tatsa-che gewertet werden, dass Wilhelm II. keine Anstrengungen unternahm, seine am 13.2.1177 geschlossene und bis zu diesem Zeitpunkt kinderlos gebliebene Ehe mit Johanna, Tochter Heinrichs II. von England, auflösen zu lassen, vielleicht in dem Wissen, dass ihm auch in einer zweiten Ehe der ersehnte Thronerbe versagt geblieben wäre. Dass Wilhelm II. selbst keine eigenen Nachkommen erwartete, lässt auch die reiche Ausstattung des von ihm wohl bereits um 1174 gegründeten Klosters von Monreale und dessen bei Papst Lucius III. 1183 erwirkte Erhebung zum Erzbistum vermuten, die nur unzureichend allein politisch als Versuch einer entscheidenden Schwä-chung des Erzbischofs von Palermo zu erklären ist.31

31 Gründungsurkunde von Monreale (2009), URL: http://www.hist-hh.uni-

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Überhaupt nur sinnvoll erklären lässt sich das Verhalten Richards I. Lö-wenherz von England, wenn man annimmt, dass er um seine Zeugungsun-fähigkeit wusste. Er ließ sich zunächst auf eine außerordentlich lange Ver-lobungszeit mit einer Schwester des französischen Königs Philipp II. Augus-tus ein, aus der er sich erst auf dem 3. Kreuzzug befreite, indem er Philipp gegenüber in Messina erklärte, er habe im Nachhinein erfahren, dass sein Vater seine Verlobte missbraucht habe und daher nun das Ehehindernis der affinitas (Schwägerschaft, die nicht nur durch Ehe, sondern auch durch unerlaubten Geschlechtsverkehr entstehen kann) die Aufhebung des Ver-löbnisses erfordere. Wenige Wochen später heiratete Richard auf Zypern Berengaria von Navarra, die ihm von seiner Mutter zugeführt worden war. Dass er sich während seines Aufenthaltes im Heiligen Land wenig im Um-feld Berengarias sehen ließ, ist nachvollziehbar, hatte er doch seinen eige-nen Gefolgsleuten verboten, Frauen mit auf den Kreuzzug zu nehmen. Für einen zeugungsfähigen Mann gänzlich irrational dagegen ist sein Verhalten nach seiner Rückkehr vom Kreuzzug. Auch nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft Heinrichs VI. lässt das Itinerar von König und Königin in keiner Weise erkennen, dass er auch nur den Versuch unternommen hätte, so viel Zeit mit Berengaria zu verbringen, dass die Zeugung von Kindern überhaupt nur möglich gewesen wäre.32

Ganz anders dagegen ging Richard II. mit der Tatsache um, dass aus seiner 1382 geschlossenen Ehe mit Anna von Böhmen keine Nachkommen her-vorgingen. In ihrer zwölfjährigen Ehe bedachte er sie immer wieder mit demonstrativen Liebesbeweisen. Dass die Ursache für die Kinderlosigkeit eher bei Richard als bei Anna zu suchen ist, zeigt sein Verhalten nach dem Tod Annas. Er heiratete zwar auf Druck der Großen seines Königreiches erneut. Als zweite Gemahlin aber wählte er Isabella von Frankreich, die zur Zeit der Eheschließung 1396 noch ein siebenjähriges Kind war, so dass der Vollzug der Ehe mit dem Ziel der Zeugung von Nachkommen noch sieben oder mehr Jahre verschoben werden musste. Auch diese Ehe war, obwohl Richard II. inzwischen 29 Jahre alt war, nicht auf die baldige Zeugung von Nachkommen angelegt. Die Ehe mit einer Tochter des französischen Kö-nigs war politisch durchaus vorteilhaft für Richard, jedoch keineswegs zwingend, so dass eine einleuchtende Erklärung des Verhaltens Richards II.

bamberg.de/WilhelmII/textliste.html (letzter Zugriff: 29.8.2009); vgl. Csendes (1993), S. 52f.

32 Gillingham (1999); Trindade (1999); Gillingham (1980). Vgl. auch Berg (2007). Illegi-time Kinder erscheinen in Richards Umgebung nicht. Ein einziger, angeblich uneheli-cher Sohn Richards, Philipp von Cognac, taucht in den Quellen auf. Nach Roger von Howden wurde er von Richard mit der Herrschaft Cognac ausgestattet und rächte im Jahre 1199 seinen Vater, indem er den Vizegrafen von Limoges tötete. Die bescheide-ne Ausstattung mit der Herrschaft Cognac und die Tatsache, dass er in den archivali-schen Quellen erst nach Richards Tod in Erscheinung tritt, legen die Vermutung na-he, dass Philipp von Cognac zwar seine Abstammung von Richard reklamierte, dieser sich aber diese Auffassung nicht zu eigen machte. Eickels (2002), S. 350.

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nur gegeben werden kann, wenn wir davon ausgehen, dass er zeugungsun-fähig war und dies auch wusste.33

»Auswege«

Der Ausweg, bei Zeugungsunfähigkeit des Herrschers die Zeugung heimlich durch einen anderen Mann vornehmen zu lassen, war unter den Bedingun-gen der hoch- und spätmittelalterlichen Hofgesellschaft und der von ihr gewährleisteten engmaschigen sozialen Kontrolle nicht gangbar. In einer Gesellschaft, in der Könige und Adlige selbst im Schlafzimmer kaum je al-lein waren, konnte keine Begegnung ohne Mitwisser bleiben. Selbst sorgfäl-tig geheim gehaltene Verbindungen mussten früher oder später ans Licht kommen. Dies zeigt die sogenannte »Affaire de la Tour de Nesle«. 1314 wurden in Frankreich die Gemahlin des Thronfolgers Ludwig X., Margare-te von Burgund, und die Gemahlin seines Bruders Karl IV., Blanche von Burgund, des Ehebruchs mit den beiden jungen Adligen Philippe und Gau-tier d’Aunay angeklagt, da Isabella, der Schwester Ludwigs X. und Karls IV., bei einem Fest aufgefallen war, dass beide Börsen am Gürtel trugen, die sie selbst erst wenige Monate zuvor ihren beiden Schwägerinnen geschenkt hatte. Margarete und Blanche wurden auf Château Gaillard eingekerkert, wo Margarete kurz nach der Thronbesteigung Ludwigs X. an den Haftbe-dingungen starb (oder ermordet wurde, damit Ludwig erneut heiraten konnte). Blanche überlebte die Haft bis 1322 und durfte sich schließlich, nachdem ihre Ehe kurz nach der Thronbesteigung Karls IV. wegen zu en-ger Verwandtschaft annulliert worden war, ins Kloster Maubuisson zurück-ziehen.34

Die drei Söhne Philipps IV. bestiegen nacheinander den Thron, ohne legi-time Nachkommen zu hinterlassen. Dass im Jahre 1314 Zweifel an ihrer Zeugungsfähigkeit bestanden haben sollen, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Margarete und Blanche waren bei ihrer Eheschließung (1305 bzw. 1308) jeweils 13 Jahre alt, Ludwig und Karl 16 bzw. 13 Jahre. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass in beiden Fällen eine Schwangerschaft mit Rücksicht auf das jugendliche Alter der Braut nicht angestrebt worden war. Aus der Ehe Ludwigs X. ging bis 1314 nur eine Tochter Johanna (geb. 1311) hervor (allerdings erkannte er eine 1305 geborene uneheliche Tochter an, die 1330 Äbtissin wurde); Karl IV. wurde 1311 eine Tochter und zu Beginn des Jahres 1314 ein Sohn geboren. Philipp V. dagegen konnte 1307 unmittelbar nach seiner Ehe mit Johanna von Burgund daran gehen, den Fortbestand der Dynastie zu sichern. Ihm wurden in den Jahren 1308-1312 vier Töchter, 1313 schließlich ein Sohn geboren. Mit der Aufdeckung des Skandals um die »Affaire de la Tour de Nesle« verfolgte Isabella jedoch offensichtlich das Ziel, möglichst alle Nachkommen ihrer Brüder (bis auf

33 Saul (1997). Vgl. Fletcher (2005); Lewis (2002); Laynesmith (2000).

34 Treffer (1996), S. 165-167.

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die beiden ältesten Töchter Ludwigs) für illegitim erklären zu lassen. Auffäl-ligerweise wurden Philippe und Gautier d’Aunay unter der Folter gezwun-gen, nicht nur das ehebrecherische Verhältnis überhaupt zuzugeben, son-dern auch zu bezeugen, dass es bereits seit mehr als drei Jahren andauerte. Damit waren die Nachkommen Ludwigs X. und Karls IV. für illegitim er-klärt und nicht mehr thronfolgefähig. Die Gemahlin Philipps V. wurde zwar nicht unmittelbar des Ehebruchs bezichtigt, wohl aber der Mitwisser-schaft. Eine Auflösung der Ehe, die gleichfalls die Illegitimität seiner bislang gezeugten Nachkommen zur Folge gehabt hätte, wäre bei einer Verurtei-lung durch das »Parlement de Paris« naheliegend gewesen. Da Johanna jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde und Philipp V. ihr verzieh, konnte sie 1315 an den Hof zurückkehren. Wäre der Plan jedoch aufgegangen, hätte Isabella ihrem Sohn Eduard III. (geb. 1312) eine gute Ausgangsposition für die Nachfolge im Königreich Frankreich verschafft.

Das eindrucksvollste Beispiel dafür, dass es einem mittelalterlichen Herr-scher kaum gelingen konnte, ein von einem anderen Mann gezeugtes Kind als sein eigenes auszugeben, ist sicherlich Heinrich IV. von Kastilien, in der spanischen Forschung »il impotente« genannt. Die Beschreibungen seines Äußeren, mit denen ihn seine Gegner verunglimpften (»affenartig lange Gliedmaßen«, feminine Züge), verweisen auf die typischen Merkmale des Eunuchoidismus; diese konnten in einer Gesellschaft, in der vor der Puber-tät kastrierte Eunuchen durchaus bekannt waren, leicht gedeutet werden. Seine erste, 1440 geschlossene Ehe mit einer Tochter Johanns II. von Ara-gón blieb kinderlos und wurde, da nie vollzogen, 1453 mit päpstlichem Dispens gelöst. Dennoch heiratete Heinrich IV. 1455 erneut. Seine zweite Gemahlin, Johanna von Portugal, gebar ihm 1462 eine Tochter, jedoch verbreitete sich am Hof schon bei der Bekanntgabe die Vermutung, das Kind sei von Beltran de la Cueva, einem Adligen, der nach der Geburt des Mädchens vom Hof entfernt wurde, gezeugt worden (deshalb »La Beltrana-ja« genannt). Die von allen Chronisten der folgenden Jahrzehnte berichteten Gerüchte gehen jedoch zurück auf die Auseinandersetzungen zwischen Heinrich IV. und den Adligen seines Reiches, die 1468 in dem Versuch gipfelten, Heinrich IV. abzusetzen und an seiner Stelle seinen Halbbruder Alfons auf den Thron zu bringen. Die zu diesem Zweck erhobenen Vor-würfe (Impotenz, Homosexualität, Blasphemie, Häresie, Tyrannei) wurden in der Folge von Isabella der Katholischen übernommen, die sich schließ-lich von Heinrich IV. als Nachfolgerin anerkennen ließ, da nur die Illegiti-mität der Tochter Johannas ihre Legitimität als Königin begründen konnte. Ob die Zeugungsunfähigkeit Heinrichs IV. so offensichtlich war, wie die zu ihrer Zeit entstandenen Chroniken behaupten, muss daher offenbleiben.35

35 Suarez (2002); Lusia (2000), S. 130-140; Álvarez de Toledo (1999); Vones (1993), S. 214-239. Zur sog. »Farce von Avila« (Absetzung Heinrichs IV. 1468) vgl. MacKay (1985); Sorensen Zapalac (1986). Zu den gegen Heinrich IV. zur Rechtfertigung seiner Absetzung erhobenen Vorwürfen vgl. Rexroth (2004); Ubl (2009).

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Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die soziale Handlungsfähigkeit eines mittelalterlichen Adligen beruhte wesentlich auf seiner männlichen Ehre. Ein wesentliches Attribut dieser Männlichkeit war die Fähigkeit, Nach-kommen zu zeugen. Die Kinderlosigkeit eines guten Herrschers erforderte eine besondere Begründung; die Kinderlosigkeit des schlechten Herrschers galt als Strafe Gottes. Kirchenrechtlich dagegen war die Zeugungsfähigkeit irrelevant, soweit die Fähigkeit zum Vollzug der Ehe gegeben war. Ange-sichts der Bedeutung der Zeugungsfähigkeit und ihrer symbolischen Aufla-dung stellt sich die Frage, inwieweit männliche Zeugungsunfähigkeit im Mittelalter feststellbar war. Für Adlige ist davon auszugehen, dass sie durch vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr relativ leicht Gewissheit über ihre Zeugungsfähigkeit erlangen konnten. Dies könnte erklären, warum manche Herrscher und Adlige sich mit der Kinderlosigkeit ihrer Ehe ab-fanden und keine Möglichkeit suchten, eine andere Frau zu nehmen (oder auch nur ihr Itinerar so einzurichten, dass die Erzeugung von Nachkom-men möglich gewesen wäre).

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»Englischer Schweiß« 1529 in Augsburg: »Suchet man leyb-särtzney, warumb sucht man nit ärtzney der seelen?«

Claudia Resch

Summary

The English Sweating Sickness of 1529 in Augsburg: A Challenge to Body and Soul and the Printer

In 1529, Sudor anglicus, the ‘English Sweating Sickness’, spread from England to Ger-many, reaching the city of Augsburg. Its exact nature is unclear: the symptoms were pro-fuse sweating, thirst, headache, with death occurring within hours of infection. Those who survived the first twenty-four hours returned to health. The fever arrived in Autumn 1529 – in September there were 1500 cases with 800 fatalities; another source gives November as the onset with 600 fatalities out of 3000 cases. While these death rates were in fact rela-tively low compared with the plague, for instance, people were particularly frightened by the sudden appearance of an unknown fever and the speed of death. Augsburg was aware that the ‘English Sweating Sickness’ was spreading in Germany. What is remarkable was the quick reaction of the printing trade. Two related types of handbook soon appeared; they are the subject of this paper. Firstly, handbooks dealing with the fever as a medical issue, and secondly, those dealing with the fever as an issue of theology. An illustrative example of each handbook is discussed here. Authored at speed and quickly published, they reflected the urgent response to the outbreak. What is demonstrated is the need to attend both to body and soul, that the ‘English Sweating Sickness’ was a challenge not just to physicians but also to theologians. The printing trade seized the opportunity and met both needs.

Einführung

Im Jahr 1529 wurde Deutschland von einer ansteckenden Epidemie heim-gesucht, die man den »Englischen Schweiß« (lateinisch: sudor anglicus) nann-te. Von England kommend1 hatte sich die Seuchenwelle rasend schnell auf dem Festland ausgebreitet und innerhalb weniger Tage mehrere Städte2 und ihre Bewohner erfasst. Ebenso schnell waren Flugschriften im Umlauf. Sie

1 John L. Flood macht in einem Aufsatz darauf aufmerksam, dass die englische Seuch-enwelle nicht »nahtlos« auf den Kontinent übergegangen sei, und zieht damit einen ursächlichen Zusammenhang in Zweifel: »The outbreak ended abruptly by September 1528, which leaves the problem unresolved of whether the virulent outbreak on the Continent in July 1529 really was a continuation of the same disease, indeed even the same disease at all, as in England.« Flood (2003), S. 154. Vor ihm haben bereits ande-re britische Wissenschaftler bezweifelt, dass das Schweißfieber in Europa englischer Herkunft ist – »there is no evidence for such an origin«, halten Wylie und Collier in ihrem Aufsatz (1981) auf S. 433 fest. Mit der Benennung der Seuche als »Englischer Schweiß« zumindest hatte man diesen direkten Zusammenhang hergestellt und da-durch indirekt (wie es bei neuen Krankheitsphänomenen häufig vorkommt) einen Schuldzuweisungsmechanismus bemüht.

2 Zum ersten Auftreten des »Englischen Schweißes« in Deutschland vgl. Püschel (1958), insbesondere S. 164-168, Hecker (1834), S. 98-109, und die tabellarische Übersicht bei Flood (2003), S. 160f.

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dokumentieren die Auseinandersetzung mit einer bislang unbekannten Krankheit und den Versuch, mit der von ihr ausgehenden Bedrohung zu Rande zu kommen.

Wie man den tödlichen Ausgang der Krankheit mit »Leibsarznei« zu ver-hindern hoffte und gleichzeitig auf die wesentliche Rolle der »Seelenarznei« hinwies, lässt sich anhand zweier Schriften aus Augsburg zeigen, die 1529 etwa zeitgleich ebendort in Druck gingen. Aus beiden »Arzneien« spricht die Unmittelbarkeit dieses tödlichen »Schweißsuchtjahres«: Das, was sich hic et nunc ereignet hatte und sich noch ereignen würde beziehungsweise womit es zu verhindern (gewesen) wäre, beschäftigte in der freien Reichs-stadt Augsburg Mediziner wie Theologen.

Abb. 1: Holzschnitt aus dem Titelblatt einer Flugschrift von Euricius Cordus, Straßburg 1529. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signatur 69.T.13.(13).

Wann genau die ersten Krankheitsfälle in der Stadt auftraten, wie viele Menschen betroffen waren und wie hoch die Zahl derer war, die daran starben, lässt sich heute nicht mehr eindeutig nachweisen. Der Berner Chronist Michael Stettler erinnert in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1626 an »eine hiervor etlicher massen vnbekandte Kranckheit, der Engli-sche Schweiss genennet, daran […] vom sechsten bis auff den eylfften tag Septemb. zu Augsburg sich funfzehn tausend Menschen zu beth gelegt, de-ren acht hundert gestorben«.3 Demnach hätte das Schweißfieber Augsburg bereits in den ersten Septembertagen erreicht und 800 Todesopfer gefordert. Andere Zahlen – vor allem was den Zeitpunkt des Ausbruchs und die Zahl

3 Zitiert nach Gruner (1847), S. 475. An diesen Angaben orientiert sich vermeintlich auch Hecker (1865), S. 279, doch reduziert er die Zahl der Infizierten um das Zehnfa-che: »In Augsburg finden wir das Schweissfieber am 6. September. Es währte auch nur 6 Tage, warf gegen 1500 Einwohner auf das Krankenlager, und tödtete von ihnen mehr als die Hälfte, man sagt gegen 800.«

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der Infizierten angeht – nennt der Augsburger Stadtarzt Achilles Pirminius Gasser, dessen Angaben in der »Chronica« von Engelbert Werlich in die deutsche Sprache übersetzt worden sind: Über die »seltzame bißhero vnbe-kandte Seuch«, die sich »mit einem pestilentzischen Schweiß / so man den Englischen schweiß hiesse«, in Augsburg verbreitete, weiß er zu berichten, dass »daran allhie jnnerhalb 14. Tagen / von 3000. so darmit inficiert ge-wesen / vber 600. im Monat Nouembri gestorben« wären.4

Stettlers Zeitangabe entspricht der Beobachtung, dass es besonders die Sommermonate Juli, August und (früher) September waren, die einen Aus-bruch der Krankheit begünstigten – zumindest lässt sich ihr fünfmaliges Auftreten in England5 auf diese Monate beschränken. Für die Richtigkeit von Gassers Angaben, der den Ausbruch der Krankheit nicht für Septem-ber, sondern für November bezeugt, könnte jedoch sprechen, dass in Augs-burg eine Ordnung für das Verhalten im Krankheitsfall in Umlauf kam, die bereits »zu Franckfurt / Mentz / Wormms vnd Speir gepraucht«6 und er-probt wurde: »Das aller bewertest vnd kürtzest Regimennt / Für die newe Kranckheyt / die Englisch Schwaißsuchtt genannt«7 war von Ärzten emp-fohlen und sollte der neuen, rätselhaften Krankheit schnellstmöglich Einhalt gebieten. Ihr Ausbruch scheint die auf dem Titelblatt genannten »Doctores« nicht ganz unvorbereitet getroffen zu haben. Jedenfalls priesen sie ihre Ver-ordnung als die »bewertest« und »best Artzney« im Kampf gegen die tod-bringende Seuche.

4 Werlich (1595), S. 16f.; dieser Ausschnitt findet sich nachgedruckt auch bei Gruner (1847), S. 459. Gasser (vgl. Gruner (1847), S. 453) sprach bei den Todesfällen ur-sprünglich von »plus minus sexcenti«, daher circa 600, was Werlich mit »vber 600« übersetzt.

5 Vgl. Thwaites/Taviner/Gant (1997), S. 580.

6 In Frankfurt lässt sich der Ausbruch der Krankheit laut Püschels Untersuchungen zur Ausbreitung des Schweißfiebers 1529 in Deutschland auf den 11. September datieren; in Speyer und Worms traten erste Krankheitsfälle am 24. September auf. Vgl. Püschel (1958), S. 164.

7 Zwei Ausgaben dieser anonymen Flugschrift, als deren Drucker Heinrich Steiner in Augsburg ermittelt werden konnte, beherbergt die Österreichische Nationalbibliothek in Wien unter den Signaturen 20.Dd.679 und 20.Dd.1111. Die nachfolgenden Zitate stammen aus erstgenannter Signatur, wobei sich die Autorin erlaubt hat, Abkürzungen auszuschreiben und diakritische Zeichen nachzustellen. Eine Textwiedergabe dieses Flugblattes findet sich auch in Gruner (1847), S. 181-183.

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»Regimennt / Für die newe Kranckheyt / die Englisch Schwaiß-suchtt« (1529)

Abb. 2: »Regimennt / Für die newe Kranckheyt / die Englisch Schwaißsuchtt genannt« (Titelblatt), [Augsburg] 1529. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signatur 20.Dd.679.

Die Frage, wie man den bis dahin unbekannten Symptomen, vor allem je-nen für die Krankheit typischen starken Schweißausbrüchen, begegnen konnte, war von öffentlichem Interesse und sollte »den gmainen menschen zuo guot« (siehe Titelblatt) in aller gebotenen Kürze beantwortet werden: Das »Regimennt« bestand aus zwei Blättern und beschrieb auf lediglich vier Seiten, wie man sich im Krankheitsfall zu verhalten hätte.

Bis heute ist unklar, um welche Art der Erkrankung es sich handelte, wenn man von »Englischem Schweiß« beziehungsweise von »Schweißfieber« sprach. Wylie und Collier verglichen die Symptome 1981 mit einer heuti-

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»Englischer Schweiß« 101

gen Arbovirus-Infektion8; Thwaites, Taviner und Gant sprachen 1997 von einer von Nagetieren übertragenen, viralen Erkrankung, die dem 1993 ent-deckten »hantavirus pulmonary syndrome« (HPS) ähnlich sei, räumten aber ein, dass es sich dabei um reine Vermutungen handle9. Bridson bestä-tigte 2001, dass HPS und das Englische Schweißfieber einander zwar ähn-lich, aber doch nicht ein und dasselbe seien.10 Aus medizinischer Sicht bleibt das Englische Schweißfieber also (nicht nur) für Bridson ein ungelös-tes Problem, und man darf sich ihm anschließen, wenn er am Ende seines Artikels feststellt: »There remains room for more work and more theo-ries.«11

Ein erstes (aber oft missinterpretiertes12 und daher nicht unbedingt untrüg-liches) Symptom des Fiebers war jedenfalls das für die Krankheit typische Schwitzen. Sobald also jemand zu schwitzen begann, empfahl der medizini-sche Ratgeber, sich zu Bett zu begeben und sich unter einer einfachen Wolldecke zu wärmen: Einerseits sollte man »mit fleiß die deck verwaren das kein lufft vnnder die deck komm« und jeden Luftzug vermeiden, ande-rerseits galt es stets darauf zu achten, »das der kranck nit zuo haiß gedeckt sey / wann vil leutt dardurch verderben und sterben«.13 Unter Berücksichti-gung dieser Vorgaben durfte man den Patienten nach einiger Zeit vorsichtig umbetten: »so sol man dem krancken das haupt mit dem bette vnd hauptt-

8 Wylie/Collier (1981), S. 444f.

9 Thwaites/Taviner/Gant (1997), S. 582: »Without molecular confirmation from the tissues of victims, our etiologic hypothesis about the English sweating sickness re-mains speculative.«

10 Bridson (2001), S. 1: »HPS does not match the English sweating disease completely.«

11 Bridson (2001), S. 6: »The best mysteries are never solved and each new generation of investigators brings its newly discovered scientific theories to bear, in an attempt to explain the past.«

12 Dass nicht jeder Schweißausbruch zwangsläufig den Beginn der Erkrankung bedeutet, betont Martin Luther am 27. August 1529 in einem Brief an Nikolaus Hausmann: Wenn dem so wäre, hätte der Reformator auch schon des Öfteren am Englischen Schweiß erkrankt sein müssen – er sei nächtens schon manchmal schweißgebadet vor Angst aufgewacht, geplagt von Gedanken; und wäre er ihnen nachgehangen, so läge er schon da wie die anderen. Luther schreibt das, damit man die Bevölkerung er-mahnt, nicht kleinmütig zu sein und sich mit Gedanken eine Krankheit zuzuziehen, die noch gar nicht da ist.

Vgl. Luthers Werke auf CD-ROM (2002), Brief Nr. 1468: »Nam si ea principia essent vera istius morbi, ego tribus istis annis vel ultra eum saepius habuissem; nam et hac nocte sudavi cum angustia expergefactus, et coeperunt me quoque vexare cogitationes, quibus si cessissem, iacerem, sicut iam alii iacuerunt martyrisantes se ipsos. Haec scribo, ut mecum horteris populum, ne sic pusillanimes sint, et ne cogitationibus suis accersant morbum, qui nondum adsit.« Zu den »eingebildeten« Kranken vgl. auch Anmerkung 19.

13 Regimennt (1529), Bl. Aijr.

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küssen erhoehen das er nit erstick / vnd im selben erhoehenn / wol achtt nehmen / das der kranck nit entploest oder auffgedeckt wird.«14 Dass dieses »Regimennt« seine Leser eindringlich vor zu vielen Decken (»nit mehe dann ein einfache wulle deck!«15) und unmäßigem Schwitzen warnt, hat Gründe, die in der zuvor bereits zitierten Augsburger Chronik von Achilles Pirmini-us Gasser, rückblickend betrachtet, genannt werden: An den vielen Todes-fällen »gaben etliche den Doctorn die schuld / als welche die arme Patien-ten […] mit Betten vnd Deckinen / zuschwitzen zu sehr beschwert / vnnd also auß vnerfahrenheit schaendlich erstecket«.16

Manche Patienten klagten auch über starke Kopfschmerzen, über Bauch- und Gliederschmerzen und fühlten gleichzeitig beklemmende Stiche in der Herzgegend, die zumeist in der achten Stunde, bei manchen auch erst um die elfte oder zwölfte Stunde nach Ausbruch der Krankheit auftraten. Deren Verlauf wird in dem Flugblatt stundenweise geschildert, weil die meisten Patienten schon innerhalb der ersten wenigen Stunden verstarben. Wer hingegen diese entscheidende Phase überlebt hatte, dem räumte man offen-bar gute Chancen auf eine baldige Genesung ein. Das »Regimennt« unter-sagt Patienten daher, innerhalb der ersten 24 Stunden einzuschlafen: »Item man soll allweg fürsehen das der krancke in xxiiij. stunden keins wegs schlaff / dann so er schlaft yn den xxiiij. stunden / so ist er des tods.«17

Diese Zeitspanne, in welcher der Kranke mit allen Mitteln wachgehalten werden sollte, galt es zu überwinden, dann erst dann glaubte man ihn außer Gefahr. Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sollten daher nicht müde werden, Nasenlöcher und Schläfen des Erkrankten mit Rosenwasser oder Essig zu bestreichen – der Erschöpfung und dem erhöhten Schlafbedürfnis nachzugeben, wurde als tödlich erachtet und kam einem Todesurteil gleich. Angesichts dieser Tatsache war wohl auch das Umfeld eines Kranken stark gefordert: Dieser durfte unter keinen Umständen alleingelassen werden, sondern brauchte – so schlägt es das »Regimennt« vor18 – stets drei Perso-

14 Regimennt (1529), Bl. [Aij]v.

15 Regimennt (1529), Bl. Aijr.

16 Werlich (1595), S. 17. Mit den beschriebenen, von Ärzten »verordneten Schwitzku-ren«, bei denen den Patienten häufig auch die Flüssigkeitsaufnahme verweigert wurde, mutete man vielen mehr zu, als sie in ihrem geschwächten Zustand ertragen konnten. Vgl. auch Jütte (1991), S. 142. Den Verdacht, dass, wenn nicht die Erkrankung an sich zum Tode führte, dann womöglich die ärztliche Behandlung, hegt auch John Christiansen in seinem jüngst veröffentlichten Beitrag über Englischen Schweiß in Lü-beck und Norddeutschland: »Dehydration was probably the main reason for the ra-pid death within twenty-four hours and since many doctors […] advocated fluid restriction, the treatment in itself may have increased mortality.« Christiansen (2009), S. 417, Anmerkung 15.

17 Regimennt (1529), Bl. Aijr.

18 Regimennt (1529), Bl. [Aij]v: »Es sol auch der kranck nit allein gelassen werden son-der stets drey person bey im haben.«

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nen um sich, die ihn abwechselnd unterhalten beziehungsweise ruhen lassen sollten. Wie realistisch diese Vorgabe war und weshalb sie so eindringlich formuliert werden musste, lässt sich heute nicht mehr beantworten: Dass die Ansteckungsgefahr hoch war und Angehörige aus Selbstschutz weniger die Nähe von erkrankten Personen, sondern eher das Weite gesucht und die Flucht ergriffen haben, gehört zu den bekannten Klagen dieser Zeit, kann aber nicht verallgemeinernd behauptet werden. Für jene, die ihren Nächsten Beistand leisten wollten, hält das »Regimennt« jedenfalls (ab Blatt Aiijr: »Wie man sich vor solcher kranckheit bewaren sol.«) prophylaktische Ratschläge bereit und entlässt seine Leserinnen und Leser mit einem Ge-danken, der sowohl den erkrankten als auch den (noch) gesunden Men-schen Mut machen wollte: »Ein froelich gemuet / vund außschlahenn menschlicher forchtt / ein guots vertrawenn zuo Got / ist die best Artz-ney«19, heißt es darin abschließend.

19 Ein ähnlicher Hinweis findet sich in einem von Sudhoff veröffentlichten Einblattdruck über die Englische Schweißsucht, in dem darauf hingewiesen wird, wie wichtig es sei, in Krisenzeiten beruhigend auf die Menschen einzuwirken: »Dieweil aber solche kranckhait offt auß erschreckung vnd forcht kumpt / soll man die leut troesten / vnd trostlich sein zuo ermanen die vmb sy seind«, lautet die Anweisung in Sudhoff (1908), S. 74.

Nachdem sich manche Patienten die Krankheit stark einbildeten und damit (erst recht) zuzogen, trat Martin Luther dafür ein, die Symptome zwar ernst zu nehmen, aber doch einen Unterschied zu machen, wenn man merkte, dass jemand durch Ein-bildung und Furcht, nicht aber in der Tat durch Ansteckung erkrankte. Luther war davon überzeugt, dass Gemütsregungen dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielten und sich auf den Körper auswirkten.

Vgl. den bereits zuvor (Anmerkung 12) zitierten Brief Nr. 1468 an Nikolaus Haus-mann in Luther (2002): »Non quod contemnendum esse ducam hunc morbum, sed quod discernendum sit, quando videmus plures imaginatione et pavore quam re ipsa et contagio in illum cadere, et imaginatio facit casum, animique affectus in corpus re-dundant.«

Seinem Freund Wenzeslaus Linck berichtet Luther zwei Tage später, dass er viele und auch sich selbst von der Furcht befreit hätte – jetzt wäre Frieden und Gott sei Dank bis jetzt keiner gestorben. Linck möge auch den Seinen raten, sich nicht zu fürchten; und wenn jemanden doch die Einbildung plagt, dann soll er eben schwitzen, aber nicht mehr, als er ertragen kann. Ganz anders verhält es sich mit jenen, die tatsächlich erkranken, denn diese könnten, wie Luther gehört hat, durch kein Mittel geheilt wer-den.

Vgl. Brief Nr. 1469 an Wenzeslaus Linck in Luther (2002): »Sic apud nos multos, atque adeo me ipsum eo pavore pulso me liberavi. Et nunc summa pax est gratia Dei nullo adhuc mortuo. […] Tuis ergo consule, ne paveant, atque si etiam aliquis ea imaginatione vexaretur, sudet, si libet, sed non ultra, quam ferre potest complexio. Alia est res, si verus morbus accidit; nam hi plane nullo, ut audio, possunt redimi remedio.«

Aus den zitierten Äußerungen geht hervor, welche Rolle Gemütsregungen bei Aus-bruch von Krankheiten zugeschrieben wurden. Furcht hatte erwiesenermaßen eine krankheitsbegünstigende, -erregende oder -auslösende Wirkung und sollte daher weit-

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In Anbetracht der damaligen medizinischen Mittel war eine gewisse Gelas-senheit tatsächlich nicht fehl am Platz – im Kampf gegen die todbringende Seuche waren Sorgen und Ängste zwar angebracht, sollten aber durch die »best Artzney«, nämlich Zuversicht und absolutes Vertrauen in Gott, ersetzt werden. Dass gerade dieses Gottvertrauen im Herbst 1529 aufgrund der täglichen Erfahrung mit Krankheit und Tod zutiefst erschüttert war, bestä-tigt Justus Friedrich Carl Hecker: »Die Erschütterung der Gemüther in Deutschland war über alle Beschreibung heftig, und gränzte [sic] an wahnsinnige Verzweifelung.«20

Urbanus Rhegius: »Seelenärtzney« (1529)

Für den Augsburger Theologen Urbanus Rhegius (eigentlich: Urban Rie-ger)21 war der Ausbruch der Seuche im Jahr 1529 daher Anlass genug, so-wohl Gesunde als auch Kranke schriftlich dazu aufzurufen, trotz oder gera-de wegen des gegenwärtig erfahrbaren Leides am Glauben festzuhalten und ein gottgefälliges und gottesfürchtiges Leben zu führen.

Als Rhegius seine ermahnenden und tröstenden Anregungen für das Ver-halten im Krankheitsfall zu Papier brachte, hatte die Epidemie vermutlich soeben ihren Höhepunkt erreicht: Am »8. des Wintermonats anno 1529«, d. h. am 8. November 1529, konnte er seine Schrift unter dem Eindruck der sich häufenden Krankheitsfälle endlich fertigstellen – und war dabei selbst »in eyl und grosser schwachayt«, wie er im Nachwort schreibt.22 Seiner

gehend vertrieben und verdrängt werden. Vgl. Jütte (1991), S. 66.

20 Hecker (1834), S. 114.

21 Umfassende Angaben zum Lebenslauf des Theologen samt Hinweisen zur Sekundärli-teratur macht Hellmut Zschoch im »Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon« (BBKL), online unter http://www.bautz.de/bbkl/r/rhegius_u.shtml (letzter Zugriff: 13.1.2010).

Urbanus Rhegius wurde demnach 1489 als Sohn eines Priesters in Langenargen am Bodensee geboren und starb 1541 in Celle. Seine humanistischen Studien führten ihn an die Artistenfakultät nach Freiburg im Breisgau, wo Johannes Eck zu seinen Lehrern zählte, sowie nach Ingolstadt, Tübingen und Basel. Im Jahr 1517 wurde Rhegius von Kaiser Maximilian I. zum »poeta et orator laureatus« (»Dichterfürsten«) gekrönt. Zwei Jahre später, 1519, empfing er, nachdem er sich inzwischen verstärkt religiösen The-men zugewandt hatte, in Konstanz die Priesterweihe – im Jahr darauf erhielt er eine Stelle als Domprediger in Augsburg. Seine allmähliche Entscheidung für das reforma-torische Verständnis des Evangeliums ließen ihn zu einem Anhänger und Mitstreiter Luthers werden: Ab 1531 bekleidete er das Amt eines Superintendenten und erarbeite-te Kirchenordnungen für Lüneburg und Hannover.

Grundlegendes ist in Maximilian Liebmanns Studien über »Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation« nachzulesen, wo dessen Gesamtwerk erstmals bibliogra-phisch erfasst ist. Vgl. Liebmann (1980).

22 Vgl. Rhegius (1973), S. 259f. Seine »schwachayt« war allerdings weniger auf den Eng-lischen Schweiß zurückzuführen als auf eine andere Erkrankung, die bereits seine Teil-

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Schrift gab er den bezeichnenden Titel: »Seelenärtzney für die gesunden und kranken zu disen gefärlichen zeyten«23.

nahme am Marburger Religionsgespräch in den ersten Oktobertagen verhindert hatte. Die Augsburger Chronik hält fest, dass man an seiner statt Stephan Agricola entsand-te, weil Rhegius krankheitsbedingt nicht abkömmlich war (»demnach Vrbanus Regius Leibs schwachheit halben nicht abkommen moegen«). Werlich (1595), S. 16. Vgl. auch Mau (2000), S. 207, und Uhlhorn (1861), S. 145f.

Das für acht Tage anberaumte Marburger Religionsgespräch fand schon nach drei Tagen sein vorzeitiges Ende – wie Wylie und Collier vermuten, nicht nur als Sicher-heitsmaßnahme wegen des grassierenden Schweißfiebers, sondern auch, weil eine in-haltliche Einigung immer unwahrscheinlicher wurde: »The cause of this premature adjournment has been attributed to the prevalence in the town of sweating sickness. This must be doubted, although fear of the disease that was prevailing elsewhere in Germany was such that this alone might have sufficed to persuade the delegates to dis-perse. It is far more probable, however, that since Luther and Zwingli, the principal disputants, clearly never were to agree, the threat of the English sweating sickness pro-vided excuse enough for the delegates to abandon an unwanted agenda.« Wy-lie/Collier (1981), S. 434.

23 Rhegius (1973).

In der Österreichischen Nationalbibliothek sind mehrere Ausgaben der »Seelenärtz-ney« vorhanden, nicht aber ihr Erstdruck; eine Neuedition des Textes findet sich bei Franz (1973), S. 241-260. Dieser Ausgabe sind alle verwendeten frühneuhochdeut-schen Zitate entnommen.

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Abb. 3: »Seelenaertzney für die gesunden vnd krancken zuo disen gefaerlichen zeiten« (Titelblatt), Augsburg, Druck von 1537. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Signa-tur 78.X.71.

Mit der Wahl des Titels24 macht Rhegius deutlich, dass seine Arznei eine »Ärtzney« anderer Art ist und nichts mit den veröffentlichten medizinisch-praktischen Ratschlägen gemein hat. Für den evangelischen Pfarrer stellt

24 Eine erweiterte Fassung trägt den Titel »Geystlich Ärtzney«, allerdings hat sich diese Bezeichnung in den weiteren Auflagen nicht durchsetzen können.

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sich in »disen gefärlichen zeyten« vielmehr die Frage, wie »krank« die See-len der ihm anvertrauten Gläubigen sind beziehungsweise welcher Arznei sie bedürfen. Bei aller Anerkennung der »Leibärzte« kann Rhegius nicht verstehen, weshalb man sich nur um das Erlangen von körperlichem Wohl sorgt, nicht aber um das Heil(werden) der Seele: Die einfache Frage »Suchet man leybsärtzney, warumb sucht man nit ärtzney der seelen?«25, die Rhegi-us programmatisch an den Beginn seiner Schrift stellt, führt zum eigentli-chen Anliegen seiner »Seelenarznei«. Nachdem die Ärzte bereits ihr medizi-nisches Fachwissen an die Augsburger Bevölkerung weitergegeben haben, empfindet der Prediger es nun als seine Pflicht, das ihm anvertraute theolo-gische Heilswissen bekannt zu machen.26 Wenn er könnte, würde er den Menschen lieber persönlich Trost zusprechen (»Wollt euch alle gar vil lie-ber mündlich trösten, wa ichs vermöcht«) – so aber schließt er sie ins Gebet ein und hofft, den Heilungsprozess der bedürftigen Seelen mit seinen Mög-lichkeiten zu befördern: In seiner »Seelenarznei« verabreicht er ihnen wohl-dosierte Mittel aus der »apoteck der heiligen schrift« und beruft sich auf Christus, der den Menschen darin ein »bewerter artzet und überreycher apotecker« sei.27

Damals wie heute wird Krankheit als Anlass gesehen, seine Lebensweise zu überdenken, seine Beziehung zu den Mitmenschen, aber auch zu Gott. Die Vergänglichkeit tritt stärker ins Bewusstsein und zwingt dazu, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen – und das galt umso mehr für die Menschen des ausgehenden Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die dem Tod nicht unvorbereitet begegnen, sondern einen »guten« Tod sterben wollten (vgl. die weitverbreitete »Ars moriendi«-Literatur). Nicht nur in Zeiten von Krankheit galt es, auf das plötzliche Eintreten des Todes gefasst zu sein.

Die zeitgenössischen Beschreibungen von Krankheitsverläufen, wie sie sich auch im eingangs erwähnten »Regimennt« finden, legten dem erkrankten Gläubigen nahe, stets auf das Ende vorbereitet zu sein, denn die Zeitspanne zwischen dem Ausbruch der Krankheit und dem tödlichen Ende war oft-mals denkbar knapp. Kranke starben innerhalb kürzester Zeit, innerhalb eines Tages oder gar binnen weniger Stunden. Wie also sollten sich Gesun-de wie Kranke zu »disen gefärlichen zeyten« aus Sicht des Theologen ver-halten?

25 Rhegius (1973), S. 242.

26 In einer überarbeiteten Textversion wurde folgender Satz ergänzt: »Die leibartzet ha-ben euch dise zeyt trewlich und wol gedient, warumb solt dann ich mit der geystli-chen ärtzney dahinden bleyben.« Vgl. Rhegius (1973), S. 259.

27 Rhegius (1973), S. 259 und 260.

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Ursachen für »dise gegenwertige straff«

Urbanus Rhegius fragt zunächst nach der Ursache für »dise gegenwertige straff« und findet sie, dem Erklärungsangebot der Theologie folgend, in der Sündhaftigkeit28 der Nachkommen Adams und Evas begründet. Da die Menschen fest davon überzeugt (worden) waren, »[…] daß Krankheit einer Fügung des göttlichen Willens ihre Entstehung verdanke«29, wurde das da-mit verbundene Leid als ein Mittel der Züchtigung interpretiert: Gott lässt die Menschen seine »vätterliche ruodt« spüren – nicht weil er ihnen scha-den will, wie Rhegius versichert, sondern weil er es gut mit ihnen meint. In der »Seelenärtzney« wird der Mensch daran erinnert, in Gott trotz allem den »trew allmechtig, allwissend vatter« zu erkennen. Mit dem Hinweis »Darumb halt gewißlich Gott für deinen lieben, getrewen vatter, wann er sich schon zornigklich stelt«, ermahnt Rhegius seine Leserschaft zur Ge-duld. Man möge nicht verzweifeln, sondern die Botschaft verstehen und in seinem Schicksal eine Möglichkeit zur Umkehr erkennen: »Es ist des lieben vatters zorn, der sucht nit unser verderben, sonder allain unser besserung, wolfart und haile.«30

Hellmut Zschoch bestätigt, dass Krankheit von den Theologen der damali-gen Zeit »als Mittel liebevoller väterlicher Pädagogik«31 interpretiert wurde, dessen Ziel es nur sein konnte, die Hinwendung des erkrankten Gläubigen zu Gott zu erwirken. Genau diese Erwartungshaltung wurde auch von Rhe-gius deutlich formuliert: »Darumb sey das erst vor allen dingen, das du dein hertz, muot und sinn zuo Got wendest«, lautete seine dringende Emp-fehlung. Die damit angestrebte Aussöhnung und Versöhnung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer galt als unverzichtbare Voraussetzung für die leibliche Gesundung – die allerdings in den Hintergrund treten durf-te: Rhegius wagte diesbezüglich lediglich vorauszusagen, dass die »krank-

28 Vgl. Psalm 89,33; weitere Strafandrohungen bei Ungehorsamkeit u. a. in Levitikus 26,25, Numeri 14,12 oder Deuteronomium 28,21.

Einen Anlass zur Versündigung boten zu dieser Zeit die andauernden Reformations-streitigkeiten: Während sich die Parteien die Schuld zunächst wechselseitig zuwiesen, hatte man dann begriffen, dass »dise schreckliche vnd eylend todende kranckheyt« konfessionsübergreifend alle »hochlich verdienten beyd Papistischen vnd (wie man vns nennet) Evangelisch«, wie Euricius Cordus in seiner Ordnung für die Stadt Mar-burg vermutete. Er und seine Zeitgenossen nahmen an, dass der tatsächliche Ausbruch der Seuche mit einer Vergiftung der Luft in Zusammenhang stand – verursacht zum einen »durch heymlichen jnfluß der sterne (welche Gottes dulmetscher seind)«, zum anderen »durch stete feuchte vngewitter (wie diß jar vil geweßt)«. Vgl. Cordus (1529), Bl. Aijr und Aijv.

29 Jütte (1991), S. 47.

30 Rhegius (1973), S. 244 und 245.

31 Zschoch (1995), S. 342f.

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hait aintweders aufhören oder dem kranken durch den gnedigen willen Gottes zuo dem hayl fürderlich sein« würde.32

Bis dahin sollte der erkrankte Mensch nicht auf ärztlichen Rat verzichten. Der Gebrauch von verordneter Arznei war theologisch geboten, und es galt, die verfügbaren Heilmittel dankbar anzunehmen. Eine Heilung wurde je-doch immer auf Gottes Einwirkung zurückgeführt, denn es lag in seinem Ermessen, die Menschen gesunden zu lassen: »Nur Gott entschied letztlich über Gesundheit und Krankheit und gab die Arznei zur Heilung des Kör-pers.«33

Anfechtungen zur »zeyt der krankhayt«

Aus dem täglichen seelsorgerlichen Umgang mit erkrankten Mitmenschen wusste Rhegius, worunter sie seelisch zu leiden hatten beziehungsweise mit welchen schweren Gedanken sie belastet waren: »Zuor zeyt der krankhayt«, schreibt er, »überfelt34 den menschen mancherley anfechtung, damit er kempfen muoß. Erstlich ist es ain bitter gedanken, so man gedenkt, auß-schayden von dieser welt, von allen denen, so uns verwant.«35 Diese zutiefst menschliche Reaktion, das Bedauern, nicht mehr unter seinen Lieben wei-len zu dürfen, entkräftet Rhegius mit dem Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen, wenn er dem Kranken versichert: »Es warten auf dich vil, denen du lieb bist gewesen, vatter, muotter, brüder, kinder und guote freund […] Du schaydest ab von freunden; sie kommen aber bald her-nach.«36

Ausführlicher widmet sich Rhegius der (von Theologen sicherlich auch ge-schürten) Angst der Menschen vor der Sünde, dem Tod und der ewigen Verdammnis37, die in den Tagen der Krankheit als besonders beklemmend (»grewlich« und »jömerlich«38) empfunden werden konnte. Sünden-, Todes- und Höllenängste, die in der »Seelenärtzney« gemildert und entkräftet wer-

32 Rhegius (1973), S. 244.

33 Vanja (1993), S. 198.

34 Mit dieser Wortwahl bedeutet Rhegius seinem Leserkreis, wie schnell diese Anfech-tungen vom Kranken Besitz ergreifen und wie schwer es dann für ihn ist, sich wieder von diesen bedrängenden Gedanken, denen er sich ausgeliefert fühlt, zu befreien.

35 Rhegius (1973), S. 243.

36 Rhegius (1973), S. 248.

37 Die dreiteilige Anfechtungsreihe in Gestalt von Sünde, Tod und Hölle (ewiger Ver-dammnis) orientiert sich formal an Martin Luthers 1519 verfassten »Sermon von der Bereitung zum Sterben« und wurde zu einem weitverbreiteten Sprachelement reforma-torischer Sterbebücher. Vgl. dazu Resch (2006), Kapitel C.I.1., und Reinis (2007), Ka-pitel 3.

38 Rhegius (1973), S. 243.

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den sollen, werden plakativ geschildert39 – jedoch nicht um die Gläubigen zu ängstigen, sondern um tröstende »Gegenbilder« vor dem inneren Auge des Angefochtenen entstehen zu lassen: Der kranke Mensch, der sein Le-bensende gekommen sieht, darf sich gerade dann nicht entmutigen lassen. Deshalb wäre es wichtig, darauf zu achten, dass man »im [ihm, dem Kran-ken] allain den creuzigten Christum für seine augen stell und das hertz gantz und gar mit Christo füll«.40 Der gläubige Blick auf den Erlöser und die Vergegenwärtigung seines heilsamen Todes, der den Menschen in der reformatorischen Theologie rechtfertigt und mit Gott versöhnt, sollen den Angefochtenen von allen Gewissens- und Erwählungszweifeln befreien. Die tröstlichen Bibelzitate, auf die Rhegius in der »Seelenarznei« zurückgreift, um seine Aussagen zu bestätigen, vermitteln eine notwendende Botschaft: Die Sünde ist dem Gläubigen »warlich schon gebüßt und verzigen«41, der Tod kann ihn nicht mehr ängstigen, denn der ist bereits durch Christus »schon abgetilgt und überwunden«42, und anstatt zur Hölle werden »die christglaubigen […] zuo Christo gezogen«43: Wäre Christus nicht für die Menschheit gestorben, könnten sich die geschilderten Ängste bewahrhei-ten44, durch den Hinweis auf dessen Erlösertod entbehren sie aber jeder Grundlage, bedeuten keine Gefahr und bleiben ohne Wirkung.

Für den Gläubigen wird Christus nicht nur zum »erlöser, versüner, from-macher«, »seligmacher« und »bezaler aller schuld«, er dient ihm zugleich als »exempel, seeliklich nach im zuo leben und zuo sterben. Stirb wie Chris-tus, so stirbst du wol«45, lautet die Aufforderung, mit der Rhegius den Leser anspornen will, ebenfalls geduldig und willig zu leiden, den Mitmenschen zu verzeihen, für sie zu beten und Gott seine Seele am Lebensende anzu-empfehlen. Abschließend fordert er seine Leser zur Besserung auf (»Nun bit ich euch, […] ir wölt euch bessern«) – ihr unaufhörliches Gebet möge dazu beitragen, »das er uns wöll die sünd verzeichen um seins geliebten sons wil-len und uns helfen«.46

39 Aus dem Text der »Seelenarznei« ergibt sich für Hermann Beck, »daß es nicht gemalte Feinde sind«, von denen hier die Rede ist. Rhegius’ Schilderungen seien »aus tiefer seelsorgerlicher Kenntnis des Christenherzens wie aus eigener Erfahrung und geistli-cher Anfechtung erwachsen«. Vgl. Beck (1883), S. 73.

40 Rhegius (1973), S. 249.

41 Rhegius (1973), S. 247.

42 Rhegius (1973), S. 249.

43 Rhegius (1973), S. 255.

44 Auf dieses »Worst Case-Szenario« weist Rhegius deutlich hin, wenn er schreibt: »Ja, wann du deine sünd selbs müßtest tragen, so weren sye dir vil zuo schwär und ver-senkten dich yn abgrund der hellen.« Rhegius (1973), S. 248.

45 Rhegius (1973), S. 255.

46 Rhegius (1973), S. 258.

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Anleitungen für den Krankenbesuch durch Laien

Rhegius’ »Seelenärtzney« ist aus einer Not heraus entstanden und vor dem Hintergrund ihrer Zeitumstände zu sehen. Während der wütenden Krank-heit sahen sich in Augsburg wenige Geistliche einer großen Anzahl von trostbedürftigen Gläubigen gegenüber. Rhegius formuliert diesen Personal-mangel sehr konkret: »Dieweyl nun des volks vil ist«, schreibt der Theologe begründend, »und dye dyener des evangeliums nit an allen enden sein kün-den, hab ich dise klayne underricht geschrieben für die ainfeltigen, damit ayn yeder, so lesen kan, den krancken auß dem wort Gotes zuosprechen kann und inen trost geben in der nodt.«47 Seine Leserschaft soll das Büch-lein demnach nicht (nur) zur eigenen Erbauung zur Hand nehmen, sondern wird damit beauftragt, die von ihm in der Sprache des Volkes formulierte »Ärtzney« als seelsorgerlichen Zuspruch an Kranken- und Sterbebetten zu verabreichen. Jeder, der lesen konnte und am Bett eines erkrankten Mit-menschen saß, wurde auf diese Weise mit Krankenseelsorge in einem christ-lichen Sinne vertraut gemacht.

Wie praktisch orientiert diese handliche Schrift war, die den seelsorgerli-chen Beistand von Laien für Laien ermöglichen und erleichtern sollte, zeigt sich auch an ihrem kleinen Format, das ihre Mitnahme in Haushalte er-laubte. Auch sprechen viele Formulierungen, die sich in direkter Rede48 an den erkrankten Mitmenschen richten, für die unmittelbare Verwendbarkeit am Krankenbett. Kurze Gebrauchsanweisungen an den (Vor-)Lesenden wie zum Beispiel: »Hye ermane den kranken […]«49 oder »Hie tröst den kran-ken […]«50 strukturieren die einzelnen Abschnitte und erleichtern die the-menbezogene Benutzung des ohnehin wenig umfangreichen Büchleins, das Laien dazu ermutigen will, die darin vermittelten Inhalte an kranke, des Trostes überaus bedürftige Menschen weiterzugeben. Rhegius erwartet von seinen Leserinnen und Lesern allerdings, dass dies in einer der Situation angemessenen Form geschieht: Deshalb sehen sie sich dazu angehalten, Rücksicht auf den zu Tröstenden zu nehmen und verantwortungsvoll mit dessen besonderer psychischer und physischer Verfasstheit umzugehen: Die Empfehlung »Nymb mer oder minder sprüch nach gelegenhayt des kran-

47 Rhegius (1973), S. 243.

48 Erkrankte Mitmenschen spricht Rhegius direkt an, indem er mehrere seiner Sätze durch eine persönliche Anrede beginnen lässt, die dazu geeignet ist, eine gewisse Nähe herzustellen: Am Beginn eines neuen Gedankens stehen etwa Aufforderungen wie: »Meyn bruoder, dero wort nymb dich an« (Rhegius (1973), S. 247) oder »Das gelaub vest, mein bruoder« (S. 247) beziehungsweise »Hör mein bruoder« (S. 250) oder auch »Mein bruoder, faß dise wort tief ins hertz« (S. 253). – Damit wurde der darauffolgen-den Aussage mehr Gewicht verliehen, der/die Angesprochene war mit seiner/ihrer ganzen Aufnahmefähigkeit gefordert.

49 Rhegius (1973), S. 246.

50 Rhegius (1973), S. 251.

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ken«51 deutet darauf hin, dass der erfahrene Theologe seine »Seelenärtzney« nach Bedarf dosiert wissen wollte. Der grobe Ablauf des Krankenbesuches war zwar vorgegeben, konnte jedoch vom jeweiligen Seelsorger unter Be-dachtnahme auf die speziellen Gegebenheiten inhaltlich ausgeweitet oder reduziert werden: »Auf dise form, lenger oder kürtzer nach gelegenhayt des kranken, magst du mit im reden«52, so lautet Rhegius’ praxiserfahrener Rat.

Intentionsgemäß sollten mit Hilfe der »Seelenärtzney« an Krankenbetten seelsorgerlicher Zuspruch und die neue reformatorische Botschaft vermittelt werden. Als Leser und Leserinnen wünscht sich Urbanus Rhegius einen laikalen Adressatenkreis, der dazu in der Lage sein sollte, der seelsorgerli-chen Dimension des neuen, reformatorisch verstandenen Evangeliums Gel-tung zu verschaffen. Die Anwendung der Rechtfertigungslehre53 wird kon-kret und nimmt – auf den konkreten Krankheitsfall bezogen – erbauliche und tröstende Gestalt an, indem sie als persönliche Heilszusage54 an den Einzelnen gedeutet wird.

Anhand dieses seelsorgerlichen Textes, der ein gottgefälliges, christuskon-formes Verhalten im Krankheitsfall einfordert, lässt sich der von einem Re-formator wie Urbanus Rhegius erwünschte idealtypische Verlauf eines Be-suches bei erkrankten Gläubigen rekonstruieren. Seine »Seelenärtzney« lässt erahnen, wo die neuen reformatorischen Einsichten für den Einzelnen hör-bar geworden sein könnten. Sie vermag jedoch nicht zu schildern, »wie es wirklich war«, sondern eher, »wie es hätte sein sollen«. Die Frage, ob sich Rhegius’ Anregungen in der Praxis bewähren und durchsetzen konnten beziehungsweise wie sie rezipiert wurden, muss demzufolge offenbleiben: Dass die unzähligen in Augsburg am Schweißfieber Erkrankten diese Texte am Krankenbett noch zu hören bekamen, ist aufgrund der kurzen Zeit-spanne, in der es um Leben oder Tod ging, eher nicht anzunehmen.55 Mit

51 Rhegius (1973), S. 247.

52 Rhegius (1973), S. 249.

53 Luthers Lehre von der Rechtfertigung geht davon aus, dass Christen nicht mit ihrer eigenen Gerechtigkeit (im Sinne von »Wert« oder »Eigenschaften«) vor Gott stehen, sondern mit der Gerechtigkeit Christi, die sie durch den Glauben empfangen haben. Es ist allein dieser vertrauende Glaube, der den Menschen vor Gott rechtfertigt (vgl. Röm. 10,10) – nicht seine guten Werke.

54 Vgl. »Mein bruoder, diß trostlich evangelion laßt dir Got, dein lieber vater, auch ver-künden, dann es ist dir auch zuo guot geschehen und soll dir helfen ewigklich« (Rhe-gius (1973), S. 246).

55 Auch stellt sich die Frage, ob Schweißfieber-Erkrankte in Spitälern und Pflegeeinrich-tungen aufgenommen werden konnten. Die Stadt Augsburg verfügte zu dieser Zeit immerhin über mehrere »Siechenhäuser« und vom Rat besoldete Krankenwärter und -wärterinnen. Für die seelische Betreuung der Patienten waren dort sogenannte »Trostmänner« oder »Trostfrauen« verantwortlich. Mit Sicherheit zählte gerade dieses Spitalspersonal, das von Berufs wegen mit Kranken und Sterbenden zu tun hatte, zu dem von Rhegius intendierten Leserkreis.

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Sicherheit gab es Zeit für ein Gebet; aber ob (und wie umfassend) sich Er-krankte pastoral betreut wussten oder ob ohnehin jede Hilfe zu spät kam, wird sowohl vom Krankheitsverlauf als auch vom jeweiligen Umfeld ab-hängig und von Fall zu Fall verschieden gewesen sein.

Nachwirkung und Nebenwirkung der Schweißsucht in Augsburg

Bei einer Seuche wie dem Englischen Schweiß, von der man nach Kenntnis der Quellen annehmen darf, »dass sie in keiner Stadt länger als einige Wo-chen heftig gewüthet habe«56, scheint es bemerkenswert, wie drastisch sich dieses »Schweißsuchtjahr 1529« im Diskurs der damaligen Zeit »zu Buche schlägt«: Nicht nur die wenigen Tage der Krankheit werden thematisiert, sondern vor allem die vorauseilenden Gerüchte über erste Verdachtsmo-mente, das Warten auf den möglichen Ausbruch der Seuche, von der nie-mand einschätzen konnte, wie viele Opfer sie fordern würde, hat die Men-schen beschäftigt und stellte für Mediziner und Theologen eine Herausfor-derung dar. Jede größere Stadt gab daher ihre eigene Ordnung für das Ver-halten im Krankheitsfall heraus, Vertreter weltlichen und geistlichen Stan-des, Berufene wie Unberufene meldeten sich zu Wort und veröffentlichten neue Einzelheiten über die »gefürchtete Seuche, von der man schon so lan-ge und so oft Wunderbares gehört«.57 Die Seuchenwelle wird von einer Flut von Publikationen angekündigt: Dass heute noch Bruchteile dieser gedruck-ten Quellen vorhanden sind, ist auch auf die ursprünglich unglaublich gro-ße Auflagenzahl zurückzuführen, mit der diese Flugschriften damals ver-breitet wurden.

Nimmt man heute eine dieser Schriften zur Hand, spricht aus manchen Formulierungen noch die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit der Situation. Die Stadtärzte verfassten ihre Krankheitsratgeber unter großem Zeitdruck, wobei die Städte im Süden – wie das »Regimennt« von Augsburg, das be-reits in Frankfurt, Worms und Speyer befolgt wurde – sich die Krankheits-erfahrung anderer Städte zunutze machen konnten. Man war nicht nur vorgewarnt, sondern auch vorbereitet, sogar besser als das Land, in dem der Englische Schweiß vermutlich seinen Ausgang genommen hatte: »Things were already better organized at least in some parts of the Conti-

Zur Augsburger Armen- und Krankenfürsorge zur Zeit der Reformation vgl. Stein (2003), Kapitel III.1.

56 Hecker (1865), S. 273. Bridson weist darauf hin, dass man das Englische Schweißfie-ber zwar kaum zu den großen Seuchen wird zählen dürfen (»It was never in the big league of killer epidemics, such as plague and influenza«); doch mussten (Erzählungen über) die plötzlichen Todesfälle besonders angsteinflößend gewirkt haben: »It can be seen that the sweating disease was in a minor league for mortality, but was more frightening because of its sudden, silent appearance and the rapid death of those that succumbed to the disease.« Bridson (2001) S. 1, 3.

57 Hecker (1865), S. 274.

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nent«58, stellt John Flood im Vergleich mit England fest, was er auf die ökonomische Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Druckern in Deutsch-land zurückführt, die diese (zum Teil sogar vor-)schnelle Reaktion ermög-lichte. Die gerüchteweise Bedrohung, die von der »neuen, unerhörten« Seu-che ausging, zählte zu den großen Tagesthemen der damaligen Zeit. Ange-sichts der entsetzlichen Verunsicherung und Angst (bei Bridson »a special ranking of horror«59) vor der Schweißsucht, von der man nicht wusste, wo, wann und in welchem Ausmaß sie ausbrechen würde, konnte es nur darum gehen, rasch das nötige praktische Wissen für den Ernst- beziehungsweise Krankheitsfall zu verbreiten. Neben der Beschreibung von Symptomen lis-tete man allerlei Arzneien und Rezepte zur Selbstmedikation auf, aufwendi-ge und einfache, sozusagen Mittel für jede Geldbörse, damit sich alle, auch ohne jeden weiteren ärztlichen Beistand, zu helfen wussten. Eile war auch deshalb geboten, weil man Gerüchten oder anderen Autoren zuvorkommen wollte. So geschah es, dass die Ärzte ihre Erzeugnisse frühzeitig in Druck gaben – selbst dann, wenn sie die Krankheit (noch) gar nicht aus eigener Erfahrung kannten.60 Euricius Cordus beispielsweise nahm schon den ers-ten (und einzigen) bloßen Verdachtsfall61 in Marburg zum Anlass, seine bekannte Arzneiordnung in Druck zu geben.

58 Flood (2003), S. 163. Dazu siehe auch Thwaites/Taviner/Gant (1997), S. 580: »Also, published dialogue among physicians in England was limited by a relatively undevel-oped printing industry.«

59 Bridson (2001), S. 1.

60 Vgl. Hecker (1865), S. 281.

Im Nachhinein, d. h. nach Bewältigung der Krankheitserfahrung, wurden offenbar keine Flugschriften dieser Art mehr verfasst. Nach der Einschätzung von Lisch »gab es genug andere Wunden zu heilen, und der Trieb, sich mit der unangenehmen Erschei-nung zu beschäftigen, war verschwunden«. Lisch (1938), S. 69.

61 »Denn inn diser selbigen stund darinn ich diß schreib / ist hie ewer burger eyner mit diser plage ergriffen / Gott gebe vnnd verleihe yhm sein gnad.« Vgl. Cordus (1529), Bl. Aijr. Dieser Bürger sollte auch der einzige Fall bleiben (vgl. Hecker (1865), S. 304) – schon am nächsten Tag berichtet Cordus von eben diesem »gesterigem krancken«, dass ihm »Gott wider auff geholffen hat«; der Leser schließt daraus, dass wohl auch die von Cordus empfohlene Arznei dazu beigetragen hat. Vgl. Cordus (1529), Bl. Bv.

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Die Verfasser bewerben ihre Mittel, Methoden und Erfolge62, sie preisen die Unfehlbarkeit ihrer Rezepte, und obwohl man niemandem unterstellen wird können, mit der Angst Geschäfte gemacht zu haben, werden Autoren wie Drucker gewissermaßen von diesem Krisenjahr 1529 und der damit verbundenen Panik, die sie selbst beförderten, profitiert haben – »aufklä-rend und beruhigend«63 hätten ihre Publikationen wirken sollen, aber das Gegenteil war mancherorts der Fall.

Für Hecker sind diese Flugschriften »fast alle ohne Werth«64 – vom medizi-nischen Standpunkt her mag er recht haben: Die »Kuren«, die in mehreren Schriften verordnet wurden, waren zum Teil (auch aus zeitgenössischer Sicht) unzumutbar. Von großem Wert für die Wissenschaft sind diese Arz-neibüchlein vor allem deshalb, weil sich damit der Ausbruch des Schweiß-fiebers datieren und verorten lässt. Auch lassen sie erahnen, wie die Seuche wahrgenommen wurde, auf welche Art man die Gesundung von Leib und Seele herbeizuführen hoffte und welche Strategien oder Formen der Thera-pie man dafür entwickelte.

Die Nachwirkung dieser eilig auf den Markt gebrachten Ordnungen ist ver-schwindend gering, weil sie »tagesaktuell« und unter dem Eindruck der zu erwartenden Krankheitsfälle verfasst wurden und darüber hinaus – das heißt ohne diesen Anlass65 – keine Anwendung fanden.

62 Mehr als einen Patientenkontakt mit Englischem Schweiß kann Caspar Kegeler für Leipzig vorweisen. Wie erfolgreich er bei der Behandlung der Seuche war, schreibt er in einer erweiterten Auflage seines 1529 erstmals in Leipzig gedruckten Arzneibüch-leins: Angeblich hat er eine »grosse anzal der Einwoner / von derselbigen toedtlichen not / also auch mich selbs / darzu mein Weib / Kinder / vnd Hausgesinde errettet / widerumb zu gesundheit gebracht«. Kegeler (1566), Bl. Br.

Hecker äußert sich skeptisch über die Vielfalt von Kegelers »abenteuerlich zusammen-gewürfelt[en]« Rezepten: »Hätte er [Kegeler] nur einen Schweissfieberkranken gesehen, so würde er mindestens inne geworden sein, wie unmöglich es gewesen wäre, in vier-undzwanzig Stunden auch nur den hundertsten Theil seiner Büchsen und Gläser und Schachteln in Anwendung zu bringen.« Hecker (1865), S. 301.

63 Sudhoff (1908), S. 72. Je mehr die Menschen über Symptome und Krankheitsverlauf wussten, desto häufiger meinten sie, selbst erkrankt zu sein (vgl. auch Anmerkung 19): »So mögen in dem angstvollen Herbste von 1529 gar viele von eingebildeter Schweisssucht befallen worden sein«, vermutet Hecker (1865), S. 287.

64 Vgl. Hecker (1865), S. 301.

65 Das meines Wissens einzige Arzneibüchlein, das nach dem überstandenen »Schweiß-suchtjahr 1529« weiterhin gedruckt wurde, war jenes von Caspar Kegeler. Sein Sohn Melchior erklärte seines Vaters Rezepte als auch für allgemeine Krankheiten gültig und veranlasste mehrere Neuauflagen; denn obwohl »etliche Tausent gedruckt« wor-den sind, waren »nu mehr wenig« vorhanden bzw. waren sie »gar nicht zubekom-men«. Vgl. Kegeler (1566), Bl. [Aiij]v. Hecker (1865) spricht auf S. 301 von insgesamt acht Auflagen, die diese von ihm gescholtene Rezeptsammlung (vgl. Anmerkung 62) erleben durfte.

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Während das Interesse an den empfohlenen Anweisungen bald nachzulas-sen scheint, weil die Seuchenwelle überstanden war und es keine weiteren Erkrankungen mehr gab, hat Urbanus Rhegius’ »Seelenärtzney« offenbar kaum an Aktualität eingebüßt: Sie hat an Kranken- und Sterbebetten wei-terhin ihre eigentliche Aufgabe erfüllt, weil der Theologe es vermieden hat-te, das Schweißfieber überzubewerten und als eine der schwersten Heimsu-chungen darzustellen. Möglicherweise profitierte seine Schrift indirekt durch die darin zitierte »gegenwertige straff«, doch gab es unzählige andere Leidenserfahrungen, in denen Menschen eines letzten Trostes bedürftig wa-ren: »Under disen anstössen allen«, betont Rhegius, »bedarf der mensch aines beständigklichen gelaubens«.66 Seine »Seelenärtzney«, welche die Hei-lung der Seele67 in Aussicht stellte, hat ihre Wirkung auch später (und un-abhängig vom Englischen Schweiß) entfalten können. Wie weitsichtig und langlebig seine Form der Sterbebegleitung letztlich war, zeigt sich an der großen Erfolgsgeschichte dieses kleinen Handbüchleins, das als Rhegius’ meistgedruckte Publikation68 gelten darf: Es erreichte insgesamt 90 Aufla-gen, wurde oftmals ergänzt und verbessert sowie in zehn Sprachen69 über-setzt.

In gewisser Weise wird auch die »Seelenärtzney« von den Umständen am Kranken- und Sterbebett profitiert haben. Weshalb man vorsichtig behaup-ten könnte, dass auch sie die Gunst der Stunde indirekt erkannt und genützt hätte, erklärt Hellmut Zschoch. Die außergewöhnliche Nachfrage und das Interesse der Leserschaft führt er auf die besondere Situation zurück, für die Rhegius sein Büchlein intendiert hat, wenn er vermutet:

Der publizistische Erfolg der »Seelenarznei« wird darauf beruhen, daß das Erleben von Krankheit, Sterben und Tod tatsächlich ein bedeutsamer Ansatzpunkt für die Er-neuerung christlicher Frömmigkeit im Sinne der Bewältigung von Leidenserfahrungen aus dem vertrauensvollen Hören der Christusbotschaft war.70

66 Rhegius (1973), S. 243.

67 Das »Regimennt« hatte empfohlen, »dem krannckenn [sic] ein kleines süplin« zu ma-chen beziehungsweise ihm eine Labung zuzubereiten – »Nemlich von einem gestossen hon […] gesotenn / vnnd warm gemacht«, wovon man ihm »allmal ein loeffel vol eingeben« sollte (Regimennt (1529), Bl. [Aij]v und Aiijr). – Wie diese Hühnersuppe den Kranken stärken konnte, so hoffte Rhegius, mit seiner Arznei die erkrankten Seelen der Gläubigen zu erbauen.

In einer Fußnote darf darauf hingewiesen werden, dass diese Form der Ratgeberlitera-tur in unserer Zeit scheinbar eine Renaissance erlebt: Unter dem Titel »Chicken Soup for the Soul« verkaufen Autoren in den Vereinigten Staaten Millionen von Büchern an Ratsuchende (vgl. http://www.chickensoup.com) – freilich unter einer weniger theolo-gischen Prämisse.

68 Zur Druckgeschichte der »Seelenarznei« vgl. Franz (1973), S. 28ff. und 97ff.

69 Eine Übersicht zu den Übersetzungen bietet Franz (1973), S. 214.

70 Zschoch (1995), S. 346.

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Man wird Zschoch beipflichten können, indem man das Krankenlager auch als Ort versteht, an dem das Evangelium glaubend gehört wurde. Dass die Menschen dort besonders empfänglich auf jede Art von Trost rea-gierten, kann man sich vorstellen. Für die Darbietung der reformatorischen Botschaft waren das, wie auch Paul Althaus bestätigt, denkbar wünschens-werte Voraussetzungen:

Bei keinem anderen Anlasse machte sich das Bedürfnis nach religiöser Belehrung und geistlicher Zusprache dringender geltend, als in der Leidenslage der Krankheit und Todesnot mit ihren schweren Anfechtungen. Nirgends war zugleich der Kirche so sehr Gelegenheit gegeben, ihres evangelischen Trostamtes zu warten und den ganzen Reichtum des ihr anvertrauten Heilsschatzes in Bewegung zu setzen, als an Kranken- und Sterbebetten.71

Demzufolge blieb die »Seelenarznei« zu dieser Zeit keine Einzelerscheinung: Zeitgleich mit Urbanus Rhegius veröffentlichten auch andere evangelische Theologen aus dem Umkreis Martin Luthers ihre sogenannten Kranken- und Sterbetrostbüchlein. Namhafte Persönlichkeiten wie Johannes Bugen-hagen, Wenzeslaus Linck, Johannes Spangenberg oder Friedrich Myconius gaben darin Anleitung, wie die traditionelle Kranken- und Sterbeseelsorge zu reformieren wäre.72 Sie verzichteten dabei auf eine durch äußere Zeichen vermittelte Religiosität und hielten »gegenständliche Sterbehilfen« wie das Kruzifix, Sterbekerzen, Heiligenbilder und Weihwasser im Angesicht des Todes für entbehrlich. Der allein durch das Wort sich offenbarende Glaube sollte nach Möglichkeit ohne den Gebrauch von Zeichen beziehungsweise Sakramenten vermittelt werden und ließ der Hl. Schrift übergeordnete Be-deutung zukommen.73 In den Trostbüchlein wurde das bezeugte Wort Got-tes ganz auf den erkrankten Menschen bezogen und als eine an ihn gerich-tete Heilszusage ausgelegt. Um vor Gott gerechtfertigt zu sein, bedurfte es keiner guten Werke. »Er machet uns selig nicht umb der werk willen der gerechtigkait die wir geton hatten, sonder nach seiner barmherzigkait«, stellt Rhegius klar und warnt auch den Sterbebegleiter davor, die vordergründige Abhängigkeit der Menschen von ihren »guten Werken« zu unterstützen. Für ihn hat Rhegius in einer Nebenbemerkung Folgendes ergänzt: »Allhie soll man verhütten, das der sterbend mensch nichts bawe auf seine verdienst, sonder allain […] an der lautern Gotes gnad hange, sich allain derselbigen behelfe und auf den verdienst Christi bawe.«74

71 Althaus (1927), S. 37.

72 Eine formale und inhaltliche Analyse dieser bislang wenig beachteten Schriften, die als reformatorische Nachfolger der spätmittelalterlichen »Ars moriendi«-Tradition gelten dürfen, bietet Resch (2006).

73 Vgl. Resch (2006), Kapitel I.IV.2. »Bedingte Entritualisierung der Sterbestunde«, so-wie Kapitel D.I.4.a. »Sola scriptura«.

74 Rhegius (1973), S. 247.

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Beim Verfassen ihrer Kranken- und Sterbetrostbüchlein hatten reformatori-sche Theologen wie Rhegius stets die Gebrauchssituation ihrer Texte vor Augen, in der es Grundsätzliches zu vermitteln galt – waren doch in der Krankenstube möglicherweise noch weitere dankbare Zuhörer anwesend, bei denen man eine »enorme emotionale Bereitschaft für die Verkündi-gung«75 voraussetzen konnte. Situation und Verfasstheit des Kranken eigne-ten sich dazu, zunächst ihm selbst, aber auch anderen »Grundgedanken der Reformation zu erklären«76, insbesondere diesen einen Grundgedanken: dass nämlich »ain armer / ellender / schwacher / krancker mensch / der ettwa kaum hend und fueß vor schwachait regen kan / disen grossen Goli-ath / den Tod solle überwünden künden / allain mit Christenlichen oren / und ainem glaubigen hertzen«77. Diese tröstliche Botschaft (Röm 10,10), für die der ebenfalls in Augsburg tätige Theologe Caspar Huberinus die oben zitierten Worte gefunden hat, sollte – anhand des konkreten Krankheitsfal-les erklärt – auch für andere glaubhaft nachzuvollziehen sein.

Was von diesen anderen, umstehenden Zuhörern zugleich erwartet wurde, geht aus Urbanus Rhegius’ »Seelenärtzney« deutlich hervor. An die Gesun-den, deren Körper zumindest von Krankheit verschont geblieben war, ad-ressiert er eine eindringliche Mahnung: »Nun bit ich euch, […] ir wölt euch bessern«78, lautet die Aufforderung – noch käme die bußfertige Umkehr nicht zu spät, doch sollte man die Hinwendung zu Gott keinesfalls länger hinauszögern: »Wolan, es ist dannocht kain buoß zuo spat, wann sie nun vor dem end des lebens kommet; doch nyemand spar sein sach biß auf disen nodtknopf«79, muss daher der wohlgemeinte Rat lauten, den Rhegius »gesunden und kranken zu disen gefärlichen zeyten« mit auf den Weg gibt.

75 Vgl. Wollgast (1992), S. 34.

76 Vgl. Klein (1958), S. 1.

77 Huberinus (1542), Bl. [Cvij]r.

78 Rhegius (1973), S. 258.

79 Rhegius (1973), S. 243.

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MedGG 28 • 2009, S. 121-152 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Die Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn des 18. Jahrhun-derts, untersucht anhand Johann Storchs Kasuistik zu Mo-lenschwangerschaften1

Matthias Blanarsch

Summary

The relationship between physician and patient in the early 18th century based on research into Johann Storch’s case studies on mole pregnancies

This paper describes the physician-patient relationship in early modern Thuringia. Its main historical source are a hundred patient records concerning ‘mole pregnancies’. The physician Johann Storch (1681-1751) published these records in 1749. Firstly, the quantita-tive exploration shows that among his patients were not only wealthy people but also wives of craftsmen and day labourers. The paper explores the conceptual history of mole pregnancies since Hippocrates’ times. It also describes the social role of healers and pa-tients and addresses the issue of god’s role. Although theoretical works of the time empha-size the important role of god, he does not feature strongly in the patient records investi-gated. The body image of Storch’s patients is also thematised in the paper. Storch and his patients had the same perception of body and illness. Unlike today, physicians and pa-tients shared similar notions about illness and healing.

Einführung

Den Kranken nicht nur als Objekt des ärztlichen Handelns – als Patienten – zu begreifen, sondern ihn als eigenständiges Subjekt – als homo patiens2 – zu betrachten, ist Ziel der patientenorientierten Medizingeschichtsschrei-bung3. Sie wurde von dem britischen Historiker Roy Porter maßgeblich geprägt, der damit eine neue Perspektive auf die Geschichte der Medizin etablierte.4 Sein Aufruf, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, blieb nicht ohne Erfolg5: Die Patientengeschichte ist inzwischen zum integralen Bestandteil der Sozialgeschichte der Medizin geworden6.

1 Dieser Aufsatz ist die gekürzte und überarbeitete Fassung einer Bachelor-Arbeit, die an der Universität Stuttgart entstand. Zum Begriff »Molenschwangerschaft« vgl. das Ka-pitel »Krankheitswahrnehmung und Körpervorstellung«.

2 So schon der Titel von Stolberg (2003).

3 Der Terminus Patient ist problematisch, hat sich aber eingebürgert und wird daher auch im vorliegenden Beitrag verwendet. Vgl. dazu Eckhart/Jütte (2007), S. 182. Siehe auch Wolff (1998), S. 313f.

4 Vgl. Porter: Patient’s view (1985), S. 185.

5 Exemplarisch seien zwei für den vorliegenden Beitrag grundlegende Werke genannt: Jütte (1991); Stolberg (2003).

6 Eckart/Jütte (2007), S. 183.

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Da die breite Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum schriftliche Aufzeichnungen über Krankheitserfahrung und -verhalten hinterlassen hat, steht die Patientengeschichte der Frühen Neuzeit vor einem Quellenprob-lem. Eine Quellengruppe bilden ärztliche Fallberichte, die indirekte Schilde-rungen der individuellen Krankheitserfahrung enthalten – also gegen den Strich gelesen werden müssen.7 Solche Fallberichte sind als Quelle für das Krankheitsverständnis von Ärzten und Patienten von besonderer Bedeu-tung. Darüber hinaus liefern sie Informationen über die demographische Entwicklung sowie die soziale Zusammensetzung der Patientenschaft. In Kombination mit anderen Quellen geben ärztliche Fallberichte außerdem Auskunft über das Spannungsfeld zwischen medizinischer Theorie und ärztlicher Praxis.8

Die ärztliche Kasuistik ist auch Hauptquelle des vorliegenden Beitrags, in dem eine Auswahl der Fallberichte des Eisenacher Arztes Johann Storch (1681-1751) untersucht wird. Die Berichte wurden in insgesamt acht Bän-den unter dem Titel »Von Weiber=Kranckheiten« publiziert. Im Mittelpunkt der vorliegenden Betrachtung soll der erste Teil des vierten Bandes stehen, der Fälle behandelt, »Welche Molas oder Mutter=Gewächse und falsche Früchte betreffen«.9 Denn während die Geschichte der Geburt, des Wo-chenbettes und des Hebammenwesens10 bereits in zahlreichen wissenschaft-lichen Darstellungen thematisiert worden ist, blieb der Themenkomplex der Molenschwangerschaften bis jetzt weitgehend unbeachtet11.

Obwohl die Storchsche Kasuistik sehr umfangreich ist und einen großen Fundus an Informationen bereithält, wurde sie nur vereinzelt untersucht. Auch andere Schriften Storchs trafen bisher in der Forschung nur auf ge-ringe Resonanz. Ein Werk, das sich explizit mit Johann Storch auseinander-setzt, stammt von Alfred Nussbaumer.12 Er beschäftigte sich mit den berufs-ethischen Ansichten des Arztes und verglich sie mit Vorworten allgemein-medizinischer Lehrbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Allerdings be-schränken sich seine Ausführungen auf die medizinische Theorie, die Storchsche Praxis findet keine Erwähnung.

Das wichtigste Werk, das sich mit den Storchschen Fallberichten auseinan-dersetzt, ist »Geschichte unter der Haut« von Barbara Duden.13 Sie betrach-tet den menschlichen Körper als historisch und kulturell bedingtes Konzept

7 Eckart/Jütte (2007), S. 183. Vgl. auch Porter: Lay medical knowledge (1985), S. 139f.

8 Zum Umgang mit Fallberichten als Quelle siehe Risse/Warner (1992), S. 199.

9 Storch (1749).

10 Exemplarisch genannt sei Gélis (1989).

11 Lediglich Taussig (1907) befasst sich mit diesem Thema.

12 Nussbaumer (1965).

13 Duden (1987).

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und fragt vor allem nach zeitspezifischen Erfahrungen des Leibesinneren.14 Wichtig für ihre Arbeit waren die Rezeption von Foucaults »Geburt der Klinik« und die Medikalisierungsthese. Duden geht davon aus, dass sich das Verhältnis von Arzt und Patient Ende des 18. Jahrhunderts zu einem hierarchischen Verhältnis zugunsten der Ärzte gewandelt habe: Die Defini-tionsmacht über Krankheit und Gesundheit sei von den Ärzten übernom-men worden. Vor diesem Hintergrund hinterfragt Duden die fortschrittsori-entierte Medizin- und Ideengeschichte und betrachtet den Körper vor seiner Neuprägung durch den »ärztlichen Blick« (Foucault).15 Als Quelle für ihre Analyse zieht sie die Fallsammlung Storchs heran. Allerdings ist die Au-thentizität der darin enthaltenen Patientenäußerungen, die durch den Arzt Storch wiedergegeben werden, strittig. Geyer-Kordesch kritisiert, Duden habe sich nicht in ausreichendem Maße mit der medizinischen Theorie zur Zeit Storchs auseinandergesetzt.16 Die Äußerungen in den Fallgeschichten seien keineswegs authentische Äußerungen der Patientinnen, sondern Storch habe die medizinische Theorie seiner Zeit in deren Mund gelegt. Ein weiterer Kritikpunkt an Dudens Werk ist eher anthropologischer Natur: Ihre These, dass andere Menschen in der Vergangenheit anders fühlten und empfanden, als wir es heute tun, wird zwar nicht widerlegt, aber als bedenk-lich bezeichnet. Es sei moralisch gefährlich, anderen Menschen abzuspre-chen, dass sie genau wie wir Schmerz und Freude empfänden.17

Über die medizinische Theorie in Storchs Umfeld, insbesondere über seinen Mentor, Georg Ernst Stahl (1659-1734), geben mehrere Arbeiten von Jo-hanna Geyer-Kordesch umfassend Auskunft.18 Zur ärztlichen Praxis in Thüringen, insbesondere zur Zusammensetzung der Patientenschaft, wur-den in jüngerer Zeit zwei Werke publiziert, die für die Einordnung und In-terpretation der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung überaus hilf-reich waren.19 Für das Verständnis der Krankheitsvorstellungen in der Frü-hen Neuzeit ist Michael Stolbergs »Homo patiens« nützlich.20 Wertvolle Einblicke in die Konsiliarskorrespondenz des Arztes Lorenz Heister (1683-1758) und die Krankheitsvorstellungen seiner Patienten gewährt Marion Ruisinger in ihrer jüngst veröffentlichten Habilitationsschrift.21

14 Vgl. Nolte (2005), S. 226.

15 Nolte (2005), S. 228.

16 Vgl. Geyer-Kordesch: Court physicians (1990), S. 171.

17 Vgl. Laqueur (1993).

18 Exemplarisch genannt seien Geyer-Kordesch: Court physicians (1990) und Geyer-Kordesch: Fallbeschreibungen (1990).

19 Hess (2008); Thümmler (2004).

20 Stolberg (2003).

21 Ruisinger (2008).

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Storchs Fallberichte als historische Quelle

In ihrem Werk »Geschichte unter der Haut« beschreibt Duden den Eisena-cher Arzt Johann Storch als »beschränkte[n] belesene[n] Pedant[en], der nie etwas vergisst«.22 Nur einmal, als einer seiner Gönner an der Podagra litt, sei er aus seiner kleinstädtischen Provenienz um Eisenach und Gotha he-rausgekommen, weil er zu ihm nach Wolfenbüttel reisen musste.23 Dudens Charakterisierung des Arztes mag dahingestellt bleiben. Signifikant für Storch ist in jedem Fall, dass er nicht nur als Verfasser ärztlicher Fallberich-te – der grundlegenden Quelle dieses Beitrags – und weiterer, größtenteils medizinischer Schriften24, sondern auch als Autor einer Autobiographie hervorgetreten ist. Zum Glück für den Historiker entschied sich der Bruder Storchs dafür, den Text zu veröffentlichen. So wurde die Autobiographie 1752 unter dem Titel »Leitung und Fürsorge des Höchsten Gottes. Das ist: Dessen Lebenslauf, Schicksale, fatale Kranckheit und seeliger Abschied, nebst dem Sections-Schein«25 posthum gedruckt. Schon hierbei wird deut-lich, unter welchen Voraussetzungen Storch als Person und als Arzt agierte. Auf der einen Seite steht die religiöse Überzeugung, das Vertrauen auf die Fürsorge Gottes, auf der anderen Seite die Ausstellung des Sektionsscheines als Ausdruck des ärztlichen Wissensdranges. Wie groß dieser im 18. Jahr-hundert war, wird beispielsweise bei Krünitz geschildert: Eine schwerkranke Frau

machte die Aerzte und Wund=Aerzte sehr neugierig auf ihren Tod. Endlich erfolgte dieser; und als man zur Section schreiten wollte, fand man nicht die geringste Spur von einer Geschwulst des Unterleibes, sondern einen 19 Pfund schweren Ranzen von lauter Stücken.26

Der spezifischen Situation des Arztes zu jener Zeit, der sich im Spannungs-feld zwischen der sich formenden Naturwissenschaft und altväterlichem Glauben gefangen sah, wird im Folgenden noch nachzugehen sein.

Seinem Hebammenlehrbuch fügte Storch als praktischen Anhang insge-samt sieben Bände mit Fallberichten bei. Schon im Umfang unterscheidet sich dieses Werk somit von anderen reinen Hebammenlehrbüchern der Zeit, wie sie beispielsweise Johann Christoph Ettner (1654-1724) oder Justi-ne Siegemund (1636-1705) veröffentlicht hatten.27 Insbesondere die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine Hochphase populärmedizinischer

22 Duden (1987), S. 67.

23 Duden (1987), S. 67.

24 Ein Werksverzeichnis findet sich in Storch (1752), S. 40-48. Vgl. auch Duden (1987), S. 251f.

25 Storch (1752), Titelblatt (ohne Seitenzahl).

26 Krünitz (1789), S. 660.

27 Vgl. Tatlock (1992), S. 729.

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Schriften zum Hebammenwesen.28 Zielpublikum der Storchschen Kasuistik waren in erster Linie Geburtshelferinnen, aber auch angehende Ärzte und »leidende Frauenzimmer«.29 Aus diesem Grund veröffentlichte Storch so-wohl das eigentliche Hebammenlehrbuch als auch die Fallberichte in deut-scher Sprache, was damals noch eine Besonderheit war. Andere Gelehrte der Zeit publizierten zwar auch Fallberichte, allerdings in lateinischer Spra-che.30 Die Kasuistik Johann Storchs ähnelt, wenn auch nicht in der Spra-che, so doch im Aufbau anderen medizinischen Fallbeschreibungen des frühen 18. Jahrhunderts und orientiert sich an dem »Collegium Casuale« des in Halle lehrenden Professors Georg Ernst Stahl, das Storch ins Deut-sche übersetzte.31 Der Aufbau der einzelnen Berichte folgt immer dem glei-chen Schema: Zuerst werden Alter, Temperament, Krankheitssymptome, Krankheitsverlauf und Auffälligkeiten angegeben, darauf folgen Ätiologie, Diagnose und Diskussion des Falles.

Storch betrachtet seine Praxis in den Fallberichten im Rückblick und gibt dabei implizit auch Einblick in seine eigene Vergangenheit als Arzt. Er traf die Entscheidung, welche Fälle Eingang in seine Sammlung finden und welche Ereignisse in welcher Ausführlichkeit geschildert werden sollten. All diejenigen Geschehnisse, die Storch nicht signifikant erschienen, tauchen demnach in den Fallberichten nicht auf. Das heißt, die Quellen sind äußerst selektiv, was eine besonders kritische Betrachtung notwendig macht.32

Außerdem reproduziert Storch die Vergangenheit nicht, sondern organisiert sie in seinen Fallberichten neu. Die Organisation, also die Herstellung von Zusammenhängen zwischen einzelnen Fakten oder Ereignissen, ist für den Historiker mindestens genauso problematisch wie die Selektion. So berich-tet Storch beispielsweise über eine seiner Patientinnen: »Den 14. Febr. hatte sie saure Gurcken gegessen, und bekam dar=auf Brechen, und den 16ten einen Geblütgang aus der Mutter, woraus entweder einen Abortum, (Miß-fall) oder eine Molam, vorräthig zu seyn vermuthete.«33 Er hielt den Genuss der Gurken nicht nur für bedeutsam genug, ihn zu erwähnen. Mehr noch, er organisiert seine Erzählung so, dass der Genuss der Gurken und das dar-auf folgende Erbrechen den Beginn allen Übels markieren. Ausgehend von den genannten Ereignissen, in Unwissenheit darüber, welche Geschehnisse Storch als nicht signifikant verschweigt, würde der gegenwärtige Historiker seine Geschichte vielleicht völlig anders organisieren. So könnte er nach Fakten suchen, die nach aktuellem medizinischen Wissensstand eine Fehl-

28 Vgl. Sander (1998), S. 76f.

29 Storch (1749), Vorrede (ohne Seitenzahl).

30 Beispielsweise Albrecht Haller (1708-1777), siehe dazu auch Boschung (1996), S. 7.

31 Vgl. Geyer-Kordesch: Fallbeschreibungen (1990), S. 11f.

32 Vgl. zu dieser Problematik auch Dinges (2008), S. 30f.

33 Storch (1749), S. 6.

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geburt begünstigen oder gar verursachen. Er könnte beispielsweise die Storchschen Hinweise auf psychosoziale Probleme und Vorerkrankungen34 an den Beginn seiner Erzählung stellen oder Statistiken über Fehlgeburten in der Frühen Neuzeit heranziehen. Obiges Beispiel verdeutlicht, dass die in den Quellen geschilderten Ereignisse heute in völlig neue Zusammenhänge eingeordnet werden können.

Der vorliegende Beitrag verfolgt zunächst einen quantitativen Ansatz. Als Sample dienen dazu die insgesamt 100 Fallberichte Storchs zu dem The-menkomplex der Molenschwangerschaften, die hinsichtlich der sozialen Stellung der behandelten Patientinnen untersucht werden. Maßgebliche Angabe in den Fallberichten hierzu ist meist der Beruf des Ehemanns oder Vaters. Im Anschluss daran richtet sich der Fokus auf die qualitative Unter-suchung der Arzt-Patienten-Beziehung, wofür die strukturfunktionalistische Theorie Talcott Parsons’ als Grundlage dient.35 In diesem Rahmen wird der Frage nachgegangen, wer außer Johann Storch in Eisenach noch als Heiler praktizierte und in welchem Verhältnis die verschiedenen Heiler und Hei-lergruppen zueinander und zu den Patientinnen standen. Was die Annahme der Krankenrolle ausmachte, welche Bedeutung die Selbstbehandlung hatte und ob die Patientinnen den ärztlichen Behandlungs- und Diätetikempfeh-lungen folgten, wird anschließend ebenfalls thematisiert. Das Spannungsfeld zwischen theologischer und medizinischer Theorie auf der einen und der ärztlichen Praxis auf der anderen Seite ist Gegenstand des darauf folgenden Abschnitts. Vor dem Hintergrund der ärztlichen Praxis Johann Storchs er-scheinen die theologisch-medizinischen Abhandlungen der Zeit in neuem Licht. Nach einer kurzen Ideengeschichte der Molenschwangerschaft bildet eine Untersuchung zu Krankheitswahrnehmung und Körpervorstellung der Patientinnen Storchs den Abschluss. In diesem Zusammenhang wird auch Barbara Dudens These, der Arzt Johann Storch sei lediglich ein Umweg bei der Selbstbehandlung der Frauen gewesen, kritisch hinterfragt.

Johann Storchs Patientinnen

Die ältere Forschung geht gemeinhin davon aus, dass sich vor der Einfüh-rung der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert vor allem die reichen oder zumindest wohlhabenden Kranken an professionelle Ärzte wandten, wäh-rend weniger zahlungskräftigen Menschen dieser Weg verschlossen blieb.36 Neuere Forschungen relativieren diese Erkenntnis: Oft sahen die Dienstver-träge der Ärzte mit Städten die Gratisbehandlung Armer vor. Dieser Perso-nenkreis beschränkte sich allerdings auf die Menschen, die bereits als Al-mosenempfänger legitimiert waren. Andere Arme und Minderbemittelte

34 Storch (1749), S. 6-8.

35 Parsons (1958).

36 So beispielsweise noch Döhner (1986), S. 52.

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Die Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn des 18. Jahrhunderts 127

verfügten zwar nicht über finanzielle Mittel, um einen Arzt für seine Dienste zu entlohnen, konnten aber das im Laufe ihres Lebens erworbene Sozialka-pital, also Familienbande, Verwandtschaft, Patenschaft, Freundeskreis usw., nutzen, um die Leistungen eines Arztes in Anspruch zu nehmen.37 Oft kümmerten sich auch Dienstherren um die medizinische Versorgung ihrer Untergebenen. Daraus ein romantisch verklärtes Bild der vorindustriellen, patriarchalischen Gesellschaft abzuleiten, wäre allerdings verfehlt. Da die Krankheit von Bediensteten unter Umständen mit Nachteilen für den Dienstherrn verbunden war, hatte dieser ein vitales Interesse, deren Ge-sundheit und damit vor allem die Gesundheit seiner Arbeitskräfte zu för-dern.38

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass außer Adeligen und ortsansässigen Honoratioren auch Handwerker, Bauern und Tagelöhner die Dienste des Arztes Johann Storch in Anspruch nahmen. Allein in den 100 Fallberichten zu Molenschwangerschaften umfassen Storchs Patientinnen alle sozialen Schichten von einer »in sehr schmalen Haußhalte lebende[n] Frau« über zahlreiche »Handwercks=Mannes«-Frauen bis zu einer »Pries-ters=Frau, […] welche sowohl im Trincken, als anderen Actionen, sich mehr männlich, als weiblich, aufführete«.39 Einen Sonderfall bilden die Soldatenfrauen, die Storch wohl aufgrund seiner Stellung als Miliz-Medicus behandelte. Mangels anderer stichhaltiger Angaben über den sozioökono-mischen Status der Patientinnen in der Storchschen Kasuistik dienen im Folgenden die Berufe der Ehemänner und Väter als Grundlage für die sozi-ale Kategorienbildung. Die Einteilung orientiert sich dabei grob an Hess40, wobei im vorliegenden Beitrag auf die Unterscheidung zwischen »armen« und »reichen« Handwerkern verzichtet wurde. Einen ähnlichen Ansatz ver-folgt auch Sander41 bei der Kategorisierung der Klientel eines Wundarztes, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts praktizierte.

37 Vgl. Jütte (1991), S. 196.

38 Vgl. Beier (1987), S. 244.

39 Storch (1749), S. 168, 240 u. 261.

40 Hess (2008), S. 98f.

41 Sander (1987), S. 114f.

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Abb. 1: Soziale Stellung von Storchs Patientinnen in Band 4 der Fallberichte (Molen-schwangerschaften)42

Die Untersuchung anderer Quellen aus der Frühen Neuzeit führt zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Zusammensetzung der Storchschen Patienten-schaft keineswegs um eine Ausnahme handelte. So weist die Analyse eines Praxistagebuchs, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Thüringen ge-führt wurde, eine ähnliche Zusammensetzung auf.43 Die Patientenschaft Gerhard Eichhorns, der Ende des 16. Jahrhunderts als Wundarzt in Köln tätig war, zeigt ebenfalls, dass nicht nur besonders wohlhabende Menschen, sondern auch Patienten aus der Mittelschicht professionelle Heiler in An-spruch nahmen.44

42 Von den insgesamt 100 Patientinnen in Storchs Kasuistik zu Molenschwangerschaften werden nur zu 45 nähere Angaben gemacht, 43 werden lediglich als »Frau«, weitere elf nur als »Dame« sowie eine Patientin als »Mädchen« (Storch (1749), S. 197) be-zeichnet.

43 Hess (2008), S. 99, Tabelle 10.

44 Jütte (1989), S. 190.

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Die Rolle Johann Storchs, seiner Patientinnen und anderer Heiler

Ein grundlegendes Werk über die Rolle von Ärzten, Patienten und deren Beziehung zueinander stammt von Talcott Parsons, dem Begründer der strukturfunktionalistischen Schule der Soziologie. Unter dem Titel »Struktur und Funktion der modernen Medizin« wurde seine soziologische Analyse der Medizin als soziales System veröffentlicht.45 Obwohl es schon dem Titel nach um die moderne Medizin geht, sind Parsons’ theoretische Modelle zum Teil auch für die Analyse der vormodernen Medizin zu gebrauchen – wobei hier die Differenz zwischen dem heutigen und dem damaligen medi-zinischen System zu beachten ist. Die Veränderung des Krankheitsspekt-rums von epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten in der Frühen Neuzeit zu den oftmals chronischen Leiden der Gegenwart blieb nicht ohne Folgen für die Zuweisung der Krankenrolle.46

Medizin ist nach Parsons ein »Mechanismus im sozialen System«, der die Bekämpfung von Krankheiten zum Ziel hat. Um dieses Ziel zu erreichen, treten Arzt und Patient miteinander in Interaktion. Dabei kommen soziale Rollen und Institutionen zum Tragen.47 Die Beziehung zwischen Arzt und Patient wird dabei durch vielfältige Normen geregelt. So spricht Parsons beispielsweise von einer institutionellen Erwartung an den Kranken, sich fachkundige Hilfe zu holen. Zusammen mit der institutionellen Verpflich-tung des Arztes, zu helfen, ergibt sich dadurch eine komplementäre Rollen-struktur.48 Parsons deutet die Krankenrolle in zweifacher Hinsicht als Stö-rung des normalen Funktionierens des Menschen: Sowohl der menschliche Organismus als auch die soziale Funktion und damit das Einnehmen von Rollen durch das Individuum werden durch Krankheit eingeschränkt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Krankheit teils biologisch, teils sozial bestimmt wird.49 Die Rolle des Arztes tritt bei Parsons als Unterkategorie der Berufsrolle in Erscheinung. Letztere zeichnet sich unter dem Gesichts-punkt der funktionellen Arbeitsteilung dadurch aus, dass deren Inhaber etwas anbietet, im Fall des Arztes eine Dienstleistung, die Subjekte mit ent-sprechenden Bedürfnissen in Anspruch nehmen können.50 Die Institutiona-lisierung der Arztrolle zur Zeit Storchs unterscheidet sich in vielen Dingen von derjenigen der Gegenwart.

Bei der Vielzahl therapeutischer Angebote war Johann Storch nur ein An-bieter unter anderen. Durch seine Ausbildung und vor allem durch die ge-

45 Parsons (1958).

46 Vgl. Jütte (1991), S. 187.

47 Vgl. Parsons (1958), S. 12.

48 Parsons (1958), S. 17.

49 Parsons (1958), S. 12.

50 Parsons (1958), S. 49.

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sellschaftliche Stellung als Garnisons-, Stadt- und Landphysikus war es dem Menschen Johann Storch möglich, die soziale Rolle des Arztes einzuneh-men, die seine Funktion spezifizierte. Die Rolle des Heilers hatte allerdings nicht nur er inne, sondern auch andere Ärzte übernahmen diesen Part: »Weil diese Kur nicht nach der Patientin Ver=langen auslief, so habe her-nach weiter keine Verordnung vor sie gehabt; inzwischen aber gesehen, daß andere Medici ihren Wunsch auch nicht erfüllen können, ja ihr einziges Kind noch dazu sterben lassen müssen.«51 Storch musste demnach in Kon-kurrenz mit anderen Medizinern bestehen, denn die Patienten wechselten den Arzt, sobald ihnen dies opportun erschien. Für einen Arzt, der eine neue Praxis eröffnet, war es nach Storch von großer Bedeutung, ob die erste »Kur« erfolgreich verlief.52 Sie fungiert sozusagen als Aushängeschild für den Mediziner, der damit seinen Erfolg und sein Können oder bei negati-vem Krankheitsverlauf auch seinen Misserfolg publik machte, was direkte Auswirkung auf die Patientenzahl hatte.

Die gesellschaftlichen Umstände des 18. Jahrhunderts beeinflussten auch das Verhältnis von Arzt und Patient, das für diese Zeit als patronage system aufgefasst werden kann.53 Im Kontext der Storchschen Fallberichte, die eine Vielzahl von Kranken und nicht nur einzelne hochgestellte Persönlichkeiten oder Gönner umfassen, muss man von mehreren Patronen ausgehen. Kennzeichnend für das patronage system ist die Loyalität des Arztes gegen-über seinem Auftraggeber, der unter Umständen Behandlungsarten und Standards festlegt.54 Wenn Storch seine Patienten nicht an die mit ihm kon-kurrierenden Standesgenossen verlieren wollte, musste er seinen Geldgebern und Patronen folgen.

Neben den akademisch ausgebildeten Ärzten gab es die Chirurgen. Sie ge-hörten vielerorts als Handwerker den Zünften an.55 Das Verhältnis der Ärz-te zu dieser Berufsgruppe war weniger von Konkurrenz bestimmt; vielmehr zeigte man sich eher kooperativ und komplementär.56 So behandelt Storch »[e]ines auswärtigen Chirurgi Frau«57 mit einem Knoten im Unterleib, »den der Mann mit guter Raison vor eine Molam hielte«58. Er riet dazu, einen Aderlass am Fuß vorzunehmen, worauf tatsächlich eine Mola exkludiert wurde, wie der Chirurg bereits vorher vermutet hatte. Obwohl die Patientin

51 Storch (1749), S. 195.

52 Storch (1752), S. 19.

53 Vgl. Jewson (1974), S. 169f.

54 Vgl. Wiesemann (1997), S. 73.

55 Vgl. Döhner (1986), S. 58; Sander (1989), S. 56-61; Lindemann (1996), S. 144f.

56 Vgl. Loetz (1998), S. 37.

57 Storch (1749), S. 202.

58 Storch (1749), S. 202.

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und ihr Mann um die Krankheit wussten, suchten sie den Rat des Arztes. Eine Erklärung dafür wäre, dass nur der akademisch ausgebildete Arzt in seiner Berufsrolle legitimiert war, eine Diagnose abzugeben, obwohl die ei-gentliche Durchführung eines Aderlasses einem Chirurgen oder Bader zu-kam.59

Andere approbierte Heiler wie Bader und Apotheker werden in den Fallbe-richten nur indirekt erwähnt. Sie dürften die zahlreich verordneten Aderläs-se, Purgationen und sonstigen Rezepte und Anordnungen durchgeführt bzw. angerichtet haben. Mit den Apothekern in Eisenach befand sich Storch in ständigem Streit, weil er deren Privileg, Medizin zu veräußern, missachte-te, indem er selbst Medikamente verkaufte.60 Weitere Anbieter im medizini-schen Sektor waren Hebammen und Frauen, die bei der Entbindung halfen. So berichtet Storch über eine Frau, die aufgrund ihrer Erfahrung bei ihrer Tochter zum Mittel der Selbstdiagnose griff: »so kam die Mutter, welche sonsten in Heb=Ammen=Ver=richtungen nicht unerfahren war, auf die Ge=dancken, ob nicht gar ein foetus putrefcens von vorigem Jahre noch bey ihr sey«.61 Das Verhältnis Storchs zu den Hebammen war nicht un-problematisch. An anderer Stelle berichtet er über eine »Heb=Amme, wel-che ohnedem alle ihre Imaginationes vor Wahrheiten ausgab«62, und kriti-sierte, dass sie eine »Patientin bereden wollte«63. Die Konkurrenz zwischen dem akademisch fundierten Wissen der Ärzte und dem umfassenden All-tags- und Erfahrungswissen der Frauen kommt hier eindeutig zum Vor-schein.64

Weitere Heilberufe werden in den untersuchten Fallberichten nicht erwähnt, obwohl es sie sicherlich auch in Eisenach gegeben hat. Denn das Verbot unlizenzierter Heiler setzte sich erst gegen Ende des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts durch. Es lag zunächst durchaus im Interesse der Kran-ken, da es zu einer Qualitätssicherung beitrug. Langfristig betrachtet führte der dadurch angestoßene Prozess der Professionalisierung allerdings auch dazu, dass die Wahlfreiheit der Patienten immer geringer wurde.65 Die aus-differenzierten Rollen der verschiedenen Heilberufe wurden nach und nach durch die Rolle des Arztes ersetzt und monopolisiert. Zur Zeit Storchs be-gann die Professionalisierung. Sein Vater und sein Großvater praktizierten noch als Heiler ohne akademische Ausbildung, er selbst wurde, wie er in seiner Autobiographie schreibt, von Konkurrenten als Empiriker verleum-

59 Vgl. Sander (1989), S. 42.

60 Storch (1752), S. 21.

61 Storch (1749), S. 213.

62 Storch (1749), S. 73.

63 Storch (1749), S. 73.

64 Siehe hierzu auch Wilson (1995) sowie Pulz (1994).

65 Vgl. Wiesemann (1997), S. 77.

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det, obwohl er ein – wenn auch kurzes – akademisches Universitätsstudium genossen hatte.66

Genau wie der Arzt fand sich auch der Kranke in einer bestimmten Rolle. Die Annahme dieser Rolle wurde den Mitmenschen durch bestimmte Handlungen signalisiert, beispielsweise durch das Liegen im Krankenbett als nach außen wirksames Zeichen. Auch in den Storchschen Fallberichten ist die Bettlägerigkeit kennzeichnend für Krankheit, so beispielsweise bei einer Patientin, die »wegen Kopfweh und Hitze noch nicht in der Höhe seyn«67 konnte. Dass die Entscheidung über die Annahme der Krankenrolle nicht allein bei der Kranken lag, zeigt folgender Ausschnitt aus einem Fall-bericht:

Den 27. fand sie [eine Patientin] sich in allem ruhig, und wäre im Stande gewesen, ausser dem Bette zu seyn, wenn man ihr solches erlaubet hätte, weil man aber aufs künftige Reflexion machte, so muste sie sich etliche Tage als eine Wöchnerin verhal-ten.68

Ob sich hinter dem unbestimmten Subjekt Arzt, Angehörige oder Bekannte verbergen, wird aus der Quelle nicht ersichtlich. An diesem Beispiel wird aber deutlich, dass Krankheit nicht nur biologische, sondern auch soziale Implikationen hatte.69 So war es nicht zuletzt Aufgabe des Arztes, das sozia-le Funktionieren der Frauen wiederherzustellen, wie beispielsweise im fol-genden Fall: »Inzwischen fand sie sich ziemlich matt davon [Abgang einer Mola], und wolte doch gerne in etlichen Tagen einem Hochzeit=mahle beywohnen, bate also um Verordnung einiger stärckenden Arzeneyen«.70 Krankheit ist dementsprechend auch die Unfähigkeit, bestimmte, norma-lerweise verpflichtende Rollen einzunehmen. Gleichzeitig verlangt sie von den Angehörigen und Freunden der Patienten ein angemessenes Verhalten. Somit legitimiert Krankheit Forderungen an die Mitmenschen, die ein Ge-sunder nicht stellen dürfte.71

Mit dem Konzept der Patientenkarriere lässt sich das Rollenverhalten Kranker in ein zeitliches Gerüst fassen, das aus fünf Stadien besteht. Das erste ist das Stadium der Symptomwahrnehmung (1), die eng mit der Krankheitsvorstellung zusammenhängt: Sie wird in einem der nächsten Ab-schnitte behandelt. Darauf folgt das oben geschilderte Stadium der An-nahme der Krankenrolle (2), aus dem in der vorliegenden Quelle immer die Entscheidung resultiert, kompetente therapeutische Hilfe (3) in Anspruch zu nehmen. Damit einher geht die Annahme der Patientenrolle (4). Auf das

66 Storch (1752), S. 19.

67 Storch (1749), S. 277.

68 Storch (1749), S. 68f.

69 Vgl. zur Rolle der Familie in der Arzt-Patienten-Beziehung: Smith (2003), S. 336f.

70 Storch (1749), S. 153.

71 Vgl. Porter/Porter (1988), S. 188.

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Die Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn des 18. Jahrhunderts 133

Gesunden des Patienten folgt zuletzt das Stadium der Wiedereingliederung und Aufgabe der Patientenrolle (5).72

Nach Annahme der Krankenrolle, vor der Entscheidung, ob ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden soll oder nicht, versuchten die Kranken oft, sich selbst zu helfen. Immer wieder berichtet Storch von Frauen, die sich, bevor sie sich an ihn wandten, erst einmal selbst kurieren wollten. So nahm beispielsweise eine Patientin, die auf ihre Periode wartete, »nach eige-nem Rath, etwas zu Schwitzen ein«.73 Ein vor allem bei ärmeren Patienten beliebtes Heilmittel waren alkoholische Getränke mit Beimischungen. So versuchte eine andere Patientin, deren Regel ausblieb, sie »durch warmen Wein, mit Safran gewürzt, zu befördern«.74 Die Frau eines Schuhmachers

nahm sich vor, diese Verstopfung [hier: Ausbleiben der Regel] durch einen Trunck Herben, oder solches jungen und hefigten Bieres, welches noch im Brau=Hause in der Gähre stunde, zu heben; weil sie sich nun darzu heftig erzörnet hatte, bekam sie dar-auf starckes Grimmen und Drangen, als Geburts=Wehen, und darbey wechselnden Frost und Hitze.75

Deswegen wandte sich die Patientin dann doch an Storch, der sogleich die Einnahme verschiedener Medikamente verordnete. Der Übergang von der Selbstbehandlung zur ärztlichen Behandlung war fließend. Dabei dürften die zu erwartenden Behandlungskosten bei der Entscheidung, ob ein Arzt aufgesucht werden sollte, auch eine Rolle gespielt haben. Über die soziale Stellung hinaus gibt Storch nur selten Auskünfte über die ökonomischen Verhältnisse seiner Patientinnen. Vielleicht auch aufgrund seines schlechten Verhältnisses zu den ortsansässigen Apothekern unterstützte Storch sie je-doch bei der eingeschränkten Selbstbehandlung mit preiswerten Medika-menten ohne Beteiligung der Apotheker: »Dargegen riethe Herbam et flores Arnicae, als Thee zu brauchen. Denn viel Geld wollte sie nicht mehr an Arze=neyen wenden.«76

Die Annahme der Patientenrolle setzt voraus, dass Arzt und Patient zu-sammenarbeiten, was man heute mit dem englischen Begriff compliance be-zeichnet. Diese Zusammenarbeit funktionierte im Allgemeinen gut. Nur äußerst selten berichtet Storch über das angebliche Fehlverhalten einzelner Patientinnen: Eine

Patientin aber trauete sich nicht, etwas von denen Pulvern zu nehmen, weil sie von ei-nem Triebe derselben hatte raisoniren hören, bis ich sie an einem 6. Meilen entle-ge=nen Orte selbst besuchen muste.77

72 Döhner (1986), S. 26.

73 Storch (1749), S. 171.

74 Storch (1749), S. 278.

75 Storch (1749), S. 211.

76 Storch (1749), S. 214.

77 Storch (1749), S. 165.

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Die Art der Behandlung wurde üblicherweise zwischen Arzt und Patient abgesprochen, sogar regelrecht ausgehandelt. Der Arzt musste Überzeu-gungsarbeit leisten, Vertrauen gewinnen. Arzt und Patient teilten sich die Entscheidungsgewalt über die richtige Behandlung, wobei oft auch noch Verwandte, Freunde und Bekannte Einfluss auf die Entscheidung nahmen.78 Die Erwartungshaltung des Arztes, mit Medikamenten oder anderen The-rapien ganz bestimmte Wirkungen zu erzielen, führte dazu, dass die Patien-ten bei der Selbstbeobachtung den Fokus vermehrt darauf richteten. Die systematische Hervorbringung von Symptomen ist geradezu konstitutiv für die Arzt-Patienten-Beziehung.79 Ob die verordneten Medikamente tatsäch-lich auch eingenommen worden sind, konnte Storch zwar kaum überprü-fen. Klagen darüber, dass von ihm verordnete Aderlässe oder Schröpfkuren nicht vorgenommen wurden, fehlen in den untersuchten Fallberichten je-doch. Anders verhält es sich bei der Diätetik, insbesondere bei der Ernäh-rung. Hier rügt Storch das seiner Auffassung nach falsche Verhalten armer Leute:

Es ist bey dergleichen in Armuth lebenden Leuten gar gemein, daß sie meynen, es wä-re ungewohntes Bier= oder Wein=Trincken, und die sogenannte Kraft=Brühen, das beste Labsal vor ihre Patienten, gehen daher in vornehmer Leute Häuser und betteln dergleichen zusammen.80

Die ernährungsphysiologischen Nachteile der alkoholhaltigen Getränke seien den Armen nicht bewusst:

Denn Dürftige und Arme können sich nicht einbilden, daß bemittelte Leute, die Wein und Bier im Keller haben, solches in Kranck=heiten an die Seite setzen und, nach der Vor=schrift ihres Medici, in geringer Diaet leben sollten.81

Der tägliche Wein- und Bierkonsum war in der Frühen Neuzeit, auch weil alkoholische Getränke aus hygienischen Gründen dem Wasser vorgezogen wurden, sehr viel höher als heute.82 Das kalorienreiche Bier war nicht nur in Armenspitälern ein wichtiger Bestandteil der täglichen Kalorienzufuhr.83 Allerdings war der Alkoholgehalt von Wein und Bier niedriger als heute, und die Getränke wurden verdünnt konsumiert.84 Storch kommt immer wieder auf den Alkoholkonsum seiner Patientinnen zu sprechen. Sogar gleich zu Beginn eines Fallberichts führt er eine Bauersfrau als »Liebhaberin eines Schluck Brandweins«85 an, deren Konsum wohl nicht auf hygienische

78 Vgl. Beier (1987), S. 259.

79 Vgl. Dinges (2002), S. 113.

80 Storch (1749), S. 53.

81 Storch (1749), S. 53.

82 Vgl. Dülmen (2005), S. 69.

83 Vgl. Jütte (1991), S. 60.

84 Vgl. Münch (1998), S. 281.

85 Storch (1749), S. 172.

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Überlegungen zurückgeführt werden kann. Die langen Ausführungen Storchs zu diesem Thema und die wiederkehrenden Hinweise auf die fal-sche Diätetik der Patientinnen belegen, dass viele unter ihnen sich eben nicht an die ärztlichen Vorschriften hielten, wenn es um die Ernährung ging. Im Gegensatz dazu finden sich nur sehr wenige Fälle, in denen Patien-tinnen, wie oben beschrieben, die Einnahme von Arzneien verweigerten. Während der in Halle lehrende Mediziner Friedrich Hoffmann (1660-1742) Diätregeln wohlhabenden Frauen vorbehält, aber sie für Mägde und andere niedriggestellte Frauen ablehnt, verordnet Storch solche Regeln verschie-densten Patientinnen unabhängig von deren gesellschaftlicher Stellung.86

Über die Aufgabe der Patientenrolle findet sich naturgemäß eher wenig in den ärztlichen Fallberichten. Das Aufstehen aus dem Bett, als praktisches und symbolisches Ablegen der Krankenrolle, wird gelegentlich erwähnt. So berichtet Storch, eine Patientin habe sich so gut erholt, »daß sie wieder aus-ser dem Bette in einem Stuhle sitzen konnte«.87 In den meisten Fallberichten wird jedoch auf das Gesunden der Patientinnen nicht eingegangen. Kenn-zeichnend ist der Satz: »weiter erhielte keine Nachricht.«88

Religiöse Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung

Als in London 1665 die Pest ausbrach, sahen Ärzte, die Anhänger der helmontischen Lehre89 waren, darin eine willkommene Gelegenheit, ihren »gottlosen« galenischen Konkurrenten und der Öffentlichkeit die Überle-genheit ihrer von Gott inspirierten Methoden zu beweisen.90 Doch nicht nur im Konflikt unterschiedlicher medizinischer Lehren spielte die Religion eine Rolle. Sie war für die Konstruktion von Krankheitsvorstellungen in der Frühen Neuzeit von eminenter Bedeutung. Insbesondere die Reformation übte einen beachtlichen Einfluss auf die Tätigkeit und Vorstellungswelt von Ärzten und Patienten aus.

Beide Konfessionen versuchten gleichermaßen, ihre Gläubigen davon ab-zuhalten, magische Praktiken wie Heilzauber anzuwenden. Während die katholische Kirche des Mittelalters die außerkirchlichen Praktiken durch den Aufbau eines rivalisierenden Systems kirchlicher Magie zu verdrängen gedachte, bauten die Protestanten auf eine fundamental andere Lösung: Magische Praktiken wurden nicht nur als unchristlich, sondern auch als vollkommen nutzlos dargestellt.91 Die katholische Kirche zentralisierte zwar

86 Vgl. Sander (1998), S. 98-102.

87 Storch (1749), S. 282.

88 Storch (1749), S. 264.

89 Eine spiritualistisch geprägte und gegen die Humoralpathologie gerichtete iatrochemi-sche Lehre, deren Begründer Johann Baptist van Helmont war.

90 Grell (1996), S. 204.

91 Vgl. Thomas (1978), S. 332.

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schon auf dem Konzil von Trient (1545-1563) ihre Machtstrukturen, um so unter anderem auch den Wunderglauben besser kontrollieren zu können, aber erst im Zuge der Aufklärung wandte sie sich gezielt gegen bestimmte Formen des christlichen Wunderglaubens.92 Wunder waren mit den wissen-schaftlichen Mitteln der Zeit zu beweisen oder zu widerlegen.93 Die römi-sche Kurie schickte dazu naturwissenschaftlich geschulte Untersuchungsbe-auftragte an Wallfahrtsstätten. Den wissenschaftlichen Charakter dieser Un-tersuchungen belegt der Bericht Eusebius Amorts (1692-1775), der Mitte des 18. Jahrhunderts nach Ursberg reiste, wo totgeborene Kinder nach Wiederbelebungswundern getauft wurden. Für Amort war in diesem Zu-sammenhang die Frage nach der Unterscheidung von Leben und Tod von großer Bedeutung, die zu dieser Zeit Ärzte, Theologen und Moralisten glei-chermaßen beschäftigte.94

Nach protestantischer Auffassung sollte der Mensch gemäß 1. Mose 3,19 im Schweiße seines Angesichts arbeiten – sich also selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten helfen. Diese Auffassung führte dazu, dass Patienten in der Kombination von Gebet und Selbsthilfe ihr Wohl suchten – Selbsthilfe schloss in diesem Zusammenhang auch die Hilfe des Arztes mit ein.95 Lu-ther unterstützte sogar ausdrücklich die enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Geistlichen.96 Selbst Pietisten, die in normativen Schriften dafür plädierten, ein krankes Kind Gottes solle lieber eine Seelenprüfung vor-nehmen und sich in der Bibel vertiefen als Medikamente einnehmen, kon-sultierten in der Praxis Ärzte, Chirurgen und Apotheker und nahmen auch Arzneien ein.97 Die theologischen Normen setzten sich demnach nicht un-bedingt in der Alltagswelt durch. Auch eine klare Zäsur zwischen katholi-schen und protestantischen Vorstellungen lässt sich in theologischen Schrif-ten leichter als im Alltag der Menschen ausmachen. Archäologische Unter-suchungen und schriftliche Quellen belegen beispielsweise, dass man in protestantischen Gebieten totgeborene Kinder unter der Traufe des Kir-chendachs begrub, damit sie durch das vom Dach rinnende Regenwasser getauft würden.98 Man hielt so an überlieferten katholischen Vorstellungen fest, obwohl die Taufe aus protestantischer Sicht nicht heilsnotwendig war.

Storch vertrat die Auffassung, er könne seinen Patienten nur mit göttlichem Beistand helfen, betrachtete aber seine Aufgabe und Funktion als Arzt nicht als obsolet. Wichtigste Quelle zur Berufsethik Storchs ist ein von ihm he-

92 Vgl. O’Connell (1986), S. 108-110.

93 Vgl. Gélis (1998), S. 277.

94 Gélis (1998), S. 285.

95 Vgl. Thomas (1978), S. 331f.

96 Vgl. Lindberg (1986), S. 177f.

97 Ernst (2003), S. 246.

98 Vgl. Ulrich-Bochsler/Gutscher (1998), S. 265f.

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rausgegebenes und kommentiertes Werk, die »Praxis Stahliana, das ist Herrn Georg Ernst Stahls Collegum [sic!] practicum, welches theils von Ihm privatim in die Feder dictirt«.99 Dort heißt es, pietas, also Gottesfurcht oder Frömmigkeit, sei das erste Requisitum des Arztes. Im dazugehörigen Kommentar leitet Storch die Notwendigkeit der pietas aus der Bibel her. Die menschlichen Sünden seien direkte oder indirekte Ursache aller Krankhei-ten. Als unmittelbare Folgen von Sünde identifiziert er beispielsweise Ge-schlechtskrankheiten oder Unwohlsein nach übermäßigem Essen und Trin-ken. Indirekt lasse sich jede Krankheit auf die Erbsünde als Ursache zurück-führen, wobei Krankheit als Strafe für Sündhaftigkeit betrachtet wird. Daher hätten die meisten Ärzte die Angewohnheit, durch Zeichen auf Rezeptzet-teln göttlichen Beistand zu erbitten. Bei den Zeichen handle es sich um Ab-kürzungen wie J. J., das für »Jehova Juva« (»Gott hilf!«) steht, oder A. D. für »Auxiliante Deo« (»Mit Gottes Hilfe«).100 So fordert Storch in dem Prooe-mium zu Stahls »Collegum practicum«, wir sollten »nicht unsern Kräften und Verstande zu viel beymessen, sondern Segen und Gedeyen von dem Geber alles Guten erwarten«.101 Dies entspricht der pietistischen Vorstel-lungswelt, in der Gott seine Kinder durch Krankheit in Geduld übt und ihren Blick auf das Wesentliche lenkt, nämlich auf ihn selbst.102 Dem Arzt kommt dabei nicht zuletzt die Rolle eines Mittlers zwischen Gott und dem kranken Sünder zu, er ermahne »sowol den Kranken, als dessen Angehöri-ge, daß sie für das Heyl der Seelen sorgen möchten«.103 Nicht nur in den theoretischen Werken Storchs, sondern auch in seiner Autobiographie spielt die Religion durchaus eine Rolle. So sieht er es beispielsweise als »göttliche Fügung«104 an, dass er an seiner kränklichen Frau »mehr, als an viel hun-dert andern Patien=ten lernen«105 konnte. Vor dem Hintergrund solcher Aussagen lässt sich Storch als typischer Vertreter des Halleschen Pietismus einordnen, wo körperliche Symptome als gezielte Eingriffe Gottes galten. Dabei wurde Krankheit nicht als Zufall, sondern als für die individuelle religiöse Biographie sinnvolles Geschehen gedeutet.106 Darin spiegelt sich die auch von Luther unterstützte Auffassung wider, körperliche Gesundheit hänge in hohem Grad von der mentalen Verfassung ab.107 Im Gegensatz zur Darstellung in den theoretischen Werken und in der Autobiographie

99 Stahl (1732).

100 Stahl (1732), S. 4f. Vgl. auch Nussbaumer (1965), S. 12f.

101 Stahl (1732), S. 5.

102 Ernst (2003), S. 243.

103 Ernst (2003), S. 243.

104 Storch (1752), S. 16.

105 Storch (1752), S. 16.

106 Helm (2006), S. 203.

107 Lindberg (1986), S. 182.

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wird Religion in den Fallbeschreibungen vollständig ausgeklammert. Ledig-lich im ersten Band, dem Hebammenlehrbuch, finden sich »Christliche Gebete und Geistliche Betrachtungen, welche so wol Heb=Ammen als auch Schwangere, Gebährende und Wöchnerinnen in allerhand Fällen nützlich anwenden können«.108

Dem theoretischen Anspruch, Leib und Seele gleichermaßen behandeln zu wollen, wurde in der Praxis also nicht unbedingt Folge geleistet. Darin war Johann Storch allerdings kein Einzelfall, sondern eher ein typischer Vertre-ter der pietistischen Medizin.109 Auch die Rolle des Geistlichen wird durch die Mittlerrolle des Arztes noch lange nicht obsolet. Eine Quelle für das Verhältnis zwischen Religion und Medizin stellt das Werk »religio medici« des englischen Arztes Thomas Browne (1605-1682) aus dem Jahr 1642 dar. Das Buch erschien in 60 Ausgaben in verschiedenen Sprachen und fand weite Verbreitung. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Storch die 1680 in Leipzig erschienene deutsche Ausgabe kannte.110 Browne betrachtet Glaube und Vernunft als verschiedene Domänen, die für das Verständnis der Funk-tionsweise und Struktur des Universums gleichermaßen wichtig seien, da sie sich zueinander komplementär verhielten.111 Aufgabe des Arztes war es demnach, sich um die Kranken zu kümmern, wenn sie wieder gesund wer-den wollten. Demgegenüber hatte sich der Geistliche um die Sterbenskran-ken zu kümmern, denen der Arzt nicht mehr helfen konnte. Die kirchlichen Versuche, der Konsultation durch einen Priester auch im Hinblick auf eine mögliche Gesundung des Patienten eine bessere Prognose zuzubilligen als der Konsultation durch Ärzte, wurden von der Bevölkerung nicht ange-nommen.112

Der Prozess der Zurückdrängung universaler Erklärungsversuche – und damit auch kirchlicher Autorität – auf Phänomene wie Sterben und Tod war prägend für das 17. und 18. Jahrhundert. In seiner Arbeit über die »Entzauberung der Krankheit« stellt Bernd Steinebrunner die Hypothese Max Webers von der »Entzauberung der Welt« innerhalb des Theoriege-bäudes der Luhmannschen Systemtheorie dar. In der Frühen Neuzeit fand demnach ein Transformationsprozess von einer hochkulturell-stratifizierten zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft statt, dessen Kennzei-chen unter anderem die Entzauberung der Krankheit war.113 Ausgelöst wurde dieser Wechsel von fremd- zu selbstreferentiellem Denken durch die Umkehrung des »Prioritätsverhältnisses von Religion und Moral« (Niklas

108 Storch (1747), S. 1.

109 Helm (2006), S. 204.

110 Vgl. Williams (1905), S. 265-269.

111 Cunningham (1996), S. 12.

112 Vgl. Nussbaumer (1965), S. 47; O’Connell (1986), S. 114f.

113 Vgl. Steinebrunner (1987), S. 310f.

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Luhmann) bzw. durch die »Moralisierung der Religion« (Alois Hahn), denn sowohl Reformation als auch Gegenreformation erhoben die Moral zum Hauptbestandteil des religiösen Lebens. Damit einher gingen methodische Selbstkontrolle und -disziplinierung sowie das Erlernen und Beherrschen differenzierter Rollen.114

Die Vorstellungswelt Johann Storchs befindet sich genau am Scheideweg zwischen den oben genannten Systemen. So finden sich sowohl Hinweise auf selbstreferentielles als auch auf fremdreferentielles Denken in Abhängig-keit von Gott. Einerseits war der Eisenacher Arzt Kenner der medizinischen Theorie seiner Zeit und schrieb den Erfolg seiner Praxis seinem Fleiß zu115, andererseits war er von der Existenz göttlicher, gesundheitserhaltender Kräf-te überzeugt116. Ursachen für Krankheit und Heilung gab es für Storch demnach in beiden Sphären, die parallel zueinander existierten. In der pie-tistischen Vorstellungswelt liefen humoralpathologische und religiöse Erklä-rungsstränge nicht nur nebeneinander her, sondern waren regelrecht mit-einander verflochten.117 Eine mögliche Erklärung für diese zunächst para-dox anmutende Feststellung findet sich in Paracelsus’ »Opus Paramirum«:

Darauf die götliche Fürsehung wol gewisset hat, was bresten und krankheiten uns dar-aus [dem menschlichen Körper] entspringen würden. auf solchs vorwissen der gotheit hat got beschaffen die arznei und die verstendigen darauf, das ist ein arzt solch krank-heit zu erkennen und die arznei darauf wissen zu geben.118

Obwohl Paracelsus rund 200 Jahre vor Storch gelebt hat, wäre es durchaus denkbar, dass sich der Eisenacher Arzt ähnlich wie Paracelsus als Werkzeug Gottes betrachtete, das einer höheren Instanz zur Wirkung verhilft. Ein Be-leg dafür findet sich in Storchs Kommentar in der »Praxis Stahliana«, wo er die gute Beziehung des Arztes zu Gott als Vorbedingung für Heilungserfolg nennt, aber die Überprüfung der eigenen Religiosität in lutherischer Tradi-tion als Eigenverantwortung eines jeden Menschen identifiziert.119 Anders formuliert: Gott spielt zwar im Denken der Menschen im fremdreferentiel-len Sinn noch eine Rolle, baut aber bereits auf deren Mitwirken im selbstre-ferentiellen Sinne, wodurch er nach und nach als Sinngeber verschwindet. Auch die Auswertung von Patientenbriefen ergab, dass die Vorstellung von Krankheit als etwas schicksalhaft Vorherbestimmtes in der Frühen Neuzeit sukzessive an Bedeutung verlor. Vor allem Patienten aus gebildeten Schich-

114 Steinebrunner (1987), S. 313-315.

115 Vgl. Duden (1987), S. 67.

116 Vgl. Nussbaumer (1965), S. 13.

117 Ernst (2003), S. 251.

118 Zit. n. der Ausgabe Paracelsus (1925), S. 273f.

119 Vgl. Nussbaumer (1965), S. 13. Vgl. auch Richter (2002), S. 72-74.

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Matthias Blanarsch 140

ten suchten die Krankheitsursachen in der eigenen Lebensgeschichte und im eigenen Verhalten.120

Krankheitswahrnehmung und Körpervorstellung

Schlägt man in einem gängigen medizinischen Wörterbuch der heutigen Zeit nach, was eine Molenschwangerschaft ist, findet man die Definition: »Schwangerschaft, bei der nach Absterben des Embryos Reste von Eihüllen u. der Plazenta erhalten bleiben, zu Beschwerden führen u. evtl. entarten können.«121 Der Begriff μύλη (Mola) geht auf Hippokrates (ca. 460-370) zu-rück, der darunter alle Arten von falscher Empfängnis und Scheinschwan-gerschaften subsumierte.122 Eine ausführliche Beschreibung von Molen fin-det sich in Aristoteles’ (384-322) Werk »De generatione animalium«:

Es ist nämlich vorgekommen, dass bei einer Frau, die mit dem Manne Gemeinschaft gehabt und empfangen hatte, wie sie glaubte, zuerst mit der Dehnung ihres Leibes und auch sonst alles wie gewöhnlich zuging. Als aber die Zeit der Geburt kam, gebar sie nicht, und ihr Leib fiel auch nicht zusammen, sondern der Leib blieb drei bis vier Jahre in diesem Zustand, bis sie bei einer Durchfallerkrankung, die sie an den Rand des Todes führte, einen Fleischklumpen zur Welt brachte, den man Steinfrucht nennt.123

Ähnliche Beschreibungen finden sich auch bei Autoren der römischen Kai-serzeit, beispielsweise bei Galen (ca. 129-216)124 und Plinius (ca. 23-79)125. Die Gelehrten der Antike vertraten alle die Vorstellung, eine Mola sei das Produkt einer falschen Schwangerschaft. Andere Autoren, darunter Avicen-na (980-1037), waren der Auffassung, dass auch Jungfrauen eine Molen-schwangerschaft erleiden könnten, da es sich bei einer Mola nicht zwangs-läufig um eine falsche Empfängnis handle.126 Von den Humanisten wurden sowohl die Gelehrten aus dem römisch-griechischen Kulturkreis als auch der Arzt und Philosoph Avicenna rezipiert. Der Nürnberger Humanist Hartmann Schedel (1440-1514) verweist beispielsweise auf »Auicennam […] et alios preclaros medicos« (»Avicenna […] und andere berühmte Ärzte«).127

120 Vgl. Stolberg (2003), S. 59.

121 Molenschwangerschaft (2003), S. 337.

122 Vgl. Taussig (1907), S. 250.

123 Zit. n. Aristoteles (1959), S. 207.

124 Galen (1968), S. 633.

125 Plinius Secundus (1979), S. 53. Plinius wird des Öfteren fälschlicherweise als Urheber des Begriffs »Mola« angegeben, so beispielsweise noch in älteren Ausgaben des Pschy-rembel, vgl. Mola (1975).

126 Vgl. Taussig (1907), S. 252.

127 Zit. n. Schedel (1915/16), S. 256.

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Die Arzt-Patienten-Beziehung zu Beginn des 18. Jahrhunderts 141

In der Frühen Neuzeit findet man zunächst beide Auffassungen über die Ursache von Molenschwangerschaften nebeneinander, etwa in Jakob Rufs (1505-1558) »Trostbüchlein«. Ruf, der unter anderem als Hebammenprüfer in Bern tätig war, geht im ersten Kapitel des fünften Buches auf Molen-schwangerschaften ein.128 Dort findet sich sowohl die Vorstellung, eine Mo-la »erwachse von vnnützen bloeden vnd schwachen / somen des manns vnd wybs«129 (wahre Mola) als auch »von vilem vnd überflüssigen somen der frowen / so der liebe begirig / aber wenig gewaert werdind«130 (falsche Mola). Später lehrte der Amsterdamer Professor für Anatomie Friedrich Ruysch (1638-1731), dass Molen auch aus Überbleibseln der Plazenta ent-stehen könnten, die durch den Druck des Uterus zu Molen würden.131 Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Molae generationis (falsche Frucht, aber wahre Mola) und Molae nutritionis (falsche Mola) geht dann auf Johann Baptist van Lamzweerde (1640-1686) zurück, der in Köln als Professor für Anatomie tätig war und das erste Buch über Molenschwangerschaften schrieb.132 Die Definition von Mola, die man auch als Mondkalb, Teufels-brut, Windei, Kielkopf oder Nierenkind bezeichnete, wurde im Laufe der Zeit genauer.133 Nicht als Mola bezeichnet wurden dagegen Missgeburten (wahre Frucht) und die sogenannte Gebärmutter-Wassersucht, denn eine Mola »ist ein Wesen, das von Adern, Knochen und anderen Eingeweiden zusammen ge=sezet und unterschiedlich gebildet ist«.134

Etwas weiter gefasst ist Storchs Definition des Wortes Mola: Eine Mola sei alles, »was bey ei=nem Weibe, sie sey verheyrathet oder unverhey=rathet, ausser einer ordentlichen Frucht, sich fremdes in der Bär=Mutter findet, oder seinen Ausgang aus derselben suchet«.135

Storch folgt der Aufteilung in echte und falsche Molen, gibt aber zu beden-ken, er habe selbst in seiner fast 50-jährigen Praxis keinen Fall von Mola virginis, einer Form der falschen Molenschwangerschaft, erlebt.136 Dennoch geht er im Anhang des vierten Bandes der »Weiber=Kranckheiten« recht ausführlich auf diesen Sachverhalt ein. Es seien wohl Frauen, die unverhei-

128 Zu seiner Tätigkeit als Hebammenprüfer vgl. Steinke (2006), S. 90.

129 Zit. n. Ruf (2008), S. 462.

130 Zit. n. Ruf (2008), S. 462.

131 Vgl. Taussig (1907), S. 257.

132 Taussig (1907), S. 252. Dort wird verwiesen auf: Lamzweerde, Johann B. van: Historia naturalis molarum uteri, in qua de natura feminis, ejusque circulari in sanguinem regressu, accuratis disquiritur. Leiden 1686.

133 Kleinwächter (1897), S. 654.

134 Mutter=Kalb (1739), Sp. 1630.

135 Storch (1749), S. 13.

136 Storch (1749), S. 62f.

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ratet oder verwitwet waren, schon in den Verdacht gekommen, Ehebruch begangen zu haben, nachdem sie eine Molenschwangerschaft erlitten hat-ten. Hier sei der Arzt in der Pflicht, sich zu informieren, um nicht vor Ge-richt Unschuldige zu verstoßen.137 Abort und Mola sind für Storch zwei unterschiedliche Kategorien: Ein Abort sei ein Fötus, der mit seiner Nach-geburt dieselbe Proportion habe und mit ihr bis zum Zeitpunkt des Ab-gangs gemeinsam gewachsen sei. Eine wahre Mola hingegen sei eine ver-dorbene Frucht, die aufgehört habe zu wachsen und von der Nachgeburt überwuchert werde.138 Ursachen von Molenschwangerschaften lassen sich nach Storch in zwei Gruppen einteilen, Causa efficiens und Causae occasiona-les.139 Die Causa efficiens sei in letzter Konsequenz die Erbsünde, »welche sie [die Natur] zu allem Irrthum und Irrungen verführet«.140 Die Causae occasio-nales seien dagegen die Gemütsbewegungen der Frauen141, die Plethora oder Blutfülle142 sowie ein mangelhafter Samen des Mannes143 bzw. ein mangel-haftes Ovulum der Frau. Auch diese Ursachen führt Storch in letzter Kon-sequenz auf die Erbsünde zurück.144

Eine Molenschwangerschaft zu diagnostizieren, bereitete dem Arzt in Zeiten vor der Entdeckung von Ultraschall- und Röntgentechnik große Schwierig-keiten. Eine Diagnoseform war die Harnschau. Im medizinischen Schrift-tum der Frühen Neuzeit werden angeblich typische Merkmale des Harns von Schwangeren beschrieben.145 Nach Georg Ernst Stahl sind die Sym-ptome einer Molenschwangerschaft jenen, die bei einer normalen Schwan-gerschaft auftreten, nicht unähnlich. Sie unterschieden sich lediglich da-durch, dass sie nach der Hälfte der vermeintlichen Schwangerschaft nicht besser würden und von der Leibesfrucht keine Bewegung ausgehe.146 Die Symptome sind also vor allem von der Selbstwahrnehmung der Frau ab-hängig. Der Arzt ist dadurch bei der Diagnose vollkommen auf die Äuße-rungen der jeweiligen Patientin angewiesen.

Damals wie heute versuchten Menschen, die an einer Krankheit litten, de-ren Wesen konkret in körperlichen Begriffen zu verstehen. Zu begreifen, was

137 Storch (1749), S. 373.

138 Storch (1749), S. 62f.

139 Storch (1749), S. 181.

140 Storch (1749), S. 183.

141 Vgl. zur Temperamentenlehre auch Stolberg (2003), S. 116-121.

142 Vgl. zur Plethora auch Stolberg (2003), S. 121-124.

143 Vgl. zum Samenhaushalt Stolberg (2003), S. 207-211.

144 Storch (1749), S. 181.

145 Vgl. Stolberg (2009), S. 106; siehe zur Geringfügigkeit der sonstigen ärztlichen Dia-gnostik: Stolberg (2003).

146 Stahl (1732), S. 516f.

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im Körper vorging, wie verschiedene Beschwerden miteinander zusam-menhingen, welche Veränderungen im Körperinneren geschahen, welchen Gesetzen und Einflussmöglichkeiten die Krankheit unterlag, war für die Kranken und ihre Angehörigen von großer Bedeutung.147 Körperliche Empfindungen werden zunächst unmittelbar, das heißt auf einer vorsprach-lichen Ebene wahrgenommen. Trotz des Wandels der Körperkonzepte weist die sprachliche Reaktion auf Krankheit seit Jahrtausenden immer wieder-kehrende Charakteristika auf. Das wichtigste sprachliche Mittel, um Emp-findungen von Krankheit zum Ausdruck zu bringen, ist die Metapher.148 Storch schreibt beispielsweise über eine Patientin:

[Ich] mu=ste sie […] besuchen, und von ihr vernehmen, was massen vor 4. Tagen eine ungestaltete hautigt und fleischichte Mola von ihr gekommen; darauf sie überaus empfindli=che Schmerzen, sowohl im Kreuze, als in ano et utero, gespüret und noch davon gequälet würde, und wäre ihr nicht anders, als ob ein verschlossener Wind durch den constringirten Anum passiren wollte, der sich sodann nach dem Utero wendete.149

Hier wird der Wind als Metapher verwendet, hinter der eine spezifische Auffassung von Krankheit steht. Diese Vorstellung von Winden, die im Körper herumirren und allerhand Schaden anrichten, war bei der süddeut-schen Landbevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein weit verbreitet.150 In der präzisen Beschreibung ihrer Empfindungen waren die Patientinnen überaus einfallsreich. Eine Frau beispielsweise »[…] klagte aber eine solche Empfindung in de=nen Beinen, die ihr vorkäme, als ob sie auf Pelz gien-ge«.151 Oft wurden lebensweltliche Darstellungen und Worte gewählt, wie hier das Gefühl des Gehens auf Pelz oder die Empfindung: Es sei, »als ob sich al=les im Leibe herum walze«.152 Auch der Arzt Storch zieht häufig Vergleiche heran, um die Molen der Frauen in Größe und Form zu be-schreiben. Dabei reichen die Schilderungen von »unförmlicher Klum-pe[n]«153 über »Gestalt eines grossen Haasens Herze«154 bis zu »Gestalt eines kleinen Karpfens«155.

Untersucht man die Gründe, aus denen die Patientinnen den Arzt Johann Storch konsultierten, so kann man diese in drei Kategorien fassen: das Aus-

147 Stolberg (2003), S. 107.

148 Vgl. Goltz (1969), S. 248-252. Vgl. auch Ruisinger (2008), S. 112-114.

149 Storch (1749), S. 257.

150 Vgl. Stolberg (2003), S. 169.

151 Storch (1749), S. 94.

152 Storch (1749), S. 258.

153 Storch (1749), S. 73.

154 Storch (1749), S. 75.

155 Storch (1749), S. 139.

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bleiben von erwarteten Körperausscheidungen (der Regel), das unerwartete Auftreten von Ausscheidungen und Absonderungen (Blutungen, Mola) so-wie das Empfinden von Schmerz. Nur sehr wenige Frauen kommen bereits mit der Selbstdiagnose Molenschwangerschaft zu Storch.156 Die These Bar-bara Dudens, die Frauen hätten gewusst, woran sie litten, und der Arzt sei lediglich ein Umweg bei der Selbstbehandlung gewesen, steht dazu zumin-dest im Bereich der Molenschwangerschaften im Widerspruch.157 Storch war hier keineswegs nur die Instanz, welche die Mittel zur Behandlung wählte oder gar nur die Wahl der Patientinnen bekräftigte. Wenn in der Quelle auf stereotype Schilderungen der Patientinnen hin quasi automatisch bestimmte Behandlungen verordnet werden, muss dies nicht unbedingt be-deuten, dass die »Klage der Frauen schon die Antwort, die sie sich vom Arzt erwart[et]en«158, enthielt. Da die Storchschen Fallberichte u. a. Studen-ten und Ärzte belehren sollten, ist es viel wahrscheinlicher, dass der Autor hier exemplarisch bestimmte Symptombeschreibungen anführt, d. h. den Patientinnen in den Mund legt, um seinen Lesern die dafür richtige Be-handlungsmethode zu demonstrieren. Im Gegensatz zu Patientenbriefen ist es bei Fallberichten als Quelle immer zweifelhaft, ob die Patientinnen wirk-lich so sprachen, wie es darin wiedergegeben wird.

Die Gründe der Frauen, den Arzt Johann Storch aufzusuchen, sollen im Folgenden anhand einiger Auszüge aus den Fallberichten näher erörtert werden. Storch berichtet beispielsweise: Eine Frau hatte

gegen 13. Wochen Obstructionem Mensium, und also Vermuthung zum Schwanger-gehen; Nachdem sie sich aber den 9ten Julii auf dem Felde mit Kraut=Hacken, oder mit Aufrührung eines lockeren Erdreichs, in et=was bemühet, bricht das Geblüt starck bey ihr an, daß ganze Stücker von ihr fallen. Sie erschrickt darüber, und eilet mit star-cken Schrit=ten nach Hause, welches Gehen fast über Ver=mögen geschahe; Legte sich gleich ins Bett, be=kam Krampf in Händen und Füssen, und lag ohne Sinnen und Verstand, als ob sie von einem Paroxysmo epileptico also gehalten würde, wenn sie sich ermunterte, klagte sie über starke Geburts=Wehen.159

Hier findet sich sowohl das Motiv der ausbleibenden Regel als auch außer-gewöhnlich heftiger Blutungen. Akute Ursache für den Ausbruch der Be-schwerden ist schwere körperliche Arbeit. Charakteristisches Merkmal die-ser Beschreibung ist, dass die Frau zuerst vermutet, schwanger zu sein. Eine andere Patientin klagte über »nunmehro schon 8. Tage Brechen und Schmerzen im Unterleibe«.160 Wie im zuvor aufgeführten Text wird auch hier die krankhafte Absonderung von Flüssigkeit, diesmal das Erbrechen,

156 Storch (1749), S. 202.

157 Vgl. Duden (1987), S. 113.

158 Duden (1987), S. 113.

159 Storch (1749), S. 59f.

160 Storch (1749), S. 97.

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als Motiv, den Arzt zu besuchen, genannt. Die zweite Beschwerde ist der Schmerz:

Den 2ten Febr. nachdem ein Termin der Monat=Zeit sich geendiget hatte, lag sie 8. Tage steif darnieder, klagte einen schmerzhaften Ort neben dem Nabel rechter Seits, welchen sie auch von aussen nicht durfte anrühren, und innerlich machte es ihr Bren-nen, bis in den Halß, darbey sich dann und wann Schlucken äusserte […].161

Anhand der drei genannten Beispiele wird klar, dass Krankheit von den Frauen als Abweichen vom normalen Funktionieren ihres Körpers emp-funden wird. Sie suchen dann einen Arzt auf, wenn sie Schmerzen empfin-den oder ungewöhnliche Absonderungen von Blut wahrnehmen. Interes-sant für das zeitgenössische Krankheitsverständnis ist die Tatsache, dass im obigen Beispiel der Ort des Schmerzes präzise bestimmt wird. Darin spie-gelt sich der Wandel der Nosologie im 18. Jahrhundert wider. Der Ort, die räumliche Ausdehnung, die Intensität und das zeitliche Auftreten des Schmerzes wurden wichtige Indikatoren für die ärztliche Diagnose.162 Nach Foucault richtet sich dadurch der ärztliche Blick mit dem Wandel von der Frage »Was haben Sie?« zur Frage »Wo tut es Ihnen weh?« auf das kranke Organ. Damit beginnt sich die anatomisch-klinische Krankheitswahrneh-mung durchzusetzen.163

Die Art, wie Krankheit von Storch und seinen Patientinnen beschrieben wird, gibt Aufschluss über deren Krankheitsvorstellung. So wird sie von den Frauen oft personifiziert oder einfach als »Es« bezeichnet: »Abends lies-se sie sagen, daß es ihr sehr nach dem Herzen stiesse, und sie empfindliches Reissen an denen Brüsten verspüre«164, berichtet eine Patientin. Die Krank-heit wird als etwas Fremdes, dem Körper nicht Eigenes betrachtet. In dieser Ausdrucksweise spiegelt sich ein ontologisches Krankheitsverständnis wider, wie es der englische Arzt Thomas Sydenham (1624-1689) beschrieb. Nach ihm existierten Krankheiten als Species Morborum, die er ähnlich den Tier- und Pflanzenarten systematisch klassifizierte.165 Eine ontologische Krank-heitsauffassung wurde auch von Georg Ernst Stahls zeitweiligem Hallenser Kollegen Christian Wolff (1679-1754) vertreten.166 Im Gegensatz zu ihm war Stahl Anhänger einer synergetischen Theorie. In seinem medizinisch-anthropologischen Konzept fanden sich animistische und hermetische Vor-stellungen.167 Storchs Position ist schwierig zu bestimmen. Auf der einen Seite folgt er oberflächlich betrachtet dem synergetischen Konzept Stahls,

161 Storch (1749), S. 96.

162 Vgl. Rey (1993), S. 110.

163 Vgl. Jütte (1996), S. 51.

164 Storch (1749), S. 94.

165 Vgl. Knipper (2004), S. 31.

166 Vgl. Gerlach (1985), S. 43.

167 Vgl. Mauser (2000), S. 221-222.

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indem er seinem Naturbegriff folgend die Natur personifiziert und Krank-heit als deren Fehler deutet. Wie Duden feststellt, verwendete Storch den Begriff ›Natur‹ dabei allerdings eher unreflektiert.168 Auf der anderen Seite finden sich daher in der Beschreibung von Symptomen und Schmerzen Hinweise auf eine ontologische Krankheitsauffassung Storchs und seiner Patientinnen.

Schmerzen waren und sind trotz aller verfügbaren schmerzlindernden Mit-tel auch heute noch prägendes Element jedweder Krankheitserfahrung. Aus diesem Grund sind die Schilderungen der zu erduldenden Schmerzen auch ein wichtiger Bestandteil von Patientenbriefen. Darin beschreiben die Pati-enten einerseits die Schmerzen als besonders unerträglich und grausam, andererseits versuchen sie, ihrem Arzt durch möglichst präzise Schilderun-gen Aufschluss über ihre Schmerzerfahrung zu geben. Der Schmerz er-scheint darin häufig als körperfremder Eindringling.169

Solche Formulierungen, in denen der Schmerz oder eine Krankheit als au-tonomes Wesen dargestellt werden, finden sich auch bei Storch. Allerdings ist bei dieser Quelle immer unklar, ob die Patientinnen wirklich so spra-chen, wie es in den Fallberichten wiedergegeben wird. Storch berichtet bei-spielsweise: »Eine junge Ziegeldeckers=Frau ward […] von einem Gal-len=Fieber mit Cardialgie und Brechen zu Bette gelegt.«170 Das Fieber selbst tritt hier als autonomer Akteur auf, als ob es gleich einer Person die Patien-tin zu Bett zwingt. An anderer Stelle wird notiert: »die Kopf=Schmerzen hatten auch wieder vertobt«.171 Gleich einer tobenden Person treten hier die Kopfschmerzen in Erscheinung.

Natürlich unterliegen die Schmerzen den Gesetzen der menschlichen Ana-tomie und Physiologie. Dennoch prägen Kultur und innere Überzeugungen die Schmerzerfahrung des Individuums in vielerlei Hinsicht. Heute geht man beispielsweise davon aus, dass Schmerzen lediglich das Resultat einer Reizung bestimmter Nervenbahnen sind, quasi elektrische Impulse.172 Bei Storchs Patientinnen tauchen die Krankheiten und die damit einhergehen-den Schmerzen dagegen als tobende Personifizierungen, autonome Wesen und umherirrende Winde auf. Barbara Duden stellte fest, man könne sich nicht über das eigene Körperverständnis den historischen Körpern nähern, weil jenes nicht nur biologisch, sondern auch sozial bestimmt sei.173 Der Frage, ob Storchs Patientinnen anders empfanden als Menschen in anderen

168 Vgl. Duden (1987), S. 195-198.

169 Vgl. Stolberg (2003), S. 42f.; vgl. hierzu auch Götz (2007), S. 111f.

170 Storch (1749), S. 264f.

171 Storch (1749), S. 258.

172 Vgl. Morris (1994), S. 10-13.

173 Vgl. Duden (1987), S. 13f.

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Epochen oder ob sie dieselben Empfindungen hatten und sich diese ledig-lich im zeitlichen Kontext anders erklärten und deuteten, geht Duden dabei allerdings nicht auf den Grund.174 Für einen ahistorischen Körper spricht jedoch, dass die Symptombeschreibungen in Storchs Fallberichten stark denen ähneln, die auch ein Arzt in der heutigen Zeit zu hören bekommen würde. Erst wenn Erklärungs- und Deutungsmuster für Symptome kon-struiert werden, kommt die Krankheitsvorstellung der Zeit zum Tragen. Al-lerdings lassen sich Symptombeschreibung und Erklärung nicht immer trennen. Eine Modekrankheit wie beispielsweise die Hypochondrie als Krankheit des Verdauungsapparates in der Aufklärungszeit können wir heu-te kaum nachempfinden.175

Resümee

Die Storchsche Patientenschaft umfasste nahezu alle sozialen Schichten, das heißt, seine Fallberichte stellen auf den ersten Blick ein recht umfassendes Abbild der ärztlichen Versorgung und damit auch der Arzt-Patienten-Beziehung in Eisenach zu Beginn des 18. Jahrhunderts dar. Allerdings war Johann Storch nicht der einzige Anbieter medizinischer Leistungen. Neben ihm praktizierten auch Chirurgen, Apotheker und Hebammen. Während das Verhältnis zu den Chirurgen eher kooperativ geprägt war, stand Storch mit Apothekern und anderen Ärzten in direkter Konkurrenz. Dies relativiert den Anspruch, eine umfassende Darstellung zu bieten, insbesondere dann, wenn man der Annahme folgt, dass noch weitere Heiler ohne jede Appro-bation tätig gewesen sein werden. Die Selektion, die Storch ohne Zweifel bei der Wahl der zu publizierenden Fallberichte vornahm, verengt das Bild noch weiter. Dies bedeutet, dass nur ein sehr geringer Ausschnitt des Medi-zinalwesens gezeigt wird – noch dazu aus ärztlicher Perspektive.

Vor dem Hintergrund der ärztlichen Praxis Johann Storchs erscheinen die theologisch-medizinischen Abhandlungen der Zeit in neuem Licht. Gott spielte im Beziehungsgeflecht zwischen Arzt und Patient zu Beginn des 18. Jahrhunderts durchaus noch eine Rolle. Es fällt aber auf, dass die Religion zwar in den theoretischen Abhandlungen sehr großgeschrieben wurde, ihr aber in der Praxis – zumindest bei Johann Storch – schon keine explizite Funktion mehr zugedacht war. Darin spiegelt sich der Wandel vom fremd- zum selbstreferentiellen Denken im 18. Jahrhundert.

Der Arzt Johann Storch und seine Patientinnen lebten in derselben Vorstel-lungswelt und teilten weitgehend ähnliche Gedanken über Krankheit und Krankheitsursachen. Sowohl der Arzt als auch die behandelten Frauen wa-ren in der humoralpathologischen Weltsicht verwurzelt. Auf Praxis und Vorstellungswelt Johann Storchs hatte auch sein Vater maßgeblichen Ein-

174 Vgl. Laqueur (1993), S. 159.

175 Vgl. Götz (2007), S. 120.

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fluss, der als Empirikus mit Hilfe von Kräutern und medizinischen Büchern Patienten behandelte.176 Zwischen der professionellen Medizin eines Johann Storch, der gerade einmal zwei Jahre studiert hatte177, und der sogenannten Laienmedizin kann daher keine klare Trennungslinie gezogen werden. Den Arzt deshalb lediglich als bestätigende Instanz für die sich eigentlich selbst behandelnden Patientinnen zu betrachten, würde seine Rolle als ausgebilde-ter und angesehener Ratgeber – zumindest was den Bereich der Molen-schwangerschaften angeht – verkennen. Aus der Kenntnisbalance zwischen Arzt und Patientinnen folgte allerdings, dass die individuelle Behandlungs-methode nicht allein vom Arzt festgelegt, sondern zwischen den Beteiligten ausgehandelt wurde. Soweit dies aus der Quelle ersichtlich ist, verhielten sich die Patientinnen hinsichtlich der Medikation auch dementsprechend. Deutlich schlechter war es um die compliance bestellt, wenn man den Blick auf die Diätetik richtet. Den aus seiner Sicht oft ungehemmten Alkoholge-nuss und die unangemessene Ernährung seiner Patientinnen konnte der pietistische Arzt Johann Storch kaum bremsen.

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176 Storch (1752), S. 10.

177 Vgl. Duden (1987), S. 69.

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Europas ältestes Sterbehospiz? Das Nürnberger Kranken-haus »Hundertsuppe«, 1770-18131

Michael Stolberg

Summary

The First Hospice for the Dying in Europe? The ‘Hundertsuppen’-Hospital in Nuremberg, 1770-1813

Hospices for terminally ill and dying patients have so far been considered an ‘invention’ of the late 19th century. Based on the analysis of admission journals and other archival sources, this paper presents the hospital ‘Hundertsuppe’ in Nuremberg as an institution which already exhibited most characteristics of a modern hospice 100 years before that. Established, in 1770, as a hospital for chronic diseases, it served almost from the start pri-marily as an institution for fatally ill, poor patients, who could spend the last months, weeks or days of their life in relative comfort, with nursing and spiritual and medical care. This primary function was explicitly accepted by those in charge of the hospital. It is evi-denced by an extraordinarily high mortality of almost 70 %, with almost two-thirds of the patients staying for less than 3 months and ‘consumption’ being the foremost cause of death. In conclusion, the ‘Hundertsuppe’ is discussed as an exemplary case of an institu-tion for the dying which arose due to the insufficient care for incurable and dying patients in the new ‘curative’ hospitals; the first English hospices in the late 19th century and the influential St. Christopher’s Hospice in the 1960s, commonly attributed to charismatic individual founding figures like Howard Barrett and Cicely Saunders, are shown to have originated from similar contexts.

Einführung

Am 22. Oktober 1770 wurde der schwindsüchtige Nadlergeselle Johann Andreas Bock in das Nürnberger Stadtalmosenamts-Krankenhaus in der Judengasse eingeliefert. Im Volksmund »Hundertsuppe« genannt, war das Krankenhaus erst kürzlich eröffnet worden, und Bock war einer der ersten Patienten. Er sollte nicht lange bleiben. Neun Tage später war er tot. Einen Tag nach seinem Tod wurde eine 69-jährige Patientin mit »Wassersucht« aufgenommen, einer anderen damals gefürchteten, oft tödlich verlaufenden Krankheit. Sie starb am folgenden Tag. Der nächste Patient, der schwind-süchtige Nagelschmiedsgeselle Löwlein, blieb etwas länger am Leben. Er wurde nach seiner Aufnahme am 11. November über mehrere Wochen hinweg versorgt, bis er kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, verstarb. Auch die lungensüchtige Metzgerstochter, die wenige Tage nach ihm, am 15. November, aufgenommen wurde, blieb noch mehrere Wochen am Le-ben, bis sie nach gut anderthalb Monaten, am 4. Januar des folgenden Jah-res, verschied. Wenige Tage nach ihrem Tod, am 7. Januar, kam eine aus-

1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Geschichte der Palliativmedizin« (STO 193/5-1 und 193/5-2).

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gezehrte Borstenmacherstochter in Behandlung – und starb zehn Tage spä-ter.2

Die Liste ließe sich fortsetzen. Von den ersten 24 Patienten verstarben 21 im Krankenhaus.3 In der Folgezeit stieg der Anteil jener Patienten, die als »genesen« wieder entlassen wurden, etwas an, doch die Sterblichkeit blieb sehr hoch. Von 526 Patienten, die in den ersten 30 Jahren von Juli 1770 bis Juni 1800 versorgt wurden4, verstarben 366 – also fast 70 %; 36 weitere wurden zudem mit ungewissem Ausgang in andere Häuser verlegt oder verließen das Haus vorzeitig. Dabei trug die Einrichtung den Namen »Krankenhaus« offenbar zu Recht. Es handelte sich keineswegs um eines jener traditionellen Pfründnerhospitäler, die – eher einem modernen Alten- und Pflegeheim vergleichbar – alte und arbeitsunfähige Menschen für ihre letzten Lebensjahre versorgten. Die Hälfte der aufgenommenen Patienten war jünger als 44 Jahre, und die meisten fanden sich mit der Diagnose einer klar umschriebenen, oft schwerwiegenden Krankheit ein.

Wie kam es aber dann zu dieser Sterblichkeitsrate, die weit höher war, als aus anderen Krankenhäusern jener Zeit überliefert ist?5 Waren die Verhält-nisse unhygienisch, die Ernährung unzureichend, die medizinische Behand-lung schlecht? Das war der Verdacht, den Georg Wolfgang Eichhorn äu-ßerte, ein rühriger Nürnberger Arzt, der sich damals energisch um eine Verbesserung der örtlichen Gesundheitsversorgung bemühte und den Bau eines modernen allgemeinen Krankenhauses forderte. Im Vergleich zur »Hundertsuppe«, so stellte er 1801 fest, sei selbst die Sterblichkeit von bis zu 25 % im Hôtel-Dieu und dem Krankenhaus Bicêtre in Paris, die man einst »für die ärgsten Mördergruben gehalten«, noch gering.6 Doch der verant-wortliche Krankenhausarzt, Johann Jakob Baier, legte eine Liste der Auf-nahmediagnosen aus den vergangenen zwei Jahren vor, in der »Lungen-sucht« und »Auszehrung« mit großem Abstand vorherrschten.7 Diese Liste

2 StAN, C23/I 2, Aufnahmebuch.

3 Eine weitere Patientin wurde nach zwei Monaten entlassen, aber 1772 wiederaufge-nommen und verstarb dann ebenfalls im Krankenhaus.

4 Insgesamt verzeichnen die Aufnahmebücher 556 Einträge; davon entfallen 30 auf Patienten, die das Haus schon einmal – und im Einzelfall bis zu dreimal – aufgesucht hatten.

5 Im Würzburger Juliusspital beispielsweise lag die Sterblichkeit im frühen 19. Jahrhun-dert nur bei gut 5,9 %; vgl. die Beiträge zu Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995). Weitere Daten zu zeitgenössischen Häusern in den Beiträgen zu Labisch/Spree (2001).

6 StAN, D15 S14 Nr. 13, Auszug aus dem Konferenzprotokoll vom 29.5.1801 zu einem Bericht Eichhorns.

7 StAN, D15 S14 Nr. 13, »Verzeichniß der Kranken, welche vom 1sten Jenner 1798, bis zum 1. September des gegenwärtigen Jahres sind in das Krankenhauß aufgenommen worden, woraus die dem H. Dr. Eichhorn so unbegreiflich große Sterblichkeit, jedem, der nur einigen Begriff von Krankheiten hat, sehr begreiflich werden wird.«

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zeige, so Baier, »daß ein grosser, ja wol der gröste Theil der aufgenomme-nen Personen« komme, »damit sie nicht ohne allen Beystand auf der bloßen Erde liegen und unter tausend Qualen verschmachten dürffen, sondern doch wenigstens auf einem Bette ihr Leben beschliessen können«.8 »Dieser Beweis«, so wies denn auch der Vertreter des Almosenamts die Kritik an der hohen Sterblichkeit zurück, »würde nur von Gewicht seyn wenn lauter Kranke um curirt zu werden allda aufgenommen würden.« Der größte Teil der Patienten komme aber gar nicht, »um curirt zu werden, sondern [um] unter wolthätiger Pflege zu sterben«. Viele Arme würden »lediglich zu Er-reichung des Endzwecks aufgenommen, damit ihre Leiden in den lezten Lebenstagen erträglicher gemacht werden, und sie nicht bey dem Mangel aller Bedürfnisse auf eine verzweiflungsvolle Art aus der Welt gehen dür-fen«.9

Geschichte der Sterbehospize – zum Stand der Forschung

Die unmissverständlichen Worte, mit denen das Krankenhaus »Hundert-suppe« hier von den Verantwortlichen als Zuflucht für Todkranke und Sterbende charakterisiert wurde, bergen aus historischer Sicht eine kleine Sensation. Angeregt durch die rasche, weltweite Ausbreitung von Sterbe-hospizen in den letzten 30 Jahren, haben sich Historiker auf die Suche nach möglichen Vorläufern und Prototypen des berühmten Londoner »St. Chris-topher’s Hospice« gemacht, dessen Gründung durch Cicely Saunders im Jahr 1967 weithin als Initialzündung der modernen Hospizbewegung gilt.10 Einige Autoren haben in diesem Zusammenhang auf die abendländischen Spitäler und Hospize als angebliche Vorläuferinstitutionen verwiesen. Doch die mittelalterlichen Hospize boten in erster Linie eine Herberge für Reisen-de und Pilger, und die vormodernen Hospitäler dienten (vereinzelt) der medizinischen Behandlung von heilbaren Kranken oder versorgten (zu-meist) ein breites Spektrum von gebrechlichen, pflegebedürftigen und inva-liden Menschen sowie zuweilen auch »Irre« und Epileptiker.11 Manche der zur Heilung aufgenommenen Kranken ließen zwar binnen weniger Wochen ihr Leben, und viele der alten und gebrechlichen Insassen starben letztlich

8 StAN, D15 S14 Nr. 13, Rechtfertigungsschreiben des Dr. Baier vom Herbst 1801 (undatierte Kopie).

9 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801.

10 Humphreys (1999); Humphreys (2001); Clark (2000); s. a. den Überblick bei Lewis (2007), S. 20-42. Zur weiteren Entwicklung und Ausbreitung des Hospizwesens vgl. insbesondere Siebold (1992); Stoddard (1992); Buck (2005); zu den deutschen Ent-wicklungen vgl. Seitz/Seitz (2002).

11 Die Geschichte von Hospital und Krankenhaus in der Vormoderne erfreut sich seit einigen Jahren wieder lebhaften Interesses. Hier seien nur beispielhaft einige neuere Arbeiten und Überblickswerke genannt: Montandon (2001); Matheus (2005); Watzka (2005); Jütte (1996); Aumüller/Grundmann/Vanja (2007); Scheutz/Sommerlechner/Weigl/Weiß (2008).

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irgendwann, oft nach Jahren oder Jahrzehnten, im Hospital. Als Zuflucht für Todkranke und Sterbende aber fungierten diese Häuser allenfalls gele-gentlich, am Rande.

Während sich Vertreter der Palliativmedizin weiterhin dennoch auf diese Tradition berufen oder gar das alte, im Französischen bis heute für »Kran-kenhaus« gebräuchliche Wort »hospice« als Bezeichnung für ein Sterbehos-piz missverstehen, kommt die jüngere Geschichtsforschung einmütig zu dem Schluss, dass die Charakterisierung des vormodernen Hospitals als »Vorläufer« des modernen Sterbehospizes irreführend ist.12 Die älteste bis-lang bekannte Einrichtung, die primär der Aufnahme von todgeweihten und sterbenden Kranken diente, datiert vielmehr nach bisherigem Wissens-stand auf das Jahr 1879. Damals gründeten die »Sisters of Charity« »Our Lady’s Hospice for the Dying« in Harold’s Cross bei Dublin als Ergänzung zum »St. Vincent’s Hospital«, das sie in der Stadt selbst unterhielten.13 Das von manchen Autoren als ältestes Hospiz genannte, 1843 gegründete »Hospice« der »Dames du Calvaire« in Lyon erweist sich dagegen bei ge-nauerer Betrachtung als Einrichtung für pflegebedürftige Frauen, insbeson-dere für solche, die an chronischen Geschwüren litten und regelmäßig ver-bunden werden mussten, nicht als Einrichtung für Todkranke und Sterben-de.14 Dem Dubliner Hospiz folgten bald das »Free Home for the Dying«, »St. Luke’s House« und »St. Columba’s Hospital« sowie weitere, ähnliche Einrichtungen in London, in denen Krebsleidende und andere terminal Kranke aus den Reihen der »ehrbaren Armen« für die letzten Wochen oder Monate ihres Lebens medizinisch und pflegerisch betreut wurden.15

Wenn das Nürnberger Krankenhaus »Hundertsuppe«, wie die Verantwort-lichen behaupteten, tatsächlich in erster Linie ein Ort war, an den schwer-kranke Menschen kamen, um »unter wolthätiger Pflege zu sterben«, wäre es somit nach heutigem Wissensstand die mit Abstand älteste medizinische Einrichtung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, die, in mo-

12 So formulieren Clark/Seymour (1999), S. 66: »The idea that hospices, as places con-cerned specifically with the care of the dying have a history stretching back into early times is however misleading, and serves little purpose in advancing our understanding of such care in the past.«

13 Butler (1980); Healy (2004). Bereits 1870 hatten die »Sisters of Charity« St. Patrick’s in Cork eröffnet, das primär für Krebskranke konzipiert war, aber in der Praxis vor al-lem Schwindsüchtige aufnahm (vgl. Healy (2004), S. 3f.). Als unbegründet hat sich dagegen die Behauptung von Goldin (1981), S. 390, entpuppt, die »Irish Sisters of Charity« hätten bereits in den 1830er Jahren in Australien ein Sterbehospiz eröffnet; vgl. Kerr (1993); Clark/Seymour (1999), S. 67. Zu Planung und Eröffnung des – tat-sächlich erst 1890 von den »Sisters« gegründeten – »Sacred Heart Hospice« in Dar-linghurst/Sydney s. insbesondere Donovan (1979), S. 230f.

14 Siehe dagegen Martin (1908), S. 103-106; Reymond (2001); Desfourneaux (2002).

15 Goldin (1981); Clark/Seymour (1999); Murphy (1989); zur jüngeren Entwicklung vgl. beispielsweise Clark (1999); Hayley/Sachs (2005).

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derner Begrifflichkeit, als Sterbehospiz fungierte. Im Folgenden soll das Haus vor diesem Hintergrund genauer untersucht werden. Die Analyse kann sich hierbei auf eine vergleichsweise gute archivalische Überlieferung stützen. Es sind nicht nur diverse Untersuchungsberichte und ärztliche Gut-achten, Budgetaufstellungen, Aufzeichnungen über die vorhandenen Betten und sogar Nachlassverzeichnisse und Aussagen einzelner ehemaliger Patien-ten überliefert. Es gibt auch zwei über den gesamten Zeitraum von 1770 bis 1813 parallel geführte handschriftliche Aufnahmebücher.16 Sie verzeichnen für jeden einzelnen Patienten zumindest Name, Geschlecht, Alter, Diagnose und den Aufnahme- und Sterbe- bzw. Entlassungstag, meist auch den Beichtvater sowie den Beruf des Patienten und den Namen und Beruf der Eltern, manchmal ergänzt durch die Angabe des Familienstands oder der Pfarrei oder durch Hinweise auf Besonderheiten des einzelnen Falls, wie die Verlegung in ein anderes Haus oder die unmittelbare Übernahme als Kran-kenwärterin.

Die »Hundertsuppe«

Mit rund 25.000 Einwohnern, einer alten Handelstradition und vielfältigen gewerblichen Aktivitäten war die Reichsstadt Nürnberg eine der größten und bedeutendsten Städte im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Die Ge-sundheitsversorgung der Stadt galt in vielfacher Hinsicht als vorbildlich. Mit dem Heilig-Geist-Spital verfügte Nürnberg über eine weithin bekannte Einrichtung, die im Gegensatz zu vielen anderen Hospitälern der Frühen Neuzeit stets auch eine dezidiert kurative Funktion erfüllte, indem man hier, nach dem Willen des Stifters, Betten für mindestens 128 heilbare Kranke vorhielt, die von Ärzten und Chirurgen versorgt wurden.17 In einem Bericht über die städtische Krankenversorgung entwarf das für die Armenpflege zuständige Almosenamt 1769 denn auch ein insgesamt recht befriedigendes Bild der ärztlichen Betreuung jener Armen, die sich nicht, wie die Mehrheit der Bevölkerung, aus eigenen Mitteln eine ausreichende Pflege und medizi-nische Versorgung zu Hause leisten konnten und niemand hatten, der sich um sie kümmerte.18 Seit langem habe die städtische Obrigkeit für die Ar-menkranken vorzügliche Einrichtungen unterhalten. Patienten mit hitzigen, ansteckenden Krankheiten würden im Schauhaus versorgt. Patienten mit

16 StAN, C23/I 2 und C23/I 3. Für das erstgenannte Journal zeichnete der Hausmeister verantwortlich; auf den hinteren Seiten enthält es weitere Eintragungen, beispielsweise über den Bestand an Betten und Büchern und Aufstellungen über die Verpflegungs-kosten. Das zweite Aufnahmebuch stammt von unbekannter Hand und weist eine deutlich sauberere, an Kanzleischrift angenäherte Schrift auf. Es stimmt mit dem vom Hausmeister geführten Buch weitestgehend überein, ist aber manchmal knapper gehal-ten, und teilweise fehlt die Diagnose. Vielleicht wurde es vom zuständigen Vertreter des Almosenamts geführt.

17 Knefelkamp (1989); Knefelkamp (2005), S. 184-189.

18 StAN, D1 209, Bericht des Stadtalmosenamts vom 22.7.1769.

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Syphilis, Krätze und ähnlichen Leiden fänden im Sebastiansspital Unter-kunft. Probleme, so räumte man jedoch ein, gebe es mit der Betreuung von Armenkranken, die in diesen beiden Häusern keine Aufnahme finden könn-ten. Das seien vor allem jene, die an langwierigen, nicht-ansteckenden Krankheiten litten. Sie würden zwar durch »besonders verpflichtete Kran-kenwärter und -wärterinnen« versorgt, zu diesen »auf die Stube und in die Kost« gegeben. Doch Wart und Pflege seien oft schlecht. Die Wärter und Wärterinnen seien »mehrentheils aus der lüderlichsten Sorte« und achteten eher auf den eigenen Vorteil. Die Zimmer seien häufig wenig geeignet und schlecht geheizt, die Kost mangelhaft, so dass die Kranken auch selten wie-derhergestellt würden. Auch der Stadtarzt Johann Jakob Baier beklagte das Fehlen einer stationären Einrichtung für Patienten mit langwierigen Krank-heiten, »welche doch dabey von aller Menschen Hülfe verlassen waren, ja wohl bisweilen von denen Haußherren nicht länger in dem Hause wolten gedultet [sic] werden«. Zwar hätten sich immer »Weiber« gefunden, die die-se Kranken »zu sich auf die Stube genommen und sie gegen ein bestimmtes Wart-Geld zu versorgen versprochen haben«. Doch die Zimmer seien »durchgängig klein« und »zumal wann mehrere Menschen beysammen lie-gen sollen, höchst ungesund«.19 Das Almosenamt schlug deshalb vor, für diese Fälle ein kleines Krankenhaus für 20 bis 30 Patienten einzurichten. Damit könne man »ohne viel größern Aufwand« einer höheren Zahl von Patienten zugleich eine bessere Versorgung bieten. Da sie »nicht wie bisher in der ganzen Stadt vertheilt, sondern an einem Ort gröstentheils beysam-men wären«, würden die Ärzte und Chirurgen die Kranken nämlich »öfters besuchen und mehr Fleis in die Cur adhibiren«.20

Ein geeignetes Gebäude hatte man schon gefunden: das ehemalige Wirts-haus »Zur weißen Cronen« in der Judengasse, das aufgrund der Insolvenz des Vorbesitzers einer Stiftung zugefallen war.21 Es biete ausreichend Platz. Im Erdgeschoss könnten ein paar Zimmer für die Wärter und in den bei-den darüberliegenden Stockwerken die Krankenstuben eingerichtet werden. Als Krankenwärter sollten zwei gut beleumundete, verheiratete, kinderlose Bürger mit ihren Ehefrauen dienen, die »eine solche Profession haben, wel-che sie dabey zu treiben im Stande wären«. Man würde ihnen »ein gewisses Einkommen« verschaffen, das sie durch ihre gewerbliche Arbeit ergänzen könnten. Im Frühjahr 1770 wurde das Vorhaben, mit geringen Modifikati-onen, genehmigt: Es sollten zunächst nur ein Wärterehepaar eingestellt und nur acht bis zehn Patienten in eine Stube im Erdgeschoss aufgenommen werden, um das Haus dann nach und nach für weitere Kranke herzurich-

19 StAN, D1 209, Bericht von Dr. Johann Jakob Baier, 5.8.1769 (Abschrift).

20 StAN, D1 209, Bericht des Stadtalmosenamts vom 22.7.1769.

21 Das Gasthaus befand sich dem Nürnberger Stadtlexikon, Stichwort »Wunderburggas-se«, zufolge in der spätmittelalterlichen, ursprünglich der Familie Welser gehörenden sogenannten »Wunderburg« (http://online-service.nuernberg.de/stadtlexikon/start.fau?prj=lex, letzter Zugriff: 27.11.2009).

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ten. Die laufenden Ausgaben sollten aus der Wochen-Almosen-Kasse finan-ziert werden, also aus den wöchentlich eingesammelten, freiwilligen Spen-den der Bürgerschaft.22 Im Juli 1770 wurden die ersten sechs Patienten auf-genommen.23

Das alte Gebäude hatte einige Mängel. Das verantwortliche Almosenamt gestand selbst ein, dass das Erdgeschoss mit der Krankenstube feucht sei.24 Die Pläne, in den oberen Stockwerken mehrere Krankenstuben einzurich-ten, wurden aber offenbar nicht verwirklicht. Schon im Jahr 1794 schlug das Amt vielmehr vor, das Krankenhaus aufzulösen und die Kranken in das viel geräumigere Sebastiansspital vor der Stadt zu verlegen, das für Pa-tienten mit Geschlechtskrankheiten, Krätze und Krebsschäden bestimmt war. Gegner wandten jedoch ein, das Sebastiansspital sei zu abgelegen, und der moralische Makel, der dem Haus als »Franzosenhaus«, also als Einrich-tung für Geschlechtskranke, anhänge, würde dazu führen, dass sich die Kranken nicht gerne dorthin bringen lassen würden. Im Übrigen wäre es viel einfacher, wenn der Krankenwärter ins Parterre des Krankenhauses ziehen würde und die Patienten in dem gesünderen 1. Stock untergebracht würden.25 Als Dr. Eichhorn das Krankenhaus im Jahr 1800 besuchte, wa-ren die meisten Kranken aber immer noch gemeinsam in einer Stube im Erdgeschoss untergebracht.26 Erst 1813 wurde das Haus schließlich, vor allem wegen der schlechten räumlichen Verhältnisse, geschlossen, und die Insassen kamen in eine neu eingerichtete Abteilung des nahen Heilig-Geist-Spitals.27 Bis dahin verzeichneten die Aufnahmebücher insgesamt 1005 Aufnahmen.

Die Verantwortung für Wart, Pflege und Verköstigung übernahm als Hausmeister für mehr als 30 Jahre der Gürtler Peter Grüßmeyer (auch Greismeier oder Grüßmayer), dem später seine Frau Maria Clara zur Seite trat. Sie erledigte die anfallenden Arbeiten, nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1800, als »Hausmeisterin« dann offenbar allein.28 Ihnen ging eine

22 StAN, D1 209, Antrag des Stadtalmosenamts vom 7.3.1770 und Genehmigungs-schreiben des Rats der Stadt vom 8.3.1770.

23 StAN, C23/I 2, Aufnahmebuch; vier Patienten kamen am 9. Juli, zwei weitere folgten am 10. und 11. Juli.

24 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801.

25 StAN, D15 S14 Nr. 12. 1803 wurde ähnlich ergebnislos eine Umnutzung des Schul-gebäudes von St. Jakob als Krankenversorgungsanstalt für 25 bis 30 Patienten erwo-gen (StAN, B1/II, Bauamt Akten, LIX/3a).

26 StAN, D15 S14 Nr. 13, Auszug aus dem Konferenzprotokoll vom 29.5.1801.

27 StAN, C23/I 2, Vermerk im Anschluss an den letzten Patienteneintrag im Juli 1813.

28 StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808; die Hausmeisterin bekam 1808 wie schon 1770 vierteljährlich 13 fl.

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Magd oder Wärterin zur Hand29, die wie die Hausmeister im Krankenhaus schlief – vermutlich, wie aus anderen Häusern überliefert, gemeinsam mit den Patienten in der Krankenstube. Geschultes Pflegepersonal gab es da-mals an den meisten städtischen Krankenhäusern noch nicht. Bemühungen um eine geregelte Krankenpflegeausbildung steckten erst in den Anfängen.30 Soweit die soziale Herkunft bekannt ist, stammten die Wärterinnen oder Mägde aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie die Kranken, die sie pfleg-ten. Die 24-jährige Anna Maria Karrin etwa, die 1775 als Wärterin genannt wurde, war die Tochter eines Tagelöhners und lag mehrere Wochen selbst mit »einer Art Lungensucht« als Patientin im Krankenhaus. Eine ehemalige Krankenwärterin, die 20-jährige Elisabeth Eckertin, musste später aus un-bekannten Gründen für acht Wochen ins Zuchthaus, wurde nach ihrer Ent-lassung krank in einer Gasse aufgegriffen und kam nunmehr ihrerseits als Patientin ins Krankenhaus.31 Im Einzelfall übernahmen umgekehrt ehema-lige Patientinnen den Posten einer Krankenwärterin. So wurde die 46-jährige Malerswitwe Susanna Christina Kerstin zunächst von Februar bis zum 1. Mai 1791 wegen »Mattigkeit« und »weiblichen Umständen« behan-delt und trat unmittelbar anschließend »die Krankenwartt« an.32

Das Almosenamt betonte um 1801 rückblickend, »daß bey Verpflegung der Patienten im Krankenhaus, ohne deren Bedürfnissen Abbruch zu thun, auf alle mögl. Menage Rücksicht genommen worden seye«.33 Tatsächlich scheinen Ausstattung, Versorgung und Verpflegung einfach, aber nach zeitgenössischen Maßstäben annehmbar gewesen zu sein. Die Kosten der Versorgung waren denn auch nicht unerheblich. In den 30 Jahren von 1770 bis 1800 gab man einer Aufstellung des Almosenamts zufolge34 insge-samt rund 21.000 fl. aus, also rund 700 fl. pro Jahr.

Der Vergleich der zu unterschiedlichen Zeitpunkten gleichzeitig vorhande-nen Zahl der Patienten und der Zahl der Betten lässt vermuten, dass die Patienten – anders als in manchen anderen zeitgenössischen Krankenhäu-sern – jeweils ihr eigenes Bett hatten und es sich nicht mit anderen Kranken teilen mussten. Einzelne Patienten brachten sogar ihr eigenes Bett mit. So ist in den Nachlassverzeichnissen von verstorbenen Patienten aus den Jahren

29 StAN, C23/I 175; die Magd, Kunigunda Bollmannin, erhielt 1808 wie schon 1770 vierteljährlich 4 fl.

30 Beltz (1762); Olbrich (1986); Quellensammlungen bei Panke-Kochinke (2003); Häh-ner-Rombach (2008).

31 StAN, C23/I 2. Sie war von Ende August bis Ende November 1771 im Krankenhaus und wurde dann entlassen. Ihre Mutter war eine der ersten Patientinnen gewesen, die in das Krankenhaus aufgenommen wurden, und war dort verstorben.

32 Im August wurde sie in diesem Amt offiziell bestätigt.

33 StAN, D1 528, undatierter Bericht des Stadtalmosenamts mit Zahlen über die Ausga-ben in den 30 Jahren seit Gründung des Hauses.

34 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801.

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1790 bis 1792 in mehreren Fällen ausdrücklich eine »Bettstatt« aufgeführt, meist bestehend aus einem Strohsack, Unter- und Oberbett und mehreren großen und kleinen Kissen und Polstern, in blau und weiß mit Bettwäsche bezogen, wie teilweise ergänzend hinzugefügt wird.35

Dr. Eichhorn äußerte sich zwar 1801 nach seinem Besuch empört über die nachlässige Pflege und Reinlichkeit. Allerdings hatte er für seine Inspektion ausgerechnet den Tag gewählt, an dem der langjährige Hausmeister Peter Grüßmeyer zu Grabe getragen wurde. Um ein unvoreingenommenes Bild der Verhältnisse zu gewinnen, ließ das Almosenamt daraufhin »ohne Aus-wahl und mithin ohne alle Rücksicht auf eine von dieser oder jener zu er-wartende vortheilhafte Aussage«36 mehrere ehemalige Patienten befragen, die aus dem Haus wieder entlassen worden waren. Sie zeichneten insgesamt ein ausgesprochen positives Bild. Fast einhellig beschrieben sie den Wärter und seine Leute als freundlich und die Wartung als gut.37 Die Speisen seien gut gekocht. Kritisch äußerte sich in manchen Punkten nur Louisa Sophia Carolina Reisin, Witwe des Porträtmalers und Zeichenprofessors Carl Jo-hann Georg Reis, eine Frau also, die vermutlich mehr als die meisten ande-ren Insassen von früher einen gewissen Komfort gewohnt war und ein be-sonders respektvolles Verhalten erwartete. Sie klagte über das ungebührli-che Betragen der Magd und monierte auch als Einzige eine ungenügende Heizung, obwohl ausreichend Holz vorhanden sei. Auch das Essen reichte ihr nicht. Andere erzählten dagegen, sie hätten das gute Essen gar nicht auf-essen können, weil es so viel gewesen sei.38 Nur ganz vereinzelt finden sich denn auch Patienten im Aufnahmebuch vermerkt, von denen es hieß, sie hätten das Haus »freiwillig« verlassen, sie seien gar »heimlich wieder aus dem Kranckenhaus geschlichen« oder hätten sich »nicht gewohnen kön-nen«.39

35 StAN, D1 528. Die Betten wurden demnach offenbar nach dem Tod der Patienten ebenso wie die übrigen Habseligkeiten im ehemaligen Tanzsaal der »Hundertsuppe« versteigert, blieben aber vereinzelt auch im Besitz des Hauses. StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808, bezif-ferte die Kosten für eine Bettstatt auf 25 fl. 30 kr. Auch im Aufnahmebuch StAN, C23/I 2 wird eine altersschwache Patientin erwähnt, die ihr eigenes Bett mitbrachte und darin offenbar ihre letzten Monate im Krankenhaus schlief.

36 StAN, D1 18, Schreiben des Stadtalmosenamts vom 18.7.1801; s. a. StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801.

37 StAN, D15 S14 Nr. 13.

38 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussage der 22-jährigen Schlosserstochter Anna Dorothea Raumin, Juli 1801.

39 StAN, C23/I 2, Einträge über die 32-jährige Hufschmiedsfrau und Dienstmagd Bar-bara Schlenckin, die wegen »weiblicher Umstände« ins Krankenhaus kam, und über den Münzarbeiter Franz Samuel Amon, der wegen offener Schäden aufgenommen wurde.

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Die räumlichen Verhältnisse im Krankenhaus waren beengt. Jahrzehntelang waren zumindest die meisten Patienten, also Frauen, Männer und Jugendli-che durcheinander im gleichen Zimmer untergebracht.40 Zwangsläufig mussten sie in der großen Krankenstube Leiden und Sterben ihrer Mitpati-enten fast hautnah miterleben. Manche waren zudem für die übrigen Kran-ken eine besondere Belastung. So wurden vorübergehend auch einzelne »Ir-re« aufgenommen, die später in die »Prison« oder auf den »Turm« gebracht wurden, wo man sie gegebenenfalls mit Riemen oder Ketten anschloss.41 Auch von Kranken mit epileptischen Anfällen wird berichtet. Eine Patien-tin, die eigentlich wegen offener Geschwüre gekommen war, fiel gleich in der ersten Nacht nach ihrer Aufnahme in einem Anfall aus dem Bett.42 Der 15-jährige epileptische Sohn der armen Kunigunde Polsterin wurde schließ-lich »schon der übrigen Kranken wegen« aus dem Krankenhaus in eine Stube im Schauhaus verlegt, denn ein »oefterer Anfall von dieser Krank-heit«, so erklärte das Almosenamt, müsse »den übrigen Patienten, die [...] nach der Einrichtung dieses für nicht ansteckende Krankheiten bestimmten Hauses in einem Zimmer beysammen sind, Schrecken und Unruhe verur-sachen«.43 Manchmal brachten ledige oder verwitwete Mütter auch ihre kleinen Kinder mit. Die 26-jährige Steinleinin beispielsweise verbrachte mehrere Monate mit ihrem fünfjährigen unehelichen Sohn in der Kran-kenstube. Das uneheliche Kind der gleichaltrigen Schweikertin war gar erst drei Monate alt. Über sein Schicksal nach dem raschen Tod der Mutter – sie starb innerhalb von fünf Tagen an Wassersucht – ist nichts bekannt.44

Allerdings sind die räumlichen Gegebenheiten auch im Verhältnis zu den teilweise erbärmlichen Lebensbedingungen zu sehen, aus denen viele der Patienten kamen, und in anderen Krankenhäusern lagen regelmäßig viele Patienten gemeinsam in einem Zimmer, ja nicht selten zu zweit in einem Bett. Nur auf eine Geschlechtertrennung wurde zumindest in den größeren Häusern in der Regel geachtet, schon aus steter Sorge um die »Moral« der Patienten.

40 In einer undatierten, vermutlich aus den 1790er Jahren stammenden Aufstellung der vorhandenen Betten erwähnt der Schreiber, vermutlich der Hausmeister Grüßmeyer, allerdings eine vordere und eine hintere Krankenstube (StAN, C23/I 2).

41 Andrea Reiter arbeitet derzeit in Würzburg an einer Dissertation über den Umgang mit »Irren« in Nürnberg um 1800 und ihre Unterbringung und Internierung. Rückbli-ckend waren zudem Patienten mit offener Tuberkulose für die weniger ernsthaft Er-krankten eine große Gefahr, doch damals galt die Ansteckungsfähigkeit der Schwind-sucht keineswegs als gesichert.

42 StAN, C23/I 2.

43 StAN, B10 331, Schreiben des Stadtalmosenamts vom 8.6.1803.

44 Der Vater war ein Soldat; möglicherweise kam das Kind zu der ebenfalls genannten Taufpatin.

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Ein – leider undatierter und daher womöglich erst aus der Zeit nach der Verlegung ins Heilig-Geist-Spital stammender – Wochenplan über die »Speißen im Krankenhauß« könnte einen ungefähren Eindruck von der gebotenen Ernährung bieten.45 Danach bekamen die Patienten jeden Mor-gen und Abend (Mehl-)Suppe mit schwarzem oder weißem Brot und täg-lich einen Seidel Bier. Zu Mittag gab es an fünf Tagen in der Woche Fleisch – freitags allerdings nur »ein wenig« und am Samstag manchmal Rind-fleisch, manchmal aber auch Fleischsuppe, und montags ein Viertelpfund Blutwurst sowie ein Viertelpfund Leberwurst. Dazu bekamen die Patienten jeweils Mus, zerhackte Gerste oder dergleichen. Nur mittwochs gab es kein Fleisch, sondern Spätzle, Kartoffelknödel oder Ähnliches.46

Auch über die medizinische Behandlung äußerten sich die Befragten über-wiegend zufrieden. Eichhorn hatte behauptet, nur zwei der Patienten hätten überhaupt Arzneien bekommen, als er das Haus besuchte. Die Befragten erklärten dagegen, sie hätten die vom Arzt oder Chirurgen verschriebenen Arzneien erhalten. Manche hatten zwar den alten Krankenhausarzt selten oder gar nur einmal zu Gesicht bekommen, weil dieser selbst erkrankt war. Aber zumindest von dem Krankenhauschirurgen Riederer, so berichteten sie, seien sie »fleißig besuchet worden«. Er sei fast jeden Tag ins Kranken-haus gekommen.47 Auch eine Erlanger Patientin, Tochter eines verstorbe-nen Bergarbeiters, deren Leib und Füße aufgeschwollen waren, schloss sich dem günstigen Urteil an, obgleich sie wohl, anders als die Nürnberger Pati-enten, nicht damit zu rechnen hatte, womöglich erneut dort Zuflucht su-chen zu müssen. Sie sei »gehörig gewartet« worden, und während ihres acht- oder neunwöchigen Aufenthalts hätten sich auch die anderen Insassen nie beklagt. Sie danke im Gegenteil »noch vielmals für die gehabte Pflege, Wart und Behandlung«.48

Über die Art der medizinischen Behandlung ist leider nichts Genaueres überliefert. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass im Durchschnitt für jeden Patienten immerhin fast zwei Gulden allein für Medikamente ausgegeben wurden. Insgesamt hatten die Kosten für die medizinische Versorgung im engeren Sinne in den Jahren von 1770 bis 1800 mit 2700 fl. einen Anteil an

45 Der Plan fand sich auf einem lose beigelegten Zettel in StAN, C23/I 3.

46 Einer Kostenaufstellung aus dem Jahr 1808 zufolge erhielt die Hausmeisterin für die Verköstigung jedes Patienten, einschließlich eines täglichen Seidels Bier, wöchentlich 1,27 fl. Dazu kamen noch die Kosten für Licht, Seife und Arzneien. Zur zeitgenössi-schen Krankenhauskost vgl. Thoms (2005) und Kühne (2006).

47 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussageprotokoll der Anna Dorothea Raumin; ähnlich laute-ten die Aussagen der 24-jährigen Schneiderstochter Helena Maria Maurerin und der 57-jährigen Portenmacherstochter Anna Elisabeth Engelhardin.

48 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussageprotokoll der Augusta Louisa Behneldtin vom 10.7.1801; sie war deutlich früher als die anderen Zeugen, nämlich vom 9.11.1796 bis zum 17.1.1797, in Behandlung gewesen.

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den Gesamtkosten von mindestens rund 13 %.49 1200 fl. entfielen auf die Arzneikosten, 1500 fl. auf die Saläre der Ärzte und Chirurgen. Dazu kamen noch medizinische Kräutertees, die im Krankenhaus gekocht wurden. Wir können also von einer eingehenden medizinischen Behandlung ausgehen. Dass sich die Ärzte und Chirurgen dabei auch einschlägiger, »palliativer« Mittel bedienten, wie man sie damals schon nannte50, und gezielt Schmer-zen, Atemnot, Übelkeit, Schlaflosigkeit und dergleichen bekämpften, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, ist aber angesichts des zeitgenössischen ärztlichen Interesses an der palliativen Behandlung Todgeweihter zu vermu-ten51.

Die seelsorgerische Betreuung – das Haus stand grundsätzlich Patienten aus allen christlichen Konfessionen offen – wurde offenbar von Geistlichen aus der Stadt geleistet. Mit großer Sorgfalt verzeichneten selbst die knappen Einträge im Patientenaufnahmebuch die jeweilige Pfarrei des Erkrankten beziehungsweise den Namen des Beichtvaters, vermutlich um diesen gege-benenfalls rasch holen zu können. Die wenigen Bücher, die das Kranken-haus besaß, wie die »Heiligen Andachts-Übungen für Christen«52 oder J. F. Starcks »Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen«53, lassen sich im weiteren Sinne der Erbauungsliteratur zurechnen. In den Kostenaufstellun-gen wird auch Kommunionswein erwähnt54, was heißen könnte, dass im Haus auch Messen abgehalten wurden. Eine eigene Kapelle gab es in dem ehemaligen Wirtshaus vermutlich nicht, auch ein Altar – ein wesentliches Element des vormodernen Hospitals – wird nirgends erwähnt.

Sehr klar und unmissverständlich wurden dagegen Vorkehrungen für den möglichen – und vielfach offenbar bald erwarteten – Tod getroffen. Seit den 1780er Jahren wurde in der Regel im Aufnahmebuch vermerkt, wer für die Beerdigungskosten aufkommen würde, ob ein Grab vorhanden war und wer den Grabzettel hatte, und zwar offenbar bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme: Der Eintrag findet sich auch bei später als genesen entlassenen

49 Zum Vergleich: Im Krankenhaus St. André in Bordeaux lag der Anteil der Kosten für Arzneimittel trotz einer wachsenden Bedeutung der medizinischen Versorgungsfunkti-on bei unter 1 % (Dinges (1999), S. 251). Unklar bleibt, ob Arzt und Chirurg in der »Hundertsuppe« darüber hinaus noch aus dem laufenden Budget für einzelne Kran-kenbesuche honoriert wurden.

50 Stolberg (2007).

51 Vgl. Behrends (1790); Paradys (1796).

52 Das Werk wird im Aufnahmebuch »Schmidbaur« zugeschrieben, aber gemeint ist vermutlich das ohne Nennung des Autors 1770 in Frankfurt und Leipzig erschienene Buch mit diesem Titel.

53 Das Werk erschien in zahlreichen Auflagen.

54 StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808; Kostenaufstellung vom 29.7. bis zum 5.8.1808; für den Wein wurden 1 fl. 35 kr. veranschlagt.

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Patienten. Oft nimmt diese Angabe sogar ebenso viel Raum ein wie alle übrigen Angaben zum Patienten, seinem Stand, seinem Alter und seiner Diagnose. Manchmal hatten, nach Auskunft des Kranken, Angehörige oder Bekannte versprochen, sie würden die Kosten übernehmen. Andere waren in einer »Leichencassa« und hatten gegen einen kleinen Mitgliedsbeitrag in der Größenordnung von wöchentlich einem Kreuzer Anrecht auf eine Geldauszahlung, die ihnen im Todesfall ein ordentliches Begräbnis sicherte. In manchen Fällen zahlte die Leichenkasse 10 oder 18 fl., ja in einem Fall sogar 22 fl. aus. Eine ordentliche Beerdigung, das wissen wir aus anderen Quellen, war auch einfachen Zeitgenossen wichtig. Und sie war nicht ganz billig. Ein gewöhnlicher Sarg kostete schon 1 fl. 30 kr. bis 2 fl. Eine Bestat-tung in der »Gemeingruben« kostete 3 fl. 30 kr. bis 4 fl. Und für eine or-dentliche Beerdigung wurden um 1790 fast zwischen 5 fl. 18 kr. und 6 fl. 48 kr. angesetzt, die an das Seelhaus bzw. an die Seelfrau zu zahlen waren.55 Anders als in manch anderen zeitgenössischen Häusern56 liefen die Patien-ten auch nicht Gefahr, nach ihrem Tod gegen ihren Willen seziert zu wer-den.

Patienten und Krankheitsspektrum

Dank der beiden parallel geführten Aufnahmebücher lässt sich die Zusam-mensetzung der Patienten im Hinblick auf Aufnahmediagnose, Geschlecht und Alter recht genau untersuchen. Die Analyse wird sich im Folgenden auf die ersten 30 Jahre, vom Juli 1770 bis zum Juni 1800, beschränken. Für diese Zeit ist die archivalische Überlieferung für das Haus deutlich reicher als für die Jahre danach. Zudem scheinen sich Charakter und Funktion der Anstalt nach der Kritik Eichhorns an der hohen Sterblichkeit und den nachfolgenden Untersuchungen verändert zu haben. Die Zahl der jährlich Aufgenommenen verdoppelte sich fast, von 18,5 (Juli 1770 bis Juni 1800) auf 34,5 (August 1800 bis Juli 1813), und es kamen nun offenbar auch vermehrt leichtere Fälle zur Aufnahme. Die Sterblichkeit unter den Neuauf-genommenen sank mit 178 von 433 deutlich auf 41 %. Sie lag damit aller-dings immer noch weit höher als an anderen Krankenhäusern.57

55 StAN, D1 528, den Verzeichnissen der Verlassenschaften jeweils beigelegte Blätter mit Aufstellungen zu den Beerdigungskosten.

56 Stukenbrock (2001); Sahmland (2008).

57 Im Juli 1800 wurde kein Patient neu aufgenommen. Von August 1800 bis Juli 1813 gab es 449 Neuaufnahmen. Nicht eingerechnet wurden 15 Patienten, die im August 1813, bei der Schließung des Krankenhauses, in andere Häuser verlegt wurden, sowie eine Patientin mit »weiblichen Umständen«, für die beide Aufnahmebücher keine ent-sprechende Angabe machen. Manche der vor Juli 1800 Aufgenommenen starben erst nach diesem Zeitpunkt, so dass die Gesamtzahl der tatsächlichen Todesfälle, die im Haus vorkamen, etwas höher lag.

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Die Krankheiten der Patienten lassen sich anhand der in den Aufnahmebü-chern verzeichneten Diagnosen nur in Umrissen rekonstruieren. Im Um-gang mit vormodernen Krankheitsbezeichnungen ist bekanntlich große Vorsicht geboten und eine »Übersetzung« in moderne Krankheitsbegriffe nur begrenzt sinnvoll.58 Diagnosen wie »Abzehrung« oder »Wassersucht« bezeichneten damals zwar Krankheiten, zielen aber nach heutigem Ver-ständnis auf vorstechende Symptome unterschiedlicher Krankheiten, und Begriffe wie »unvermöglich« oder »entkräftet« beschrieben gar einen Zu-stand, der nach heutigem Verständnis durch Alter oder Hunger ebenso wie durch Krebsleiden und andere schwerwiegende Krankheiten verursacht werden kann. Da für unsere Fragestellung vor allem die Schwere und Be-handlungsbedürftigkeit der Krankheit interessiert, erweist sich ein genauerer Blick auf die Statistik der Aufnahmediagnosen dennoch als aufschlussreich (vgl. Tab. 1). 59

Die größte Gruppe bildeten die 109 Patienten mit »Schwindsucht«, »Lun-gensucht« und »Auszehrung«. Hinter diesen Diagnosen ist aus heutiger Sicht in vielen Fällen eine Lungentuberkulose zu vermuten. In etwas gerin-gerem Maße gilt das auch für die sechs Patienten mit »Blutsturz«60 und die 13 Patienten mit »Stöcken« oder »Stecken in der Brust«, die hier ebenfalls dieser Gruppe mit insgesamt 128 oder rund 25 % der Aufnahmen zugeord-net werden. Viele dieser Patienten waren im frühen oder mittleren Erwach-senenalter. Bei einer Sterblichkeit von 81 % hatte diese Gruppe mit insge-samt 90 Todesfällen auch einen wesentlichen Anteil an der hohen Gesamt-sterblichkeit.

Eine zweite große Gruppe mit 76 Aufnahmen kam mit Diagnosen wie »Entkräftung«, »Mattigkeit«, »unvermöglich« oder, in sieben Fällen, einfach »Alter« ins Haus. Im weiteren Sinne lassen sich dieser Gruppe auch 13 Pa-tienten zurechnen, die in erster Linie wegen »Hunger« ins Haus kamen. Hier überwiegen die hohen Altersgruppen, und es verschwimmen zuweilen die Grenzen zu Fällen von bloßer Pflegebedürftigkeit, denen das Haus ei-gentlich nicht offenstehen sollte. Mehrere Patienten blieben zwei Jahre im Haus, die 77-jährige Ursula Barbara Lebenderin, die 1778 mit der Diagnose »Alter« aufgenommen wurde, starb gar erst acht Jahre später. Die »Entkräf-tung« konnte allerdings im Einzelfall auch bereits so weit fortgeschritten sein, dass der Tod schon unmittelbar vor der Tür stand. Die mit »Leibsent-kräftung« aufgenommene 80-jährige Anna Elisabetha Falknerin etwa lebte

58 Vgl. am Beispiel der umfangreichen Journale des Würzburger Juliusspitals die aus-führlichen Überlegungen in Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995).

59 Die folgenden Zahlen sind berechnet nach StAN, C23/I 2; bei dort fehlenden Anga-ben wurde ergänzend StAN, C23/I 3 herangezogen.

60 Damit könnte aber im Einzelfall beispielsweise auch eine Gebärmutterblutung oder dergleichen gemeint sein.

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nach ihrer Ankunft im Krankenhaus nur noch fünf Tage, die »unvermögli-che« Margaretha Haßmännin gar nur vier.

Eine dritte große Gruppe lässt sich im weiteren Sinne den chirurgischen Krankheiten zurechnen: 63 Patienten mit Geschwüren und »offenen Schä-den«, dazu 17 mit Verletzungen und Verbrennungen sowie neun Patienten mit einem »Vorfall« oder »Leibschäden«.61 Die Sterblichkeit lag deutlich unter dem Durchschnitt, und manche der Betroffenen mögen das Haus vor allem auch deshalb aufgesucht haben, weil dort eine regelmäßige wundärzt-liche Betreuung gewährleistet war. Dazu kam, dass offene Schäden und schwere Bruchleiden als besonders abstoßend und ekelerregend galten.

Die Gruppe der Patienten mit Geschwüren an Füßen und Schenkeln geht mehr oder weniger fließend über in die der 47 Patienten mit Schwellungen an Füßen oder Händen. Bei manchen dieser Patienten dürften die Schwel-lungen freilich rückblickend nicht lokal bedingt, sondern Ausdruck einer »Wassersucht« gewesen sein, eine Diagnose, die mit 28 nur bei einer kleinen Zahl der Patienten gestellt wurde, aber mit einer der höchsten Sterblich-keitsraten behaftet war. Unter den Zeitgenossen war die Wassersucht wegen ihres oft tödlichen Verlaufs gefürchtet. Im medizinischen Schrifttum galt sie als Prototyp einer unheilbaren Krankheit. Die Diagnose wurde damals ge-stellt, wenn Füße und Beine, der Bauch oder der ganze Leib aufschwollen.62 In der Begrifflichkeit der modernen Medizin dürften sich darunter viele Patienten mit Herz- oder Niereninsuffizienz oder auch Leberkrankheiten befunden haben. Nicht selten verband sich die Wassersucht mit Atembe-schwerden (»Stöcken in der Brust«) und Druck- oder Engegefühlen im Brustkorb (»Engbrüstigkeit«). Dementsprechend reichte das Spektrum der Krankheitsbilder von Patienten, die primär unter dicken Beinen litten, bis hin zu Todkranken, die schnappend und röchelnd nach Luft rangen. Man-che »wassersüchtige« Patienten, wie die 38-jährige Schmiedstochter Mezne-rin, starben erst viele Monate nach ihrer Aufnahme. Andere hatten nur noch Stunden oder Tage zu leben. Der 40-jährige wassersüchtige Nagel-schmiedsgeselle H. L. Wagner etwa lebte nach seiner Verlegung aus dem Schauhaus gerade noch eine Woche. Die 69-jährige Lenzin, die am 1. No-vember 1770 aufgenommen wurde, war schon am folgenden Tag tot, eben-so die wassersüchtige und obendrein dem Verhungern nahe Elisabetha Scherblin.

Eine ähnlich hohe Sterblichkeit wie bei der Wassersucht errechnet sich mit 85 % für die Patienten mit »Schlag« und »Schlaganfällen«.63 Hier war das

61 Darunter wurden offenbar sowohl Bruchleiden als auch Verletzungsfolgen – in einem Fall ein ausgekugeltes Hüftgelenk – verstanden.

62 Stolberg (2003), S. 205f.

63 Zum zeitgenössischen Verständnis vgl. Stolberg (2003), S. 125-129. In etlichen Fällen wird ausdrücklich auch auf Lähmungen hingewiesen, so dass der Begriffsgebrauch hier dem heutigen nahekommt; aber im Einzelfall könnte es sich nach heutigem Er-

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Spektrum der Liegedauer recht breit. Viele der Erkrankten starben erst nach Monaten, einzelne nach mehreren Jahren, andere überlebten dagegen schon die ersten Tage nach Aufnahme nicht. Das mag auch an den besonderen Schwierigkeiten gelegen haben, den Ausgang – in modernen Begriffen – eines akuten Schlaganfalls oder Herzinfarkts abzuschätzen.

Deutlich geringere Sterblichkeitsraten finden sich bei den Patienten mit »Gicht« und »Gliederkrankheiten« – nach heutigen Begriffen vermutlich in vielen Fällen Arthrosen und rheumatische Gelenkerkrankungen –, mit »Nervenumständen«, »Nervenkrankheiten« und »Melancholie« sowie mit »Frauenkrankheiten« – bei den Letztgenannten handelte es sich offenbar in den meisten Fällen um Frauen mit einer gestörten oder unterbrochenen Monatsblutung, die damals für sich genommen bereits als krankhaft und gefährlich galt.

Auffällig ist das völlige Fehlen von Krebs als Aufnahmediagnose. Krebs war schon damals durchaus eine gefürchtete Krankheit, und gerade in ei-nem Haus, in das viele Schwerkranke und Sterbende aufgenommen wur-den, würde man Krebskranke erwarten. Vermutlich verbergen sich denn auch rückblickend manche Krebsleiden unter anderen Diagnosen, wie »bö-ser Schaden«, »weibliche Umstände«, »offener Schaden an der linken Brust« oder, bei vorherrschendem Kräfteverfall und Gewichtsverlust, »Auszeh-rung« oder »Schwindsucht«. Von der 62-jährigen Dienstmagd Anna Sophia Sixtin hieß es beispielsweise, sie habe »einen bösartigen offenen Schaden an dem lincken oberen Arm oder Achsel, ist auch an allen Gliedern sehr entkräfftet«. Sie starb rund zehn Wochen nach ihrer Aufnahme. Da Krebs damals insbesondere mit stinkendem geschwürigem Zerfall assoziiert (und deshalb, in Form von Brust- und Gebärmutterkrebs, vorwiegend bei Frauen diagnostiziert) wurde und solcher Gestank vielfach noch als Quelle einer »Ansteckung« oder »Infektion« gefürchtet war, könnte es aber auch sein, dass Krebskranke ähnlich wie die Syphilitiker und andere Patienten mit »ansteckenden« Hautläsionen bevorzugt in das Sebastiansspital eingeliefert wurden.

Diagnose Frauen Männer Gesamt Letalität Auszehrung, Schwindsucht, Lungensucht, Stecken in der Brust, Blutsturz

75 53 128 81 %

Wassersucht 22 6 28 89 % Schwellungen, insbes. von Füßen und/oder Armen

35 12 47 60 %

Schlag, Schlaganfall, Lähmung 15 11 26 85 % Alter, Entkräftung, matt, unvermöglich 62 14 76 87 % Hunger 11 2 13 54 % Nervenkrankheit, Nervenumstände, Melan-cholie, schwere Krankheit (Epilepsie),

22 3 25 56 %

messen auch um sehr plötzliche, dramatische Erkrankungen anderer Art, etwa einen Herzinfarkt, gehandelt haben.

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Kopfschwäche, Kopfschmerzen gynäkologische Leiden (»weibliche Um-stände«, »Mutterwesen«)

17 17 59 %

Fieberkrankheiten 5 3 8 25 % Gicht, Gliederkrankheit, »contract« 23 9 32 53 % Wunden, Knochenbrüche, Verbrennungen, Leibschäden, Vorfälle

20 6 26 69 %

offene Schäden, Geschwüre, Beulen 47 16 63 56 % Schmerzen 4 4 25 % sonstige64 14 3 17 29 % ohne Angabe 8 2 10 70 % Gesamt 380 140 520 70,4 %65

Tab. 1: Aufnahmediagnosen und Sterblichkeit 1770-1800

Das Zahlenverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Patienten war sehr unausgeglichen. Frauen stellten mit 404 von 556 Aufnahmen die weit überwiegende Mehrheit. Dies gilt mehr oder weniger ausgeprägt für alle Diagnosegruppen. Abgesehen von den »gynäkologischen« Fällen war der Anteil der Frauen bei den »unvermöglichen«, »alten« und »entkräfteten« Patienten sowie in der relativ kleinen Gruppe der »Nervenkranken« beson-ders hoch. Dagegen lag der Anteil der Männer bei den »Schwindsüchtigen« und »Ausgezehrten« und bei den – manchmal womöglich verletzungsbe-dingten – Geschwüren und offenen Schäden und in der (insgesamt kleinen) Zahl von Fieberkranken höher als in den übrigen Gruppen.

Die Gründe für den hohen Anteil weiblicher Patienten lassen sich nur ver-muten, denn im weiteren Sinne »gynäkologische« Leiden hatten daran mit insgesamt 17 Aufnahmen nur einen geringen Anteil. Vermutlich lagen die Gründe in der größeren sozialen und wirtschaftlichen Vulnerabilität insbe-sondere älterer Frauen. Die Pflege und Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden war oft eine schwere Belastung, zeitlich, finanziell und emotio-nal. Wahrscheinlich konnten sich selbst Männer aus den ärmsten Schichten bei Verwitwung im Durchschnitt leichter erneut verheiraten als Frauen und sich so eine häusliche Versorgung bis ans Lebensende sichern.66

Die durchschnittliche Liegezeit der Patienten ähnelte weit mehr der in pri-mär kurativ ausgerichteten Häusern als jener in Hospitälern des traditionel-len, multifunktionalen Typs. Sie war vergleichsweise kurz. Fast zwei Drittel

64 Hierunter fallen vereinzelte, auch ausgefallene Diagnosen wie »durch Schrecken« oder »verunreinigtes Geblüt«.

65 Die geringfügige Diskrepanz zur oben genannten Mortalität von knapp 70 % bei 526 Patienten ergibt sich daraus, dass sich die Zahl hier auf die Gesamtzahl der Aufnah-men – und nicht auf die etwas niedrigere Zahl der individuellen, teilweise mehrfach aufgenommenen Patienten – bezieht, aber wiederum abzüglich jener, die das Haus vorzeitig verließen oder verlegt wurden.

66 Leider verzeichnen die Aufnahmebücher nicht systematisch, ob die Patienten ledig, verheiratet oder verwitwet waren.

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der Patienten blieben weniger als drei Monate in der Anstalt. Von 520 Auf-nahmen – 36 in andere Häuser verlegte oder vorzeitig entlassene Patienten sind hier nicht miteingerechnet – verblieben 137 (26,3 %) bis zu 14 Tage, 200 (38,5 %) bis zu drei Monate und 144 (27,7 %) bis zu zwölf Monate. 39 (7,5 %) waren Langzeitpatienten, die mehr als zwölf Monate im Kranken-haus verbrachten und dazu beitrugen, dass die Fluktuation mit durch-schnittlich 18,5 Neuaufnahmen im Jahr kleiner war, als angesichts der ho-hen Gesamtsterblichkeit zu erwarten wäre.67

In der sozialen Herkunft der überwältigenden Mehrheit der Patienten spie-gelt sich die Funktion des Krankenhauses als Einrichtung der Armenfürsor-ge. Manche Patienten hatten vorher buchstäblich auf der Straße gelebt, sich vom Bettel ernährt und wurden krank oder halb verhungert auf der Gasse aufgesammelt. In rund einem Dutzend Fälle war der schlechte Ernährungs-zustand sogar das Hauptmotiv der Aufnahme: »die mehrerste Kranckheit ist der Hunger«, lautet beispielsweise der Eintrag über die 64-jährige Lizne-rin, die offenbar in einem so schlechten Zustand war, dass sie 15 Tage nach Aufnahme verstarb.68 Von anderen Patienten hieß es schlicht, »ihre Kranckheit ist der Hunger«69, oder der Eintrag über die Diagnose be-schränkte sich gar auf ein lapidares »Hunger«70. Allerdings kamen offenbar vereinzelt auch etwas wohlhabendere Patienten zur Aufnahme.71 Das deutet jedenfalls ein leider nur für die Jahre 1790 bis 1792 und selbst hier nur un-vollständig überliefertes Verzeichnis über die »Verlassenschaften« verstor-bener Insassen an.72 Die ledige Buchhalterstochter Maria Schrappin bei-spielsweise hinterließ bei ihrem Tod 1791 immerhin ein Vermögen im Wert

67 In einer ganz ähnlichen Größenordnung bewegten sich damals beispielsweise die Lie-gezeiten im Marianischen Krankenhaus in Düsseldorf; vgl. Weyer-von Schoultz/Dross (2001), 302.

68 StAN, C23/I 2.

69 StAN, C23/I 2, die ca. 30-jährige Margaretha Ammännin betr.

70 StAN, C23/I 2, den 20-jährigen Rotschmiedgesellen Daniel Adam Preiß betr.

71 Einen Sonderfall an der Grenze zu Korruption und Vorteilsnahme bildeten die beiden Damen »hohen Charakters«, die beide am gleichen Tag im Dezember 1800 ins Haus kamen und von denen der Hausmeister in seinem Aufnahmebuch vermerkte, deren Namen seien ihm »unbewußt geblieben«. Dem – hier weniger diskreten – parallel ge-führten zweiten Aufnahmebuch (StAN, C23/I 3) zufolge handelte es sich um ein Fräu-lein von Holzschuher und eine Frau Pfau, geb. Holzschuher. Laut Dr. Eichhorn wa-ren die beiden – auch er sprach allerdings nur von zwei hochstehenden Damen – in einem eigenen Zimmer untergebracht (StAN, D15 S14 Nr. 13, Protokoll vom 29.5.1801). Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um Verwandte jenes Herrn von Holzschuher handelte, der von städtischer Seite die Aufsicht über das Haus führte und der den beiden Frauen auf diese Weise eine lebenslange Pfründe verschaffen wollte. Frau Pfau starb 1801, das Fräulein von Holzschuher kam mit der Auflösung des Krankenhauses 1813 in das Heilig-Geist-Spital.

72 StAN, D1 528.

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von über 70 fl. Der Erlös aus dem Verkauf des Nachlasses der Buchbin-derswitwe Catharina Regina Obermeyerin belief sich sogar auf über 100 fl.

Über das Aufnahmeverfahren ist nichts Näheres bekannt. Das lässt darauf schließen, dass die gleichen Voraussetzungen galten wie für die Gewährung einer kostenlosen ambulanten medizinischen Behandlung, nämlich eine ärztliche Bestätigung und ein Armutszeugnis. Nur bei einzelnen Patienten wurde dagegen ausdrücklich vermerkt, dass sie auf besonderen Befehl des Herrn von Holzschuher oder des Bürgermeisters eingeliefert worden seien oder dass die Stadtknechte sie auf der Straße aufgelesen hätten. Manche Patienten wurden auch aus anderen Häusern verlegt, vor allem aus dem schon erwähnten Schauhaus. Dieses war zwar vorwiegend für hitzige und ansteckende Krankheiten bestimmt, bot aber, wie Eichhorn 1801 erklärte, zunehmend auch Patienten mit langwierigen Erkrankungen Zuflucht.73 Wenn diese sich weiter verschlechterten, scheint man sie manchmal für ihre letzten Tage in die »Hundertsuppe« gebracht zu haben. Von mindestens drei dieser Patienten ist überliefert, dass sie sogar bereits in einem derart schlechten Zustand waren, dass sie auf dem Weg vom Schauhaus zum Krankenhaus verstarben.

Methodische Schlussüberlegungen

War das Nürnberger Krankenhaus »Hundertsuppe« Europas erstes Sterbe-hospiz? Die Frage, das hat dieser kleine Abriss gezeigt, lässt sich nach der-zeitigem Wissensstand über weite Strecken bejahen. Gewiss, die Antwort wird letztlich davon abhängen, was wir für die spezifischen und unver-zichtbaren Merkmale eines »Sterbehospizes« halten. Im Gegensatz zu heuti-gen Vorstellungen von einem Sterbehospiz bot die »Hundertsuppe« zwar weit überwiegend, aber keineswegs ausschließlich todgeweihten und ster-benden Patienten eine Zuflucht. Ein Teil der Aufgenommenen erschien mit Geschwüren und Verletzungen oder mit Nervenkrankheiten, die nur be-grenzt einen tödlichen Ausgang erwarten ließen. Eine gewisse Anzahl insbe-sondere von älteren Patienten kam auch »contract«, »entkräftet« oder »er-mattet«, ohne eine konkrete, womöglich infauste Krankheitsdiagnose, was freilich auch vor dem Hintergrund der damals sehr begrenzten diagnosti-schen Möglichkeiten zu sehen ist, denn viele dieser Alten und Schwachen starben schon binnen Wochen oder Monaten, vermutlich an unerkannten inneren Leiden. Die überlieferten Quellen deuten zudem zwar eine intensive medizinische Betreuung an, geben aber nicht eindeutig zu erkennen, inwie-weit man sich bei mehr oder weniger offensichtlich todgeweihten Patienten schließlich bewusst auf die palliative Behandlung von Schmerzen und an-derer Symptome konzentrierte oder die Krankheit bis zum Ende zu heilen versuchte. Allem Anschein nach waren die Überschneidungen mit Akut-krankenhäusern einerseits und Alten- und Pflegeheimen andererseits also

73 StAN, D15 S14 Nr. 13, Konferenzprotokoll vom 22.5.1801.

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breiter, als wir das heute von einem Sterbehospiz erwarten. Außer Zweifel steht jedoch, dass die »Hundertsuppe« sowohl ausweislich der Aufnahme-bücher als auch nach dem ausdrücklichen Bekenntnis der Verantwortlichen in erster Linie Todkranken und Sterbenden Zuflucht und medizinische Betreuung bot, und zwar weit früher als irgendeine andere bislang in Euro-pa bekannte Einrichtung.

Die Geschichte der ersten »Sterbehospize« zeigt allerdings auch, dass schon diese Frage nach dem erstmaligen Erscheinen eines neuen Typus von Insti-tution – und Analoges gilt für die Entstehung neuer medizinischer Erklä-rungsmodelle und Praktiken oder deontologischer Normen – mancherlei methodische Probleme aufwirft. Grundsätzlich ist diese Frage zweifellos analytisch fruchtbar und erkenntnisfördernd, indem sie den Blick auf den historischen Kontext lenkt, auf die Voraussetzungen, die Umstände, unter denen das Neue erstmals in Erscheinung treten konnte. Die Suche nach der ersten oder ältesten Einrichtung (oder wissenschaftlichen Theorie oder Pra-xis) eines bestimmten Typs läuft aber auch leicht Gefahr, sich in einer mehr oder weniger naiven Fortschrittsperspektive auf die Frage nach dem rühm-lichen Wirken einzelner, herausragender historischer Protagonisten zu ver-kürzen, die eine solche Einrichtung erstmals ins Leben riefen. So wird gera-de in einschlägigen Veröffentlichungen heutiger Palliativmediziner im Zu-sammenhang mit »St. Luke’s House« um 1900 und vor allem mit »St. Christopher’s Hospice« in den 1960er Jahren immer wieder das verdienst-volle Wirken charismatischer Einzelpersönlichkeiten hervorgehoben – von Howard Barrett im Fall von St. Luke’s und von Cicely Saunders im Fall von St. Christopher’s –, die beide unbestritten eine zentrale Rolle spielten. Das Nürnberger Krankenhaus »Hundertsuppe« bietet aber ein anschauli-ches Beispiel dafür, dass sich solche Neuerungen auch ohne das Wirken einer solchen Gründerfigur aus den spezifischen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten heraus entwickeln können. Die Intention der Gründer war in diesem Fall, wie wir gesehen haben, eine ganz andere. Sie wollten die Voraussetzungen für die Behandlung und Heilung chronisch Kranker verbessern. Stattdessen bot das Haus in der Praxis aber fast von Anfang an vor allem Todkranken und Sterbenden eine Zuflucht für ihre letzten Mona-te, Wochen und Tage – und die Verantwortlichen scheinen diese Funkti-onsverlagerung akzeptiert, ja unterstützt zu haben.

Die Bedeutung des Kontexts und, konkreter, einer Diskrepanz zwischen Bedarf und Angebot von Versorgungseinrichtungen für unterschiedliche Patientengruppen lässt sich in vergleichbarer Weise auch für die ältesten Sterbehospize in England um 1900 aufzeigen. Schon weit im Vorfeld der Gründung von St. Luke’s wurde – von der britischen Forschung zur Ge-schichte von Hospiz und Palliativmedizin meines Wissens bislang überse-hen – die unzureichende Versorgung armer Todkranker und Sterbender in den bestehenden Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung im Vereinigten Königreich eingehend debattiert. Bereits 1860 wandte sich die Spitze der »Workhouse Visiting Society« mit einem Rundbrief an die regi-

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onalen Armenkommissionen und mit einem im Druck publizierten Vortrag an die Öffentlichkeit. Mit eindringlichen Worten machten die Verfasserin-nen auf eine gravierende Lücke in der Gesundheitsversorgung der verarm-ten Bevölkerungsmassen aufmerksam. Für die Versorgung leichterer Fälle sei gut gesorgt, aber gerade für jene, die unheilbar an Krebs, Wassersucht, Schwindsucht und dergleichen erkrankt seien und die einer besonders guten Pflege und Behandlung bedürften, fehle es an entsprechenden Einrichtun-gen. Allein in England fielen jährlich rund 80.000 Menschen diesen Krank-heiten zum Opfer, und 50.000 davon zählten zu den Armen. Viele stürben letztlich in den Krankenhäusern, aber viele andere fänden dort keinen Platz, weil die Anstalten mit wenigen Ausnahmen keine langwierigen und unheil-baren Fälle aufnähmen. So verbringe eine große Zahl dieser Erbarmenswer-ten ihre letzten Tage in »äußerstem Elend«, bei armen Verwandten oder, und das seien die meisten, in einem Arbeitshaus. Krankenhäuser für eine derart große Zahl von rettungslos verlorenen Kranken einzurichten, sei fi-nanziell nicht zu leisten, zumal der nötige Versorgungsaufwand größer sei als bei gewöhnlichen Kranken. Umso wichtiger sei es aber, dass diese Men-schen wenigstens in den Arbeitshäusern – die damals in erster Linie eine abschreckende Funktion erfüllten – möglichst gut versorgt und nicht als Arme, sondern als Kranke behandelt würden. Vieles liege dort bislang in dieser Beziehung im Argen. Anstelle von nötigen Opiaten gegen ihre Schmerzen und von Stärkungsmitteln bekämen sie nur die billigsten, gro-ben Medikamente. Zu essen gebe es das immer gleiche gesottene Rind-fleisch, das drei Viertel der Kranken gar nicht kauen könnten. Und die Haut der Bettlägrigen auf ihren harten, schlechten Matratzen sei oft grauen-voll wundgelegen. Es gelte, für Krebskranke, Schwindsüchtige, Wassersüch-tige und dergleichen innerhalb der Arbeitshäuser Verhältnisse zu schaffen, die jenen in einer eigenen, speziell für Unheilbare konzipierten Einrichtung möglichst nahekämen.74 St. Luke’s und die anderen Londoner Sterbehospi-ze der Jahrhundertwende waren in besonderem Maße durch religiöses En-gagement getragen, doch mit ihrer Sorge um die besonderen Bedürfnisse Todkranker und Sterbender standen sie bereits in einer Jahrzehnte zurück-reichenden humanitären Tradition.

Analoges gilt für Cicely Saunders’ erfolgreiches Engagement für eine besse-re Versorgung und Begleitung Sterbender in den 1960er Jahren. St. Chris-topher’s folgte in wesentlichen Punkten erklärtermaßen dem Vorbild der älteren Londoner Sterbehospize, insbesondere dem von St. Luke’s, und griff insofern auf bereits bewährte Modelle zurück. Der Gründung von »St. Christopher’s Hospice« gingen zudem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Dutzende von medizinischen Publikationen zu Sterben und Tod voraus. Das Sterben, zumal das Sterben im Krankenhaus, war zum Thema geworden. Die These von der Verdrängung und Tabuisierung des Todes in der Medizin des 20. Jahrhunderts, darauf haben Soziologen zu Recht auf-

74 Elliot/Cobbe (1860).

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merksam gemacht75, gilt in erster Linie für den Umgang mit dem einzelnen Sterbenden im Krankenhaus, nicht aber für das medizinische Schrifttum. Und Cicely Saunders kannte diese ausgedehnte Literatur.76

Das Beispiel der »Hundertsuppe« verweist zugleich auf einen anderen, bis-lang unzureichend gewürdigten Aspekt der Genese solcher Institutionen, der sich wiederum ebenfalls in ähnlicher Weise bei der Einrichtung von Sterbehospizen im ausgehenden 19. Jahrhundert beobachten lässt. Die wohlbegründete heutige Wertschätzung für Sterbehospize verführt auf den ersten Blick dazu, jene Städte und Nationen, in denen sie zuerst gegründet wurden, als Vertreter einer besonders modernen Gesundheitspolitik zu fei-ern. Die Gründung solcher Einrichtungen verweist aber regelmäßig zu-nächst nur auf einen ungedeckten Bedarf oder, noch unverblümter formu-liert, auf ein Defizit in der existierenden Gesundheitsversorgung. Wenn an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine spezielle Einrichtung für Todkranke und Sterbende entsteht, muss das nicht auf eine besondere Weitsicht der Verantwortlichen verweisen, sondern kann vor allem daran liegen, dass die bestehenden Einrichtungen der Gesundheitsversorgung sol-che Patienten von der Aufnahme ausschlossen. So entstand das Nürnberger Krankenhaus »Hundertsuppe« aus der Erkenntnis, dass in Nürnberg für chronisch Kranke – im Gegensatz zu den akut, fieberhaft Erkrankten – kei-ne ausreichende stationäre Betreuung gewährleistet war. Und es entwickelte sich in der Praxis umgehend vorwiegend zu einem Haus für arme Tod-kranke und Sterbende – offenbar weil deren häusliche Versorgung und Pflege in besonderem Maße an zeitliche und finanzielle (und womöglich auch emotionale) Grenzen stieß und von den übrigen Häusern der Stadt – die später ihrerseits Todkranke und sogar Sterbende in die »Hundertsuppe« verlegten – nicht ausreichend gesichert wurde.77 Die Londoner Sterbehospi-ze der Zeit um 1900 reagierten ebenfalls auf ein recht klar definiertes Defi-zit: Sie wollten Todkranken und Sterbenden, insbesondere den Krebskran-ken, aus den Reihen der »ehrbaren Armen« eine Zuflucht bieten, also jenen etwas bessergestellten Kranken, die sich ohne die zusätzliche Belastung durch die chronische Krankheit selbst hätten ernähren können, sich aber, arbeitsunfähig und behandlungsbedürftig geworden, eine häusliche Versor-gung längerfristig nicht mehr leisten konnten.

Historisch gesehen war die Gründung von Sterbehospizen – und Ähnliches gilt für den umfassenderen und bislang kaum erforschten Bereich der Un-heilbaren und der Unheilbarenhäuser78 – somit eng und in vorwiegend ne-gativer Weise verknüpft mit dem Aufstieg des modernen, ausschließlich

75 Walter (1991).

76 Vgl. das umfangreiche Literaturverzeichnis in Saunders (1967).

77 Die Patienten liefen in Nürnberg, im Gegensatz zu manchen anderen Häusern, allem Anschein nach auch nicht Gefahr, dass ihre Leiche nach ihrem Tod obduziert wurde.

78 Guter Überblick zur Situation in Frankreich im 19. Jahrhundert bei Szabo (2009).

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kurativ orientierten Krankenhauses als »machine à guérir«, wie Michel Foucault es treffend formuliert hat79. In dem Maße, in dem sich dieser Ty-pus des modernen Krankenhauses im 18. und 19. Jahrhundert gegen das alte Modell des Hospitals als Vielzweckeinrichtung für Bedürftige aller Art durchsetzte, wurden die Unheilbaren und Todkranken zu einer unwill-kommenen und vielfach vernachlässigten Restkategorie, die in den beste-henden Einrichtungen keine Aufnahme mehr fand. Damit entstand ein Spannungsverhältnis, das die moderne Hospizbewegung und Palliativmedi-zin bis heute beschäftigt und verfolgt. Soweit eigene Einrichtungen für Un-heilbare, Schwerkranke und Sterbende geschaffen wurden oder, wie im Fal-le der »Hundertsuppe«, unter dem Druck der Verhältnisse entstanden, bo-ten sie die Chance, den Bedürfnissen dieser Patienten besser Rechnung zu tragen, als ein gewöhnliches Hospital oder Krankenhaus dies vermochte. Solche Einrichtungen, und diese Gefahr ist auch heutigen Palliativmedizi-nern und Vertretern der Hospizbewegung bewusst, drohen aber tendenziell auch jenen Marginalisierungsprozess zu bestärken, der sie hervorbrachte. Sie tragen so womöglich ungewollt dazu bei, die Marginalisierung von ter-minal Kranken, von Sterben und Tod in der modernen Gesundheitsversor-gung weiter voranzutreiben.

Bibliographie

Archivalien

Stadtarchiv Nürnberg (StAN)

Bestand B1/II, Bauamt Akten, LIX/3a

Bestand B10 331

Bestand C23/I 2

Bestand C23/I 3

Bestand C23/I 175

Bestand D1 18

Bestand D1 209

Bestand D1 528

Bestand D15 S14 Nr. 12, Nr. 13

Literatur

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79 Foucault u. a. (1976).

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MedGG 28 • 2009, S. 179-185 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Robert Ziegenspeck (1856-1918) – der »Don Quichotte« der ambulanten Gynäkologie. Nachtrag zum Aufsatz über Thu-re Brandt in Band 26 von »Medizin, Gesellschaft und Ge-schichte«

Florian Mildenberger

Summary

Robert Ziegenspeck (1856-1918), ‘Don Quixote’ of out-patient gynaecology. Amendment to my essay about Thure Brandt in this journal, vol. 26

In 2007 I described a massage method that was developed by the Swedish officer Thure Brandt (1819-1895) and promoted by German physicians, especially Robert Ziegenspeck. But all files about Ziegenspeck seemed to be lost until two of them were rediscovered by chance in 2009. They offer insight into the desperate situation of German gynaecological hospitals in the late 19th century and the consequences for the young reformer Ziegenspeck who wanted to protect women’s health against his colleagues’ arbitrariness.

In Band 26 dieser Zeitschrift stellte ich die Ätiologie und Entwicklung der genitalen Heilmassage zur Therapierung des Gebärmuttervorfalles (reflexio uteri) vor, die untrennbar mit dem Namen des schwedischen Offiziers Thu-re Brandt (1819-1895) verbunden ist. Eine zentrale Rolle bei der Populari-sierung dieser Therapieform kam dem Gynäkologen Robert Ziegenspeck (1856-1918) zu. Genaue Lebensdaten und Karrierehinweise ließen sich aus Mangel an Aktenmaterial nicht eruieren. Im Hauptstaatsarchiv München sowie im Staatsarchiv München-Oberbayern hatten sich keinerlei Akten erhalten. Hartnäckige Nachfragen ergaben schließlich, dass sich im Univer-sitätsarchiv der Ludwig-Maximilians-Universität München eine schmale Akte erhalten habe.

Es handelte sich jedoch nicht um eine Akte, sondern um zwei, wobei die erste (Signatur D-XV-23a) Erklärungen bietet, warum Ziegenspeck sich plötzlich allein der Bewerbung der Thure-Brandt-Massage zuwandte und niemals zum Professor avancierte – er blieb jahrzehntelang Privatdozent. Die zweite Akte (Signatur E-II-702) enthält vornehmlich bislang verloren-geglaubte biographische Hinweise.

Robert Ziegenspeck wurde am 15. Januar 1856 in Kaulsdorf geboren, be-stand 1871 das Amtsphysikum in Leuenberg als Apothekerlehrling und war anschließend Gehilfe in einer lokalen Apotheke. 1878 immatrikulierte er sich als Pharmaziestudent in Jena, holte 1880 in Naumburg am Domgym-nasium das Abitur nach und studierte anschließend in Jena, Leipzig und Berlin Medizin. 1882 wurde er in Jena promoviert, erhielt 1884 die ärztliche Approbation und avancierte zum Assistenten an der dortigen Universitäts-frauenklinik. Bereits 1882 war er für seine herausragenden Forschungsarbei-ten von der Großherzog Carl Friedrich Stiftung ausgezeichnet worden. 1885 wechselte er nach München und wurde Mitarbeiter des angesehenen Universitätsprofessors für Gynäkologie und Geburtshilfe Franz v. Winckel

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(1837-1911). Nach der Habilitation 1887 über »Die normale und pathologi-sche Anheftung der Gebärmutter« schien alles auf eine gesicherte akademi-sche Karriere zuzulaufen. Ein Interesse für Massage und insbesondere für die Thure-Brandt-Behandlung lässt sich erst ab dem Jahr der Habilitation erkennen, als Ziegenspeck den in Deutschland auf Werbetour befindlichen Thure Brandt bei der Arbeit beobachtete.1 Im Gegensatz zu der vor allem chirurgisch arbeitenden universitären Gynäkologie in Deutschland verfocht Brandt das Konzept der genitalen Heilmassage, wodurch er eine Vielzahl von Frauenkrankheiten zu heilen versprach, die vor allem deutsche Ärzte bislang durch aufwendige und schmerzvolle chirurgische Eingriffe – nicht selten vergeblich – bekämpft hatten. Möglicherweise wurde Ziegenspeck auf andere, vorsichtigere Therapien im Falle eines Gebärmuttervorfalles auch durch seinen Klinikdirektor v. Winckel hingewiesen, der in seinen Lehrbü-chern auch Therapievorschläge jenseits der Operation erwog.2 Dass sich Ziegenspeck innerhalb weniger Jahre aber zum herausragenden Befürworter der ambulant durchführbaren Behandlungsmaßnahme aufschwang und sich somit indirekt gegen die stationäre Therapie in einer Universitätsklinik aussprach3, hing direkt mit den Hintergründen zur Beendigung seines Ar-beitsverhältnisses an der Universitätsfrauenklinik in München zusammen. Wie der Akte D-XV-23a zu entnehmen ist, musste Ziegenspeck während seiner Arbeit feststellen, dass unter der Leitung v. Winckels die primitivsten Hygieneregeln zum Schutz von Wöchnerinnen und anderen Patientinnen missachtet worden waren. Die Assistenzärzte, sofern nüchtern anwesend, widmeten sich angeblich vorrangig den genitalen Reizen des Pflegeperso-nals, anstatt die Kranken zu versorgen.4 Dabei waren zu dieser Zeit die Pro-zesse der Professionalisierung der Geburtshilfe und der Medikalisierung der Frauenheilkunde eigentlich bereits abgeschlossen, wie Hans-Christoph Sei-del aufgezeigt hat.5 Die praktische Umsetzung jedoch scheint an manchen Orten zu wünschen übrig gelassen zu haben. Die Verhältnisse in München erscheinen auch deshalb brisant, weil im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts der Zustand der Schwangerschaft als grenzpathologisch gese-hen wurde und die schlechte Behandlung der »Irren« in den Kreisheilanstal-ten durchaus bekannt war.6 Möglicherweise begriffen sich Ziegenspecks Kollegen weniger als Diener der Frauen denn als Irrenpfleger. Oder verlie-ßen sie sich auf die Propaganda ihrer Vorgesetzten, die seit der Einführung

1 Gleichwohl forschte Ziegenspeck zunächst auch weiter zu Fragestellungen, die vorran-gig seinen Klinikdirektor interessierten, vgl. Ziegenspeck: Fehlen (1888); Ziegenspeck: Cysten (1888).

2 Winckel (1878), S. 116-119.

3 Mildenberger (2007), S. 95f.

4 UAM, D-XV-23a, darin Teilakt 11.13 Befragung des Assistenzarztes Hofer.

5 Seidel (1998), S. 15.

6 Seidel (1998), S. 122.

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des Chloroforms die vorgeblich »schmerzlose« Geburt bewarben?7 Eventu-ell waren die unerfahrenen Assistenzärzte in der Klinik auch mit der Situa-tion überfordert, plötzlich für Dutzende von Kranken zuständig zu sein. Schließlich enthielten die medizinischen Lehrbücher nur höchst vage An-gaben über den direkten Umgang mit den Patientinnen. Umso mehr stellte sich wohl auch für Ziegenspeck die Frage, wo in diesen Krisensituationen die zuständigen Oberärzte und der Klinikdirektor gewesen waren.

Außerdem wäre zu untersuchen, ob die Zustände in der Klinik Einfluss auf das Verhalten von Schwangeren und ihre mögliche Bevorzugung der Hausgeburt hatten, wie dies in München einige Generationen früher auf-grund der katastrophalen Verhältnisse in der Gebäranstalt bereits an der Tagesordnung gewesen war.8 Die alte Gebäranstalt galt ohnehin als Auf-enthaltsort für ledige Schwangere aus den Unterschichten9, und der Direk-tor der Frauenklinik, Franz v. Winckel, war in seinen Publikationen sehr bemüht, die durch Statistiken eigentlich widerlegte Überlegenheit der ge-burtshilflichen Kliniken gegenüber den Privatpraxen und Hebammen doch noch zu beweisen10. Das Verhalten der Assistenzärzte und ihrer Vorgesetz-ten bedrohte eines der wesentlichsten Ziele der zeitgenössischen Ärzteschaft, nämlich die Stärkung der Klinik als Behandlungsort gegenüber den nieder-gelassenen »Praxisjägern« oder gar den »Kurpfuschern«. Im Grunde wäre es im Interesse aller Klinikdirektoren und Ordinarien der medizinischen Fa-kultät der Ludwig-Maximilians-Universität München gewesen, den von Ziegenspeck Ende Februar 1888 eingereichten Protestbrief umgehend zu bearbeiten. Doch das Dekanat ließ sich bis Ende Juli Zeit, die Angelegen-heit überhaupt zu prüfen, wobei wahrscheinlich ist, dass diese Amtshand-lung erst durch das zuständige und ebenfalls von Ziegenspeck informierte Kultusministerium angestoßen worden war.

Die Ermittlungen bestanden aus wenigen Befragungen, in denen die Ange-klagten offensichtlich abgesprochene Geständnisse vorlegten.11 Am Ende der Affäre wurden einige wenige untergeordnete Angestellte gemaßregelt, die zuständigen Oberärzte und der Klinikdirektor blieben unbehelligt, und selbst die von Ziegenspeck kritisierten Arbeitsabläufe wurden offenbar nicht verändert.12 Dies lässt nur den Schluss zu, dass die Verhältnisse an der

7 Seidel (1998), S. 371.

8 Seidel (1998), S. 171.

9 Seidel (1998), S. 181.

10 Winckel (1878), S. 28-31.

11 Siehe z. B. UAM, D-XV-23a, darin Teilakt 11.12, Teilakt 11.13.

12 Allerdings ließ Winckel in sein 1893 erschienenes »Lehrbuch der Geburtshülfe« die Feststellung einfließen, in seiner Klinik würde man »seit fast 10 Jahren« zur besseren Verträglichkeit der Nachgeburt eine Massage der Bauchdecke durchführen, vgl. Win-ckel (1893), S. 181. Zudem enthält das Lehrbuch im Vergleich zu früheren Publikati-onen Winckels (1866, 1878) recht detaillierte Angaben über die Verwendung von

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Frauenklinik keinen Einzelfall darstellten und die vorgebliche Entschlos-senheit der klinischen Ärzteschaft, die erste Adresse für Therapien zu sein, vor allem hohle Propaganda war. Ob dies nur in München der Fall war oder auch an anderen Klinikstandorten der alltäglichen Praxis entsprach, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Wahrscheinlich lud Ziegen-specks Verhalten nicht gerade zur Nachahmung ein, weil potentielle andere Kritiker an seinem weiteren Karriereverlauf nachvollziehen konnten, welche Folgen der mutige Einsatz für die Rechte von Patienten in einer deutschen Universitätsklinik zeitigte. Denn zeitgleich zum Abschluss der Untersu-chungen bezüglich der von Ziegenspeck kritisierten Umgangsformen wurde sein eigener befristeter Vertrag nicht verlängert, und er sah sich gezwungen, sich als Frauenarzt in München niederzulassen. Diese Vorgänge erinnern entfernt an die Schwierigkeiten, mit denen Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) zu kämpfen hatte, als er ab 1847 die Ursache des Kindbettfie-bers erkannte und insbesondere nach der Publikation seines entsprechenden Lehrbuches 1861 den Widerstand seiner Fachkollegen heraufbeschwor.13 Semmelweis war zweifellos erheblich bedeutender als Ziegenspeck, das Verhalten der Kliniker aber ist in beiden Fällen ähnlich. Auch in der Per-sönlichkeit beider Forscher gibt es Übereinstimmungen: Sowohl Ziegen-speck als auch Semmelweis waren enorm fleißige Einzelkämpfer, mussten fernab ihrer Heimat schwierige Erfahrungen sammeln und die Umstände ihres Todes erschienen rätselhaft.14 Semmelweis’ Bedeutung als Hygieniker wurde zunächst verschwiegen, und erst 20 Jahre nach seinem Tod setzte die Würdigung ein, u. a. durch einen biographischen Artikel in der »Allgemei-nen Deutschen Biographie« aus der Feder Franz v. Winckels.15

In seiner Praxis entfaltete Ziegenspeck nach kurzer Zeit eine umfangreiche und erfolgreiche Tätigkeit. Er widerlegte dadurch überzeugend die Priori-tätsansprüche seiner früheren Vorgesetzten. Ziegenspeck begann eine rege propagandistische Tätigkeit für die »Thure-Brandt-Massage« und agierte hierbei so erfolgreich, dass manch Anhänger bereits von einer »Zie-genspeckschen Schule« schwärmte.16 Hierbei wirkte er insbesondere dem Verdacht entgegen, die therapeutische Unterleibsmassage sei im Grunde nichts anderes als versteckte Masturbation durch die Hand des Arztes.17

Anästhesika und die ärztliche Krankenpflege der Neugeborenen und Wöchnerinnen. Im Rahmen seiner Rektoratsrede im Jahre 1902 betonte Winckel gar die besondere Sorgfaltspflicht des Arztes bei der Erprobung neuer Medikamente und Therapien, vgl. Winckel (1902), S. 27.

13 Silló-Seidl (1985), S. 122-127; kurze Darstellung seines Oeuvres bei Wuketits (2003), S. 102-105.

14 Silló-Seidl (1985), S. 44f.

15 Winckel (1891).

16 Landeker (1914), S. 92.

17 Landeker (1914), S. 100.

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Die Professionalisierung der Massage durch Ziegenspeck begünstigte die Entwicklung einer medizintechnischen Industrie, die den Patientinnen In-strumente lieferte, mit denen sie zwar die Heilmaßnahmen der Ärzte unter-stützten, aber zugleich sich dem Einzugsbereich der Kliniken gänzlich ent-zogen, wie ein Kritiker dieser Entwicklung 1905 feststellte.18 Hierzu zählte u. a. der medizinische Vibrator.19 Man könnte diese von Ziegenspeck zu-mindest mitgesteuerte Verselbständigung mündiger Patientinnen auch als Rache an dem Klinikapparat interpretieren, der ihn verstoßen hatte. Dort hatte man ihn jedoch noch keineswegs vergessen und harrte auf Revanche. Diese bot sich, als ruchbar wurde, dass Ziegenspeck in seinem Ambulatori-um kostenlose Behandlungen für Bedürftige durchführte und im Gegenzug die Krankengeschichten der sozial benachteiligten Patientinnen in seine Lehr- und Vortragstätigkeit einfließen ließ. Dies war eine durchaus übliche Vorgehensweise zu dieser Zeit. Auch v. Winckel verwendete viele Anamne-sen in seinen Lehrbüchern, ohne dass dokumentiert wurde, ob die Patien-tinnen überhaupt der Präsentation ihrer Leiden zugestimmt hatten.20 Jedoch nahm die medizinische Fakultät der Universität München Ziegenspecks Arbeitsweise im Sommer 1898 – etwa zu der Zeit, als die Zehnjahresfrist für die Verleihung des Titels eines außerordentlichen Professors abzulaufen drohte – zum Anlass, ein Verfahren gegen ihn einzuleiten.21 Eine von ihm unentgeltlich behandelte Dame hatte Strafanzeige erstattet, und innerhalb einer erheblich kürzeren Frist als der, welche die Fakultät 1888 zur Aufklä-rung der skandalösen Verhältnisse an der Universitätsfrauenklinik benötigt hatte, kam es zu einem Ermittlungsverfahren durch das Bayerische Staats-ministerium des Innern. Die Fakultät übermittelte dem Angeklagten ihre »ernste Mißbilligung« – und Ziegenspeck blieb Privatdozent. Sein Name scheint danach in der Münchner Frauenklinik tabu gewesen zu sein, denn in der Festschrift zu v. Winckels 70. Geburtstag 1907 war der Vorstand der gynäkologischen Poliklinik, Gustav Klein, sehr bemüht, in seinem Aufsatz zur »Retroflexio uteri« sowohl den Begriff der Thure-Brandt-Massage als auch den Namen ihres wichtigsten Protagonisten zu vermeiden.22 Gleich-wohl musste auch er einräumen, dass die Behandlung vorrangig außerhalb des Klinikbetriebes stattfand.23 Dass dies in München so war, nicht aber in Berlin, wo die zuständigen Leitungsgremien der Charité eine eigene polikli-

18 Zabludowski (1905), S. 19f.

19 Jütte (2000), S. 262; zeitgenössische Kritik bei Zabludowski (1901), S. 6.

20 Siehe z. B. Winckel (1866), S. 290-313; Winckel (1878), S. 361-411.

21 UAM, E-II-702, S. 49-51.

22 Klein (1907).

23 Klein (1907), S. 157.

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nische Massageanstalt gründeten und professionell betrieben, verschwieg Klein allerdings.24

Wie den Presseartikeln im Akt E-II-702 zu entnehmen ist, widmete sich Ziegenspeck in den Jahren nach 1898 vornehmlich seiner erfolgreichen ärztlichen Praxis, der Werbung für die Thure-Brandt-Massage und dem Hobby der Jagd. In letzterem Zusammenhang erregte er 1912/13 einige Aufmerksamkeit, als er seine Dachshunde (Dackel) auf junge Füchse losließ und sich des Verdachts der Tierquälerei erwehren musste.25 Der Versuch, einen besonders aufdringlichen Tierschützer zu vertreiben, endete in einem Strafverfahren wegen Körperverletzung.26 Ziegenspecks Tod schließlich am 2. Dezember 1918 war ebenfalls gewalttätig. Er wurde im Truderinger Forst »versehentlich« aus einem Meter Entfernung von einem Jagdfreund nieder-geschossen und starb auf dem Operationstisch der Münchner Chirurgi-schen Universitätsklinik.27 Die Staatsanwaltschaft München nahm Ermitt-lungen auf, die aber im Sande verliefen. Letztendlich war Ziegenspeck spä-testens Mitte der 1920er Jahre bereits vergessen.

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24 Zabludowski (1901), S. 14.

25 UAM, E-II-702, Pressesammlung, Augsburger Abendzeitung vom 4.8.1912, S. 4.

26 UAM, E-II-702, Pressesammlung, Münchner Neueste Nachrichten vom 29.11.1913, S. 3.

27 UAM, E-II-702, Pressesammlung, Münchner Neueste Nachrichten vom 5.12.1918, S. 2. Eine Obduktion scheint unterblieben zu sein, denn im Archiv des Instituts für Rechtsmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat sich keine ent-sprechende Akte erhalten.

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MedGG 28 • 2009, S. 187-211 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Gesellschaftliche Debatten um Krankheit: Das Risikofakto-renkonzept zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft 1968-19861

Jeannette Madarász

Summary

Debating disease: the risk factor concept in political, economic and scientific consideration, 1968 to 1986

The risk factor concept was developed in American epidemiological studies ongoing since the 1940s researching the causes of chronic cardiovascular diseases. By looking at the de-piction of this model in a variety of media in Germany between 1968 and 1986 we can put its close interaction with contemporary socio-political debates under scrutiny. Thereby, a strong connection between the various agents’ political and economic interests on the one hand and the incorporation of the risk factor concept into their specific agendas will be-come apparent. The risk factor concept was not fundamentally changed in the process but it was adapted to contemporary conditions and political constellations. Thereby, so it will be argued, the medical uses of the model, especially regarding the prevention of chronic cardiovascular disease, were forced into the background of public debates.

Einführung

Im Mittelpunkt der hier vorliegenden Überlegungen steht der Zusammen-hang zwischen Medizin und Gesellschaft. Um diesen zu verdeutlichen, soll die Darstellung chronischer Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems an-hand ausgewählter Massenmedien und Fachzeitschriften exemplarisch un-tersucht werden. Insbesondere soll der Frage nachgegangen werden, inwie-weit Wissenstransfer durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen beein-flusst wurde bzw. diese reflektierte.

Für das 19. Jahrhundert gibt es umfassende Studien, die die gesellschaftliche Bedingtheit von Krankheitsdiskursen analysieren.2 Ähnlich breite Diskussi-onen für das 20. Jahrhundert stehen noch aus, obwohl auf einige wegwei-sende Ansätze und methodologische Überlegungen verwiesen werden

1 Dieser Aufsatz wurde im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und For-schung (BMBF) geförderten Verbundprojektes »Präventives Selbst – interdisziplinäre Untersuchung einer emergenten Lebensform« erarbeitet. Ich danke außerdem Heinz-Harald Abholz, Martin Lengwiler, Rolf Rosenbrock und der Forschungsgruppe »Zi-vilgesellschaft, Citizenship und Mobilisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) für ihre hilfreichen Kommentare, die in diesen Text eingeflos-sen sind. Jedwede Verantwortung für den Inhalt liegt jedoch bei der Autorin.

2 Als ein herausragendes Beispiel: Baldwin (1999). Baldwin befasst sich in seinem be-eindruckenden Vergleich der Präventionspolitik in verschiedenen europäischen Län-dern unter anderem auch mit dem Einfluss der nationalen Geographie auf Krank-heitsdiskurse.

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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kann.3 Lutz Raphael, als ein herausragendes Beispiel, hat sich dafür ausge-sprochen, Differenzierungen innerhalb von langfristigen Entwicklungsten-denzen Aufmerksamkeit zu schenken. Als unumgänglich betrachtet er die Auseinandersetzung mit der Praxis wissenschaftlicher Instrumente in Rela-tion zu gesellschaftspolitischen Themen. Im Vergleich relevanter Abwei-chungen von einer idealtypischen Darstellung – in unserem Falle dem von Medizinern vorgegebenen Wissen – sollen alternative Interpretationen in Bezug auf Intention und Bedingtheit untersucht werden.4 Indem Differenz deutlich gemacht wird, können Transferprozesse verfolgt werden. In der Weiterentwicklung dieser Überlegungen hat Jakob Vogel darauf verwiesen, dass es nötig sei, Wissenschaft als Grundlage des Expertentums nicht als »black box« zu behandeln, sondern nach den Wechselwirkungen zwischen dem sozialen Handeln der Experten, wirtschaftlichen Interessen und der Entwicklung von Wissen zu fragen.5

Diesen Hinweisen entsprechend sollen durch einen Vergleich ausgewählter Medien die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der öffentlichen Dar-stellung von chronischen Herz-Kreislauf-Krankheiten betont werden.6 Da-mit rücken sowohl die Handlungsfelder verschiedener Akteure als auch deren unterschiedliche Krankheitsdiskurse in den Mittelpunkt der Untersu-chung. Mit der Intention, die Diskussion um Wissen anhand der Rezeption eines wissenschaftlichen Instrumentes zu vertiefen, wird speziell die Einbin-dung des Risikofaktorenkonzepts analysiert. Mit diesem seit seinem Einzug in die Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren für die Herz-Kreislauf-Krankheiten wohl einflussreichsten Erklärungsansatz wird der Untersu-chung ein inhaltlicher und zeitlicher Fokus gegeben.

Ursprung des Risikofaktorenkonzepts war die Framingham-Studie, welche in den 1940er Jahren in der nordamerikanischen Kleinstadt Framingham in Form einer langfristigen epidemiologischen Untersuchung begonnen wurde und bis heute fortgeführt wird. Im Mittelpunkt dieser Studie standen chro-nische Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die teilweise auch lebensweltlich bedingten Faktoren, welche zu einer erhöhten Erkrankungswahrscheinlich-keit führen.7 Damit unterstützte das Risikofaktorenkonzept einen Krank-heitsdiskurs, welcher individuelles Verhalten als Ursache von Krankheit

3 Als ein wichtiges Beispiel für die verschiedenen Auseinandersetzungen mit gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen als strukturierender Faktor für die Wissenschaft und speziell die Medizin siehe den von Robert Jütte herausgegebenen Sammelband zur deutschen Ärzteschaft: Jütte (1997).

4 Raphael (1996), S. 180f.

5 Vogel (2004), S. 645f.

6 Vogel (2004).

7 Hauptrisikofaktoren kardiovaskulärer Ereignisse sind Diabetes mellitus, arterielle Hy-pertonie, Hypercholesterinämie und Rauchen. Hinzu kommen zum Beispiel man-gelnde körperliche Bewegung und Übergewicht.

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beschrieb sowie eine Kontrolle und Disziplinierung durch medizinische Experten nahelegte.

Das Risikofaktorenkonzept beruht auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen, in denen die wissenschaftlich begründete Erwartung den tatsächlichen Er-krankungsfällen gegenübergestellt wird. Dies brachte die Gefahr der Fehl-deutung mit sich und eröffnete immense Möglichkeiten der Vermarktung.8 Gleichzeitig stellte sich die Frage nach der therapeutischen Effektivität des Risikofaktorenkonzepts. Insbesondere die Dissonanz zwischen kollektiver Betroffenheit und fehlender individueller Relevanz epidemiologischer Er-gebnisse verursachte Anwendungsprobleme. Ein Paradox der Prävention ist, dass die auf Populationen ausgerichtete Epidemiologie oft keine klaren Handlungsanweisungen für die individuelle Hygiene geben kann.9

Trotz des Fokus auf Herz-Kreislauf-Krankheiten soll keineswegs der Ein-druck entstehen, dass das Risikofaktorenkonzept lediglich mit diesen in Verbindung gebracht worden sei. Im Gegenteil: Die Suche nach Risikofak-toren hatte Wurzeln lange vor dem damit verbundenen epidemiologischen Konzept und bezog sich immer auch auf andere Krankheiten; u. a. war Krebs eng mit der Diskussion um Risikofaktoren in der belebten und unbe-lebten Umwelt, der individuellen Lebensweise und vor allem auch den Ar-beitsbedingungen verbunden.10 So gab es gerade in der Sozialgeschichte der Medizin eine lange Debatte um die Bestimmung von Risikofaktoren, insbe-sondere in der Gewerbehygiene und speziell in Bezug auf Berufskrankhei-ten. Allerdings befasst sich der vorliegende Text, teilweise bedingt durch die Fokussierung auf die Framingham-Studie, primär mit der Prävention chro-nischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wobei aber auch hier durch den Vergleich verschiedener Medien die interpretative Flexibilität des Risikofak-torenkonzepts betont wird.

Mit Hilfe der Zuspitzung auf chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird versucht, anhand eines wissensgeschichtlichen Zuganges die Behinderung der Entwicklung gesellschaftlicher Prävention in der Bundesrepublik histo-risch zu verorten. Der zeitliche Fokus der Untersuchung wird durch die Orientierung am Risikofaktorenkonzept vorgegeben. Den Anfangspunkt der Untersuchung stellt einerseits das Jahr 1968 als ein Jahr des Umbruchs dar, symbolisiert durch die Studentenbewegung. In dieser Zeit begann die Auseinandersetzung mit dem Risikofaktorenkonzept in der Bundesrepublik auch außerhalb der Medizin. Der Spiegel zum Beispiel veröffentlichte im Jahr 1968 seinen ersten Artikel zum Risikofaktorenkonzept. Andererseits soll das Jahr 1986 einen Abschluss bilden, da die Veröffentlichung der Ot-

8 Oberwittler (1968).

9 Rose (1985).

10 Siehe Milles/Müller (1993). Für einen historischen Ansatz siehe Milles (1993). Für ein Fallbeispiel einer Berufskrankheit siehe Martin Lengwiler zur Silikosis. Lengwiler (2006), hier Kapitel 9 und 10.

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tawa-Charta durch die World Health Organization (WHO) in diesem Jahr als Kulmination einer langjährigen Entwicklung in der Diskussion um Prä-vention gesehen werden kann.

Forschungsstand und Quellen

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einer verstärkten öffentli-chen Wahrnehmung wirtschaftlicher, politischer und kultureller Einflüsse auf die Produktion und Behandlung wissenschaftlichen Wissens.11 In den letzten Jahren ist die Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft zunehmend in Bezug auf Massenmedien diskutiert worden.12 Arne Schirr-macher zum Beispiel konstatierte kürzlich einen Übergang von der Wis-senspopularisierung des 19. Jahrhunderts zu einer Wissensvermittlung im Zeitraum 1900 bis 1960. Konzeptionell betont Schirrmacher Transferpro-zesse, welche vor allem auf einem Austausch von Ressourcen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeit beruhten.13 Für die Zeit ab 1960 verweist Schirrmacher auf das Konzept der Wissensgesellschaft, welches sich primär mit der Notwendigkeit, auch auf der Grundlage unvollständigen Wissens Entscheidungen zu treffen, auseinanderzusetzen habe und bis heute eng mit den entsprechenden wissenschaftspolitischen und gesellschaftlichen Debat-ten verbunden sei.14 Dieser Ansatz stellt den Ausgangspunkt für die Ausei-nandersetzung mit der Bedingtheit des Risikofaktorenkonzepts zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit dar.

Ergänzend kann auf die Studien von Robert Aronowitz zur kulturellen Einbindung von Krankheiten verwiesen werden, welche die interpretative Flexibilität des Risikofaktorenkonzepts betonen.15 Gleichzeitig werden die Erkenntnisse von Theodore Porter und J. Rosser Matthews zur Geschichte der Risikokalkulation und deren Beziehung zur Medizingeschichte in Be-tracht gezogen, die die Bedeutung des Risikokonzepts und der Epidemiolo-gie für die Entwicklung einer bevölkerungswirksamen Prävention chroni-scher Krankheiten verdeutlichen.16 Diesen vor allem auf die nordamerikani-

11 Siehe Ludwik Flecks bahnbrechende Thematisierung der Produktion von Wissen: Fleck (1980), Original auf Deutsch 1935. Seit den 1970er Jahren gibt es verstärkt Kon-troversen zur Bedingtheit der Wissenschaften, zum Beispiel in der Sociology of Scien-tific Knowledge (SSK). Siehe dazu u. a. Veröffentlichungen von David Bloor, Harry Collins and Andrew Pickering. Zu den Grenzen des konstruktivistischen Ansatzes sie-he Hacking (1999).

12 Zur Geschichte der Medienöffentlichkeit in der Bundesrepublik siehe Hodenberg (2006).

13 Schirrmacher (2008), S. 86, 88-90.

14 Schirrmacher (2008), S. 95. Siehe dazu ergänzend Nikolow/Schirrmacher (2007).

15 Aronowitz (1998).

16 Porter (1995); Matthews (1995).

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sche Geschichte bezogenen Studien steht insbesondere ein von Sigrid Stö-ckel und Ulla Walter herausgegebener Sammelband gegenüber, welcher die historischen Grundlagen der Prävention in Deutschland sowie deren heuti-ge Folgen diskutiert. Die Herausgeber sprechen das Risikokonzept als Grundlage der Prävention an und beziehen sich dabei speziell auf Arono-witz.17

Dem in der Forschungslandschaft angezeigten Interesse an Schnittpunkten zwischen Wissenschaft und Gesellschaft entsprechend, beruht vorliegende Untersuchung primär auf der qualitativen Auswertung dreier Zeitschriften, dem Deutschen Ärzteblatt, dem Spiegel und der Kritischen Medizin. Artikel, die das Risikofaktorenkonzept und die Prävention chronischer Herz-Kreislauf-Krankheiten ansprechen, wurden gesammelt, um in der Analyse einerseits das spezifische Verständnis von Prävention näher zu beleuchten und ande-rerseits die Entwicklung der jeweiligen Krankheitsdiskurse nachzuzeichnen. Das Deutsche Ärzteblatt ist die offizielle Publikation der Bundesärztekammer und der kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die wöchentliche Auflage belief sich im Jahr 1970 auf 111.879 und stieg bis 1980 auf 158.281. Das wohl wichtigste deutsche Nachrichtenmagazin, Der Spiegel, erreichte schon im Jahr 1970 eine wöchentliche Auflage von 919.696 Exemplaren, 995.338 Exemplaren im Jahr 1980 und durchbrach die Millionen-Marke im Jahre 1991.18 Demgegenüber nimmt sich die Kritische Medizin eher bescheiden aus. Die Zeitschrift erscheint seit 1970 mit einer halbjährlichen Auflage zwischen 2000 und 5000 Exemplaren. Die Darstellung chronischer Herz-Kreislauf-Krankheiten mit dem Fokus auf das medizinische Risikofaktorenkonzept in diesen Medien steht exemplarisch für den gesellschaftlichen Umgang mit Krankheit. Ergänzend werden Quellen aus dem Bundesministerium für Ju-gend, Familie und Gesundheit (BMJFG) sowie der diesem Ministerium un-tergeordneten Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hin-zugezogen. Mit dem Verweis auf die zeitgenössische Gesundheitspolitik wird der Rahmen für die Auseinandersetzung mit den Risikofaktoren zwi-schen Medizin und Öffentlichkeit abgesteckt.

Das Risikofaktorenkonzept in der Bundesrepublik

Einer der ersten deutschsprachigen, medizinwissenschaftlichen Artikel zur Framingham-Studie wurde unter Mitwirkung von William B. Kannel, ei-nem der wissenschaftlichen Leiter der Studie, in der einschlägigen Schweizer Medizinischen Wochenschrift im Jahr 1965 veröffentlicht. Er betonte kaum die

17 Stöckel/Walter (2002). Siehe auch Roeßiger/Merk (1998).

18 Zahlen beziehen sich auf tatsächliche Verbreitung: Aboexemplare + Einzelverkauf + Sonstiger Verkauf – Remittenden. Daten aus: 1) Auflagenmeldungen (1954-1967); 2) IVW-Auflagenliste (1968-1973); 3) Auflagenliste (1973-), jeweils herausgegeben von der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW), Bonn.

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klinischen Erfolge des Risikofaktorenkonzepts, sondern vor allem die sich eröffnende Möglichkeit, potentielle Patienten sehr früh zu erfassen und in den Hausarztpraxen kontinuierlich zu kontrollieren.19 Die Bündelung ver-schiedenster Faktoren eines komplexen klinischen Phänomens erweiterte die Klientel und begründete deren langfristige präventive Therapie. Diese Ten-denz kam den standespolitischen Ambitionen der niedergelassenen Ärzte zu dieser Zeit in Deutschland entgegen. Im gleichen Jahr gab Boehringer Mannheim (heute Roche Diagnostics) eines der ersten deutschen Bücher zu den Ergebnissen der Framingham-Studie heraus. Der Pharmakonzern nutz-te die Gelegenheit, um seine blutdrucksenkenden Produkte zu vermarkten.20 Das frühe Interesse von Boehringer Mannheim belegt die Unterstützung des Risikofaktorenkonzepts aus kommerziellen Gründen durch die Pharma-Industrie, später auch die Nahrungsmittelindustrie. Die (reduktionistische) Verdichtung komplexer Zusammenhänge im Risikofaktorenkonzept ermög-lichte Ärzten, Pharmakonzernen und anderen Industriezweigen den Zugriff auf Prävention im Rahmen individueller Verantwortung.

Mitte der 1960er Jahre erreichte das Risikofaktorenkonzept die Bundesre-publik.21 Eine Erfolgsgeschichte schien vorprogrammiert. Wie gezeigt wer-den soll, erfolgte im Zuge der 1968er-Bewegung sowie der Krise des bun-desrepublikanischen Gesundheitswesens in den 1970er Jahren eine weitrei-chende Einbindung des Risikofaktorenkonzepts in zeitgenössische politische Debatten um die gesellschaftliche Bedingtheit von Gesundheit. Letztendlich forcierte die Politisierung, der Politiker und Ärzte nach den dramatischen Erfahrungen im Dritten Reich lange ausgewichen waren, die Thematisie-rung von Prävention.

Prävention im Gesundheitswesen der Bundesrepublik

Ende der 1960er Jahre verstärkte das primär kurativ gedachte Verständnis des Risikofaktorenkonzepts die Wahrnehmung chronischer kardiovaskulä-rer Krankheiten als eine gesellschaftlich relevante Bedrohung des allgemei-nen Gesundheitszustandes.22 Trotz der sich aus dem Risikofaktorenkonzept ergebenden Hinweise auf die Bedeutung präventiver Intervention lehnte der Gesetzgeber den Ausbau der Gesundheitsvorsorge wiederholt ab. Initiativen des Bundes waren durch die im Grundgesetz festgelegte konkurrierende

19 Kannel u. a. (1965), S. 18, 22.

20 Autorenkollektiv (1965), S. 5f.

21 Siehe zum Beispiel Thauer/Albers (1966).

22 Die chronischen Herz-Kreislauf-Krankheiten waren in den 1950er Jahren als Mana-ger-Krankheit noch primär auf bestimmte Berufsgruppen und insbesondere Männer bezogen worden. Die Framingham-Studie integrierte ab den frühen 1970er Jahren Frauen in ihre epidemiologischen Untersuchungen. Einer der ersten Artikel zu der weiblichen Risikosituation wurde 1972 von William B. Kannel veröffentlicht. Kannel (1972).

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Gesetzgebung in Fragen der öffentlichen Fürsorge, zu der auch die Gesund-heitsfürsorge gerechnet werden konnte, klar eingegrenzt.23 Allerdings be-mühten sich einzelne Bundesländer schon seit Ende der 1960er Jahre um den Ausbau der Prävention. Das baden-württembergische Ministerium für Arbeit und Soziales zum Beispiel unterstützte in Zusammenarbeit mit eini-gen Ortskrankenkassen und der Ärzteschaft Pilotstudien, um die Möglich-keiten einer hausärztlich verwalteten Prävention chronischer kardiovaskulä-rer Krankheiten auszuloten.24

Vor allem jedoch war das bundesdeutsche Gesundheitswesen legislativ an die Behandlung manifester Krankheiten gebunden. Ärzte und Politiker ver-wiesen vor allem auf den Paragraphen 181 der Reichsversicherungsord-nung (RVO): Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, um die legislativen Grenzen des Gesundheitssystems zu betonen. Solange keine wis-senschaftlich gesicherte Gesundheitsvorsorge, nicht einmal zuverlässige Früherkennungsmethoden, zur Verfügung ständen, wäre eine gesetzliche Verankerung der Prävention chronischer kardiovaskulärer Krankheiten unzulässig.25 Der Paragraph 181 der RVO wurde 1971 neu eingeführt und 1989 wieder gestrichen. Dieser Werdegang reflektiert eine wichtige gesund-heitspolitische Entwicklung: Mit der Einführung des Paragraphen wurde einerseits die Möglichkeit von Früherkennung, also Sekundärprävention, geschaffen. Andererseits blockierte dieser Fokus die Einbindung der Pri-märprävention, also Gesundheitsvorsorge vor der Manifestation einer Krankheit, in das bundesrepublikanische Gesundheitswesen. Außerdem bot der Paragraph 181 Anlass, das Risikofaktorenkonzept hinsichtlich dessen diagnostischer Anwendungsmöglichkeiten zu befragen. So bemängelten verschiedene, die Regierung beratende Kommissionen, wie zum Beispiel die Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen Kranken-versicherung, das »Fehlen geeigneter Maßnahmen zur Früherkennung von Herz- und Kreislaufleiden«.26 Der Widerruf des Paragraphen 181 Ende der

23 Siehe BArch Koblenz, B310/134: Brief des Oberregierungs- und Obermedizinalrates Bernhard Zoller im Bundesministerium des Innern an Harald Petri, Deutsches Ge-sundheitsmuseum, vom 7.6.1956: »Überspitzt formuliert könnte man beinahe sagen, eine Empfehlung des Bundes sei für die Länder Ursache, das Gegenteil zu tun.«

24 Siehe Allgemeine Vorsorge (1969). Für Pilotstudien, die sich spezifisch auf kardio-vaskuläre Krankheiten und das Risikofaktorenkonzept bezogen, siehe z. B. Ahrens (1975). Diese Pilotstudien nahmen auf ein Modell-Programm für Vorsorgeuntersu-chungen zur Früherkennung degenerativer Herz- und Gefäßerkrankungen Bezug, wel-ches von einem neuen Arbeitskreis der Bundesärztekammer aufgestellt worden war. Die Pilotstudien wurden teilweise von der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung und dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit in zwei Gemeinden bei Heidelberg finanziert. Siehe auch Kassenarztpraxis (1982); Schmitz-Formes (1983), S. 32. Weitere Initiativen fanden in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Rheinland-Pfalz statt. Insbesondere die AOK Mettmann wirkte hier federführend.

25 Siehe Groven (1982).

26 Aktuelle Fragen der Gesundheitspolitik (1974), S. 1942f.

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1980er Jahre scheint bezeichnend zu sein für eine zunehmende Öffnung der Gesundheitspolitik für die Prävention, welche sich auch in dem im folgen-den Abschnitt exemplarisch vorgestellten Forschungsprogramm »For-schung und Technologie im Dienst der Gesundheit« widerspiegelt.

Die finanzielle und strukturelle Krise des Gesundheitswesens der 1970er Jahre forcierte die Wahrnehmung der Prävention als potentieller Kosten-dämpfer in der Gesundheitspolitik des Bundes und stützte die schwierigen Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Interessengruppen, speziell der Ärzteschaft und den Ländern. Nach einer mehrjährigen Planungsphase, angestoßen durch die Krise des Gesundheitswesens und fokussiert unter anderem durch Initiativen der WHO – vor allem den Weltgesundheitstag 1974 – und den Erfolg des schwedischen Präventionsprogramms »Diet and Exercise«, bewilligte die Bundesregierung im Jahr 1978 das Rahmenpro-gramm »Forschung und Technologie im Dienst der Gesundheit«.27 Es sah bis 1981 Ausgaben von 450 Millionen DM vor. Schwerpunkte waren For-schungen zur vorbeugenden Gesunderhaltung, zur Ermittlung von Krank-heitsursachen und zur Untersuchung struktureller Fragen des Gesundheits-wesens und des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung. An die Seite der kurativen Medizin sollte gleichrangig die Forschung zur Verhinderung von Krankheiten treten. Im Rahmen des Forschungsprogramms wurde die erste großangelegte epidemiologische Studie der Bundesrepublik zu Herz-Kreislauf-Krankheiten, die Deutsche-Herzkreislauf-Präventionsstudie (DHP), durchgeführt und Ende der 1980er Jahre der Förderschwerpunkt »Public Health« eingerichtet. Die Förderung bezog sich unter anderem auf die me-dizinische Krankheitsursachenforschung in Bezug auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs, Früherkennung und die präventive Gesundheits-forschung sowie Forschung zur strukturellen Verbesserung des Gesund-heitswesens.28

Dem Forschungsprogramm »Forschung und Technologie im Dienst der Gesundheit« kam als Angebot der Regierung an alle Interessengruppen die Rolle eines vermittelnden Mediums zu, obwohl es fraglich scheint, inwie-weit das Programm in der Planungsphase für externe Meinungen offen war.29 Eher sollte es als eine forschungspolitische Leitlinie auf der Grundla-

27 BArch Koblenz, B310/38. Speziell die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) bemühte sich im BMJFG um die Wahrnehmung und eine entsprechende Anwendung der Erfahrungen des schwedischen Programms und nicht des heute bekannteren Nordkarelien-Projekts von Finnland.

28 BArch Koblenz, B189/16768, Bd. 1: Jahresbericht der Bundesregierung 1976, Ge-sundheitspolitik, 21.12.1976, S. 5: Diskussionsentwurf des Programms vom Bundes-ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) und Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) vom 28.4.1976.

29 BArch Koblenz, B189/16836: Die Vertreter der Krebsliga zum Beispiel beschwerten sich, dass nach ihrer ersten Stellungnahme und dem damit verbundenen Angebot der Zusammenarbeit 1976 bis zur offiziellen Verkündung des Programms zwei Jahre spä-

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ge gesundheitspolitischer, das heißt in den 1970er Jahren aus der Sicht der Bundesregierung vor allem gesundheitsökonomischer Notwendigkeiten ver-standen werden.30 So beobachtete die Bundesärztekammer das Forschungs-programm »Forschung und Technologie im Dienst der Gesundheit« skep-tisch. Sie befürchtete ein »staatlich geplantes Gesundheitswesen«, welches den Sicherstellungsauftrag der Ärzte erneut zur Disposition stellen und da-mit deren wirtschaftliche Unabhängigkeit bedrohen würde.31 Im Rahmen des standespolitischen Interesses an einer Einbindung der Prävention in die Hausarztpraxis spielten wirtschaftliche Aspekte, zum Beispiel Fragen der ärztlichen Leistungshonorierung, eine wichtige Rolle. In Anbetracht der rechtlichen Schwierigkeiten einer Integration der Gesundheitsvorsorge in den ärztlichen Leistungskatalog waren die Gespräche mit der Bundesregie-rung wichtig, um dieses Thema strukturell zu verankern. Ergänzend entwi-ckelten aber vor allem die Initiativen der Länder und der Krankenkassen zum Ausbau der Vorsorgeleistungen Relevanz für die hausärztliche Praxis. Die Umsetzung des Forschungsprogramms gelang, weil die offensichtliche Krise des Gesundheitswesens die Bereitschaft verschiedenster Interessen-gruppen erhöhte, an dessen effektiverer Gestaltung mitzuarbeiten, und ne-ben den strukturellen Veränderungen vor allem das Interesse am Ausbau der Prävention als eine gemeinsame Diskussionsgrundlage fungierte.32

Die strukturellen Gegebenheiten des deutschen Gesundheitswesens in Form der Interessensverteilung zwischen Ärzteschaft, Krankenkassen, den Län-dern und der Bundesregierung bestimmten die nationale Gesundheitspoli-tik.33 Diese Konstellation behinderte langfristig die Entwicklung effektiver

ter kein Austausch mehr stattfand. Siehe auch BArch Koblenz, B189/16912, Bd. 2: Zeitungsausschnitte vom 18.5.1977. Die Vertreter der Ärzteschaft befanden sich seit 1976 im regelmäßigen Austausch mit dem BMJFG. Trotz ihrer Einwände wurde 1977 jedoch das Kostendämpfungsgesetz verabschiedet, welches durchaus im Zusammen-hang mit dem geplanten Forschungsprogramm zu sehen ist.

30 Siehe dazu BArch Koblenz, B189/16768, Bd. 1: Jahresbericht der Bundesregierung 1976, Gesundheitspolitik, 21.12.1976, S. 5.

31 Siehe BArch Koblenz, B189/16912, Bd. 1: Ergebnisniederschrift Gespräch der Bun-desministerin Katharina Focke mit Vertretern der Ärzteschaft, 6.4.1976. Siehe auch NJ (1978), S. 1584.

32 Selbst Sozialhygieniker, welche in der frühen Bundesrepublik aufgrund der Erfahrun-gen der NS-Zeit keinen leichten Stand hatten, wurden wieder integriert. Sie brachten lange vernachlässigte Themen, wie die Epidemiologie, wieder in die Diskussion. Das mit der Framingham-Studie verbundene Risikofaktorenkonzept fand hier seinen Ein-gang in die Wahrnehmung der Gesundheitspolitiker. Siehe zum Beispiel BArch Kob-lenz, B310/155: Redeentwurf des Staatssekretärs Prof. Dr. Ludwig von Manger-Koenig am 19.11.1970 auf der 7. Sitzung des Ständigen Ausschusses der Gesundheits-erziehungsreferenten der Obersten Landesgesundheitsbehörde und der Gesundheitser-ziehungsreferenten der Kultusminister und Senatoren der Länder in der BZgA (10.12.1970).

33 Siehe dazu Lindner (2004), S. 38ff. Siehe auch Lindner (2003).

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bevölkerungsbezogener Präventionsprogramme. In diesem Rahmen avan-cierte das Risikofaktorenkonzept, als in dieser Zeit wahrscheinlich wichtigs-tes Modell für die Prävention der unter dem Begriff der Zivilisationskrank-heiten subsumierten chronischen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, zu einem bedeutenden Teil der gesundheitspolitischen Planung für den Bereich Gesundheitsvorsorge.

Das Risikofaktorenkonzept zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit

Aus medizinischer Perspektive bestärkte das Risikofaktorenkonzept den Hausarzt in seiner traditionellen Rolle: Er war angehalten, die negativen Folgen fehlerhaften Verhaltens unter Zuhilfenahme von Pharmazeutika und anderen ärztlich vermittelten Maßnahmen zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Das in diesem kurativen Sinne angewandte Risikofaktorenkon-zept medikalisierte die alltägliche Lebensweise und unterstrich die Rolle des Arztes als höchste Instanz in jeglicher medizinischer Angelegenheit. Dieser Ansatz verstärkte gleichzeitig die standespolitische Argumentationskraft für eine individualmedizinisch ausgerichtete Prävention in den Praxen der nie-dergelassenen Ärzte und untergrub die breiter gefassten, bevölkerungsbezo-genen Strategien von Public Health. Reflektiert wurde diese Konstellation im langfristig zu beobachtenden Bedeutungsverlust des Öffentlichen Gesund-heitsdienstes (DÖG).34

Im Gegensatz zur Ärzteschaft engagierten sich der kritische Wissenschafts-journalismus und die Gesundheitsbewegung für eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Risikofaktorenkonzept. Sie thematisierten die chronischen Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems als eine gesellschaft-lich verankerte Bedrohung des individuellen und kollektiven Rechts auf Gesundheit. Diese Politisierung hatte langfristige Auswirkungen auf den Umgang mit den Ergebnissen der Framingham-Studie innerhalb des gesell-schaftlichen Konfliktfeldes zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, wel-ches anhand der Gegenüberstellung der Zeitschriften Deutsches Ärzteblatt, Spiegel und Kritische Medizin abgesteckt werden soll.

Den Artikeln des Massenmediums Der Spiegel, mit einem in den 1960er und 1970er Jahren besonders deutlichen politischen Anspruch, werden Beiträge aus der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt, Sprachrohr der ärztlichen Standespo-litik, gegenübergestellt. Obwohl im Spiegel der investigative Journalismus zur obersten Priorität erhoben wurde, was eine eindeutige politische Zuge-hörigkeit nur schwer erkennen lässt, zeigte sich mit der Spiegel-Affäre in den frühen 1960er Jahren und aufgrund anderer skandalisierender Enthüllungs-geschichten eine öffentlichkeitswirksame linksorientierte Berichterstattung. Diese schien insbesondere darauf ausgerichtet, Kritik am Staat zu üben und sich effektiv zu vermarkten. Der Spiegel vertrat entgegen eigener Darstellun-gen keineswegs nur das öffentliche Interesse, sondern fungierte als Mei-

34 Süß (1998) S. 65f., 94.

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nungsführer.35 Demgegenüber kann das Deutsche Ärzteblatt als ein, im Inte-resse der deutschen Ärzteschaft, eher konservativ agierendes Medium be-zeichnet werden, welches politisch speziell daran interessiert war, die ärztli-che Unabhängigkeit zu bewahren und deren wirtschaftliche Grundlagen zu festigen. Um zivilgesellschaftliche Einflüsse und Diskussionen nachzeichnen zu können, wird das zentrale Organ der Gesundheitsbewegung der 1970er Jahre, die Reihe Jahrbuch für kritische Medizin, in die Analyse einbezogen. Die Kritische Medizin engagierte sich gesundheitspolitisch aufgrund einer Kom-bination aus wissenschaftlichen Studien und politischer Meinung. Sie er-schien im linksorientierten Argument-Verlag und vertrat gesellschaftskriti-sche Ansätze mit teilweise marxistischen Tendenzen.

Diese Quellen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie relativ starke, durch-aus politisch motivierte Meinungen und Ansichten vertreten. Sie erscheinen entweder als populärwissenschaftliche, den Zeitgeist formende, ihm aber auch teilweise verpflichtete Stimme (Der Spiegel) oder als innerhalb der Me-dizin standespolitisch agierendes Organ (Deutsches Ärzteblatt). In der Kriti-schen Medizin vereinten sich diese beiden Aspekte. Die Zeitschrift verband einen hohen theoretischen Anspruch mit der Aufgabe der Aufklärung. Die Deutlichkeit der Abgrenzungen zwischen diesen unterschiedlichen inhaltli-chen Horizonten ermöglicht nicht nur den Vergleich der Argumentations-stränge, sondern das Nachzeichnen inhaltlicher Transfers.

Deutsches Ärzteblatt: Die kurative Anwendung des Risikofaktoren-konzepts

Die Darstellung des Risikofaktorenkonzepts im Deutschen Ärzteblatt war im-mer eng verbunden mit dem standespolitischen Ziel, Prävention zu einer Domäne des niedergelassenen Arztes zu erklären und damit auf individu-almedizinische Intervention auszurichten. Schon seit den 1950er Jahren hatte das Deutsche Ärzteblatt wiederholt gefordert, die Zuständigkeit für prä-ventive Maßnahmen den niedergelassenen Ärzten zu überlassen. Insbeson-dere die erfolgreiche Umsetzung der Vor- und Nachsorgeuntersuchungen für Schwangere und Mütter als Regelleistungen der Gesetzlichen Kranken-versicherung (GKV)36 wurde seit 1965 als Argument gebraucht, um dem Gesetzgeber zu verdeutlichen, dass auch andere Bereiche der Prävention den Hausärzten anvertraut werden sollten37. Speziell auf das besondere Ver-trauensverhältnis zwischen Patient und Hausarzt als unerlässlichen Aus-gangspunkt präventiver Maßnahmen hatte das Deutsche Ärzteblatt hingewie-sen: ein typisches Argument, mit dem neue Einflussbereiche erschlossen wurden. Durch die Bündelung verschiedener verhaltensbezogener Faktoren

35 Enzensberger (1957). Enzensberger sah in dem Magazin eine latente Gefahr für die Demokratie.

36 Siehe dazu Lindner (2004).

37 Siehe Stockhausen (1966).

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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sowie laborgebundener Risikountersuchungen zu Cholesterin und Harnsäu-re und der Blutdruckmessung als Teil des kardiovaskulären Risikofaktoren-konzepts wurde der Ärzteschaft ein neues, schlagkräftiges Argument in die Hand gegeben, mit dem die Notwendigkeit einer Prävention in der Haus-arztpraxis politisch vertretbar wurde.

Das Risikofaktorenkonzept bezog einen Großteil der Bevölkerung in den medizinischen Krankheitsdiskurs ein, indem einerseits individuelles Verhal-ten als potentieller Auslöser von Krankheit dargestellt und andererseits mit Hilfe einer, teilweise willkürlich wirkenden, Standardisierung verschiedener Risikofaktoren, wie zum Beispiel Übergewicht und Bluthochdruck, Krank-heit noch vor deren Manifestation angezeigt wurde.38 Insbesondere in Deutschland ist ein hoher Blutdruck, Cholesterin etc. von der Ärzteschaft als eine Krankheit definiert und somit im Rahmen der Kuration gefasst worden.39 Damit blieb nicht nur die Zuständigkeit der Ärzte erhalten, es wurde auch ein spezifisches Verhältnis von Patient und Arzt zu diesen Risi-ken geschaffen, was das Verständnis des Risikofaktorenkonzepts langfristig geprägt hat: Werden Risikofaktoren als Krankheiten verstanden, dann müs-sen diese behandelt werden. Sind es jedoch Risiken, dann handelt es sich um Faktoren, die – bis auf die Extrembereiche oben und unten – »nur« ge-radlinig mit (Folge-)Krankheit assoziiert sind. Dies aber würde bedeuten, dass Patienten mit geringem Risiko in eine Entscheidung für oder wider Behandlung einbezogen werden müssen. Durch immer weitere Absenkun-gen des Grenzwertes zur Behandlungsnotwendigkeit wurden immer größere Teile der Bevölkerung immer früher in den Wirkungskreis des auf Kuration ausgerichteten Krankheitsdiskurses einbezogen.40 Im Zusammenhang mit den Risikofaktoren verwiesen die Beiträge im Deutschen Ärzteblatt fast immer auf die Bedeutung einer frühen Erfassung potentieller Patienten, wobei auch die Hilfestellungen von Pharmaunternehmen in Anspruch genommen wur-den.41 Die medikamentöse Behandlung sowie der Einfluss von Wirtschafts-unternehmen wurden jedoch kaum kritisch besprochen, obwohl dies einen wichtigen Kritikpunkt am Risikofaktorenkonzept innerhalb der Gesund-heitsbewegung und den Massenmedien darstellte.42

38 Zur Standardisierung von Übergewicht siehe Klotter (1990).

39 Dies trifft zum Beispiel weniger auf die angelsächsische Medizinkultur zu: siehe dazu Berridge (2005). Siehe auch Payer (1988).

40 Allerdings wird der Nutzen einer Therapie dramatisch geringer, wenn dieser im Ver-gleich zu den Nebenwirkungen der lebenslangen Medikamentierung sowie deren ho-hen Kosten gesehen wird. Siehe Abholz u. a. (1982). Für eine zugespitzte Diskussion der Problematik von Normierungseffekten des Risikofaktorenkonzepts siehe ergän-zend Borgers (1983).

41 Czwikla (1983).

42 Greten u. a. (1978). Siehe auch Zöllner (1979). Vgl. dazu den Abschnitt zum Spiegel und zur Kritischen Medizin.

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Generell war Kritik am Risikofaktorenkonzept ab 1970, im Gegensatz zu den späten 1960er Jahren, deutlich rückläufig. Das Interesse lag damals eher in einer Weiterentwicklung und breiteren Anwendung des Konzepts. So legten 1972 der Heidelberger Sozialmediziner Hans Schaefer und seine Mitarbeiterin Maria Blohmke eine Erweiterung des Modells um psychoso-ziale Risikofaktoren vor.43 Allerdings wurde, im Zuge des steigenden Inte-resses an den Risikofaktoren, erst der erweiterten Neuauflage des Buchs aus dem Jahr 1978 angemessene Aufmerksamkeit geschenkt. Gleichzeitig wand-ten Ärzte das Konzept der Risikofaktoren zunehmend auf andere Krankhei-ten, insbesondere Krebs, und in anderen Gebieten der Krankheitsforschung, zum Beispiel der Umwelthygiene und der Arbeitsmedizin, an.44

Im Deutschen Ärzteblatt wurde im Zuge der Diskussionen um die Realisier-barkeit und Effektivität einer Gesundheitsberatung in den Hausarztpraxen erst seit 1986 wieder verstärkt auf die Grenzen des Modells als Therapiean-satz eingegangen.45 In dieser Sichtweise spiegelten sich Anregungen aus der Gesundheitsbewegung wider.46 Indirekt wurde auch auf den Ansatz der Salutogenese verwiesen, welcher im Gegensatz zum traditionellen Fokus der Ärzte auf die Ursachen und Heilung von Krankheit die Bedingungen für Gesundheit betont. 47 Diese neue Ausrichtung wurde 1986 in der Ottawa-Charta durch die WHO stark gemacht. Gesundheitsförderung signalisierte allerdings keineswegs das Ende des Risikofaktorenkonzepts, sondern eher eine Ausdehnung der ärztlichen Einflussbereiche und eine zunehmende Orientierung auf die individualisierte Gesundheitsvorsorge.48

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die politischen und wirt-schaftlichen Aspekte des Risikofaktorenkonzepts in ihrer standespolitischen Ausrichtung den Zielen des Deutschen Ärzteblatts entsprechend genutzt wur-den. Damit wurde das Verständnis des Risikofaktorenkonzepts als kuratives Modell langfristig festgelegt, welches die Ausweitung ärztlicher Zuständig-keit anstrebte: Blutdruck und Laborwerte sollten gemessen und entspre-chend behandelt werden. Diese Sichtweise spiegelte sich vor allem in einem Krankheitsdiskurs wider, der die Rolle des Arztes als Vertrauter und in ge-wissem Sinne auch Wegweiser oder sogar Retter des Patienten untermauer-te. Das hiermit verbundene Verständnis von Prävention bezog sich auf Verhaltensänderung, wobei Krankheit und individuelle Schuld in einer all-

43 Schaefer/Blohmke (1972).

44 Schwibbe (1989).

45 Kritisch äußerte sich 1986 zum Beispiel der ehemalige (bis 1978) Vorsitzende der Bundesärztekammer. Siehe Sewering (1986).

46 Zur Gesundheitsbewegung siehe u. a. Schmidt (1980). Siehe auch Initiativkreis (1973).

47 Zur Salutogenese siehe Antonovsky (1979) und (1987). Vgl. dazu Bengel u. a. (2001).

48 Bergdolt u. a. (1986), S. 612.

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gemeinen Zivilisationskritik verankert waren, die sozio-politische Konstella-tionen nicht in Frage stellte.

Der Spiegel: Die Skandalisierung des Risikofaktorenkonzepts?

Die Ärzteschaft geriet seit Anfang der 1970er Jahre zunehmend in Verruf. Teilweise sprachen kritische Äußerungen aus Regierungskreisen der Ärzte-schaft die Verhandlungsbereitschaft, und zwar trotz offensichtlicher Eng-pässe im Gesundheitswesen, ab.49 Vor allem jedoch zeichneten Massenme-dien wie Der Stern oder Der Spiegel für eine vehemente Skandalisierung der »Götter in Weiß« verantwortlich.

Speziell der Spiegel attackierte Ärzte, personalisiert und als egozentrische Interessengruppe, zum proklamierten Nutzen der Öffentlichkeit. Dafür wurde auch das Risikofaktorenkonzept, nach einer anfänglich neutralen Positionierung, instrumentalisiert. Es diente als Aufhänger für Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, kommentiert am Beispiel des deutschen Gesundheitswesens. So wurde seit Beginn der 1970er Jahre in mehreren Artikeln und Serien auf die Bedeutung wirtschaftlicher Interessen hingewie-sen.50 Diese Kampagne richtete sich gegen die einseitig naturwissenschaft-lich-technische Ausrichtung der Medizin, den Einfluss der Pharma-Industrie sowie die überhöhte Position des Arztes.51 Die Spiegel-Redaktion lancierte mit diesem Fokus öffentliche Debatten, fasste diese neu und spitzte sie mit Hilfe einer anti-elitären Ausrichtung zu. Die Kritik an der Ärzte-schaft kann als Antwort auf die damalige Ausweitung des ärztlichen Ein-flusses auf weitere Bereiche, zum Beispiel eben Prävention zusätzlich zu Ku-ration sowie Beratung als Addition zu Behandlung, verstanden werden.

Der Spiegel verkörperte den prinzipiellen Anspruch des kritischen Wissen-schaftsjournalismus, die Interessen der Allgemeinheit gegenüber der Ärzte-schaft, profitorientierten Wirtschaftsunternehmen und einem unzulängli-chen Gesundheitswesen zu vertreten. Das Risikofaktorenkonzept wurde ne-gativ besetzt, um die Ausbeutung der Patienten durch die Pharma-Industrie und einzelne Ärzte anzuprangern. Entsprechende Widersprüche und An-griffsmöglichkeiten ergaben sich immer wieder und ermöglichten es dem

49 Siehe BArch Koblenz, B189/16912, Bd. 1: Ergebnisniederschrift Gespräch der Bun-desministerin Katharina Focke mit Vertretern der Ärzteschaft, 6.4.1976.

50 Siehe z. B. die Spiegel-Serie Das Geschäft mit der Krankheit (1972). Siehe auch die auf diese Serie reagierenden Leserbriefe: Hört auf, Gott zu spielen (1972). Zusammenfas-send wurde 1981 ein Spiegel-Buch zu der Thematik veröffentlicht, siehe Halter (1981).

51 Laut einer im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie des Ärzte-Images im Fern-sehen kam es jedoch erst Anfang des 21. Jahrhunderts zu einem Abschied vom »Halb-gott in Weiß«. Siehe Krüger-Brand (2003).

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Spiegel, sich öffentlichkeitswirksam für die angeblichen Interessen der »klei-nen Leute« einzusetzen.52

In der Praxis bedeutete das vor allem, dass die Unsicherheiten wissenschaft-lichen Wissens gesellschaftskritisch angeprangert wurden. So zitierte man in einem Artikel als Teil einer Serie zum Thema kardiovaskuläre Krankheiten und Ernährung, speziell mit Bezug auf die seit den 1950er Jahren immer wieder aufflammende Debatte um die gesundheitsrelevanten Eigenschaften von Butter und Margarine, den Epidemiologen Manfred Pflanz (1923-1980):

Es ist überhaupt kein Kunststück, sagt der Epidemiologe Pflanz, »einzelne Merkmale« – etwa Fettverzehr, Kaffeeverbrauch, Zahl der Autos, Telephone oder wildlebende Tauben – mit den Sterbefällen an Herz- und Gefäßkrankheiten zu korrelieren: Ein pa-ralleler Anstieg der Kurven kann dann mühelos als »Ursache« und »Wirkung« defi-niert werden. Andererseits erlaubt auch die korrekte Statistik keine Vorhersage auf das Schicksal des einzelnen Patienten [...]53

Die im Zitat vorgenommene Relativierung des Risikofaktorenkonzepts be-tonte vor allem die Dissonanz zwischen Kollektiv und Individuum, die vom Spiegel kontinuierlich strategisch genutzt und als Einfallstor für wirt-schaftliche und standespolitische Interessen dargestellt wurde. Implizit stell-te der Spiegel damit auch die Möglichkeit einer effektiven individualmedizi-nischen Prävention in Frage. Dieser Ansatz beruhte auf einem Krankheits-diskurs, der trotz aller Kritik an der Ärzteschaft Parallelen zu der im Deut-schen Ärzteblatt vertretenen Sichtweise aufwies. In beiden Medien stand das informierte und verantwortungsvolle Verhalten des politisch interessierten Individuums im Zentrum der Diskussionen um Risikofaktoren. Gesell-schaftliche Bedingungen wurden in ihren Auswirkungen auf die Möglich-keit des Einzelnen, im Kreuzfeuer von Politik und Wirtschaft ein »gesun-des« Leben zu führen, thematisiert. Weder im Deutschen Ärzteblatt noch im Spiegel wurde in dieser Zeit gefragt, welche gesellschaftlichen Konsequenzen der verlangte Fokus auf das individuelle Risiko zeitigen würde.

Mit dem Einzug des Risikofaktorenkonzepts in die Massenmedien Ende der 1960er Jahre tat sich ein Teufelskreis auf. Einerseits beruhte Risiko auf Wahrscheinlichkeiten, deren Wertigkeit im gesellschaftlichen Diskurs von der Darstellung in den Massenmedien mitbestimmt wurde. Andererseits war es im Falle des Risikofaktorenkonzepts dessen, in den Medien wieder-holt betonte, wissenschaftliche Unsicherheit, welche die Auseinandersetzung mit den Risikofaktoren noch verstärkte. Aus dieser Konstellation ergab sich eine erhöhte öffentliche Wahrnehmung von wissenschaftlichen Unsicherhei-ten sowie eine Verunsicherung im individuellen Umgang mit gesundheitli-

52 Siehe z. B. Kräftig klotzen (1975).

53 Suche nach dem Schurken (1979), S. 47.

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chen Risiken. Das Thema Krankheit wurde Teil einer Diskussion um gesell-schaftliche Werte.54

Die Politisierung des Risikofaktorenkonzepts und damit verbunden der Prävention chronischer kardiovaskulärer Krankheiten zeichnet sich in der Analyse der Artikel des Spiegel im Zeitraum 1968 bis 1986 deutlich ab. Sie war eng verflochten mit den zeitgenössischen Debatten um gesellschaftliche Verhältnisse, für die das Risikofaktorenkonzept kontinuierlich instrumenta-lisiert wurde. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, bezogen sich diese Debatten auf Ansätze der Studentenbewegung und der sich daraus entwi-ckelnden Gesundheitsbewegung der 1970er Jahre.

Kritische Medizin: Die Erweiterung des Risikofaktorenkonzepts

Die Kritik an sozio-politischen Gegebenheiten stellte ein Grundanliegen der Kritischen Medizin dar, die damit ihre Ursprünge in der 1968er-Bewegung aufzeigte. In diesem Sinne wurde auch das Risikofaktorenkonzept bespro-chen und kritisiert, ohne es jedoch kategorisch abzulehnen. Vielmehr wurde eine Erweiterung angestrebt, in der Verhaltens- durch Verhältnisprävention ergänzt werden sollte. Dies hatte konkrete Auswirkungen in der Erweite-rung der Gesundheitsvorsorge zur Gesundheitsförderung, wobei insbeson-dere »New Public Health« Ende der 1980er Jahre die Aufmerksamkeit auf psychosoziale und sozioökonomische Faktoren lenkte.55 Im Vergleich zu der im Spiegel ersichtlichen polemischen Absage an das Risikofaktorenkon-zept und der darin eingebundenen Kritik am Gesundheitssystem orientierte sich die Kritische Medizin eher an medizinischer Argumentation und dem Anliegen, gesellschaftskritische Aufklärung zu betreiben. Sie richtete sich an einen Teil der Fachöffentlichkeit und erreichte nur einen kleinen Teil der Allgemeinheit.

Im Jahr 1978 begann die Auseinandersetzung mit dem Risikofaktorenkon-zept vergleichsweise spät mit einem Artikel von dem damals an der Freien Universität Berlin und im Klinikum Berlin-Steglitz, heute als Professor an der Universität Düsseldorf und als Allgemeinmediziner arbeitenden Heinz-Harald Abholz.56 Abholz kritisierte insbesondere den Endpunktbezug der

54 Noelle-Neumann/Petersen (2001).

55 »New Public Health unterscheidet sich in wichtigen Dimensionen vom herkömmli-chen und individualmedizinischen Umgang mit Gesundheitsrisiken und -problemen: Populationsbezug (gegenüber Individuenbezug), stärkere Beachtung gesellschaftlicher Einflussfaktoren auf Gesundheit/Krankheit und sozial bedingt ungleicher Gesund-heitschancen, Verständnis von Gesundheit/Krankheit als geglückte/missglückte Ba-lance von Gesundheitsbelastungen und Gesundheitsressourcen sowie Priorität zuguns-ten der Primärprävention.« Rosenbrock (2001), S. 753.

56 Diese späte Wahrnehmung des Modells wurde in einem Zeitzeugengespräch am 4.4.2008 am WZB, an dem unter anderem auch Heinz-Harald Abholz teilnahm, bes-tätigt. Vorher, so die Meinung der anwesenden Zeitzeugen, waren grundsätzlichere politische Themen in Bezug auf das deutsche Gesundheitssystem diskutiert worden.

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Medizin und forderte mehr Aufmerksamkeit für präventive Ansätze beim Herzinfarkt im Interesse der Volksgesundheit. Den Versuch der Erweite-rung des Risikofaktorenkonzepts um psychosoziale Aspekte bei Hans Schaefer und Maria Blohmke beschrieb Abholz als richtungweisend:

Zu ergänzen sind andere, bisher unbekannte Faktoren und zu ergänzen ist der Risiko-faktor psychosozialer Streß. Wird dieser Begriff mit konkretem Inhalt gefüllt, so wer-den nicht zuletzt auch die gesellschaftlichen Bedingungen unserer Existenz und die Verhältnisse unserer Arbeitswelt beschrieben und von dieser Seite einer Kritik unter-zogen. Medizin, die dies zur Kenntnis nähme, würde somit unmittelbar politisch wer-den.57

Damit entwickelte das Risikofaktorenkonzept politisches Potential, welches von Schaefer und Blohmke in diesem Sinne wohl kaum intendiert gewesen war.58 Erst die politische Interpretation des Modells in der Kritischen Medizin rückte es in den Wahrnehmungshorizont der Gesundheitsbewegung und wurde dementsprechend in den folgenden Jahren besprochen.

Wie auch der Spiegel diskutierte die Kritische Medizin die Unsicherheit wis-senschaftlichen Wissens anhand des Risikofaktorenkonzepts. Insbesondere die Privilegierung der Biomedizin im Interesse einer Vermeidung sozialkri-tischer Ansätze sowie die Möglichkeiten der Pharma- und Nahrungsmittel-industrie, entsprechende Unsicherheiten gewinnbringend zu vermarkten, wurden unterstrichen.59 Daran schloss sich ein über die Berichterstattung im Spiegel weit hinausgehendes Plädoyer für die Berücksichtigung gesell-schaftlicher Prozesse in Form einer sozialen Medizin an. Anhand des Risi-kofaktorenkonzepts wurden bis Ende der 1970er Jahre die wirtschaftlichen und politischen Themen der Kritischen Medizin weitgehend abgesteckt.60

Im Jahr 1981 veröffentlichte die Kritische Medizin einen Sonderband zum Thema Prävention, welcher die Ansätze der späten 1970er Jahre weiter aus-baute. Insbesondere ein Artikel von Dieter Borgers, Arzt und Epidemiologe am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie des Bundesgesundheits-amtes, stellte provokative Thesen in den Raum: Prävention aufgrund des Risikofaktorenkonzepts, gesehen als Massenprophylaxe mit Pharmaka, ma-

57 Abholz (1978), S. 60. Abholz verweist hier auf eine Veröffentlichung von Schaefer und seiner langjährigen Mitarbeiterin Maria Blohmke aus dem Jahr 1977: Schaefer/Blohmke (1977). Deren frühere, richtungweisende Arbeiten zum Risikofakto-renkonzept wurden in der Kritischen Medizin bis 1978 wenig beachtet, siehe z. B. Schaefer/Blohmke (1972). Erst die erweiterte Neuauflage dieses Buchs im Jahr 1978 wurde im Zuge des steigenden Interesses am Risikofaktorenkonzept in der Kritischen Medizin wiederholt kommentiert.

58 Im Gespräch mit Zeitzeugen (WZB, 4.4.2008) wurde darauf verwiesen, dass die Bezie-hungen zu Schaefer distanziert waren. Dessen Erweiterung des Risikofaktorenkonzepts in der Publikation 1972/1978 wurde aufgrund der vorgeschlagenen komplexen Kate-gorisierung als unschlüssig und in der Praxis wenig tauglich eher abgelehnt.

59 Karmaus (1979), S. 29.

60 Siehe z. B. Jacobowski (1980).

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che krank und sei deshalb nicht vertretbar. Er forderte eine Erweiterung der medizinischen Risikofaktoren sowie präventive Maßnahmen, basierend auf einer Kombination von Verhaltens- und Verhältnisänderung.61 Die Kritische Medizin machte die Grenzen des Modells vor allem an den zeitgenössischen Konsequenzen der Risikofaktorenmedizin fest. Anfang der 1980er Jahre hatten Medikamente gegen Risikofaktoren die gleiche Verschreibungshäu-figkeit erreicht wie Schmerz- und Schlafmittel. Gleichzeitig wurden die »normalen Werte«, welche als Richtwerte im Risikofaktorenkonzept fun-gierten, hinterfragt und eine »unkritische Verlagerung des ›Kranken‹ in das Normale« konstatiert.62 In der Kritischen Medizin wurde eine Art Anti-Erfolgsgeschichte des Risikofaktorenkonzepts geschrieben: Wissenschaftli-che Unzulänglichkeiten sowie Probleme in der Umsetzung standen im Mit-telpunkt der Kritik, wie auch die Misserfolge in der individualmedizini-schen Prävention und Therapie chronischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der unübersehbare Erfolg des Modells erschien den Autoren gleichfalls er-klärungsbedürftig: Im politischen Bereich vermeide das Risikofaktorenkon-zept gesellschaftliche Veränderungen, da es den Blick auf ein definierbares medizinisches Risiko fixiere; für Mediziner stelle es eine gute Karriereleiter dar; und der Pharma- und Geräteindustrie offeriere es einen fast unbegrenzt ausbaubaren Produktabsatz. Diese drei Punkte fassten nicht nur die inhä-renten Probleme des Risikofaktorenkonzepts zusammen, sondern vielmehr auch die politische Agenda der Kritischen Medizin.

Das Jahr 1986 hingegen gab, wie auch in Veröffentlichungen des Spiegel und im Deutschen Ärzteblatt ersichtlich, einen Ausblick auf zukünftige The-menbereiche. So wurde das Thema AIDS erstmals in einem Artikel bespro-chen. Borgers meldete sich erneut zu Wort, diesmal mit einem Appell an die Gesundheitsbewegung, ihrem Misstrauen gegenüber der sogenannten Schulmedizin Grenzen zu setzen.63 Im gleichen Jahr begann Abholz einen Artikel mit dem weitreichenden Satz: »Die Bedeutung der Medizin für die Gesundheit wird allgemein überschätzt.«64 Er fasste damit den politisierten Krankheitsdiskurs der Kritischen Medizin prägnant zusammen und ordnete diesen in schon länger geführte internationale Debatten ein.

Schlussfolgerung

Das medizinische Risikofaktorenkonzept beeinflusste die Diskussion um Prävention in der Bundesrepublik seit Mitte der 1960er Jahre. Es ermöglich-

61 Borgers (1981). Siehe auch Karmaus (1981).

62 Borgers (1983), S. 50, 54.

63 Borgers (1986).

64 Abholz (1986), S. 29. Abholz nahm mit diesem Satz Bezug auf die einflussreiche The-se von Thomas McKeown, dass längere Lebenserwartungen nicht aufgrund medizini-schen Fortschritts erreicht worden seien, sondern infolge hygienischer und sozialer Verbesserungen. McKeown (1976). Siehe auch McKeown (1982).

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te eine Bündelung komplexer Ursachen eines breiten und unhandlichen Krankheitsbildes. Gleichzeitig betrafen die Risikofaktoren jeden Einzelnen. Individuelles Verhalten und Lebensstil spielten eine wichtige Rolle für das medizinische Risikofaktorenkonzept, welches von der Ärzteschaft genutzt wurde, um Prävention auf individuelles Verhalten und ärztliche Behand-lungsnotwendigkeit zu fokussieren. Sogar die Gesundheitsbewegung lehnte das Risikofaktorenkonzept nicht grundlegend ab, sondern plädierte dafür, Verhältnisse so zu ändern, dass individuelle Prävention möglich (oder über-flüssig) werden konnte. Die dieser Diskussion zugrunde liegende Frage nach der Verantwortung für Gesundheit stellte sich immer wieder: Während die Ärzteschaft und die Bundesregierung die individuelle Verantwortung beton-ten, stellten die Gesundheitsbewegung und, wenn opportun, auch der kriti-sche Wissenschaftsjournalismus des Spiegel die Notwendigkeit heraus, Ver-hältnisse zu ändern.

Dieser Konfrontationslinie entsprechend wurde in der Kritischen Medizin eine Erweiterung des medizinischen Risikofaktorenkonzepts um Verhältnisprä-vention angestrebt, die sich an einem Verständnis der Risikofaktoren als bevölkerungsbezogene Risiken, nicht am Individuum festzumachende Krankheiten, orientierte. Im Gegensatz dazu tendierten die Beitragenden des Deutschen Ärzteblattes eher dahin, Risikofaktoren als manifeste Krankheit zu behandeln: Kuration überlagerte Prävention. Im Spiegel hingegen dominier-te das Interesse an einer Skandalisierung des Modells aufgrund der Grenzen der individuellen Anwendbarkeit einzelner Risikofaktoren. Unterschiedliche Interpretationen des Risikofaktorenkonzepts gingen einher mit dessen Poli-tisierung: Im Deutschen Ärzteblatt wurde standespolitisch argumentiert, um Prävention in den Hausarztpraxen anzusiedeln. Demgegenüber stellte sich Der Spiegel als Interessenvertreter der »kleinen Leute« dar und übte, durch-aus im Zuge des aufmüpfigen Zeitgeistes und des Wertewandels der 1970er Jahre, Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen und besonders dem Ge-sundheitssystem. Die Kritische Medizin ging einen Schritt weiter und baute das Risikofaktorenkonzept in eine grundlegende, linksorientierte Gesell-schaftskritik ein. Dieses langfristig aufgebaute und politisierte Konfliktfeld zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, eingebunden in die strukturellen Gegebenheiten des deutschen Gesundheitssystems, behinderte die Erarbei-tung eines nationalen Präventionsprogramms.

Das in den 1970er Jahren entwickelte Forschungsprogramm »Forschung und Technologie im Dienst der Gesundheit« integrierte durchaus Ansätze zu solch einem nationalen Präventionsprogramm. Es fokussierte die For-schung auf Primärprävention und gestattete letztendlich die Förderung von »New Public Health« als ein breiter Ansatz bevölkerungsbezogener Präven-tion. Die Verabschiedung des Programms erfolgte nach Absprachen mit den verschiedenen Interessengruppen und bezog sowohl die Ärzteschaft als auch die Länder, beide strukturell die wichtigsten Hürden der nationalen Gesundheitspolitik, in die Planung mit ein. Ermöglicht wurde diese Koope-ration im Interesse der Gesundheitsvorsorge durch die politische und wirt-

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schaftliche Krise der 1970er Jahre. Im Klima des Umbruchs waren unter anderem die auf einen Imagewandel hoffende Ärzteschaft, aber auch die finanziell gebeutelten Länder bereit, auch strukturelle Veränderungen des Gesundheitswesens zu diskutieren. Diese Konstellation kam präventiven Ansätzen zugute. In diesem Sinne erscheint das Forschungsprogramm als ein wichtiger Schritt in die Richtung eines nationalen Präventionspro-gramms, ohne jedoch selbst als solches zu fungieren. Obwohl 1978 rich-tungweisende Entscheidungen getroffen wurden, zeigten sich in der Umset-zung die Grenzen der im Forschungsprogramm reflektierten gesundheitspo-litischen Anliegen.

Anhand der Darstellung des als wissenschaftliches Instrument gesehenen Risikofaktorenkonzepts in unterschiedlichen Medien wurden dessen Bezie-hungen zu zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Themen untersucht. Dabei zeigte sich eine starke Verknüpfung zwischen einerseits politischen und wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Akteure – von der Ärzte-schaft über Journalisten, Vertreter der Gesundheitsbewegung bis hin zur Regierung – und andererseits der Einbindung des Risikofaktorenkonzepts in die jeweilige, von grundlegenden Akteurszielen vorgegebene Agenda. Das Risikofaktorenkonzept wurde in diesem Transfer von Inhalten zwar nicht fundamental verändert. Es durchlief aber in der jeweils als zweckdien-lich empfundenen Erweiterung einen Anpassungsprozess, welcher den zeit-genössischen Bedingungen und politischen Konstellationen Rechnung trug und den medizinischen bzw. präventiven Nutzen des Risikofaktorenkon-zepts in den Hintergrund rückte.

Ausblick

Mitte der 1980er Jahre kündigte sich in der Kritischen Medizin, dem Spiegel und im Deutschen Ärzteblatt eine Neuorientierung an, die letztendlich in der Bundesrepublik eine Internationalisierung der Debatte um Prävention an-stieß, welche die Fokussierung auf Krankheit durch eine Ausrichtung auf Gesundheit zu ersetzen suchte. Mit der Ottawa-Charta kulminierte dieser Trend in einem weltweiten Aufruf, Gesundheitsförderung (»health promoti-on«) voranzutreiben. Sie unterstützte einen Paradigmenwechsel, welcher Gesundheit statt Krankheit thematisierte und damit eine Erweiterung des medizinischen Risikofaktorenkonzepts um soziale Komponenten ermöglich-te. Damit wurde eine Überbrückung der traditionellen Spannungen zwi-schen Individualmedizin und Public Health zur Diskussion gestellt. Das Ri-sikofaktorenkonzept lieferte auch hier die Grundlage der Prävention.

Das Risikofaktorenkonzept kann als erfolgreich im Sinne seiner breiten Propagierung und Ausweitung eingeschätzt werden.65 Möglicherweise

65 So fasste die WHO schon Mitte der 1980er Jahre verschiedene chronische Krankhei-ten, zum Beispiel Krebs und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, unter dem Begriff der chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten (»chronic noncommuni-

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Gesellschaftliche Debatten um Krankheit 207

nimmt es derzeit sogar an Bedeutung zu, wenn man Risikokalkulation als eine wichtige Grundlage der heutigen individualmedizinischen Behandlung ins Auge fasst. Es gibt Faktoren und Konstellationen von Faktoren, die zu-künftige Krankheitsentstehung bestimmen. Dabei handelt es sich durchge-hend um Wahrscheinlichkeiten. Personen, die diese Faktoren bzw. Konstel-lationen aufweisen, stehen als Risikoträger diesen Wahrscheinlichkeiten gegenüber. Sie sind (noch) nicht krank, werden aber meist von der Medizin so definiert. Aus diesem Ansatz erwächst Prävention, die aber als Kuration praktiziert wird.66 Die unbefriedigenden Ergebnisse vieler Präventionspro-gramme im Bereich der chronischen Krankheiten zeigen die Grenzen dieses Ansatzes auf.67

Bibliographie

Archivalien

Bundesarchiv (BArch) Koblenz

Bestand B189/16768

Bestand B189/16836

Bestand B189/16912

Bestand B310/38

Bestand B310/134

Bestand B310/155

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66 Robert Aronowitz zum Beispiel problematisiert diese Entwicklung in Bezug auf den Umgang mit Brustkrebs in den USA. Siehe Aronowitz (2007). Siehe auch Trojan (2007).

67 Rosenbrock (1998).

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II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen

Samuel Hahnemann: Arzt und Berater der Prinzessin Luise von Preußen in den Jahren 1829 bis 1835

Inge Christine Heinz

Summary

Samuel Hahnemann: Physician and Adviser to the Princess Louise of Prussia from 1829 to 1835

The nearly 500 pages of letters (edited and commented in a medical dissertation by the author), written by a Prussian Princess in the 19th century to Dr Samuel Hahnemann, the founder of homoeopathy, provide a fairly complete patient history thanks to the homoeo-pathic method which obliges patients to observe and describe the complaints and the changes they experience during treatment. The achievements of Hahnemann’s therapy were so remarkable that the patient engaged his disciple Dr. Julius Aegidi as her court physician during the years 1831 to 1834. In no other of Hahnemann’s published case his-tories so many dreams are described. The diagnosis within the historical context could be hysteria, hypochondria and melancholy.

The therapy consisted in the prescription of homoeopathic remedies but also, among other prescriptions, in taking placebos, application of mesmerism, diet and life style advice. Hahnemann was opposed to vaccination. The doctor-patient-relationship became very intense. It can be said that Hahnemann acted as a psychotherapist. As the Princess rather liked speaking about her complaints her compliance in describing symptoms was excel-lent. It was less so in taking verum, applying mesmerism and changing her lifestyle. The success of the treatment was limited by the Princess’s court and family circumstances and probably by Hahnemann’s restriction to psora theory and C30 potencies. The dissertation is the most extensive patient history from Hahnemann’s medical practice ever published.

Einführung

Prinzessin Luise von Preußen, Frau des Prinzen Friedrich von Preußen, reiste am 31. Oktober 1829 nach Köthen, um sich in die Behandlung des damals schon weithin bekannten Arztes Dr. Samuel Hahnemann zu bege-ben. Vorausgegangen war bereits ein Briefwechsel, in dem die umfangreiche Krankengeschichte der erst 30 Jahre alten Patientin thematisiert worden war: »Im October 1829 schickte sie mir das schwere Packet ihrer bisherigen Recepte, woraus ich beiliegenden Auszug mir machte […]«1, schrieb Hah-nemann an seinen Schüler Aegidi. Das Hauptmotiv der Prinzessin, den 74-jährigen homöopathischen Arzt zu konsultieren, waren ihre Lach- und

1 Heinz (2007), S. 154, Brief vom 6. Januar 1832, Hahnemann an Aegidi. In: Allgemei-ne Homöopathische Zeitung (AHZ) 68 (1864), S. 16. Meine Dissertation, auf die der vorliegende Beitrag sich stützt, wird voraussichtlich 2010 als Monographie erscheinen.

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Weinkrämpfe. Da Luise in dem etwa 500 km entfernten Düsseldorf residier-te, entstand ein bis 1835 währender Briefwechsel mit sporadischen Arztbe-suchen bei Hahnemann in Köthen. Die Prinzessin entwickelte sich in diesen Jahren zu einer »vollkommnen Homöopathin«2 und bat Hahnemann bald um die Vermittlung eines homöopathischen Leibarztes, als welcher der be-reits erwähnte Dr. Julius Aegidi3 im April 1831 berufen wurde. Doch bis zu Hahnemanns Übersiedlung nach Paris im Jahre 1835 schrieb die Prinzessin ihm weiterhin ausführliche Briefe und Berichte.

Quellen

Im Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stif-tung in Stuttgart werden 136 Briefe und Berichte der Prinzessin aus den Jahren 1831 bis 1835, insgesamt fast 500 Seiten, aufbewahrt. Luise war eine von vielen Patientinnen und Patienten, die Hahnemann brieflich konsultier-ten. Insgesamt finden sich in seinem Nachlass etwa 5550 Briefe, doch die Korrespondenz mit der Prinzessin ist am umfangreichsten. Bis Anfang des Jahres 1831 hatte Hahnemann minutiös alle Patientenbriefe exzerpiert und in seine Krankenjournale übertragen. Dann hörte er damit auf, weil er die Menge offensichtlich nicht mehr bewältigen konnte. Die deutschen4 Kran-kenjournale wurden von ihm durchgehend geführt, das heißt, die Einträge sind nicht nach Patientennamen geordnet, sondern unter dem Tag der Konsultation aufgezeichnet. Um also die Krankengeschichte der Prinzessin Luise rekonstruieren zu können, mussten die Krankenjournale ab D33 aus dem Jahre 1829 durchgesehen werden. Wenn die Prinzessin Hahnemann persönlich in Köthen aufsuchte, trug er unter dem entsprechenden Datum seine Bemerkungen ein. Der letzte Krankenjournaleintrag zu Luise findet sich in D38 aus dem Jahre 1834. Im Rahmen meiner Dissertation wurden daher nicht nur die Briefe der Prinzessin erstmalig transkribiert, ediert und kommentiert, sondern es musste mit etwa 50 teilweise schwer zu entziffern-den Einträgen Hahnemanns in seinen Journalen auf gleiche Weise verfah-ren werden. Zum Verständnis der Krankengeschichte wurde auch der Briefwechsel zwischen Hahnemann und Aegidi, die Behandlung der Prin-zessin betreffend, herangezogen.

Die intensive Suche nach den Briefen Hahnemanns an die Prinzessin war erfolglos; vermutlich hat sie sie selbst vernichtet. Hahnemann notierte sich jedoch auf ihren Briefen sowohl das Datum seiner Schreiben an die Prinzes-sin als auch seine Verordnungen, wobei er oft Kürzel verwendete, deren Entzifferung sich bisweilen sehr schwierig gestaltete.

2 Heinz (2007), S. 105, Brief vom 2. Februar 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Be-stand A 12, S. 1.

3 Vigoureux (2001).

4 Die deutschen Krankenjournale wurden später mit »D« (lat. diarium = Tagebuch) bezeichnet und chronologisch nummeriert.

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An bisher unveröffentlichten Hahnemann-Dokumenten fand sich außerdem ein Gutachten Hahnemanns vom 25. Dezember 1832 für den Ehemann der Prinzessin, der sich auch homöopathisch behandeln ließ, des Weiteren der Entwurf und die Abschrift eines Briefes an die Prinzessin vom 9. November 1834, in dem es um die Entlassung ihres Leibarztes Aegidi geht.

Wer war Prinzessin Luise?5

Sie wurde 1799 auf Schloss Ballenstedt als Gräfin Wilhelmine Louise von Anhalt-Bernburg geboren. Mit 18 Jahren heiratete sie den 23-jährigen Prin-zen Friedrich Wilhelm Ludwig von Preußen, der mit dem Königshaus eng verwandt war. Das Paar lebte bis 1821 in Berlin, wo der erste Sohn geboren wurde.

In diesem Jahr entsandte König Friedrich Wilhelm III. die Familie in die Rheinprovinz nach Düsseldorf. Dort gebar Luise ihren zweiten Sohn. Wäh-rend der Sommermonate hielt sich die Prinzessin häufig bei ihrem Vater und ihrem Bruder in Anhalt-Bernburg auf. Das Prinzenpaar war befreundet mit den etwa 50 km entfernt residierenden Herzögen von Anhalt-Köthen, wo Hahnemann in den Jahren 1821 bis 1835 als homöopathischer Arzt praktizierte. Über diese Verbindung wurde Prinzessin Luise von 1829 bis 1835 Hahnemanns Patientin.

Vermutlich ausgelöst durch den Schock der Ereignisse während der März-revolution, brach 1848 eine wohl erbliche Gemütskrankheit bei der Prinzes-sin aus. Sie wurde von Diakonissen der Kaiserswerther Diakonie gepflegt und verbrachte die langen Jahre bis zu ihrem Tod 1882 zurückgezogen auf Schloss Eller bei Düsseldorf.

Die Krankengeschichte der Prinzessin

Wie kann man erklären, dass eine Patientin seitenlang ausführlich und pe-nibel immer wieder über ihren Gesundheitszustand berichtet? Hahnemann forderte von seinen Patienten6 eine genaue Berichterstattung über ihr All-gemeinbefinden, ihre Beschwerden und die Veränderungen während seiner Behandlung7. Bis zum heutigen Tage unterscheidet sich die Homöopathie auch in diesem Aspekt von der Schulmedizin, da sich die homöopathische Therapie8 als Ganzheitsmedizin versteht und die Wahl eines Heilmittels auf

5 Zacher (2000); Heinz (2007), S. 16-30.

6 Im Folgenden wird für Nomina der besseren Lesbarkeit halber die männliche Form gewählt; grundsätzlich sind in allen analogen Fällen beide Geschlechter gemeint.

7 Habacher (1980), S. 390f.; vgl. auch Jütte (1998).

8 Die Autorin bezieht sich auf die sog. Klassische Homöopathie im Unterschied zur gleichzeitigen Mehrmittel- und Komplexmittelverabreichung, die Hahnemann strikt ablehnte.

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der Gesamtheit der psychischen und physischen Symptome eines Patienten beruht. Prinzessin Luise war unter diesem Gesichtspunkt sicher eine der folgsamsten Patientinnen Hahnemanns.

Im Laufe des Briefwechsels erschließt sich die Vorgeschichte der Patientin, die sich wegen ihrer Lach- und Weinkrämpfe in die Behandlung Hahne-manns begab. Ihre sonstigen herausragenden Beschwerden, geordnet nach homöopathischen Kriterien, waren folgende:

Psychische Symptome: Ängstlichkeit, Beklommenheit, Hoffnungslosigkeit, Schüchternheit, Traurigkeit, Unentschlossenheit, beständiges Klagen

Allgemeinsymptome: Abspannung mit Gähnen, Mattigkeit, Schweregefüh-le, einer Ohnmacht ähnliche Beschwerden, große Angegriffenheit und Ge-reiztheit des ganzen Nervensystems, Neigung zu Verstopfung

Besserung ihrer Beschwerden durch: Beschäftigung, Sprechen über ihr Lei-den, Reisen, Landleben, Spaziergänge, frische Luft

Verschlimmerung ihrer Beschwerden durch: Langes Sprechen und vor al-lem Sprechen-Hören, große Gesellschaften, Widerspruch, Winter und Früh-jahr, Ofenwärme

Lokale Symptome: Kopf-, Zahn-, Ohren-, Brust-, Magen-, Kreuz- und Un-terleibsschmerzen, Harn- und hämorrhoidale Beschwerden, Gesichtshitze

Der Versuch einer historischen Deutung des Krankheitsbildes nach den schulmedizinischen Kriterien jener Epoche lässt auf die damals typischen Diagnosen »Hysterie, Hypochondrie und Melancholie«9 schließen, wobei noch Blasenfunktionsstörungen hinzukommen, die wohl von Luises zweiter schwerer Geburt herrührten. Für die Kriterien der homöopathischen Be-handlung ist jedoch der Krankheitsname unerheblich. Es kommt darauf an, für die Gesamtheit der Symptome das passendste Mittel in der Materia Me-dica zu finden. Letztere hat sich seit Hahnemann zwar enorm erweitert, aber nicht grundsätzlich verändert.

Träume

In der Medizin des 19. Jahrhunderts – vor Sigmund Freuds Entdeckungen – hatten Träume wenig Bedeutung. Umso erstaunlicher ist es, dass Hahne-mann die bei den Arzneimittelprüfungen auftretenden Traumsymptome in seinen Aufzeichnungen festhielt. In seinen Krankenjournalen finden sich dazu Notizen. Prinzessin Luise beschreibt ausführlich ihre Träume, wobei offenbleibt, ob Hahnemann sie speziell dazu aufgefordert hat oder die zahl-reichen Schilderungen »nur« ihrer skrupulösen Selbstbeobachtung zuzu-schreiben sind.

9 Encyclopädisches Wörterbuch (1838/1840), Bd. 17, Art. »Hypochondrie«, S. 460-499, und Art. »Hysteria«, S. 513-538; Bd. 22, Art. »Melancholie«, S. 643-693. – Fischer-Homberger (1984).

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Ihre Träume handelten von den Problemen mit Aegidi, von ihrem Ge-sundheitszustand, von der empfundenen Ausweglosigkeit, Erlösungswün-schen durch den Tod, aber auch Hahnemann kam darin vor. Das Bezeich-nendste, was sich bis in ihre letzten Briefe durchzog, war ihr Sprechen im Schlaf: »Es ist als wenn im Schlafe sich das ausspräche was im Wachen ich oft nicht so deutlich dachte.«10

Hahnemann hat mit großer Wahrscheinlichkeit die homöopathischen Mit-tel Ammonium carbonicum und Carbo animalis aufgrund der Traumsym-ptomatik Luises verordnet. Auch seine Krankenjournaleinträge zu Friedrich Wieck in den Jahren 1815/16 bieten zahlreiche Traumsymptome11, doch bis jetzt sind in keiner anderen veröffentlichten Krankengeschichte12 eines Hahnemann-Patienten so viele Traumschilderungen enthalten wie in den Berichten der Prinzessin.

Therapieformen

Homöopathische Mittel

In einem Zeitraum von etwa vier Jahren finden wir 66 Verschreibungen Hahnemanns von 31 verschiedenen homöopathischen Heilmitteln.13 Dazu kommen noch die von Luises Leibarzt Aegidi verordneten Medikamente bei akuten Erkrankungen und Mittel, die die Prinzessin nach eigenem Gut-dünken anwendete.

Es wurde immer die Potenz C 3014 verabreicht, anfangs zwei Globuli, was zu einer starken Erstverschlimmerung führte, so dass Hahnemann in der Folge nur noch eines verabreichte. Ab 1831 ging er dazu über, die homöo-pathischen Medikamente nicht mehr oral zu verabreichen, sondern als Riechmittel, nicht nur bei Prinzessin Luise, sondern auch generell, was Hahnemann wieder viele Anfeindungen einbrachte.15 Doch selbst bei der Applikation »per nasum« kam es bei der übersensiblen Prinzessin zu Ver-schlimmerungen, so dass sie Hahnemann um die Zusendung von »Pulvern« bat, da »[…] ich mehrere Male gefühlt [habe,] daß ich mich nach den Riechmitteln so aufgeregt in der Stimmung fand oder daß dadurch manche

10 Heinz (2007), S. 428, Brief vom 26. Mai 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 1038, S. 3.

11 Genneper (1991), S. 28, 31f.

12 Seiler (1988); Hickmann: Leiden (1996); Fischbach-Sabel (1998), Bd. D34 K, S. 61f.; Dinges (2002), S. 111.

13 Heinz (2007), S. 561-569.

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Beschwerden wieder von Neuem erregt wurden wodurch ich mich dann so angegriffen befand […]«.16

Placebos (= Pulver)

Hahnemann war dadurch gewissermaßen gezwungen, Scheinmedikamente in die Behandlung einzubauen, da er wusste, dass eine einzige Gabe einer homöopathischen Arznei, z. B. in der Potenz C 30, wochenlang wirken konnte, die Patienten aber täglich etwas einnehmen wollten, weil sie es von der vorherrschenden Allopathie so gewohnt waren. Hahnemann verordnete der Prinzessin etwa 350 Placebo-Gaben. Somit übertraf die »Pulvertherapie« die Verum-Gaben um mehr als das Fünffache.17

»Diät und Lebensordnung«

In den Krankenjournaleinträgen zur Prinzessin und in ihren Briefen geht es immer wieder um die Ernährung.18 Die Patientin will auch ganz genau wis-sen, ob sie etwas zu sich nehmen darf oder nicht. Bisweilen erscheint es reichlich übertrieben, aber diese Übergenauigkeit ist charakteristisch für sie: »Darf ich Aprikosen und Birnen essen da die Kirschen aufhörten jetzt?«19 Sie soll sich täglich im Freien bewegen und ihre gesellschaftlichen Ver-pflichtungen auf ein Minimum beschränken, da diese oft Ursache ihrer Be-schwerden waren. Auch die Sexualität wird von Hahnemann angespro-chen. Bereits in der Erstanamnese notierte er sich:

[...] kalt (anfangs u. ffe [folgende] zuviel coitus) in Berlin gehänselt, in dem ersten Wo-chenbette wie verrückt wohl nachmals l Jahr lang, verabscheute den Mann und das Kind [...] Geschlechtstrieb sehr wenig, daher sehr selten geübt, doch hat sie keine Be-schwerde weder dabei noch nachher.20

Auf Hahnemanns offensichtliche Frage – einige Monate später – nach der Ausübung des Koitus ist folgende Notiz zu finden: »[…]? Wegen der stren-gen Kälte und eines noch immer anhaltenden Hustens des Prinzen habe das wonach ich gefragt (?) bis jezt nicht stattfinden können, doch wenn dieß der Fall seyn wird, wird sie es mit den benannten Zeichen bemerken […].«21 Hahnemanns zwei Fragezeichen sprechen dafür, dass ihn diese Antwort

16 Heinz (2007), S. 409f., Brief vom 14. April 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1036, S. 4.

17 Heinz (2007), S. 604-608. Zu Placebo-Gaben vgl. auch Genneper (1991), S. 88; Hick-mann: Leiden (1996), S. 400-403; Gehrke (2000), S. 112; Papsch (2007), Bd. D38 K, S. 105-111; Mortsch (2008), S. 151-156.

18 Zur Diätetik Hahnemanns vgl. auch Busche (2008), S. 33-55.

19 Heinz (2007), S. 214, Brief vom 18. August 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 993, S. 3.

20 Heinz (2007), S. 48, IGM Bestand D33/465 v. 31. Oktober 1829.

21 Heinz (2007), S. 64, IGM Bestand D34/115 v. 15. März 1830.

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wohl nicht überzeugte. Was das erwähnte »Zeichen« betrifft, so ließ es sich entweder nicht entschlüsseln oder es kam nie zur Anwendung. Abgesehen davon, dass wohl auch der Ehemann »[…] nicht dazu geneigt war wie frü-her in ein näheres Verhältniß zu treten«22, hatte sie Angst vor einer weiteren Schwangerschaft:

Einen Fall gestehe ich den ich für die Zukunft wenn dieser je noch einmal eintreten sollte ich besorgen würde da meine Gesundheit Beyde Male so darunter litt wäre wenn ich noch einmal Mutter würde. Die Ärzte hatten damahls geglaubt vor der Ge-burt meines jüngsten Sohnes meine Gesundheit würde dadurch ganz hergestellt wer-den doch bin ich seitdem kränklicher als vorher gewesen […].23

Mesmerismus

Der Mesmerismus24 ist die einzige Behandlungsmethode, die Hahnemann gleichberechtigt neben der Homöopathie gelten ließ. Er erklärte sie in sei-nem »Organon der Heilkunst« so, dass »[…] durch den kräftigen Willen eines gutmeinenden Menschen auf einen Kranken, mittels Berührung und selbst ohne dieselbe, ja selbst in einiger Entfernung die Lebenskraft des ge-sunden mit dieser Kraft begabten Mesmerirers in einen andern Menschen dynamisch einströmt […]«.25 Gegen diese Therapieform, ausgeübt von ih-rem Leibarzt Aegidi, hatte Luise eine unüberwindbare Abneigung, obwohl ihr der Mesmerismus bei unterschiedlichen Beschwerden half. Trotz wie-derholter geduldiger Erklärungen blieb sie skeptisch. Außerdem hatte sie Angst davor, dass der Hof davon erfuhr und es noch mehr Gerede gab. Die Homöopathie allein war schon »des Guten« genug. Allerdings ist die Ver-mutung angebracht, dass Luises Ablehnung des Mesmerismus vor allem die Person Aegidis betraf. Hahnemann hätte wahrscheinlich als Mesmerierer bei ihr mehr Erfolg gehabt: »[…] ich träumte Unzusammenhängendes doch wieder daß Hofrath Hahnemann mich magnetisirte.«26

Eine Art »Psychotherapie«27

So ablehnend die Prinzessin auch dem Mesmerismus gegenüberstand, so dankbar war sie für Hahnemanns einfühlsame Zuwendung. »Das Fehlen

22 Heinz (2007), S. 222, Brief vom 6. September 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 996, S. 1.

23 Heinz (2007), S. 221, Brief vom 30. August 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 995, S. 3.

24 Heinz (2007), S. 619-628. – Zur Kontroverse um den Mesmerismus vgl. auch Jütte (1996), S. 103-114.

25 Hahnemann (1829), § 291.

26 Heinz (2007), S. 337, Brief vom 13. Januar 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1024, S. 4. – Der Mesmerismus wird auch als tierischer Magnetismus be-zeichnet im Unterschied zum mineralischen Magnetismus.

27 Heinz (2007), S. 628-632.

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eines Gesprächspartners am Wohnort erhöht die Rolle des ärztlichen Brief-partners«, schreibt Martin Dinges,28 und dies wohl noch mehr im Falle ei-ner hochstehenden Persönlichkeit, die in allen ihren Äußerungen Vorsicht walten lassen muss. Hahnemann war fähig, sich in ihre Situation einzufüh-len und der Prinzessin seine wohltuende Empathie entgegenzubringen, und sie war ihm dafür zutiefst dankbar: »Wo der erfahrenste oder der geschick-teste Arzt zuweilen wenig oder gar nicht durch Mittel helfen kann da lindert ein Wort der Theilnahme oft noch allein, dies enthalten für mich Ihre Brie-fe unzähliche Male und ich kann Ihnen dies nie genug danken.«29

Bloß diese, durch die Seele zuerst angesponnenen und unterhaltenen Gemüths-Krankheiten, lassen sich, so lange sie noch neu sind und den Körper-Zustand noch nicht allzusehr zerrüttet haben, durch psychische Heilmittel, Zutraulichkeit, gütliches Zureden, Vernunftgründe, oft aber auch durch eine wohlverdeckte Täu-schung, schnell in Wohlbefinden der Seele (und bei angemessener Lebensordnung, auch scheinbar in Wohlbefinden des Leibes) verwandeln.30

Diese Definition Hahnemanns lässt darauf schließen, dass er die Prinzessin zum damaligen Zeitpunkt keinesfalls als geisteskrank betrachtete, da sonst sein Zuspruch weder indiziert gewesen wäre noch Erfolg gehabt hätte. Es scheint, dass die Prinzessin im Vergleich mit den übrigen ausgewerteten Patientenbriefen geradezu als Protagonistin für Hahnemanns psychothera-peutisches Handeln gelten kann.

Ablehnung der Pockenimpfung31

Es fällt auf, dass Hahnemann, der anfangs die Pockenimpfung wohlwollend aufnahm, im vorliegenden Fall die Impfung von drei Personen ablehnte. Er hatte im Laufe der Jahre offensichtlich die Nebenwirkungen der 1798 von Jenner eingeführten Pockenimpfung bei seinen Patienten bemerkt. »Blattern sind in der Nähe, soll sie sich impfen lassen. Hat sie sich vor 30 Jahren impfen lassen«32, notierte Hahnemann in sein Krankenjournal im Mai 1830. Da aus dieser Zeit keine Briefe der Prinzessin vorliegen, findet sich keine Antwort Hahnemanns. Erst drei Jahre später wird das Thema wieder aufgegriffen, als die Prinzessin um entsprechenden Rat nachsucht.

Ich habe einige Erfahrung gemacht, daß ganze Familien, in deren Haus ein Pocken-kranker entstand, geschützt worden, indem ich jedes Familienmitglied alle 10–14 Tage einmal an toxic. riechen ließ. Dieß könnten Sie mit den beiden Prinzen thun. Die Prinzessin selbst aber ist viel zu reizbar gegen eine solche Arznei. Diese muß sich bloß

28 Dinges (2002), S. 124.

29 Heinz (2007), S. 390, Brief vom 24. März 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1033, S. 1.

30 Hahnemann (1829), § 223; Hahnemann (1992), § 226.

31 Heinz (2007), S. 643-647.

32 Heinz (2007), S. 79, IGM Bestand D34/271 v. 18. Mai 1830.

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vor \Nähe von/ Personen hüten, die in Pockenhäusern gewesen sind. Anders giebts für dieselbe kein Vorbauung Mittel33,

schrieb Hahnemann an Aegidi. Also vertrat er zu diesem Zeitpunkt die Meinung, dass eine Vorbeugung mit Riechen an Rhus toxicodendron C 30 einer Impfung vorzuziehen sei, und bei reizbaren Personen empfahl er so-gar nur, sich von Menschen fernzuhalten, die in Pockenhäusern gewesen waren. Ob Hahnemann generell die homöopathischen Heilmittel einer Impfung gegen Pocken vorzog, werden wir vielleicht durch die Veröffentli-chung weiterer Krankenjournale und Patientenbriefe erfahren.

Cholera

Die Homöopathie hatte während der Choleraepidemie in den Jahren 1831/32 starken Auftrieb erhalten, da es sich herumgesprochen hatte, dass Hahnemann mit seiner homöopathischen Prophylaxe und seinen Therapie-empfehlungen eher Heilungserfolge erzielte als die damalige Schulmedi-zin.34 Im speziellen Fall der überempfindlichen Prinzessin scheint Hahne-mann aber nur geraten zu haben, die geplante Reise zu ihrem Vater zu ver-schieben.35

Hahnemanns Honorarforderungen

Im November 1832 schrieb die Prinzessin an Hahnemann: »Ich bitte <Sie> mir für die Monate Juny, July, August, September und Oktober wo Sie mich behandelten daß Sie mir wenn ich zu Ihnen komme schriftlich geben was das Honorar dafür beträgt.«36 Daraufhin vermerkte sich Hahnemann: »den 28 Nov Prinzesssin Fr[iedrich]. 60 Ldr37 gefordert«38. Anfang Dezem-ber erhielt Hahnemann die gewünschte Bezahlung: »Das Honorar von 60 Frd’or39 erhalten Sie mit diesen Zeilen, davon 50 von mir und 10 vom Prinzen für Ihre Bemühungen für ihn.«40 In dem erwähnten Zeitraum von

33 Heinz (2007), S. 402, Brief vom 1. April 1833, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 51.

34 Scheible (1994).

35 Heinz (2007), S. 162, Brief vom 18. April 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 983.

36 Heinz (2007), S. 277, Brief vom 8. November 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1011, S. 2.

37 Abkürzung für Louisdor (frz. Louis d’or), die französische Hauptgoldmünze vor Ein-führung des Franc-Systems; geprägt 1640-1794. 1 Ldr entsprach etwa 5 preußischen Talern zu 24 Groschen.

38 Heinz (2007), S. 283, Brief vom 21. November 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1014, S. 1.

39 Für die preußische Patriotin Luise ist der Louisdor natürlich ein Friedrichsd́or!

40 Heinz (2007), S. 290, Brief vom 5. Dezember 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM

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fünf Monaten liegen 36 Briefe und Berichte der Prinzessin an Hahnemann vor, und er antwortete sicher mit mindestens 19 Briefen. Außerdem suchte Luise Hahnemann bestimmt viermal in seiner Praxis auf.

Es sieht so aus, verglichen mit den Honoraren bei Antonie Volkmann41 im Mai 1830 und dem Geiger Niccolò Paganini42 fünf Jahre später in Paris, dass Hahnemann bei Prinzessin Luise kein erhöhtes fürstliches Honorar verlangt hat43.

Gleichzeitige Behandlung durch die beiden Ärzte Hahnemann und Aegidi

Die Prinzessin war mit Hahnemanns Behandlung so zufrieden, dass sie ihn beauftragte, einen homöopathischen Leibarzt für sie zu suchen. Das war damals nicht ungewöhnlich – es war fast zu einer Mode im Adel gewor-den.44

Durch den Briefwechsel zwischen Hahnemann und Aegidi erhalten die in den Briefen und Berichten genannten subjektiven Beschwerden der Prinzes-sin eine gewisse Objektivierung. Vor allem der Brief Aegidis an Hahne-mann vom 29. Dezember 1831 gibt auf drei Seiten eine umfassende Darstel-lung des Gesundheitszustandes der Prinzessin: »Alle Menschen, die ihr nä-her stehen, behaupten, sie genieße der vollkommensten Gesundheit, dem ist jedoch nicht also [...].«45

Die folgende Bemerkung Hahnemanns zeigt, dass Aegidi gegenüber seinem Lehrer durchaus seine eigenen Anschauungen vertrat, denen Hahnemann auch zustimmte, wenn sie ihm angemessen erschienen: »Sie haben Recht daß man zu gehöriger Zeit auch expektiren und die Mittel, die gut gethan in chronischen Krankheiten auswirken lassen müsse […].«46

Aegidi hatte jedoch – seinem Alter und seiner relativ kurzen Berufserfah-rung entsprechend – (noch) nicht die Gabe, auf die schwierige Patientin mit so viel Einfühlungsvermögen und Geduld, aber auch Selbstsicherheit zu reagieren wie Hahnemann, der offensichtlich auch gesprächiger als Aegidi war. Die Prinzessin bezweifelte also weniger dessen ärztliches Können, son-

Bestand A 1016, S. 2.

41 Hickmann: Leiden (1996), S. 340.

42 Jütte (1992), S. 193.

43 Heinz (2007), S. 558-560.

44 Haehl (1922), Bd. 1, S. 185.

45 Heinz (2007), S. 152, Brief vom 29. Dezember 1831, Aegidi an Hahnemann, IGM Bestand A 31, S. 1.

46 Heinz (2007), S. 283, Brief vom 15. November 1832, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 38.

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dern ihr ängstlicher, besorgter Charakter erforderte einen selbstbewusst und erfahren auftretenden Arzt.

Arzt-Patientin-Verhältnis

Das Hauptmerkmal dieses Arzt-Patientin-Verhältnisses ist die Häufigkeit und zunehmende Intimität der Briefe, ganz abgesehen von der Bewunde-rung, die Prinzessin Luise ihrem Arzt entgegenbringt.

Es ist allerdings zu vermuten, dass das Verhältnis für Hahnemann, wenn man die ihm sicher zugutekommende Prominenz der Patientin außer Acht lässt, sehr anstrengend war, vor allem aufgrund der häufigen Klagen der Prinzessin im Allgemeinen und speziell über die durch ihn vermittelten Leibärzte.

Luise fasste ein außerordentliches Vertrauen zu Hahnemann, ja sie setzte alle Hoffnung auf ihn. Das ließ ihn nicht gleichgültig; Äußerungen gegen-über Aegidi zeigen Sympathie und Mitgefühl: »[…] die zartgesinnte und vortreffliche Dame […]«47; »Nehmen sie mir 20 Jahre von meinem Alter weg und ich verkaufe gleich mein Haus und Hof und gehe, so gut ich mich auch hier, bloss wegen jenes Frei-Briefs, stand, alsbald unter jenen liberalen Bedingungen der vortrefflichen Prinzessin nach dem schönen Düsseldorf an den Rhein«48; »Die Prinzessin, die Sie gewiss als die würdigste Dame wer-den gefunden haben […]«49; »Meinen unterthänigsten Respekt der engelgu-ten Prinzessin; ich wünsche ihr das beste Lebens-Glück […]«50; »Ich stecke zwar in Arbeit bis an die Ohren; aber wer könnte der guten, lieben Dame etwas abschlagen? […]«51.

Hahnemann schreibt an Aegidi Ende September 1831: »Der Prinzessin kann ich nicht von freien Stücken schreiben, wohl aber ihr gern antworten, wenn sie an mich geschrieben hat. Die Gründe hiezu anzugeben, würde zu weitläufig seyn. Genug daß ich ihr gern antworte […].«52 Wollte Hahne-mann eine zu große Nähe vermeiden? Vermutlich spielte hierbei auch der soziale Abstand eine Rolle. Allerdings schickte Hahnemann im Januar 1832

47 Heinz (2007), S. 104, Brief vom 26. Januar 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Be-stand A 11, S. 2.

48 Heinz (2007), S. 125, Brief vom 18. März 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 16, S. 2f.

49 Heinz (2007), S. 127, Brief vom 6. April 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 18.

50 Heinz (2007), S. 151, Brief vom 6. November 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 26, S. 3.

51 Heinz (2007), S. 152, Brief vom 21. Dezember 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 30.

52 Heinz (2007), S. 150, Brief vom 28. September 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 24, S. 3.

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zwei Stahlstiche an Aegidi, wovon einer für die Prinzessin gedacht war. Sie antwortete:

Gestern erhielt ich durch den Dr. Aegidi Ihren so ähnlichen Kupferstich wofür ich Ihnen aufrichtig danke. Sie haben mich dadurch recht erfreut als einen Beweis daß Sie meiner wie bisher gedachten. Dieses Portrait von Ihnen wird in einem meiner Zimmer worin ich oft bin seinen Platz erhalten und so ich es sehen werde gedenke ich Ihrer Theilnahme […].53

Während des Sommeraufenthaltes 1832 bei ihrem Vater in Anhalt-Bernburg suchte die Prinzessin einige Male Hahnemann in seiner Praxis auf und wurde sich seines langen Arbeitstages bewusst: »Oft denke ich daran wie sehr beschäftigt Sie sind und wünschte Ihnen dann eine Hülfe dabey, wäre denn diese nicht möglich zu erhalten.«54 Die Prinzessin führte ein Ge-spräch mit Herrn von Braun (1790-1872), dem Präsidenten von Bernburg55, in dieser Angelegenheit56 und wurde bald darauf in Kenntnis gesetzt, dass Hahnemann durch Dr. Gottfried Lehmann einen Mitarbeiter bekam: »[…] erfuhr ich [...] daß Sie kürzlich durch einen Arzt endlich eine Hülfe bey Ihren Geschäften erhielten woran ich recht sehr Antheil nehme«57. Zwei Monate später teilte sie Hahnemann ihre Absicht mit: »Anfang November nach Köthen mich zu begeben wie dies schon früher einmal mein Plan war und dort den Winter zuzubringen damit ich in Ihrer Nähe wäre und Sie täglich meinen Zustand beobachten könnten und allein dort die Kur leite-ten.«58 Einige Tage später berichtet sie ihm: »Die Nacht war gut ich träumte wenig und nur Freundliches, ich sah im Traume das Portrait59 vom Hof-rath Hahnemann welches ich vergangenen Sommer in Köthen in seinem Hause sah und so ähnlich ist.«60

In der Folge träumte sie noch öfter von ihren Besuchen bei Hahnemann. Aufgrund politischer Umstände verzichtete die Prinzessin zwar auf ihre Kur

53 Heinz (2007), S. 155f., Brief vom 17. Januar 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 981, S. 1.

54 Heinz (2007), S. 180, Brief vom 12. Juli 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 1001, S. 4.

55 Vgl. auch Busche (2008).

56 Heinz (2007), S. 183, Brief vom 19. Juli 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 985, S. 3.

57 Heinz (2007), S. 214, Brief vom 23. August 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 994, S. 1.

58 Heinz (2007), S. 238f., Brief vom 1. Oktober 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1002, S. 3.

59 Dabei dürfte es sich um das Ölgemälde von Julius Schoppe (ca. 1795-1850) zum gol-denen Doktorjubiläum am 10. August 1829 handeln, das nach Rudolf Tischner »wohl eine der gelungensten Abbildungen Hahnemanns ist«.

60 Heinz (2007), S. 241f., Brief vom 5. Oktober 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 999.

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in Köthen, aber der Briefwechsel war intensiv und wurde immer vertrauter. »Ein kleines Bildchen welches ich für Sie mahlte sende ich Ihnen nächstens, nur muß ich bitten solches so zu hängen daß es vor Sonne geschützt ist weil die sepia womit es gemahlt wurde sonst verbleicht. Nehmen Sie es gütig von mir als Andenken an.«61

Auch die folgenden Zeilen bezeugen gegenseitige Zuneigung:

[Der] erste Brief den ich im neuen Jahre [schreibe] ist an Sie obgleich ich Ihnen erst [kürzl]ich am 30sten December geschrieben habe. [Dr] Aegidi welcher diesen Morgen bey mir war sagte mir er hätte von Ihnen einen [Brief] erhalten worin Sie beym Jah-reswechsel [mein]er gedacht hätten wofür ich Ihnen aufrich[tig] danke, doch theilte er mir wie sonst mei[stens] nichts mit aus Ihrem Briefe.62

Der folgende Traum der Prinzessin hat unverkennbar eine ihr wohl unbe-wusste erotische Komponente: »[...] ich träumte Unzusammenhängendes doch wieder daß Hofrath Hahnemann mich magnetisirte.«63

Die Persönlichkeit Hahnemanns ist ein Lichtblick in ihrem Hofleben: »Im Zimmer des Hofraths Hahnemann in Köthen sah ich im Traume viele Lichter.«64 »Das Vertrauen welches ich zu Ihnen habe betrifft nicht Sie als Arzt allein, ich habe dies auch noch außer dem zu Ihnen selbst […].«65 Als Hahnemann im Frühjahr 1833 schwer erkrankte, schrieb sie ihm:

Ich kann dieses mein journal nicht an Sie senden ohne Ihnen wenigstens durch einige Worte meine aufrichtigste Theilnahme zu versichern wegen Ihrem jetzt leidenden Be-finden welches ich durch den Brief Ihrer Tochter an mich erfuhr mit dem größten Be-dauern. Ich danke Ihnen daß Sie mir verhindert selbst zu schreiben durch Ihre Toch-ter antworten ließen. Den Dr Aegidi bat ich zu schreiben da ich so wünschte von Ih-rem Befinden bald Nachricht zu erhalten. Eine Ihrer Töchter wird wohl dem Dr Ae-gidi dies schreiben damit ich erfahre wie es Ihnen ergeht. Wohnten Sie hier dann ließe ich mich täglich nach Ihrem Befinden erkundigen [...] Mit meinen guten Wünschen für Sie bin ich mit meinen Gedanken oft bey Ihnen nicht allein im Wachen auch im Traume beschäftigt mich der Gedanke an Sie.66

Doch im Oktober 1834 geriet das gute Einvernehmen ins Wanken, ausge-löst durch Luises Unzufriedenheit mit Aegidi. Kurioserweise fiel dies mit

61 Heinz (2007), S. 310, Brief vom 23. Dezember 1832, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1019, S. 3.

62 Heinz (2007), S. 324, Brief vom 1. Januar 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1021, S. 1.

63 Heinz (2007), S. 337, Brief vom 13. Januar 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1024, S. 4.

64 Heinz (2007), S. 343, Brief vom 17. Januar 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1029, S. 4.

65 Heinz (2007), S. 369, Brief vom 24. Februar 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1029, S. 2.

66 Heinz (2007), S. 418f., Brief vom 8. Mai 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 1037, S. 6.

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der Ankunft Mélanie d’Hervillys aus Paris zusammen, die Hahnemann im Januar 1835 heiratete. Die Briefe der Prinzessin kreisen nun fast nur noch um Aegidi, den Hahnemann am Hofe ihres Bruders »unterbringen« soll, und um eine finanzielle Abfindung des in Ungnade gefallenen Leibarztes. Schließlich – nachdem die Angelegenheit aus Hahnemanns Sicht das rechte Maß überschritten hatte – schrieb er ihr einen klar und brillant formulierten Brief:

Die Verabschiedung eines solchen Mannes ist kein Spaß – nicht etwa so, als wenn man einen Laufburschen wegjagt. Er ist ein Mann, der in keinen geringen Rufe bei der Homöopathischen Welt steht, bedeutende Connexionen und Verbindungen am Berli-ner Hofe (Ihnen unwissend) hat [...] Um Er. Königlich. Hohheit guten Ruf, der mir so sehr am Herzen liegt, bin ich bei diesem Ereignisse, ich leugne es nicht, gar sehr be-sorgt. Er könnte bei diesem Ereignisse sehr leiden. Wie Sie übrigens dabei zu verfah-ren haben, bin ich zu wenig, zu entscheiden, finde nur, daß meine hohe Achtung für Dero Charakter mir befiehlt, Sie von ganzem Herzen zu warnen. Wer wollte überdieß den Aegidi bei dem Herzog von Bernburg mit gehörigem Gehalte anbringen konnen, wenn Sie, seine leibliche Schwester es nicht könnten, oder wollten?67

Die heftige Antwort der Prinzessin wurde drei Tage später verfasst:

Mein Ruf steht zu fest als daß ein Medizinalrath diesen verdunkeln könnte vergessen Sie nicht wer ich bin und was er gegen mich ist ein Untergebner wie jeder andre Die-ner den ich entlassen kann wenn ich Ursache habe mit der Vernachlässigung in seiner Dienstpflicht unzufrieden zu seyn wenn ich eine Hofdame entließ kann ich den Medi-zinalrath auch entlassen […].68

Doch schon zwei Tage später entschuldigt sie sich bei Hahnemann: »Habe ich in meinem letzten Briefe etwas angeregt geschrieben so meynte ich es dennoch gut mit Ihnen ich hatte Sie mißverstanden.«69 Wie die nächsten Briefe zeigen, hatte Hahnemann angemessen gehandelt, und das langjährige gute Verhältnis zwischen ihm und der Prinzessin überstand die kritische Situation, obwohl sich die Vermittlung eines neuen Leibarztes als kompli-ziert erwies, da die hohen Ansprüche Luises nicht erfüllt werden konnten.

Doch da passierte etwas, was niemand, schon gar nicht die Prinzessin, für möglich gehalten hatte: »Meine Überraschung war nicht gering als ich in der hiesigen Zeitung die Anzeige Ihrer Verheyrathung las da ich nichts da-von ahnte und wünsche Ihnen alles Gute in ihren Verhältnissen.«70 Aber damit nicht genug:

67 Heinz (2007), S. 491f., Abschrift eines Briefs Hahnemanns an die Prinzessin vom 9. November 1834, IGM Bestand A 1067.

68 Heinz (2007), S. 496, Brief vom 12. November 1834, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1070, S. 1f.

69 Heinz (2007), S. 499, Brief vom 14. November 1834, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1071.

70 Heinz (2007), S. 531, Brief vom 14. Februar 1835, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1089, S. 2.

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Samuel Hahnemann 227

In der Berlinerzeitung stand ein Artikel aus Paris worin ich las man erwarte Ihre An-kunft dort. Doch war es mir unwahrscheinlich daß Sie eine so weite Reise machen würden um so mehr da Sie mir davon nichts geschrieben hatten. – Daß Sie sich so zu-frieden durch Ihre Frau fühlen freut mich aufrichtig […].71

Dass Hahnemann für immer nach Paris gehen würde, lag für Luise außer-halb ihrer Vorstellungen. In ihrem letzten vorliegenden Brief an Hahne-mann schreibt sie:

Da Sie in Ihrem Briefe nur angegeben haben daß Sie Ihre Frau nach Paris begleiten werden ohne den Zeitpunkt zu benennen wann Sie von Köthen nach Paris abreisen gedenken so ersuche ich Sie da ich vermuthe daß es bald seyn wird mir nur durch ei-nige Zeilen mittzutheilen wann Sie Ihren Wohnort auf einige Wochen verlassen und auch mir schriftlich anzuzeigen wann Sie wieder von Paris nach Köthen zurückge-kehrt seyn werden. Mein journal von diesem Monat und auch vom nächsten Monat werde ich wenn ich erfahre daß Sie bald reisen Ihnen \erst/ nach zurückgelegter Reise nach Köthen senden. Möge die weite Reise welche Sie zu unternehmen gedenken nicht zu anstrengend für Sie seyn da Sie so lange nicht mehr gereist sind.72

Ob ihr Hahnemann in seinem Brief vom 25. März 1835 mitteilte, dass Pa-ris sein neuer Wohnsitz sein werde? Auf jeden Fall kann davon ausgegan-gen werden, dass sich Luise von Hahnemanns Heirat und Weggang stark betroffen, ja irritiert und enttäuscht fühlte. Sie empfand sich gewissermaßen als von ihm verlassen, und es ist wohl kein Zufall, dass in der Folge kein einziger Brief mehr von ihr vorliegt, der Briefwechsel also abrupt endete. Aus einem Schreiben Hahnemanns an Bönninghausen vom 22. Mai 1835 geht hervor, dass die Prinzessin »gar nicht wieder an mich schrieb, wäh-rend sie mich sonst wöchentlich mit einem Briefe beehrte«.73

Das enge Verhältnis zwischen Hahnemann und der Prinzessin beweist auch eine kuriose, bisher unbeachtete Notiz Hahnemanns auf ihrem Brief vom 14./15. Oktober 1834: »Anhäufung sexueller L[ebens]. Geister die durchaus entladen seyn wollen und deren Entladung dann unbeschreiblich ange-nehme Hochgefühle zur Begleiterin hat. Ist dieß nicht eine Stimme der Na-tur und Gottes?«74 Diese Notiz, wohl eine Art Selbstgespräch Hahnemanns, steht neben einem Nachsatz der Prinzessin, in dem sie über ein Mundwas-ser aus Paris berichtete. Nur eine Woche vorher war Hahnemanns spätere Frau, aus Paris kommend, in Köthen eingetroffen, und er hatte sich sofort in sie verliebt. Prinzessin Luise könnte vielleicht als eine unerreichbare »pla-tonische Vorläuferin« Mélanies betrachtet werden, umso mehr, als der Briefwechsel keine Fortsetzung erfuhr.

71 Heinz (2007), S. 539, Brief vom 5. März 1835, Prinzessin an Hahnemann, IGM Be-stand A 1091, S. 4.

72 Heinz (2007), S. 541, Brief vom 19. März 1835, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1092.

73 Stahl (1997), S. 118.

74 Heinz (2007), S. 466, Brief vom 14./15. Oktober 1834, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1056, S. 3.

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Compliance

Die »Compliance« einer homöopathischen Behandlung bei Hahnemann umfasste sowohl seine Forderung nach genauer Berichterstattung als auch die Einhaltung und Anwendung seiner Verordnungen. Die Abfassung einer detaillierten Befindens-Beschreibung war nicht jedermanns Sache, anderer-seits mag »es für manche Patienten auch eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, sich mitzuteilen und ihr Herz auszuschütten«.75 Zu Letzteren gehörte eindeutig Prinzessin Luise. Sie schrieb ihre Berichte in den Jahren 1832 und 1833 fast Tag für Tag, und auch wenn sich der Inhalt häufig wiederholte, meldete sie nie irgendeinen Zweifel am Sinn dieser Aufgabe an. Warum? Es kann vermutet werden, dass ihre tägliche Beschäftigung mit sich selbst für sie ein ständiges Bedürfnis war und einen therapeutischen Effekt erzielte: »Kurz, die einzige Neigung ist von meinem Körper zu spre-chen.«76 Schwerlich brachte ihre Umgebung für dieses krankhafte Bedürfnis die nötige Empathie auf. Was die Umsetzung der Verordnungen Hahne-manns betrifft, so ließ ihre »Compliance« zu wünschen übrig, da sie mit der Zeit die Placebos den Riechmitteln vorzog, indem sie bemerkte, dass die Verum-Mittel häufig ihre Beschwerden verschlimmerten.77 Auch ihre Ab-neigung gegen Mesmerismus und Magnetbehandlung ist immer wieder ih-ren Briefen zu entnehmen. Ebenso – wie bereits erwähnt – fielen Hahne-manns Vorschläge zur Ausübung des Koitus und zu einer weiteren Schwangerschaft bei Prinzessin Luise nicht auf fruchtbaren Boden.

Sie lebte in einer begrenzten höfischen Welt, die sich durch Starrheit und Formalismen auszeichnete. So betrachtet ist ihre Korrespondenz mit Hah-nemann auch als ein Versuch anzusehen, ihren »goldenen Käfig« erträgli-cher zu machen. Die Intensität des Verhältnisses der Prinzessin zu Hahne-mann beweisen ihre 136 Schreiben mit 494 Seiten, wobei es sich in 86 Fäl-len um »reine« Briefe handelt, deren Inhalt oft über ihre eigentliche Krank-heit hinausgeht, und bei den restlichen 50 um Berichte, die meist auch ei-nen ausführlichen Begleitbrief enthalten.

Ein Vergleich mit der Patienten-Geschichte der sogenannten »Volkman-nin«, der Frau des Stadtrats und Stadtrichters von Leipzig, ergibt von März bis Oktober 1831 acht Berichte mit kurzem Begleitbrief und einen »reinen« Brief, wobei »ein halbierter Briefbogen [...] eine kurze Zusammenfassung [enthält], häufig mit einer Entschuldigung wegen verspäteter Einnahme der Medikamente, eventuellen Fragen [...] Ein ganzer Briefbogen zu vier Seiten bietet den Bericht, der in der Regel einen Monat umfasst.«78 »Nicht nur

75 Stolberg (1999), S. 179.

76 Heinz (2007), S. 543. Bei der Quelle handelt es sich um eine Symptomenliste der Prin-zessin im Archiv der Fliedner-Stiftung, vermutlich aus dem Jahre 1850.

77 Heinz (2007), S. 409f., Brief vom 14. April 1833, Prinzessin an Hahnemann, IGM Bestand A 1036, S. 4.

78 Hickmann: Leiden (1996), S. 352.

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Antonie Volkmanns Stellungnahme gegenüber den Schwarzenberg-Boten79, auch Passagen in den Originalbriefen an Hahnemann legen Beweise für Hochachtung und Dankbarkeit gegenüber Hahnemann ab«80. Die »Compliance« der Volkmannin scheint sowohl hinsichtlich ihrer Berichte als auch der Verordnungen gut gewesen zu sein; sie ließ sich sogar auf eine weitere Schwangerschaft ein, die zur Geburt eines vierten Sohnes führte.81 »Sie war von der Wirksamkeit der Behandlung durch Hahnemann sowie von dessen Methode fest überzeugt [...].«82 Schließlich befand sie sich von 1819 bis 1831 in seiner Therapie, obwohl hin und wieder auch Schüler Hahnemanns konsultiert wurden, die am Wohnort praktizierten.

Grundsätzlich scheint die Bereitschaft der Patienten Hahnemanns, seinen Anordnungen zu folgen, höher gewesen zu sein als bei Patienten allopathi-scher Ärzte83, was sich wohl auch in unserer Zeit nicht geändert haben dürfte, da es sich bei der Homöopathie um eine patientenzentrierte Medizin handelt. Mit der Herausbildung der Krankenhaus- und Labormedizin wur-de die Bedeutung der Patientenberichte durch medizinische Daten ersetzt, gewonnen aus Artefakten, und die Rolle des Patienten wurde eine passive, während der Arzt viel mehr als zuvor dominierte.84

Hahnemanns Behandlung der Prinzessin im Vergleich mit seinen Veröffentlichungen und anderen Patientengeschichten

Die Erstanamnese und Wahl des Arzneimittels

Da die Erstanamnese der Prinzessin am 31. Oktober 1829 erfolgte, sind die Anweisungen aus der 4. Auflage des »Organon«, erschienen 1829, heranzu-ziehen. Die Paragraphen 83 bis 99 befassen sich mit der Erkundung und Aufzeichnung des Krankheitsbildes.

Die Eintragungen Hahnemanns in sein Journal während der ersten Konsul-tation der Prinzessin umfassen 63 Zeilen, also insgesamt knapp zwei Seiten, in seiner typischen, sehr kleinen, deutschen Schrift. Die Erstanamnese scheint sich länger hingezogen zu haben, da sie zweimal durch sieben ande-re Patienteneinträge unterbrochen wurde.

Die Anamnese enthält sämtliche in den genannten Paragraphen geforderten Informationen, wie den Spontanbericht der Prinzessin – in ihrer Aus-

79 Der schwerkranke Fürst Schwarzenberg hatte im März 1820 Boten nach Leipzig ge-schickt, die Informationen zu Hahnemanns Heilkunst einholen sollten.

80 Hickmann: Volkmannin (1996), S. 65.

81 Hickmann: Leiden (1996), S. 255, 333.

82 Hickmann: Volkmannin (1996), S. 65.

83 Stolberg (1999), S. 180.

84 Stollberg (1999), S. 114.

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drucksweise – und Hahnemanns Nachfragen zu geäußerten Symptomen. Es fehlen auch nicht seine eigenen Wahrnehmungen: »[…] gutmüthig, langwei-lig, schäfig | Mittlere Größe, stark«.85 Hahnemann hebt Lokalbeschwerden durch Unterstreichen hervor: »steigt ihr oft das Blut nach dem Kopf« und »Leidet oft an kalten Füßen«86, verzichtet aber darauf bei Eintragungen wie folgenden: »Sie äußert ihre Empfindung nicht, verschluckt den Verdruß«87 oder »die Magenschmerzen kommen weder zum Essen noch Trinken, noch auf Gemütsbewegungen (die ihr nicht begegnen)«88. Das zuerst verschriebe-ne Antipsorikum Ammonium carbonicum enthält in seinem Arzneimittel-bild die unterstrichenen Symptome. Doch hat Hahnemann diese Beschwer-den, gemäß seiner in § 153 des »Organon« aufgeführten Definition, als »auffallend und eigenheitlich« angesehen? Wohl eher nicht, denn die Prin-zessin hatte sich gleich zu Beginn der Sprechstunde über unangenehme Be-gebenheiten der Vergangenheit geäußert.89 In der 2. Auflage seiner »Chro-nischen Krankheiten« findet sich unter Ammonium carbonicum: »Gedan-ken wegen vergangener Unannehmlichkeiten quälen ihn.«90 Hahnemanns erste Arzneimittelnotiz – vor Beendigung der Anamnese – ist »ammon«91, die nächste Natrum muriaticum, das auch diese typische »Eigenheit« auf-weist. Zur Repertorisierung Hahnemanns bemerkt Marion Wettemann: »Es sieht so aus, als habe er sich bei seiner Ausarbeitung zunächst auf die den Fall nur wenig charakterisierende Lokalsymptomatik [...] konzentriert«92, aber Hanspeter Seiler stellt klar:

[...] die in den Krankenjournalen aufgeführten Repertorisierungen [...] enthalten sicher keineswegs Hahnemanns sämtliche Überlegungen zur Arzneimittelwahl, sondern le-diglich diejenigen Symptome, deren homöopathische Zuordnung für ihn nicht von vornhinein selbstverständlich ist.93

Im Vergleich mit meiner eigenen Praxisarbeit kann ich dieser logischen Schlussfolgerung nur voll zustimmen! Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Notizen Hahnemann als Gedächtnisstütze dienen sollten, wahr-scheinlich für sein eigenes Arzneimittelstudium.

Der der Erstanamnese folgende Bericht der Prinzessin weist eine Ver-schlimmerung einiger körperlicher Symptome auf, Lach- und Weinkrämpfe

85 Heinz (2007), S. 48, IGM Bestand D33/465 v. 31. Oktober 1829, Z. 22.

86 Heinz (2007), S. 48, IGM Bestand D33/465 v. 31. Oktober 1829, Z. 30-32.

87 Heinz (2007), S. 48, IGM Bestand D33/465 v. 31. Oktober 1829, Z. 21.

88 Heinz (2007), S. 50, IGM Bestand D33/467 v. 31. Oktober 1829, Z. 29.

89 Heinz (2007), IGM Bestand D33/465 v. 31. Oktober 1829, Z. 18-21.

90 Hahnemann (1835-1839), Bd. 2, S. 96.

91 Heinz (2007), S. 50, IGM Bestand D33/467 v. 31. Oktober 1829, Z. 15.

92 Wettemann (2001), S. 226.

93 Seiler (1988), S. 243f.

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erwähnt sie jedoch nicht, ebenfalls keine Kopfschmerzen und keine kalten Füße. Obwohl man also davon ausgehen kann, dass Ammonium carboni-cum ein Simile war, da es ihr besser ging, scheint Hahnemann mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen zu sein, da er als Nächstes ein anderes Antipsorikum verordnete. Es wäre auch denkbar, dass die Prominenz der Patientin, verbunden mit ihren zahlreichen Beschwerden, ihn zu mehr Ak-tionismus verleitete als in anderen Fällen. Kommentare zu den weiteren Arzneimittelverordnungen sind im Kapitel 6.1.2. meiner Dissertation94 zu finden.

Die Erstanamnese Friedrich Wiecks am 16. Januar 1815 umfasste 106 Zei-len95, war also außergewöhnlich umfangreich. Der damals 30-jährige Pati-ent suchte Hahnemann wegen einer akuten Erkrankung auf, und die Wirk-zeit der Medikamente betrug etwa sechs Tage.96

Die Erstanamnese der Antonie Volkmann im Jahre 1819 bestand dagegen nur aus 33 Zeilen97, wobei Hahnemann zunächst die langsame Entwöh-nung von der Chinarinde verordnete und nach zehn Tagen die eigentliche Behandlung mit Nux vomica begann, das durchaus ihren in der Erstanam-nese genannten Gemütssymptomen entsprochen haben könnte. Mathilde von Berenhorsts Erstanamnese im April 1832 bestand aus 44 Zeilen98, wozu noch eine von ihr verfasste kurze Krankengeschichte99 kam. Die Verord-nung von Sulphur scheint sich nicht an der Gesamtheit ihrer aktuellen Symptome orientiert zu haben.100 Ute Fischbach-Sabel kommentierte ge-nauestens die Anamnesen Hahnemanns im Krankenjournal D34 und stellte fest, dass er im Vergleich zu früheren Journalen durchgängig viel genauere Angaben zu seinen Patienten machte, es aber trotzdem große Schwankun-gen in Bezug auf die Ausführlichkeit gab. Bei den Erstanamnesen, die nur wenige Zeilen umfassten, »scheint Hahnemann das Mittel eindeutig gesehen und es nicht für nötig empfunden zu haben, den Fall noch ausführlicher aufzunehmen. Meistens befinden sich die Patienten bei den darauffolgenden Konsultationen besser.«101

Der Einfluss von Hahnemanns Psora-Theorie auf die Arzneimittelwahl

94 Heinz (2007), S. 571-591.

95 Genneper (1991), S. 109-112.

96 Genneper (1991), S. 85.

97 Hickmann: Leiden (1996), S. 46-49.

98 Gehrke (2000), S. 27-29.

99 Gehrke (2000), S. 26.

100 Gehrke (2000), S. 89.

101 Fischbach-Sabel (1998), Bd. D34 K, S. 64.

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Hahnemann sah die Mehrzahl der Beschwerden der Prinzessin als Folge der zugrundeliegenden Psora102 an und verordnete folglich fast ausschließ-lich Antipsorika. Die Behandlungszeit der Prinzessin fiel genau in die Peri-ode zwischen der 1. und 2. Auflage seines Werkes »Die chronischen Krankheiten«, in denen er die Mehrzahl der Krankheiten auf die Psora zu-rückführte und dementsprechend seine Therapie der Prinzessin auf An-tipsorika beschränkte. Diese Medikamente sind tiefwirkende Mittel und können, wenn der Patient z. B. aufgrund einer schweren Familienpathologie unheilbar ist, leicht zu Verschlimmerungen führen, wie es bei der Prinzessin geschah, auch wenn die Anwendung »nur« durch Olfaktion erfolgte. Nach Proceso Sanchez Ortega103 kann es in diesen Fällen ratsam sein, ein apsori-sches Simile dem antipsorischen Simillimum vorzuziehen, wie es auch Ae-gidi in einem Brief an Hahnemann begründete:

Es ist mir sehr unangenehm, daß gerade bei meinem ersten Auftreten hier, der Lei-denszustand der Prinzessin so tumultuarisch sich gestaltet. Bei solchem Sturm // (1/2) pflegen, meinen Erfahrungen zu Folge, die antipsorica nicht gerade günstig einzuwir-ken und immer habe ich in solchen Fällen mich genöthigt gesehen, aus dem Vorrathe der anderen homöopath. Mittel zu wählen.104

Hahnemann war in dieser Periode seines Schaffens jedoch offensichtlich zu sehr auf die Antipsorika fixiert, wie auch folgendem Brief an Aegidi zu ent-nehmen ist:

Nur Antipsorika, nichts als Antipsorika bedarf die gute Dame und zwar in den feins-ten Gaben \(am Besten, durch Riechen)/ aber in weit größerer Abwechselung, als ich in der Entfernung ihr geben konnte, da ich die Wirkung \derselben/ nicht, wie Sie, fast täglich bemerken konnte folglich auch dieselben wenn sie schief wirkten, nicht durch Gebung eines angemessenern Mittels abändern konnte.105

Ein Vergleich mit der Krankengeschichte der Antonie Volkmann106, die sich von 1819 bis 1831 in Hahnemanns Behandlung befand, ergibt Folgen-des: In ihrer Therapie halten sich in etwa Antipsorika und Apsorika noch die Waage, während bei der Behandlung der Prinzessin in den Jahren 1829 bis 1835 fast doppelt so viele Antipsorika (23) wie Apsorika (12) verordnet wurden. Dazu kommt noch, dass zum Beispiel Carbo animalis zehnmal und Sulphur neunmal angewendet wurde, während die Apsorika höchstens einmal wiederholt wurden. Aufgrund dieser Prinzipien Hahnemanns kamen z. B. Ignatia und Cocculus, die meiner Meinung nach als ein Simile der Prinzessin gelten können, zu wenig zur Anwendung. Wie oben erwähnt,

102 Heinz (2007), S. 37f.

103 Die Autorin war Schülerin des 2005 verstorbenen mexikanischen Homöopathen.

104 Heinz (2007), S. 140f., Brief vom 19. April 1831, Aegidi an Hahnemann, IGM Be-stand A 20, S. 1f.

105 Heinz (2007), S. 149, Brief vom 28. September 1831, Hahnemann an Aegidi, IGM Bestand A 24, S. 2.

106 Hickmann: Leiden (1996), S. 438.

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leitete Hahnemann die Therapie der Mathilde von Berenhorst mit Sulphur107 ein, das eher nicht der Gesamtheit ihrer Symptome entsprochen haben dürfte. Es galt als sein Haupt-Antipsorikum, dessen Anteil an allen Verordnungen von Juni 1831 bis September 1832108 etwa 35 % entsprach. Für das Krankenjournal D38 (1833-1835) errechnete die Bearbeiterin einen Anteil von 80 % an antimiasmatischen Arzneien.109

Hanspeter Seiler, der 32 Patientengeschichten aus 53 Jahren ärztlicher Pra-xis Hahnemanns analysierte, bemerkt Folgendes:

Gerade im Fall von Julie Moulin [Patientin aus der Pariser Praxis] sehen wir nochmals in aller Deutlichkeit, daß die in den CK [»Chronischen Krankheiten«] niedergelegten Prinzipien für Hahnemanns Praxis bis zu seinem Tod von ganz zentraler, wohl kaum zu überschätzender Bedeutung bleiben: Im Gegensatz zu Klockenbring [psychiatri-scher Patient aus dem Jahre 1792] erhält das junge Mädchen nämlich auch nach völ-liger Heilung ihrer Psychose durch nicht antipsorische Pflanzenmittel aus der Gruppe der Solanaceen (Nachtschattengewächse) aufgrund anscheinend kaum nennenswerter Symptome wie leichte Ermüdbarkeit, schlechte Hautfarbe und gelegentliche Kopf-schmerzen noch eine längerfristige antipsorische Behandlung mit Schwefel, die insge-samt sogar dreimal länger dauert als die vorangegangene Akutbehandlung. [...] Klo-ckenbrings frühzeitiger Tod an einem wahrscheinlich internistischen Leiden einige Zeit nach seiner Entlassung aus Georgenthal [Hahnemanns damaliger Praxis- und Wohnsitz] wäre damit möglicherweise vermeidbar gewesen.110

Hahnemann hat also bei der Behandlung der Prinzessin ebenfalls genau-estens seine in den »Chronischen Krankheiten« niedergelegte Theorie be-folgt und seine Arzneiwahl nicht so sehr an der Gesamtheit der Symptome orientiert, sondern mehr schematisch an seinem Konzept der »Kausalität« der chronischen Krankheit, dem psorischen Miasma. Das syphilitische Mi-asma findet im Briefwechsel zwischen Hahnemann und Aegidi keine Er-wähnung, und auch in seinen »Chronischen Krankheiten« nimmt es keine wichtige Stellung ein. Zu Hahnemanns Zeiten war das vierte Stadium der Lues, die Neurosyphilis, noch nicht bekannt.111 Aus heutiger Sicht – auch gemäß der Miasmen-Theorie Ortegas – hätte es meiner Meinung nach be-rücksichtigt werden müssen, vor allem aufgrund einiger Symptome der Prinzessin, wie Hoffnungslosigkeit, Jammern und chronisch deprimierte Gemütsstimmung112, ganz abgesehen von der Familienpathologie.

107 Gehrke (2000), S. 89.

108 Ehinger (noch nicht erschienen).

109 Papsch (2007), S. 70-74.

110 Seiler (1988), S. 222.

111 Wegener (2000), S. 229.

112 Sanchez Ortega (2002), S. 248.

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Überlegungen zum therapeutischen Erfolg der Behandlung

Gemessen an der relativ kurzen Behandlungsdauer für eine Patientin mit einer gravierenden familiären Krankheitsbelastung kann die Behandlung insofern als erfolgreich bewertet werden, als die anfangs schüchterne Prin-zessin sich für die Homöopathie einzusetzen begann, ihren Ehemann und die Söhne für die homöopathische Therapie gewann und zahlreiche ihrer Beschwerden verschwanden oder in ihrer Intensität nachließen. Sie wurde selbstbewusster und konnte sich an ihrem Hof besser durchsetzen. Aller-dings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der »Beruf« Prinzessin bei Luise eine wichtige Ursache ihrer Leiden war, die zwar sowohl von Hahnemann als auch von Aegidi erkannt wurde, die die Prinzessin jedoch nicht im nötigen Maße aus dem Weg zu räumen wusste. Somit konnte der § 3 des »Organon« nicht erfüllt werden: »[…] kennt er [der Arzt] endlich die Hindernisse der Genesung in jedem Falle und weiß sie hinwegzuräumen, damit die Herstellung von Dauer sey: so versteht er zweckmäßig und gründlich zu handeln und ist ein ächter Heilkünstler.«113

Möglicherweise könnte Hahnemann auch aufgrund des Falles der Prinzes-sin in die 2. Auflage seiner »Chronischen Krankheiten«, erschienen 1835, folgenden Zusatz eingefügt haben:

Noch ist ein, nicht gar seltnes, aber fast stets unbeachtet gebliebenes Hinderniß ho-möopathischer Heilung chronischer Uebel zu nennen: Der unterdrückte Ge-schlechtstrieb bei mannbaren Personen beiderlei Geschlechts, theils wegen Nicht-Verehelichung aus verschiednen vom Arzte nicht zu beseitigenden Ursachen, theils wo bei Verheiratheten der eheliche Umgang der schwächlichen Gattin mit ihrem kräf-tigen Manne, so wie dem schwächlichen Manne mit der kräftigen Gattin vom unver-ständigen Arzte unbedingt, gänzlich und auf immer untersagt worden war, wie nicht selten. Da wird der verständigere Arzt, die Umstände, sammt dem vom Schöpfer ein-gepflanzten Naturtriebe berücksichtigend, die zulässige Erlaubniß ertheilen und so nicht selten eine Menge hysterischer und hypochondrischer Zustände, ja oft Melan-cholie und Wahnsinn heilbar machen.114

Hätte Prinzessin Luise ein paar Jahrzehnte später gelebt, hätte sie auch Freud konsultieren können. Es wären sowohl die erforderlichen Träume vorhanden gewesen als auch die Bereitwilligkeit, über sich zu sprechen. Wäre bei ihr, als junger Frau, die Psychoanalyse zur Anwendung gekom-men, wäre vielleicht eine langfristigere Besserung ihres Gesundheitszustan-des eingetreten. Zwar starb sie erst im hohen Alter von 83 Jahren, doch litt sie die letzten 35 Jahre ihres Lebens an der offensichtlich von ihrer Mutter geerbten Gemütskrankheit. Hahnemann hatte jedoch gespürt, dass die Prin-zessin im Wesentlichen einen Arzt für die Seele benötigte.

113 Hahnemann (1829), § 3.

114 Wischner (2006), S. 75.

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Samuel Hahnemann 235

Bibliographie

Archivalien

Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM)

Bestand A

Bestand D

Literatur

Busche, Jens: Ein homöopathisches Patientennetzwerk im Herzogtum Anhalt-Bernburg. Die Familie von Kersten und ihr Umfeld in den Jahren 1831-35. Heidelberg 2008.

Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie: Patienten, Heilkundige, Institutionen. Von den An-fängen bis heute. Heidelberg 1996.

Dinges, Martin: Männlichkeitskonstruktion im medizinischen Diskurs um 1830: Der Kör-per eines Patienten von Samuel Hahnemann. In: Martschukat, Jürgen (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt/Main 2002, 99-125.

Ehinger, Gabriele Maria: Das homöopathische Praxistagebuch von Samuel Hahnemann aus den Jahren 1831/32. Transkription u. Kommentar zum Krankenjournal D36 (9. Juni 1831-7. September 1832). Diss. med. Humboldt-Univ. zu Berlin [noch nicht erschienen].

Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften. Hg. v. Dietrich Wilhelm Heinrich Busch u. a. Berlin. Bd. 14. Berlin 1836; Bd. 17. Berlin 1838; Bd. 22. Berlin 1840.

Fischbach-Sabel, Ute: Samuel Hahnemann, Krankenjournal D34 (1830). Transkription und Kommentarband. Bd. 34 u. 34 K. Heidelberg 1998.

Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Darmstadt 1984.

Gehrke, Christian: Die Patientenbriefe der Mathilde von Berenhorst (1808-1874). Edition und Kommentar einer Krankengeschichte von 1832-1833. Diss. med. Göttingen 2000.

Genneper, Thomas: Als Patient bei Samuel Hahnemann. Die Behandlung Friedrich Wiecks in den Jahren 1815/1816. Heidelberg 1991.

Habacher, Maria: Homöopathische Fernbehandlung durch Samuel Hahnemann. In: Me-dizinhistorisches Journal 15 (1980), 385-391.

Haehl, Richard: Samuel Hahnemann. Sein Leben und Schaffen auf Grund neu aufgefun-dener Akten, Urkunden, Briefe, Krankenberichte und unter Benützung der gesamten in- und ausländischen homöopathischen Literatur. Unter Mitw. v. Karl Schmidt-Buhl. 2 Bde. Leipzig 1922. ND Dreieich 1988.

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Hahnemann, Samuel: Reine Arzneimittellehre. 6 Theile. Dresden 1811-1821.

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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Inge Christine Heinz 236

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Wischner, Matthias: Die chronischen Krankheiten. Theoretische Grundlagen. [Von] Sa-muel Hahnemann. Mit allen Änderungen v. d. 1. Aufl. (1828) zur 2. Aufl. (1835) auf einen Blick. 3. Aufl. Stuttgart 2006.

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Samuel Hahnemann 237

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MedGG 28 • 2009, S. 239-284 © Franz Steiner Verlag Stuttgart

Carl von Bönninghausen – ein vergessener Homöopath und seine Lernzeit

Marion Baschin

Summary

Carl von Bönninghausen - a forgotten homoeopath and his studies

A lot of physicians practised homoeopathy and dedicated their lives to the method of Samuel Hahnemann, but most of them seem to have been forgotten. By tracing the life of one of them it can be shown how one can learn more about those people and find docu-ments that shed some light on their lives and actions. Carl von Bönninghausen was the son of the famous lay homoeopath Clemens Maria Franz von Bönninghausen. Due to the fact that he married the adoptive daughter of Mélanie Hahnemann some aspects of his life were already known. But he himself had never been the focus of research. Firstly, his life is described with the help of newly found documents. Secondly, notices accidentally found in patient journals show how Carl started as a homoeopath.

Einführung

Das verdienstvolle Werk von Fritz Schroers, das »Lexikon deutschsprachi-ger Homöopathen«, verweist eindrücklich auf die stattliche Anzahl derjeni-gen, die sich von Beginn an um die Heilmethode Samuel Hahnemanns verdient gemacht haben und diese praktizierten. Das Buch kann gleichzeitig als eine Herausforderung verstanden werden. Wenn man sich nämlich nä-her mit den einzelnen vorgestellten Persönlichkeiten befasst, wird deutlich, dass über viele kaum mehr als ihr Nachruf in einer der einschlägigen Zeit-schriften bekannt ist.1

In der Homöopathiegeschichte beachtete die Forschung lange Zeit vor al-lem die überragende Leistung ihres Begründers und einiger bedeutender Homöopathen.2 Seine Nachfolger und deren Tätigkeit, besonders im 19. Jahrhundert, sind hingegen kaum untersucht worden.3

1 Schroers (2006). Ausnahmen sind Samuel Hahnemann selbst, zu dem unzählige Bio-graphien verfasst wurden, aktuell: Jütte (2007), sein »Lieblingsschüler« Clemens Maria Franz von Bönninghausen, s. Kottwitz (1985), sowie die schillernde Persönlichkeit Ar-thur Lutze, s. Bettin/Meyer/Friedrich (2001) sowie Streuber (1996), oder der bekannte Hofrat Karl Aegidi: Vigoureux (2001). Sehr neu sind auch die Studien zum Leben von Georg Heinrich Gottlieb Jahr, s. Sommer (2007) und Saelens (2008).

2 Gijswijt-Hofstra (1996), S. 157. Eines der Werke, das stark personenzentriert die Ge-schichte der Homöopathie aufarbeitet, den Lebensläufen einzelner Schüler und Nach-folger aber nur wenig Informationen zugesteht, ist Tischner (2001). Hierzu die Wer-bung für eine andere Art der Homöopathiegeschichte: Dinges/Schüppel (1996).

3 Vom Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stutt-gart (IGM) werden einige Dissertationen betreut, die sich dem Leben und Werk ver-schiedener deutscher Homöopathen widmen. Siehe http://www.igm-bosch.de/content/language1/html/10398.asp (letzter Zugriff: 19.1.2010) unter dem

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Marion Baschin 240

Ein ähnliches Schicksal teilt Carl Anton Hubert Walburgis von Bönning-hausen. Sein Leben steht nicht nur im Schatten seines bedeutenden Vaters Clemens Maria Franz von Bönninghausen, der als »Hahnemanns Lieb-lingsschüler« immerhin eine eigene Biographie erhielt.4 Vielmehr wird sein Wirken mehr oder weniger auf die folgenreiche Verheiratung mit der Adoptivtochter Mélanie Hahnemanns reduziert. Sogar im Nachruf in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung schien dem unbekannten Autor lediglich diese Ehebindung mit Sophie Bohrer und die Flucht des Paares 1870 nach Deutschland erwähnenswert.5 Zwar wurde Carl in Verbindung mit diesen beiden Personen immer wieder genannt, und in Nebensätzen wurden ein-zelne Details zu seinem Werdegang und Leben deutlich. Doch mit ihm al-lein hat sich seither noch kein Aufsatz beschäftigt.6

In diesem Beitrag wird das Leben und Wirken von Carl von Bönninghau-sen näher beleuchtet, um damit deutlich zu machen, dass es möglich ist, über einen der fast »vergessenen« Homöopathen mehr herauszufinden. Ausgangspunkt war eine Untersuchung über die Patienten des Freiherrn Clemens Maria Franz von Bönninghausen.7 Diese förderte so viele Infor-mationen zu Carl zutage, dass sich die Möglichkeit ergab, zu zeigen, wie sich ein junger Homöopath in der Lehre ausprobierte und in die Methode einarbeitete.

Bei einer Durchsicht aller Journale, die der Vater Clemens von Bönning-hausen während seiner Praxiszeit führte, fiel auf, dass eines der Register entgegen dem Verzeichnis nicht am 27. April 1858 begann, sondern mit einer Erstanamnese, die vom 27. April 1854 datierte.8 Interessant war vor allem, dass diese Eintragung, ebenso wie 107 folgende, von einer anderen

Stichwort »Homöopathiegeschichtliche Dissertationen«. Jüngeren Datums ist auch: Faltin (2000). Der Sammelband Dinges (1996) enthält mehrere Artikel zu Heilkundi-gen. International: Baal (2004), Faure (1992) oder Püschel (2004).

4 Kottwitz (1985).

5 Anonym (1902).

6 So trug Kottwitz (1985), S. 96f., 105f. und S. 155, viele Details zusammen. In Schroers (2006), S. 15, hat Carl einen eigenen Artikel. Er wird erwähnt in Bradford (1897), S. 173 und S. 183, in dem Lexikonartikel des Vaters in Hirsch (1962), S. 595, sowie in den Werken Clemens von Bönninghausen (1958), S. 97, und Schulze Pellengahr (2000), S. 229. Doch wurde Carl beispielsweise in Lexika wie Allgemeine Deutsche Biographie (1876) oder Raßmann (1866) nicht erwähnt. Hier sind lediglich der Vater und der Bruder Franz Egon mit eigenen Artikeln bedacht worden.

7 Die Dissertation mit dem Arbeitstitel »Wer lässt sich von einem Homöopathen be-handeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785-1864)« entstand von 2006 bis 2009 am IGM und wurde von der Studienstiftung des deut-schen Volkes e. V. gefördert. Dieser Förderung verdankt sich auch der Aufsatz. Wid-men möchte ich ihn mit herzlichem Dank allen Korrekturlesern meiner Dissertation.

8 Es handelt sich um IGM Bestand P 101b. Nähere Angaben zu den einzelnen Archiva-lien sind in der Bibliographie zu finden.

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Carl von Bönninghausen 241

Hand als der des berühmten Laienhomöopathen stammte. Anhand eines Schriftvergleichs erhärtete sich die Vermutung, dass diese Schrift Carl von Bönninghausen zugeordnet werden könnte.9 Dementsprechend kann nun-mehr das Krankenjournal IGM Bestand P 101b als Quelle für die Tätigkeit Carl von Bönninghausens herangezogen werden.

Der Aufsatz ist in zwei Hauptteile gegliedert. Zunächst soll das Leben von Carl von Bönninghausen skizziert werden. Dabei wird deutlich, wie eine aufmerksame Lektüre einschlägiger homöopathischer Zeitschriften oder wenig aufwendige Recherchen in Medizinalakten Licht in die Vergangen-heit von so manchem »vergessenen« Homöopathen bringen kann. Dann werden die Eintragungen des Krankenjournals P 101b vorgestellt, die Carl zuzuschreiben sind. So wird die »Lernphase« in der Praxis seines Vaters deutlicher.

Carl von Bönninghausen

Am 5. November 1826 wurde Carl als dritter Sohn von Clemens Maria Franz von Bönninghausen in Münster geboren.10 Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt. Lediglich der gesundheitliche Zustand Carls wird durch die Krankengeschichte, die der Vater am 4. November 1829 begann, etwas erhellt.11 Zu diesem Zeitpunkt ging es Carl ganz gut. Im Jahr davor hatte er einen »Stickhusten« überstanden, der ihm zusammen mit gesund-heitlichen Folgen des Zahnens so sehr zugesetzt hatte, »daß an seinem Wie-deraufkommen gezweifelt wurde«. Wie der Vater jedoch fortfuhr, erholte sich der Sohn »bei der sorgfältigsten Pflege, die ihm zu theile wurde, und jetzt ist er gesund, blühend und sehr stark«. Doch der Freiherr Clemens von Bönninghausen nahm im Zuge seiner ersten Behandlungsversuche die Krankheitsbilder aller seiner Familienangehörigen auf. Dabei orientierte er

9 Von Carl sind ausgesprochen wenige eigene Schriftstücke erhalten. Ein Vergleich konnte mit Hilfe des im Staatsarchiv Münster (StAM) überlieferten »Gesuch[s] um Zu-laßung zur Prüfung Behufs des Selbstdispensirens homöopathischer Arzneien« (StAM Regierung Münster Nr. 893 V-236, Faszikel 8) sowie mit Hilfe der Vorrede aus IGM Bestand P 182 durchgeführt werden. Abbildungen aus den Schriftstücken P 101b und P 182 finden sich im Anhang.

10 Laut Auskunft des Bistumsarchivs Münster vom 18. September 2009. Die Taufe ist notiert im Kirchenbuch 5 der Gemeinde St. Lamberti, Blatt 60, Nummer 81/1826. Ich danke Frau Steinberg, Münster, für die Auskunft. Auch die Personenkartei Ferdinand Theissing im Stadtarchiv Münster nennt dieses Datum. In den Leischaftsregistern wird fälschlich das Jahr 1827 als Geburtsjahr genannt. Ich danke Frau Pelster, Münster, für die Auskunft. Sowohl der Nachruf Anonym (1902) als auch der Nachfahre Clemens von Bönninghausen (1958), S. 97, sowie Kottwitz (1985), S. 155, nennen als Datum jedoch den 15. November 1826. In der Dissertation Carl von Bönninghausen (1853) schreibt Carl im Lebenslauf, er sei am 28. Oktober 1828 geboren. Warum er selbst ein falsches Datum angab, ist unklar. Das Bild im Anhang zeigt Carl von Bönninghausen. Es stammt aus dem Archiv des IGM.

11 IGM Bestand P 151, S. 41. Folgendes ebenda.

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sich an seinem Vorbild Hahnemann und vermutete bei jedem Betroffenen zunächst eine latent zugrundeliegende Psoraerkrankung.12 Die Wirkung des verabreichten Medikamentes schilderte der Laienhomöopath mit den fol-genden Worten:

In Folge dessen, und zum Zeichen, daß die Arzenei angeschlagen, wurde er [das ist Carl, M. B.], wie mehrere der Übrigen Vormittags schläfrig, und blieb auch nach dem Nachmittage so, mit Verdrißlichkeit vergesellt. Abends nach 6 Uhr trat bis zum Schla-fengehen, wahrscheinlich als Wechselwirkung eine ganz ungewöhnliche Unruhe (We-rigkeit) ein, mit Laufen, Springen, auf dem Boden sich wälzen, Klopfen u. d. gl. – In den folgenden Tagen ließ sich nichts besonderes an ihm verspüren.13

Damit war die Erstbehandlung des Sohnes vorerst beendet.

Etwa ein Jahr später verschluckte der Vierjährige einen Kupferpfennig, wo-gegen der Freiherr mit »Eiweiß und Natr.[um] m.[uriaticum] mit Wasser« vorging. Daraufhin war die Münze »nach ¼ Stunde wieder heraus«.14 Im Januar wurden die Folgen eines starken Falls auf den Kopf homöopathisch therapiert.15 Während seiner Kindheit litt Carl außerdem an Husten16, »vergeblichem Stuhldrang«17, Zahnweh beziehungsweise »Schmerz an der Zunge«18, Erkältung19, Durchfall20, »Erhitzung«21, Halsweh22, Schmerzen

12 Wörtlich notierte Clemens von Bönninghausen in IGM Bestand P 151, S. 41: »Da indessen die Diät einmal im Hause angeordnet war, um einer homöopathischen Kur nicht zu schaden, und ich immer noch Grund hatte, zu vermuthen, daß in ihm latente Psora stecke, so erhielt er heute morgen, […] (4 Nov.[ember] 1829.) zugleich mit den Übrigen, 3 Streukügelchen mit Spir.[itus] vini sulphuratus benetzt.« Die Behandlungs-notizen zu den übrigen Familienangehörigen befinden sich ebenfalls in IGM Bestand P 151. Näheres hierzu in Baschin (2009), S. 158. »Spiritus vini sulphuratus« ist Schwe-feltinktur; zu deren Verwendung im Zusammenhang mit der Therapie der Familie Kunkle (2008), S. 173 und S. 175. Die Psora zählt nach Hahnemann, ebenso wie Sy-kosis und Syphilis, zu den »chronischen Miasmen«, auf die nahezu alle Erkrankungen zurückzuführen seien. Sykosis ist die Feigwarzenkrankheit, Psora der lateinische Name für Krätze. Hahnemann (2006), S. 8. Hierzu erläuternd: Fischer (2002).

13 IGM Bestand P 151, S. 41.

14 IGM Bestand P 154, S. 37 (26. November 1830). Bönninghausen notierte: »Eiweiß und«, strich dann »Hep. Schwefel calc.« aus und notierte darüber »Natr.[um] m.[uriaticum] [Kochsalz] mit Wasser«. Darunter »nach ¼ Stunde wieder heraus«.

15 IGM Bestand P 154, S. 51 (2. Januar 1831).

16 IGM Bestand P 154, S. 86 (25. Juni 1831) sowie S. 111 (24. Januar 1832).

17 IGM Bestand P 154, S. 103 (27. November 1831).

18 IGM Bestand P 154, S. 108 (4. Januar 1832), S. 109 (6. Januar 1832) sowie P 155, S. 44 (21. November 1833), S. 45 (22. November 1833), S. 47 (2., 3. und 4. Dezember 1833), S. 52 (27. Dezember 1833).

19 IGM Bestand P 154, S. 140 (5. Oktober 1832).

20 IGM Bestand P 155, S. 33 (9. September 1833) sowie S. 39 (21. Oktober 1833).

21 IGM Bestand P 155, S. 35 (22. September 1833).

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Carl von Bönninghausen 243

im rechten Fuß23 und »Klopfen« in verschiedenen Körperdrüsen24. Auch bekam er eine Art von »Wechselfieber«, eine Krankheit, die in der Gegend von Münster endemisch war.25 Zudem wurde Carl im September 1833 von einem Hund gebissen.26 Gemeinsam mit seinen Geschwistern erlebte der Knabe gleichsam eine homöopathische Rundumbetreuung durch seinen Vater.27 Carl war aber, nach den Aufzeichnungen seines Vaters, zwischen 1835 und 1850 nicht mehr ernsthaft krank. Zumindest hat in diesem Zeit-raum keine arzneiliche Behandlung schriftlichen Niederschlag gefunden. Erst 1850 versuchte Clemens von Bönninghausen, seinen Sohn von »Schuppen auf dem Haarkopfe« zu befreien. Die Behandlung begann mit drei Globuli Sepia in der 30. Potenz, allerdings »mit geringem Erfolge«, wie der Freiherr notieren musste.28

Nach einer entsprechenden Schulbildung, die der Vater als »sehr sorgfältig« bezeichnete, über die aber weiter nichts bekannt ist, erhielt Carl die Zu-gangserlaubnis für eine Universität.29 Dass er zunächst in Münster studierte,

22 IGM Bestand P 155, S. 46 (28. November 1833), sowie P 2 Fol. 140. Hier lautet der Eintrag: »Halsweh beim Schlingen, - Trockenheit im Halse ohne Durst.« Der Vater verschrieb drei Streukügelchen Pulsatilla in der 10. Potenz und notierte: »danach an-deren tags besser«.

23 IGM Bestand P 155, S. 1 (7. Januar 1833).

24 IGM Bestand P 155, S. 7 (7. Februar 1833, Halsdrüse) und S. 8 (12. Februar 1833, Ohrdrüse).

25 Der Vater notierte ein »andertägiges Fieber, Hitze mit Schlagfluß« in IGM Bestand P 154, S. 140 (4. November 1832). Zu dem Begriff: Höfler (1970), S. 188 und S. 144; gemeint ist die Form eines dreitägigen Wechselfiebers. Zu Wechselfieber in und um Münster: Pellengahr (1829), S. 177, oder Sanitaets-Bericht (1833), S. 14; auch spätere Sanitätsberichte nennen Wechselfieber das ganze Jahr hindurch: Haxthausen (1842), S. 16. Hierzu: Schwanitz (1990), S. 47, und Baschin (2009), S. 228f. Clemens von Bönninghausen verfasste Schriften über diese Krankheit: Clemens von Bönninghausen (1832). Diese Anleitung bearbeitete er und entwarf selbst eine zweite, stark veränderte Auflage unter neuem Titel: IGM Bestand P 183 und P 184.

26 IGM Bestand P 155, S. 36 (30. September 1833).

27 Gemeinsame Erkrankungen der Geschwister wurden deutlich in: IGM Bestand P 154, S. 101 (19. November 1831, Kopfweh und Fieber wie Egon von Bönninghausen, S. 99, am 3. und 4. November 1831), P 154, S. 117 (26. Februar 1832, Kopfweh und Leibweh mit Louise und Egon von Bönninghausen) sowie P 155, S. 39 (21. Oktober 1833, Durchfall wie Fritz von Bönninghausen).

28 Zur Behandlung IGM Bestand P 2 Fol. 140. Bis 26. September 1851 sind die Behand-lungsdaten notiert, es traten weitere Beschwerden wie Kopfschmerzen hinzu.

29 Bönninghausen erwähnte in einem Brief an Mélanie Hahnemann, die Erziehung aller seiner Kinder sei »sehr sorgfältig« gewesen (»L’éducation de tous mes enfants a été la plus soignée.«). IGM Bestand M 493. Allerdings ist Carl nicht in den Listen der Abi-turjahrgänge des Gymnasium Paulinum in Münster nachweisbar. Seine Brüder Franz Egon und Friedrich haben dort 1844 und 1849 ihre Reifeprüfung abgelegt. Hölscher (1909). Ich danke Frau Pelster, Stadtarchiv Münster, für die Auskunft. Im Lebenslauf,

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wie dies ein Nachfahre berichtet, kann nicht bestätigt werden.30 Da die me-dizinische Fakultät der dortigen Universität bereits 1818 geschlossen wor-den war, hätte Carl lediglich die medizinisch-chirurgische Lehranstalt besu-chen können. Diese stellte jedoch 1849 im Zuge von Umstrukturierungen im preußischen Ausbildungssystem ebenfalls ihren Betrieb ein. Daher wäre Carl spätestens zu diesem Zeitpunkt gezwungen gewesen, sein Studium an einem anderen Ort fortzusetzen. Vielmehr berichtet Carl in seinem eigenen Lebenslauf aber, er habe 1848 sein Studium in Bonn begonnen.31 Belegt ist, dass er ab 1851 als Student der Medizin in Berlin wohnte. Zunächst hatte er eine Bleibe in der Charité-Straße gefunden, bevor er im gleichen Jahr in eine Mietunterkunft am Louisen-Platz umzog.32

Sein Studium schloss Carl dem Datum der Urkunde zufolge am 28. Januar 1853 an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin ab.33 Dabei erhielt er die Auszeichnung »cum laude«. Seine Dissertation, die er dem Vater zueignete, befasste sich mit dem »Morbus Brightii«.34 Dieser gilt als die erste wissen-

der in seiner Dissertationsschrift enthalten ist, schreibt Carl jedoch, dass er in Münster das Gymnasium besucht und dort 1848 das Abitur erworben habe. Carl von Bön-ninghausen (1853), S. 27.

30 Dies legt Clemens von Bönninghausen (1958), S. 97, nahe. Zu den Angaben über die Ausbildungsmöglichkeiten: Schwanitz (1990), S. 125. In den Vorlesungsverzeichnis-sen der folgerichtig als »Königl. Theologische und philosophische Akademie zu Münster« bezeichneten Universität Münster ist Carl entsprechend nicht als Student verzeichnet. Nur Bönninghausens Sohn Egon ist seit 1844 bis 1848 dort als Student nachgewiesen. Universitätsarchiv Münster: Verzeichnisse der Behörden, Lehrer, Be-amten, Institute und sämmtlicher Studirenden auf der Königl. Theologischen und phi-losophischen Akademie zu Münster im Wintersemester 1844/45 bis Sommersemester 1848. Für die »Chirurgenschule« ist ein Matrikelbuch erhalten, das aber nur bis 1834 regelmäßig geführt ist. Zu diesem Zeitpunkt war Carl aber erst acht Jahre alt. Daher ist durch das Buch kein Nachweis über ein Studium Carls in Münster möglich. Das Mat-rikelbuch wurde publiziert von Fraatz (1942).

31 Carl von Bönninghausen (1853), S. 27.

32 In IGM Bestand P 79, das Clemens von Bönninghausen am 4. Mai 1851 begann und bis 2. August des Jahres führte, sind die beiden Adressen Carls vermerkt, wobei die erste durchgestrichen und die zweite darunter notiert wurde: »C. v. B., Stud. Med. Charité-Straße No 10 bei G. Witterin, zu Berlin. Nun Louisen-Platz No 10, bei H. Müller, 2 Treppe Hof.« Im Lebenslauf in der Dissertation ist der Besuch der Universi-tät Berlin ebenfalls vermerkt, es wird aber kein Datum für den Wechsel genannt. Carl von Bönninghausen (1853), S. 28.

33 Dies und die folgenden Details zu seinem Abschluss aus: StAM Haus Darup (Akten), Nr. 6, S. 1f.

34 Hierzu heißt es in der Urkunde StAM Haus Darup (Akten), Nr. 6, S. 1f.: »Viro Claris-simo Atque Doctissimo Carolo de Boenninghausen/ Guestphalo/ Medicinae candida-to Dignissimo/ Postquam Tentamen et Examen Rigorosum cum Laude sustunuerat/ et/ Dissertationem/ de/ Morbo Brightii/ publice defenderat/ Doctoris Medicinae et chirurgiae/ immunitates et privilegia ornamenta et honores/ die XXVIII. M. Ianuarii A. MDCCCLIII.« (»Dem sehr erlauchten und gelehrten Carl von Bönninghausen aus

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Carl von Bönninghausen 245

schaftlich bestimmte Nierenkrankheit.35 Der englische Arzt Richard Bright (1789-1858) hatte verschiedene Symptome, wie Ödembildungen, Wasseran-sammlungen in verschiedenen Körperhöhlen und die Gerinnung des Urins wegen des Eiweißgehalts, mit einer pathologischen Veränderung der Nieren verbunden. Zuvor waren diese Krankheitserscheinungen unabhängig von-einander gesehen und ihrem Ursprung nach nicht in einem inneren Organ lokalisiert worden. Vielmehr verstand man sie als Folgen einer veränderten Säftemischung im Körper. Brights reich bebilderte Studien wurden zwi-schen 1825 und 1831 produziert. Danach waren Nierenerkrankungen zu-nächst an dem Hospital in London, an dem Bright lehrte, ein beliebtes For-schungsthema für Studenten. Auch die Homöopathen beschäftigten sich intensiv mit derartigen Erkrankungen, da die allopathischen Ärzte ihnen nur allzu oft machtlos gegenüberstanden.36 Mit der Doktorprüfung war die akademische Ausbildung Carls zum Doktor der Medizin und Chirurgie beendet.

Die unmittelbare Zeit nach dem Studium liegt im Dunkeln. Es ist zu vermu-ten, dass Carl nach Münster zu seinem Vater zurückkehrte. Dort wurde er von diesem in die Homöopathie eingewiesen. Dies legt die Darstellung des amerikanischen Arztes Caroll Dunham nahe, der Clemens von Bönning-hausen und seinen Sohn 1855 besucht hatte.37 Andererseits hielt es Carl nach einem überwiegend theoretisch ausgerichteten Studium vermutlich für nötig, weitere Erfahrungen in der Praxis zu sammeln, um die Prüfung zum Arzt und Wundarzt erfolgreich zu absolvieren und approbiert zu werden.

Westfalen, dem sehr würdigen Kandidaten der Medizin, nachdem er die Probe und das strenge Examen mit Lob ausgehalten hat und die Dissertation über die Brightsche Krankheit öffentlich verteidigt hat, [werden verliehen] die Privilegien und ausgezeich-neten Vorrechte und Ehren des Doktors der Medizin und Chirurgie den 28. Januar 1853.«) Die Dissertation ist auch in der Universitätsbibliothek Tübingen erhalten. Carl von Bönninghausen (1853).

35 Hierzu Schlich (1992). Zu dieser Krankheit schreibt Höfler (1970), S. 311: »Bright’sche Kr[ankheit] = (die nach dem Londoner Arzt R. Bright [1789-1858] be-nannte) Nierenkrankheit: Albuminurie und Wassersucht bei akuter oder chronischer Nierenentzündung; Bright gebrauchte die Ausdrücke [1827] Diseased kidney in dropsy, [1832] Renal disease accompagnied with secretion of albuminous urine«. Aus-führlich zu Nierenkrankheiten: Bleker (1972), zu Bright und seiner Tätigkeit S. 98-107. Speziell zu den Symptomen und der Entwicklung der »Bright-Krankheit«: Peitzman (1992).

36 Hierzu Loew (1856). Hier wird nicht nur die genaue Symptomatik einer derartigen Erkrankung beschrieben, sondern auch die homöopathische Therapie eingehend vor-gestellt. Ähnliches gilt für Buchner (1870), der nicht nur die pathologischen Erschei-nungen beschreibt, sondern auch detailliert auf die Therapie eingeht.

37 Dunham (1855), S. 457. Clemens Maria Franz von Bönninghausen notierte den »Be-such von Dr. Caroll Dunham aus New York (America)« vom 7. bis zum 28. April 1851 in dem vorderen Deckel des Journals IGM Bestand P 78 und für den 10. bis 20. August 1855 in P 92.

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Daher verbrachte er offenbar noch einige Zeit in Berlin, worauf die Appro-bationsurkunden hinweisen.38 Jedenfalls erhielt mehr als ein Jahr später, am 20. April 1854, der Magistrat der Stadt Münster von der Königlichen Re-gierung den Auftrag, »den Dr. Carl von Bönninghausen, welcher sich hier-selbst niederzulassen beabsichtigt«, zu vereidigen.39 Dem Antrag beigefügt waren die Bestätigungen über die Approbation Carls in der damals übli-chen Trias als praktischer Arzt und Wundarzt sowie als Geburtshelfer.40 Beide Dokumente waren im März beziehungsweise April des Jahres in Ber-lin ausgestellt worden. Den Eid leistete der junge Mediziner am 27. April 1854 in Münster. Knapp zwei Wochen später wurde der Vorgang auch im Amtsblatt der Regierung Münster bekannt gemacht.41 Schon kurze Zeit vorher, am 8. April, begann Carl seine Kenntnisse in der Homöopathie praktisch umzusetzen, indem er in der Praxis des Vaters selbst Kranke be-treute. Zumindest bis in den Januar 1855 hinein sind seine Behandlungen belegbar.42

Im Oktober 1855 stellte Carl in Münster den Antrag, eine Prüfung ablegen zu dürfen, um das »Recht zum Selbstdispensieren homöopathischer Arznei-en« zu erlangen. Dazu wurde der amtierende Stadtphysikus Dr. Bernay um eine Stellungnahme gebeten. Dieser vermerkte lediglich, »daß über den Dr. Carl von Bönninghausen nichts Nachtheiliges zu meiner Kenntniß gelangt ist«. Bernay wies darauf hin, dass »dem Vernehmen nach derselbe schon seit längerer Zeit nicht hier, sondern in Darup wohnen« soll.43 Carl wurde

38 Zur Ausbildung eines Arztes allgemein: Huerkamp (1985), zu dem bemängelten Ver-hältnis von Theorie und Praxis in der Ausbildung S. 98-102; besonders in den 1840er Jahren wurde über die Einführung eines »Hospitaljahres« für Studenten diskutiert. Vor allem wenn sich Ärzte in einer Stadt niederlassen wollten, war die Approbationsprü-fung, um die Erlaubnis für die ärztliche Praxis zu erhalten, eine »echte Barriere vor dem Eintritt in den Arztberuf«. Zwischen 1832 und 1841 fiel etwa ein Drittel der Kandidaten durch. Hierzu Huerkamp (1985), S. 45-59. Carl tat also gut daran, sich eingehend auf diese praktische Prüfung vorzubereiten. Zu den Möglichkeiten, die sich ihm als jungem Arzt boten, Huerkamp (1985), S. 119-121.

39 Der Vorgang zur Vereidigung und Approbation Carls als Arzt, Wundarzt und Ge-burtshelfer in: Stadtarchiv Münster (StdAM) Stadtregistratur Medizinalangelegenhei-ten Fach 201 Nr. 3, S. 116-119. Die Approbation datiert vom 11. März 1854 und wurde in Berlin ausgestellt. Die Prüfung zum Geburtshelfer hatte Carl mit »gut« be-standen, und die Approbation erfolgte am 10. April 1854 ebenfalls in Berlin.

40 Huerkamp (1985), S. 50.

41 Amts-Blatt der königlichen Regierung zu Münster (1854), S. 124. Die Bekanntma-chung erfolgte am 8. Mai 1854.

42 Näheres hierzu im zweiten Teil des Aufsatzes. Es handelt sich um das Journal IGM Bestand P 101b.

43 Hierzu: StdAM Stadtregistratur Medizinalangelegenheiten Fach 201 Nr. 3, S. 142f. Dunham (1855), S. 457, sprach in seinem Brief von 1855 davon, dass sich Carl im vorigen Jahr etwa 20 Meilen von Münster entfernt niedergelassen habe (»and establis-hed himself a year ago about twenty miles from Münster«). In Darup befand sich das

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zur Prüfung zugelassen. Doch erst im Juli 1856 ersuchte er die Regierung zu Münster, »die Zulaßung zu dieser Prüfung [diejenige zur »Erlangung der gesetzlichen Befugniß zum Selbstdispensiren homöopathischer Arzneien«, M. B.] vermitteln zu wollen«.44 Warum er so lange mit dem Antrag zögerte, ist nicht bekannt. Er bestand die Prüfung im Juli 1856 in Berlin. Den dorti-gen Aufenthalt hatte Carl bereits in seinem Zulassungsgesuch angekündigt und »gehorsamst« darum gebeten, die weitere Korrespondenz diesbezüglich an seinen Vater zu richten, der sie entsprechend weiterleiten würde. Den Grund für seine Reise in die Residenzstadt des Königreiches nannte er nicht. Die Erlaubnis, homöopathische Mittel selbst dispensieren zu dürfen, wurde »dem praktischen Arzt Hr. Dr. Carl v. Bönninghausen zu Darup« am 18. August 1856 erteilt.45

Carl hatte sich, folgt man den Aussagen des Arztes Bernay vom Oktober 1855, in Darup niedergelassen.46 Offenbar hatte ihm eine Lehrzeit in der Praxis seines Vaters von April 1854 bis Oktober desselben Jahres genügt und ihn darin bestärkt, in Darup eine eigene Praxis zu eröffnen. Die Eintra-gungen in das Journal P 101b belegen, dass Carl zunächst noch den Wohnort von Patienten, die aus Münster kamen, bis zum 6. Oktober 1854 mit »hier« bezeichnete. Ab dem 29. Dezember notierte er jedoch »Münster«. Insofern weisen die Notizen darauf hin, dass Carl bis Oktober 1854 in der Praxis seines Vaters in Münster und erst ab Ende Dezember 1854 in Darup arbeitete.47 Dies würde auch die bestehende Lücke in den Eintragungen des Journals erklären. Möglicherweise war Carl in der Zwischenzeit mit dem Umzug und der Einrichtung oder Umgestaltung seiner neuen Bleibe be-schäftigt. In Darup, wohl im Haus des Vaters, ging Carl seiner Tätigkeit zumindest bis August 1856 nach.48 Der amerikanische Arzt Dunham be-

Landgut der Familie von Bönninghausen. Schulze Pellengahr (2000). Die Ortschaft liegt Luftlinie etwa 23 Kilometer von Münster entfernt im Landkreis Coesfeld.

44 Hierzu der Schriftwechsel in: StAM Regierung Münster Nr. 893 V-236, Faszikel 6-11. Das Zulassungsgesuch befindet sich in Faszikel 8, die Bestätigung der bestandenen Prüfung in Faszikel 10.

45 StAM Regierung Münster Nr. 893 V-236, Faszikel 10 (Rückseite).

46 StdAM Stadtregistratur Medizinalangelegenheiten Fach 201 Nr. 3, S. 143.

47 IGM Bestand P 101b. Hierzu auch der zweite Teil dieses Aufsatzes. In der Allgemei-nen Homöopathischen Zeitung ist jedoch – anders als bei der späteren Niederlassung in Köln – keine Anzeige gemacht worden. Allgemeine Homöopathische Zeitung (1854/1855), für den Zeitraum vom Oktober 1854 bis März 1855.

48 Als Mélanie Hahnemann die Absicht äußerte, nach Münster zu kommen, um Bön-ninghausen und seinen Sohn zu treffen, verwies der Freiherr darauf, dass sein Sohn in seinem (gemeint ist damit der Vater Clemens von Bönninghausen) Haus auf dem Lande wohnen würde (»à ma maison de Campagne«). Hierzu: IGM Bestand M 497 sowie die Ausstellung der Urkunde im August 1856 für »Carl von Bönninghausen in Darup«: StAM Regierung Münster Nr. 893 V-236, Faszikel 10 (Rückseite). Diese Zeit Carls in der Nähe von Münster erwähnt auch Bradford (1897), S. 183.

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richtete, Carl habe üblicherweise die 200. Potenz verwendet und alle Arten von Krankheiten behandelt, die in einer ländlichen Allgemeinarztpraxis vorkommen würden.49 Besonders erfolgreich soll er bei Therapien von Ty-phus- und Wechselfiebererkrankungen gewesen sein.50

Doch zog es Carl noch weiter von seiner Heimat fort oder er fand in Darup beziehungsweise Münster nicht ausreichend Patienten, um seinen Lebensun-terhalt in einer eigenen Praxis zu verdienen. Jedenfalls übersiedelte er spä-testens im November 1856, vermutlich schon im September des Jahres, nach Köln und bot dort seine Dienste als »praktischer homöopathischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer« an.51 Im Dezember des Jahres forderte Carl eine beglaubigte Abschrift seines Selbstdispensierrechts, da die von ihm zunächst in Köln vorgelegten Dokumente nicht ausreichend waren. Die Regierung entsprach seiner Bitte und stellte die Unterlagen seinem Va-ter zu, der sie an den Sohn weiterleitete.52 In Köln stand Carl den Erkrank-ten in seiner Praxis am Neumarkt 17 »des Morgens von 9-11 und des Nachmittags von 5-7 Uhr« zur Verfügung.53 Eine verhältnismäßig knappe Zeit, doch sein Vater und Samuel Hahnemann empfingen in ihren Praxen ebenfalls nicht den ganzen Tag Patienten.54 Die restliche Zeit konnte aber für Hausbesuche oder Studien genutzt werden.

49 Dunham (1855), S. 457f. Zu den Medikationen siehe den zweiten Teil des Aufsatzes.

50 Dunham (1855), S. 458. Nach Dunham hatte Carl von 147 Typhuserkrankten nur einen nicht retten können. Seine übliche Medikation habe er einmal in zwölf Stunden wiederholt, das Medikament nennt Dunham aber nicht. Von 60 Wechselfieberfällen wurden angeblich alle bis auf zwei durch die erste Dosis geheilt. Auch Bradford (1897), S. 183, erwähnt, indem er einen weiteren Artikel Dunhams zitiert, große Erfol-ge Carls bei der Behandlung einer Typhusepidemie. Dies lässt sich jedoch nicht durch weitere Quellen belegen.

51 Hierzu die Annonce vom 11. November 1856 aus einer nicht näher bestimmten Zei-tung, die sich Clemens von Bönninghausen in IGM Bestand P 96 vorn in den Ein-band geklebt hatte. Über die Niederlassung Carls berichtete auch Anonym (1856). Dass der Umzug bereits im September stattgefunden hatte, deutet der Brief von Cle-mens von Bönninghausen an Mélanie Hahnemann, IGM Bestand M 498, an. Dun-ham (1855), S. 458, schreibt von Plänen Carls, sich in Rotterdam niederzulassen. Die-se Absicht wird aber nur in diesem Dokument belegt.

52 StAM Regierung Münster Nr. 893 V-236, Faszikel 15.

53 Dies belegt die Zeitungsannonce vom 11. November 1856 in IGM Bestand P 96 vorn im Einband. Von weiteren Recherchen in Köln musste aufgrund des Einsturzes des Stadtarchivs am 3. März 2009 vorerst Abstand genommen werden.

54 Zu den Sprechzeiten Clemens von Bönninghausens: Bradford (1897), S. 187. Eine solche Aussage machte Dunham (1855) bereits 1855 in seinem Brief. Eine Sprech-stunde wurde bei »allopathischen« Ärzten erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts langsam eingeführt. Hierzu: Huerkamp (1985), S 158; Esser (1963), S. 54; Heischkel (1956). Hahnemann hatte hingegen bis in die Pariser Zeit eine Sprechstundenpraxis: Micha-lowski (1992), S. IX. Zu seinen Sprechzeiten auch Jütte (1996), S. 25 (9 bis 12 Uhr und 14 bis 16 Uhr). 1817/18 führte Hahnemann jedoch zwischen 8 Uhr morgens und

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Die Anbahnung der Bekanntschaft zwischen Carl und Clemens von Bön-ninghausen einerseits und Mélanie Hahnemann beziehungsweise Sophie Bohrer andererseits begann, ausweislich der Briefe, bereits 1849. Damals wiederholte Mélanie Hahnemann in einem Brief an Clemens von Bönning-hausen die Einladung an seinen Sohn nach Paris. Zu diesem Zeitpunkt stu-dierte Carl jedoch noch.55 Die Absicht einer festen Bindung wurde erst ei-nige Jahre später deutlich. In einem Brief vom 12. Dezember 1855 deutete die Witwe Hahnemanns eine mögliche Verbindung der Kinder an, wobei jedoch nicht ausdrücklich von Carl die Rede war. Ausgehend von der Freundschaft, die Hahnemann und Bönninghausen verband, und wegen der ihrer Meinung nach ähnlichen Erziehung der Kinder habe sie in ihren Träumen mütterlicher Fürsorge an die Söhne Bönninghausens gedacht, da die Kinder in einem heiratsfähigen Alter seien und eine Verbindung viel-leicht nicht unmöglich wäre.56 Bönninghausen war angetan von der Idee und lieferte in dem Antwortschreiben sogleich knappe biographische An-gaben zu seinen Kindern nebst einer Beschreibung des adeligen Standes der Familie. Allerdings erbat er im Gegenzug eine Fotografie der »Madmoisel-le«, um sie seinen Söhnen zeigen zu können. Ebenso wollte er ein Bildnis der »Madame«, um es neben dem Portrait Hahnemanns in seinem Zimmer zu platzieren.57 Auf diese Portraits mussten der Freiherr und seine Söhne jedoch lange warten.58 Mélanie Hahnemann ihrerseits antwortete Bönning-hausen auf seine Zustimmung mit einer Kurzbiographie ihrer Adoptivtoch-ter, wobei sie deren Aussehen genau beschrieb und ihre Talente hervorhob.

7 Uhr abends Konsultationen durch. Ein rekonstruierter Arbeitstag bei Schuricht (2004), S. 158.

55 IGM Bestand M 516.

56 IGM Bestand M 492. Es heißt dort wörtlich: »Dans mes rèves de sollicitude maternel-le je me suis dit, en pensant à vos fils: = ces jeunes gens là doivent avoir reçu une édu-cation parfaite; leur moralité doit égales leurs talens; ils sont en age de se marier; qui sait? une alliance entre nos enfans ne seraient peut-ètre pas impossible!« Aus dem fol-genden Briefwechsel zitierte auszugsweise auch Haehl (1922), Bd. 2, S. 467f. Er hat die Briefe jedoch übersetzt, Gleiches gilt für Handley (1993), S. 204-209, die ebenfalls in der Übersetzung aus den Briefen zitiert, die Originalzitate jedoch nicht nennt und sich auf Haehl (1922) beruft. Im Folgenden handelt es sich um eigene Übersetzungen auf Grundlage der französischen Originalbriefe aus dem Bestand IGM M. In den Fußno-ten ist die buchstabengetreue Transkription der Originale auch mit der zum Teil feh-lerhaften Schreibweise wiedergegeben.

57 IGM Bestand M 493. Es handelt sich um einen Briefentwurf Bönninghausens, der durch viele Korrekturen ausgesprochen schwer zu lesen ist.

58 Im April und Mai 1856 berichtete Mélanie Hahnemann, dass sowohl die erneute Anfertigung von Fotografien als auch der Plan, eine Büste von Sophie zu gestalten, fehlgeschlagen seien: IGM Bestand M 407 und M 408. Zuvor angefertigte Bilder wa-ren auf dem Postweg verlorengegangen: IGM Bestand M 496 und die Absicht einer derartigen Übermittlung in M 495. Im Juni 1856 hat Sophie immerhin ein Portrait Carls erhalten: IGM Bestand M 409.

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So erfuhr der potentielle Heiratskandidat durch den Brief an den Vater Bönninghausen, dass Sophie unter anderem Klavier spiele, sehr zielstrebig sei, sich täglich in kaltem Wasser bade, wie ein Fisch schwimme und reite wie ein »kleiner Zentaur«.59 Der Freiherr widmete der erbetenen Charakteri-sierung seiner Söhne im nächsten Brief hingegen nur wenige Zeilen.60 Auch Mélanie Hahnemann teilte den Einwand Bönninghausens, dass sich die beiden zukünftigen Eheleute erst kennenlernen müssten, bevor sie sich dafür entscheiden würden, das Leben gemeinsam zu verbringen.61 Der Freiherr griff die Frage auf, wie eine persönliche Bekanntschaft der Kinder zu be-werkstelligen sei. In seinem Alter würde man große Reisen vermeiden, und zudem habe er niemanden, der ihn während der Abwesenheit in der Praxis vertreten könne.62

Auf diese Weise zogen sich die »Verhandlungen« hin. Man plante, sich bei einem in Brüssel stattfindenden Kongress zu treffen, und versicherte sich wechselseitig der guten Absichten.63 In einem Schreiben im Mai kündigte Mélanie Hahnemann an, sie wolle allein nach Münster kommen, um dort

59 IGM Bestand M 406. Es heißt dort: »Ma Sophie est une brunette petite et mignonne sans faiblesse et parfaitement bien faite. Sa taille est fine quoiqu’elle ne se la serre ja-mais, son ensemble est fort bien proportionné et toute sa personne est décorée d’une élégante distinction. Son visage est joli sans être régulierement beau, elle plait et sa physionomie prend une incroyable expression surtout lorsqu’elle est dominée par le sentiment musical qui est chez elle d’une grande puissance, car elle est née musicienne, elle joue du piano!! je n’ose pas vous dire comment j’ai peur de vous paraitre éxagé-rée. Elle étudie l’harmonie et le contrepoint et compose de la musique délicieuse. Tout cela se passe dans l’ombre et tout en ordonnant les choses du menage, car je ne l’ai pas encore fait voir au grand monde. Elle est fort capable, réussit dans tout ce qu’elle entreprend. Elle est très raisonnable et en même tems très joueuse et rieuse. Elle se baigne à l’eau froide tous les jours, nage comme un poisson et monte à cheval comme un petit centaure.«

60 IGM Bestand M 494. »Pour ce qui concerne mes fils, ils sont tous parfaitement bien batis et ce qu’on apelle de jolis garçons, d’une taille elegante, bien portants et mème vigoureux, amateurs d’exercices corporeles, dans les queles, ils excellent, d’un caractè-re tout à fait aimable et d’une moralité sans reproche. Charles, celui qui est déjà Doc-teur en Medecine, est né 1826, l’autre, Frédéric, qui étude le Medicine, est né 1828. Charle, est effectivement le plus beau de mes enfants. \Ils ont été instruit avec soin et jouissent de beau.[coup] de talens./ Aucun d’eux n’est encore entré dans aucune connexion et ils ont tous les deux le cœur et la main libre.«

61 IGM Bestand M 493. Hier schrieb Bönninghausen: »[…] et il s’agirait dabord de l’inclination réciproque, sans laquelle une liaison pour la vie entière ne peut pas pro-mettre un avenir heureux.« Woraufhin Madame Hahnemann in IGM Bestand M 406 erwiderte: »Vous avez raison, Monsieur, lorsqu’on doit passer la vie ensemble il faut se connaitre. Mais comment faire pour cela? C’est à vous d’aviser.«

62 IGM Bestand M 494. Der Entwurf ist ohne Datum, da sich Bönninghausen jedoch auf einen Brief vom »12. de ce m.« bezieht, scheint es logisch, ihn auf Januar des Jahres 1856 zu datieren.

63 IGM Bestand M 407 und M 496.

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Clemens von Bönninghausen persönlich zu treffen und seinen Sohn ken-nenzulernen.64 Dieses Vorhaben setzte sie in die Tat um und traf den Vater sowie seinen Sohn Carl in der Zeit vom 17. bis zum 22. Juni 1856 in Müns-ter.65 Als Mélanie Hahnemann von ihrer Reise zurückkehrte, fand sie So-phie krank vor. Sie brachte ihr sowohl ein Portrait Carls als auch ein Kochbuch der Tochter Louise mit. Von beidem war das junge Fräulein sehr angetan, wie Mélanie Hahnemann in ihrem Brief verlauten ließ. Sie sprach auch die dringende Gegeneinladung des jungen Mannes nach Paris aus.66

Carl folgte der Einladung erst im September 1856, nachdem zuvor von Sei-ten Mélanies erneut die Absicht geäußert worden war, dieses Mal gemein-sam mit Sophie die Reise nach Münster anzutreten.67 Die tatsächliche Be-gegnung der künftigen Eheleute fand nach langem Hin und Her endlich statt. Doch konnte Carl nur kurz in Paris verweilen, so dass der Plan eines erneuten Treffens in Münster aufrechterhalten wurde.68 Aber der Aufenthalt in der Stadt an der Seine hatte tiefgreifende Folgen. Nachdem Clemens von Bönninghausen das Schreiben Mélanies vom 21. September erhalten hatte, setzte er sich sofort mit Carl in Verbindung, der den Weg von Köln antrat, »um mit mir [das ist Clemens von Bönninghausen, M. B.] als Vater über diese wichtige Angelegenheit Rücksprache zu nehmen, und sich meines vollen Beifalles in dieser Sache zu vergewißern«. Nur wenig verklausuliert formulierte Bönninghausen dann die Heiratsabsicht seines Sohnes: »Er [das ist Carl, M. B.] erklärte mir, daß Ihre Tochter Sophia [sic!] einen sehr an-genehmen und guten Eindruck auf ihn gemacht hätte, und eine Neigung in ihm hervorgerufen habe, die ihm den Wunsch nahe lege, Sie zu seiner Le-bensgefährtin zu wählen.«69 Allerdings erhoffte sich Carl ein weiteres Tref-

64 IGM Bestand M 408. Es heißt dort: »[…] mais j’ai une telle envie de faire votre connaissance personelle, qu’il est fort possible que bientot je m’en vienne à Munster toute seule pour quelques jours.«

65 Clemens von Bönninghausen bestätigte ihr die Möglichkeit eines Treffens schon am 1. Juni in seinem Antwortschreiben. IGM Bestand M 497. Außerdem erwähnte er das stattgefundene Treffen auf der neunten Jahresversammlung der homöopathischen Ärz-te Rheinlands und Westfalens zu Münster am 31. Juli 1856. Den Bericht s. Clemens von Bönninghausen (1856). Näheres zu diesem Verein: Stahl (1995).

66 IGM Bestand M 409.

67 IGM Bestand M 554. Offenbar gab es in den Terminabsprachen einige Unklarheiten. Letztendlich reiste Carl allein von Brüssel nach Paris. IGM Bestand M 557 sowie M 553.

68 Carl muss zwischen dem 18. und dem 21. September in Paris gewesen sein, wenn man die Daten der Briefe von Mélanie Hahnemann als Anhaltspunkte verwendet. In IGM Bestand M 558 schrieb Mélanie Hahnemann: »Votre cher fils sera le bienvenu chez Hahnemann, mon seul regrit est qu’il reste si peu.«

69 IGM Bestand M 498. Der Brief ist ohne Datum, allerdings müsste er nach dem inhalt-lichen Zusammenhang im September 1856 geschrieben worden sein.

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fen, da »der kurze Zeitraum von 3 Tagen nicht genüge, um eine vollständi-ge Kenntniß der Person zu erlangen, mit der man sich für die Lebenszeit verbinden wolle«. Clemens von Bönninghausen unterstützte das Begehren des Sohnes, »da es für mich nun als Vater ein sehr natürlicher Wunsch ist, auch Ihre Tochter Sophia [sic!] persönlich kennen zu lernen«. Er schlug eine Zusammenkunft in Köln vor, wobei er darum bat, diese, mit Rücksicht auf seine sonst üblichen Sprechzeiten, im Zeitraum von Dienstag bis Freitag stattfinden zu lassen.70 Kurze Zeit später sandte Sophie selbst angefertigte Pantoffeln an ihren zukünftigen Schwiegervater.71 Auch auf Madame Hah-nemann hatte der potentielle Schwiegersohn Eindruck gemacht, und sie lobte ihn als einen guten und liebenswerten jungen Mann, der von ganzem Herzen Homöopath sei.72 Anstelle eines Treffens in Köln schlug sie vor, gemeinsam mit Sophie zur Hochzeit Louises zu kommen.73 Doch hat dieser Besuch wohl nicht stattgefunden.74

Bis Mitte Oktober waren die Pläne und Absichten nicht weit gediehen, und scheinbar war Clemens von Bönninghausen mehr daran interessiert, mit Madame Hahnemann über Potenzieranweisungen anstatt über mögliche Heiratspläne zu korrespondieren. Jedenfalls insistierte Mélanie Hahnemann in einem Brief darauf, zu Letzterem absolute Klarheit von dem Freiherrn zu erhalten.75 Sie begründete ihre Eile damit, dass sie beabsichtige, eine Au-dienz bei Kaiser Napoleon III. zu erbitten, um diesem von der Homöopa-thie zu berichten. Sofern die Pläne für eine Heirat der Kinder noch bestehen würden, könnte sie im gleichen Zug versuchen, eine außerordentliche Ge-nehmigung für die freie Praxis Carls in Frankreich ohne Examen zu erwir-ken. Sie legte dar, dass ihr eine Verbindung höchst willkommen sei, da auf diese Weise der Name und die Nachfolge Hahnemanns in guten Händen

70 IGM Bestand M 498. Zu den Sprechzeiten Clemens von Bönninghausens Baschin (2009).

71 IGM Bestand M 412.

72 IGM Bestand M 499. »Je suis fort heureuse d’avoir fait plus ample connaissance avec votre cher fils qui est un bon et aimable jeune homme. Sans compter qu’il est ho-moeopathe de cœur et d’esprit ce qui me fait grand plaisir, car nous avons bien besoin de ceux là.«

73 IGM Bestand M 499. Louise von Bönninghausen, die älteste Tochter des Freiherrn, heiratete am 28. Oktober 1856 in Darup den königlich-preußischen Kreisgerichtsrat Maximilian Wenner. Kottwitz (1985), S. 155.

74 IGM Bestand M 411 und M 500. Stattdessen suchten Mélanie und Sophie Hahne-mann eine Kirche in Frankreich am selben Tag auf, um für das Brautpaar zu beten.

75 IGM Bestand M 411. Mélanie schrieb: »J’ai toujours été d’avis que la meilleure de toutes les finesses c’est la franchise. Surtout entre gens comme vous et moi. Vous ne me dites rien du projet d’unir nos enfans; projet fort peu arrèté il est vrai, mais dont pourtant vous m’aviez assez parlé pour me faire penser que vous y attachiez de l’importance.«

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wären. Außerdem stellte sie eine große Klientel in Aussicht.76 Im folgenden Brief betonte sie, dass sowohl sie selbst als auch ihre Adoptivtochter finan-ziell abgesichert seien und sie mit einer möglichen Heirat keinerlei Bereiche-rungspläne verfolgen würden.77 Den Angaben im Brief zufolge führte Mélanie weiterhin kostenlose Behandlungen durch und hatte sich durch ihre erfolgreichen Kuren einen guten Ruf aufgebaut. Außerdem kooperierte sie zu diesem Zeitpunkt mit einem anderen homöopathischen Arzt, dessen Platz jedoch durch einen künftigen Partner ersetzt werden könnte. Aller-dings würde Madame Hahnemann auch in Zukunft »ihre« Patienten be-handeln. Die einzigen Anforderungen an einen Kollegen seien, dass er Ta-lent habe, besonders ihre Tochter liebe, glücklich mache und arbeitseifrig sei. Sophie selbst habe bereits den Heiratsantrag eines ausgesprochen rei-chen Arztes abgelehnt, weil sie keinerlei Sympathie für ihn empfunden ha-be.78 Ehrlich gab Madame Hahnemann jedoch zu, dass Carl ihr gefallen würde und dass sie gemeinsam mit Sophie ein gutes Trio sein würden. Denn sie und ihre Tochter würden sich niemals trennen, das sei eine Hauptbedingung. Schließlich wollte Mélanie Hahnemann »Nägel mit Köp-fen« machen und legte Bönninghausen und seinem Sohn eindringlich nahe, ihr eine endgültige Antwort zukommen zu lassen.79 Ein Antwortschreiben Bönninghausens, das Aufschluss über seine Einstellung sowie die Meinung Carls geben könnte, ist nicht überliefert. Das Vorhaben, eine außerordentli-che Erlaubnis zum Praktizieren zu erhalten, war schwieriger als gedacht. Letztendlich könnte, wie Mélanie Hahnemann schrieb, eine solche jedoch erwirkt werden, wenn ihre Tochter einen ausländischen Arzt heiraten wür-

76 IGM Bestand M 411. »Je ne cacherai pas que, pour mon compte, une alliance avec vous me serait plus chère qu’avec tout autre, desirant laisser le nom et la succession médicale de Hahnemann en bonnes mains. Le Medicin qui sera mon gendre aura su-bitement une immense clientelle, cette certitude m’est acquise par le passé et le pré-sent.«

77 Dies sowie die weiteren Angaben aus IGM Bestand M 500.

78 IGM Bestand M 500. Bezüglich der erwünschten Eigenschaften eines Partners in der Praxis formulierte Mélanie Hahnemann: »[…] si mon gendre a du talent, je ne lui de-manderai absolument aucun avantage d’argent. Il m’est fort indiffèrent qu’il n’en ait pas pourvu qu’il aime ma fille, la rende heureuse et soit laborieux avec moi qui le suis – excessivement.« Sophies Einstellung gab sie mit folgenden Worten wieder: »Elle le refuse absolument parcequ’elle n’èprouve aucune sympathie pour lui, sans laquelle elle n’acceptera jamais un marié.«

79 IGM Bestand M 500. »Franchement votre fils me plait plus que tout autre, en outre il est votre fils. S’il plait à ma fille comme à moi et si ma fille lui plait, nous pourrons faire un heureuse trio ensemble, car la condition capitale est que ma fille et moi nous ne nous séparions jamais – que les deux jeunes gens se conviennent et tout le reste s’arrangeree – Voyez s’il vous convient de prendre ma fille avec les avantages que je viens d’énumerer, quant à moi il me convient de prendre votre fils sans fortune, et si vous êtes tous deux de mon avis, j’en parlerai à ma fille.« (Hervorhebung im Original) Über die enge Beziehung gibt ferner Auskunft: IGM Bestand M 107. Hierzu die Schilderung in Handley (1993), S. 197-209.

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de. An jenem 12. November 1856 gab auch Sophie ihr Einverständnis zur Verlobung mit Carl, obwohl sich die beiden nur im September für drei Ta-ge gesehen hatten. Um dennoch nach dieser vorläufigen Absprache ein wei-teres Kennenlernen zu ermöglichen, lud Mélanie Hahnemann Carl ein, nach Paris zu kommen, wo er auch die leiblichen Eltern Sophies treffen könnte.80

Der Briefwechsel der späteren Schwiegereltern endet an dieser Stelle, so dass über weitere Zusammentreffen oder Bemühungen, die Beziehung zu klären, nichts mehr bekannt ist. Doch ein halbes Jahr später, im Mai 1857, ver-kündete die Allgemeine Homöopathische Zeitung »das neueste Ereignis in der hiesigen homöopathischen Welt«. Carl von Bönninghausen hatte die Er-laubnis erhalten, in Frankreich zu praktizieren, ohne zuvor ein Examen abgelegt zu haben.81 Außerdem wurde die Verlobung von ihm mit Sophie Bohrer bekanntgegeben.82 Eine Visitenkarte seines ersten Wohnortes in Pa-ris hatte Carl seinem Vater zukommen lassen. Demnach logierte er in der Rue St. Honoré 418, in einem Gebäude namens »Hôtel de Glasgow«, das große und kleine Appartements anbot.83 Die Eheschließung von Carl mit der zwölf Jahre jüngeren Sophie fand im Juli 1857 in Paris statt.84 Im Sep-

80 IGM Bestand M 501. »Ce matin, pour la première fois, j’ai parlé à Sophie de votre fils, je lui ai lu votre dernière lettre. – Elle a été d’abord fort étonnée; puis, après un long entretien elle m’a dit = Qu’elle accepterait pour épous Mr. Votre fils s’il était d’avis de s’unir à elle = Elle ne l’a vu que pendant trois jours mais cela lui suffit pour apprécier ses qualités.«

81 In einem Schreiben, das vermutlich von Mélanie Hahnemann nach dem 29. Novem-ber 1876 angefertigt wurde, wird der 27. März 1857 als Datum für diese kaiserliche Erlaubnis genannt. IGM Bestand M 111.

82 Anonym: Tagesangelegenheiten (1857) (Ausgabe vom 18. Mai 1857) sowie dieselbe Meldung in Anonym: Tagesgeschichte (1857). Zur Verlobung, die für den 25. Mai 1857 beglaubigt wurde, existiert eine von einem Weihbischof in Köln unterzeichnete Urkunde vom 26. Mai 1857. In IGM Bestand M 1 wird die »sponsalia inter Carolum nobilem de Bönninghausen ad tempus parochiam ad S. Mauritium Coloniae, et So-phiam Mariam Barbaram Bohrer« (»Verlobung zwischen Karl Edler von Bönning-hausen zu dieser Zeit in der Gemeinde zu S. Mauritz von Köln und Sophie Maria Barbara Bohrer«) bestätigt. Zumindest im Mittellateinischen kann »sponsalia« sowohl die Verlobung als auch die eigentliche Hochzeit meinen. Habel/Gröbel (1989), S. 376. Allerdings ist die Bedeutung »Verlobung« gebräuchlicher.

83 Clemens von Bönninghausen hat diese Visitenkarte mit der Notiz »Erster Wohnort von Dr. C. v. B. in Paris« in den hinteren Deckel seines Journals IGM Bestand P 99 eingeklebt. Er hatte das Buch am 12. Juni 1857 begonnen und führte es bis zum 6. September des Jahres.

84 Clemens von Bönninghausen ließ dies ebenfalls in einem Sitzungsbericht über die Versammlung der homöopathischen Ärzte Rheinlands und Westfalens verlauten. Die Versammlung tagte am 30. Juli 1857 zu Dortmund und enthält die Mitteilung: »Bei dem trefflichen Mittagsmahle theilte Referent der Gesellschaft die am vorhergehenden Tage in Paris vollzogene Heirath seines Sohnes mit der Adoptivtochter unseres verst. Hahnemann’s mit.« Der Bericht: Clemens von Bönninghausen (1857), S. 30. In dem

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tember desselben Jahres besuchte das junge Ehepaar Clemens von Bön-ninghausen in Münster.85 Laut der Aussage Mélanie Hahnemanns waren beide ganz glücklich in ihrer Beziehung und sahen diese durch das Schick-sal vorherbestimmt.86

Vieles ist seither über das kühle Taktieren der Madame Hahnemann ge-schrieben worden.87 Insbesondere von Seiten treuer Hahnemann-Anhänger wurde ihr immer wieder vorgeworfen, diesen nach Paris gelockt und dort für ihre Zwecke ausgenützt zu haben.88 Ebenso erschien die Heiratsanbah-nung mit einem der Söhne Clemens von Bönninghausens als berechnender Plan, um die eigene homöopathische Tätigkeit aufrechterhalten zu können. Andererseits darf man nicht aus den Augen lassen, dass rationale Überle-gungen bei ehelichen Verbindungen im 19. Jahrhundert weit ausschlagge-bender waren als heute. Materieller und geistiger Besitz, Einkommen, Pres-tige und Macht waren wichtige Gesichtspunkte, auch wenn man durchaus Liebesgefühle bekundete.89 Geeignete Kandidaten und Ehen wurden häufig im Kreis untereinander bekannter Familien aus der gleichen gesellschaftli-chen Schicht vermittelt. Die Zustimmung der Eltern zu einer Ehebindung war unerlässlich.90 Dass Bönninghausen das Ansinnen einer ehelichen Ver-bindung der beiden Familien nicht rundweg ablehnte, ist verständlich. Ei-nerseits gebot die Höflichkeit, in einem Antwortschreiben diese Möglichkeit

schwer lesbaren Konzept IGM Bestand M 111 ist jedoch davon die Rede, die Hoch-zeit habe am 23. Juli 1857 stattgefunden (»l’acte de mariage même de leur fille [ge-meint ist Sophie Bohrer, M. B.] avec M. le Baron de Bonninghausen, célébré à la mairie de l’ancien premier arrondissement de la Ville de Paris le 23 juillet 1857«). Im Dokument ist zudem das Geburtsdatum Sophies mit dem 12. Januar 1838 angegeben. In IGM Bestand M 107 schreibt Mélanie davon, dass Sophie 1859 21 Jahre alt ge-worden sei.

85 IGM Bestand M 502.

86 IGM Bestand M 502. Es heißt dort, Sophie »me dit souvent que cette réunion est pro-videntielle«, und Carl teile diese Meinung.

87 In diese Richtung deuten Haehl (1922), Bd. 1, S. 244f. und S. 378-381, sowie Kottwitz (1985), S. 106.

88 Besonders scharf in diese Richtung Haehl (1922), Bd. 1, S. 246f., 255 und S. 267. Auf diese negative Sicht gehen ein: Handley (1986) und Jütte im Nachwort, S. 249-251, in Handley (1993). Bereits zeitgenössische Homöopathen hatten die Abreise nach Frank-reich nicht verziehen – Handley (1993), S. 165 –, und die Feindseligkeiten brachen nach dem Tod Hahnemanns vollends auf, hierzu Handley (1993), S. 170f.

89 Mit weiterführender Literatur: Borscheid (1983). Am Beispiel der Münsteraner Beam-tenschaft in der Provinz Westfalen belegt derartige Kriterien Bernd Walter (1987). Er spricht auf S. 203 davon, dass bei der Partnerwahl eindeutig die soziale Herkunft, die gesellschaftliche Stellung der Familie sowie die angestrebte Berufslaufbahn entschei-dend waren.

90 Dies betont auch Borscheid (1983), S. 120 und S. 130. Zu diesen Mechanismen aus soziologischer Sicht auch Schröter (1990), besonders S. 146-155, hierzu auch die Be-schreibung bei Handley (1993), S. 201f.

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nicht rigoros abzulehnen, falls er dies überhaupt gewollt hätte. Andererseits war Bönninghausen ob dieser Idee sicher tatsächlich geschmeichelt, ergab sich doch so die Gelegenheit, in die Familie des hochverehrten Homöopa-thiebegründers einzuheiraten und gegebenenfalls an seinen Nachlass zu ge-langen.91 Auch vom Standpunkt des sozialen Ranges gesehen war die Ver-bindung nicht abwegig.

Ebenso geht aus den Briefen hervor, dass die beiden jungen Leute tatsäch-lich Gefallen aneinander gefunden hatten. Zumindest ist kaum davon aus-zugehen, dass beide in diese Ehe hineingezwungen wurden, da sowohl Mélanie Hahnemann als auch Clemens von Bönninghausen auf die wech-selseitige Sympathie in einer Verbindung Wert legten und beteuerten, darin derselben Meinung zu sein.92 Aus der Sicht Carls war es bestimmt nicht unattraktiv, an der Seite der Witwe Hahnemanns eine Karriere in Frank-reich zu versuchen. Über seine vorherige Tätigkeit in Köln ist nichts Nähe-res bekannt. Allerdings dürfte er dort nach einem knappen Jahr noch keine allzu große Praxis aufgebaut haben.93 Insofern müssen in dieser Angelegen-heit alle Seiten berücksichtigt werden. Das Arrangement der Ehe zwischen Sophie und Carl bot jedenfalls beiden Parteien gewisse Vorteile.94 Die jewei-ligen Motivationen bleiben freilich – außer es gibt hierzu weitere Archiv-funde – verborgen. Mélanie Hahnemann jedoch einseitig als »böse Intrigan-tin« darzustellen, wird ihr nicht gerecht.95

91 Clemens von Bönninghausen versuchte stets selbst in seinen Briefen, die Witwe Hah-nemanns von der Herausgabe des Nachlasses zu überzeugen. Vergleiche den Brief-wechsel in IGM Bestand M, besonders die in diesem Aufsatz erwähnten Briefe sowie Jütte (2007), S. 237-239. Diese Hoffnung drückte auch Bradford (1897), S. 173, aus. Carl selbst hatte ein Manuskript mit Krankengeschichten Hahnemanns vorbereitet, das aber nie publiziert wurde. Es ist erhalten in IGM Bestand P 182.

92 IGM Bestand M 557. Es heißt dort: »Je suis de votre avis, une union ne peut etre heu-reuse que lorsqu’elle est sympathique et pour qu’elle le devienne il faut se voir assez en liberté pour que le caractère puisse se montrer.« Noch sehr viel deutlicher auch in IGM Bestand M 500. Zu der Rolle, die Sexualität und Emotionalität in vormodernen Ehen spielten: Schnell (2002). »Emotionale Verträglichkeit« als Bedingung für eine ge-lungene Ehe wird seit dem 13. Jahrhundert diskutiert. Schnell (2002), S. 471.

93 Zu den »Startschwierigkeiten« junger Ärzte in einer eigenen Praxis: Huerkamp (1985), S. 119-125; Stolberg (1993), S. 15; Thümmler (2004), S. 39; Oberhofer (2008), S. 180. Zudem war es zumindest in der Frühen Neuzeit ein üblicher Weg, sich als Nach-wuchsmediziner durch die Heirat mit der Witwe eines verstorbenen Kollegen zu etab-lieren. Tilmann Walter (2008).

94 Hierzu von Seiten Mélanies auch Handley (1993), S. 202 sowie S. 204 für alle Beteilig-ten.

95 Eine solche Interpretation der Ereignisse und ein wesentlich positiveres Bild Mélanies legen auch Handley (1986), S. 9-21, sowie Handley (1993) nahe.

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In Paris praktizierte Carl an der Seite Mélanies.96 Die beiden hatten ihre Tätigkeit nach einiger Zeit nach Versailles erweitert. Dort praktizierten sie an zwei Tagen in der Woche, weil mehr Kranke als in Paris zu ihnen ka-men.97 Zwar mutet es erstaunlich an, dass beide sich offenbar zunächst wie-der eine größere Klientel erarbeiten mussten. Aber man sollte nicht verges-sen, dass seit der Meldung Mélanie Hahnemanns, sie habe eine »ausgedehn-te Praxis«, im September 1856 und der Beschreibung der gemeinsamen Tä-tigkeit im Dezember 1857 mehr als ein Jahr vergangen war. In dieser Zeit hatte sich Mélanie möglicherweise wegen der bevorstehenden Hochzeit und ihrer Pläne für die außerordentliche Genehmigung des Praktizierens von Carl nicht eingehend um ihre Patienten gekümmert, oder ihr vormaliger Partner, der nun durch Carl verdrängt worden war, hatte einige Kranke übernommen.98

Wegen der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Preußen mit den verbündeten deutschen Staaten und dem französischen Kaiserreich verlie-ßen Carl und seine Frau 1870 Paris. Beide führten den Nachlass Hahne-manns mit sich. Mélanie Hahnemann verbrachte ebenfalls eine gewisse Zeit in Deutschland. Danach verblieb der Nachlass bei Carl und Sophie.99 Das Haus Darup war Carl von seinem Vater testamentarisch vermacht worden und befand sich seit 1866 in seinem Besitz. Es wurde jedoch, während der eigentliche Eigentümer in Frankreich war, von dessen jüngerem Bruder Os-kar verwaltet, der auch weiterhin die Landwirtschaft übernahm.100 Mehr als 30 Jahre lang lebte Carl in Darup und praktizierte dort als homöopathi-scher Arzt, worüber allerdings keine Notizen mehr vorhanden sind.101 Am

96 Nach den eigenen Meldungen Mélanies überliefert in IGM Bestand M 502. Auch vermerkt in: Hirsch (1962), S. 595; Bradford (1897), S. 173 und S. 183.

97 Handley (1993), S. 208.

98 Hierzu die Briefe seit 1856/57, die nur wenig Auskunft über eine homöopathische Tätigkeit geben. Genaueren Aufschluss über die tatsächliche Tätigkeit Mélanies und ihren Umfang würden die französischsprachigen Krankenjournale (besonders DF 16 und DF 17) geben, die im IGM in Bestand DF (Laufzeit von 1835 bis 1863) überliefert sind. Die Transkription und Auswertung stehen jedoch noch aus, wären aber für die angemessene Beurteilung unerlässlich, da die Journalführung anders als bei Clemens von Bönninghausen keinem leicht übersichtlichen Schema zu folgen scheint. Doch sind von der Zusammenarbeit von Carl und Mélanie offenbar keine direkten Zeugnis-se überliefert. Handley (1993), S. 208. Hierzu auch die Schilderung in Handley (1993), S. 200f., als der erste Partner die Praxis verlassen hatte. Zum Leben in Paris skizzen-haft Handley (1993), S. 213f.

99 Haehl (1922), Bd. 1, S. 385 sowie in seinem Vorwort, S. VIII-X. Zu dem Nachlass und dessen Verbleib in knappen Worten Handley (2001). Hierzu auch der Eigen-tumsnachweis in IGM Bestand P 41: »Eigenthum Von Jus. Carl v. Bönninghausen Hom. Arzt.« Die Schilderung auch in Handley (1993), S. 220f.

100 Schulze Pellengahr (2000), S. 230f.

101 Anonym (1902). In der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung ist 1870/71 keine

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13. Juni 1902 starb er auf seinem Gut, nachdem seine Gattin drei Jahre zu-vor einer Lungenentzündung erlegen war.102

Soweit erhellen die seither entdeckten Unterlagen den Lebenslauf Carl von Bönninghausens. Weitere Detailstudien könnten möglicherweise näheren Aufschluss zu der Niederlassung Carls in Köln, den Jahren nach der Ver-heiratung sowie seiner Tätigkeit in Paris und seiner Flucht aus Frankreich beziehungsweise der erneuten Niederlassung in Darup geben. Für den vor-liegenden Aufsatz waren die hierfür notwendigen Archivbesuche jedoch nicht zu leisten. Allerdings zeigen das Vorgehen und die bereits genannten Quellenbestände, wonach bei derartigen Studien Aussicht gehalten werden muss und in welchen Unterlagen aller Wahrscheinlichkeit nach weitere Auskünfte zu erwarten sind. Dies gilt nicht nur für das Leben Carls, son-dern gleichfalls für das aller anderen »vergessenen« Homöopathen.

Ein Homöopath lernt

Obwohl Carl »allopathisch« ausgebildet worden war, hatte ihn die ständige Kritik an der Lehre Hahnemanns von Seiten der »Schulmedizin« nicht von der Homöopathie entfremdet.103 In der Praxis seines Vaters begann er, sich in die Materia medica und die besondere Vorgehensweise einzuarbeiten. Hierfür verwendete er eines der vorgedruckten Journale, die sein Vater für die Angaben über die Behandlungsverläufe seiner Patienten gebrauchte.104

Jeder neue Patient erhielt in diesen Registern eine eigene Seite zugewiesen. Eingeleitet wurden die Notizen von allgemeinen Informationen zu dem Kranken wie Name, Alter, Wohnort und Beruf. Dann folgten die Sympto-me, die der beziehungsweise die Betroffene während der Erstanamnese schilderte, und es wurde vermerkt, ob bereits andere Medikamente oder Kuren versucht worden waren. In der zweiten Hälfte folgten in drei Spalten die Daten der Konsultationen, die verschriebenen Arzneien mit der Anzahl der Globuli und der Nennung der entsprechenden Potenz sowie die Be-

Meldung enthalten, dass Carl dort eine Praxis betrieben hat. Auch in den Personal-nachrichten oder ähnlichen Bekanntmachungen ist sein Name nicht vermerkt.

102 Anonym (1902); Kottwitz (1985), S. 257; Schulze Pellengahr (2000), S. 231, mit nähe-ren Details zur Bestattung. Sophie von Bönninghausen starb am 7. Februar 1899. Die Familiengruft wurde jedoch in den 1960er Jahren eingeebnet, s. Schulze Pellengahr (2000), S. 268. Die Ehe der beiden war kinderlos geblieben.

103 Hierzu die zugespitzten Bemerkungen Dunhams (1855), S. 457. Eine ähnliche »Bekeh-rungsgeschichte« bei Clemens von Bönninghausen (1842). Zur zeitgenössischen Kritik an der Homöopathie Ameke (1884).

104 Clemens von Bönninghausen (1863) machte für diese Art der Buchführung Werbung in der Allgemeinen Homöopathischen Zeitung. Die weitere Beschreibung der Quelle nach dieser Schrift. Die Originale im IGM, Bestand P 1 bis P 116.

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schreibung von »Erfolg und neuen Zeichen«, die im Verlauf der Therapie sichtbar wurden.105

Der erste Eintrag des Journals P 101b datiert vom 27. April 1854. Carl hat-te aber schon eine Woche zuvor einige Patienten behandelt, die jedoch erst nach dieser Aufzeichnung in das Buch eingefügt wurden.106 Clemens von Bönninghausen hatte am 20. April ebenfalls Kranke betreut, doch ist an diesem Tag die Handschrift Carls nicht in den Journalen des Vaters zu fin-den.107 Demgegenüber notierte der Sohn in den Tagen nach dem 20. April zunächst einige Erstkonsultationen in den regulären Bänden seines Vaters, bevor er diese nachträglich in sein eigenes Buch kopierte.108 Möglicherweise durfte er bei diesen Betroffenen lediglich der Sprechstunde seines Vaters beiwohnen und die Aufzeichnungen führen, bevor dieser ihn selbständig tätig werden ließ. Eventuell hatte der angehende Homöopath aber bei den eigenen Notizen am 20. April bemerkt, dass ein wenig mehr Übung hilf-reich sei, und sich daher zu der Assistenz in den Sprechstunden seines Va-ters entschlossen.109 Am 27. April aber, an jenem Tag, an dem Carl »sein« Journal begann, führte Clemens von Bönninghausen keine Erstkonsultatio-nen durch.110 Insofern wäre es möglich, dass der Sohn seinen Vater an die-sem Tag in der Praxis vertrat. Insgesamt beschrieb Carl von Bönninghau-

105 Diese Angaben wurden mit Hilfe einer Datenbank, die mit dem Programm FileMaker Pro erstellt wurde, transkribiert und ausgewertet. Eine nähere Beschreibung in Baschin (2009).

106 Es handelt sich um eine Behandlung vom 8. April und zwei vom 20. April, wobei der erstgenannte Patient auch am 20. April eine Konsultation hatte. Die Kranken sind no-tiert in IGM Bestand P 101b Fol. 12 bis Fol. 14.

107 Der Vater hatte in IGM Bestand P 88 an diesem Tag drei Erstkonsultationen notiert, wobei ein Eintrag für fünf Kinder, die an Krätze litten, war. Zu der Angewohnheit Clemens von Bönninghausens, mehreren Geschwistern eine Seite zuzuweisen, Baschin (2009), S. 155.

108 IGM Bestand P 101b startet am 27. April mit einer Erstanamnese. An diesem Tag empfing Clemens von Bönninghausen keine neuen Patienten. Die Erstanamnesen, die zunächst in P 88 notiert worden waren, sind: Fol. 240 (28. April 1854), Fol. 245 (29. April 1854), Fol. 249 (25. April 1854), Fol. 253 (2. Mai 1854), Fol. 257 (3. Mai 1854) und Fol. 273 (9. Mai 1854). In P 101b sind dies Fol. 17 bis Fol. 22.

109 Wie die Seitenangaben in IGM Bestand P 101b nahelegen, wurden auch die Konsulta-tionen vom 20. April beziehungsweise 8. April nachträglich in das Journal eingetra-gen. Die Originalnotizen sind jedoch verloren.

110 In IGM Bestand P 88 ist für den 27. April keine Erstkonsultation vermerkt, allerdings sind Konsultationen an diesem Tag bei IGM Bestand P 77 Fol. 220 und P 78 Fol. 47 vermerkt. Bei IGM Bestand P 78 Fol. 47 ist die Schrift jedoch diejenige des Sohnes, während bei IGM Bestand P 77 Fol. 220 zwar dieselbe Tinte, aber die Schrift des Va-ters zu sehen ist.

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sen im Zeitraum von April 1854 bis Januar 1855 die Krankheitsbilder und Behandlungen von 108 Personen.111

Im Mai, Juni und Juli des Jahres 1854 therapierte der junge Arzt mehr als 20 neue Patienten. Im August notierte er elf Behandlungen, während im September und Oktober nur vier beziehungsweise drei Kranke erstmals zu ihm kamen. Bis Dezember ist eine Lücke in den Aufzeichnungen, die in der Beschreibung des Lebenslaufs mit einem möglichen Umzug Carls von Münster nach Darup erklärt wurde.112 Im Dezember 1854 und Januar 1855 folgten drei beziehungsweise fünf Neuaufnahmen. Auch die Anzahl der durchgeführten Konsultationen war in den Monaten Mai bis Juli hoch und schwankte zwischen 42 und 48. Die meisten Gespräche führte Carl im Au-gust mit 62 Terminen. Im September und Oktober des Jahres waren die Anzahlen rückläufig.113

111 Die Datenbank umfasst 109 Einträge, weil am 14. Juli 1854 der Vater eine Erstanam-nese notierte. An diesem Tag fanden zwei weitere Konsultationen statt, die jedoch ebenfalls in der Handschrift des Vaters geführt sind. IGM Bestand P 101b. Bei Fol. 71 handelt es sich um einen 59 Jahre alten Krämer aus Lengerich, der auch bei seiner zweiten Konsultation im Oktober des Jahres von Clemens von Bönninghausen be-handelt wurde. Interessanterweise notierte der Freiherr den Kranken jedoch nicht in sein eigentliches Journal IGM Bestand P 89, das an diesem Tag keine weiteren Erst-anamnesen enthält.

112 Vergleiche hierzu die Ausführungen im ersten Teil des Aufsatzes.

113 Die Übersicht zu den durchgeführten Neukonsultationen (NK) und Konsultationen (K) Carl und Clemens von Bönninghausens in IGM Bestand P 101b in Tabelle 1.

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NK 7 26 26 20 11 4 3 0 3 5 105 3 K 8 42 45 48 62 27 17 0 5 10 264 3 Clemens NK 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 1 0 K 0 1 5 5 3 10 14 12 5 9 64 0

Tab. 1: Verzeichnete Neukonsultationen (NK) und Konsultationen (K) in IGM Bestand P 101b (absolute Angaben)

Aber Carl wurde, wenn er für »seine« Patienten nicht zu sprechen war, von seinem Vater vertreten, der dann die Folgetermine und die Medikationen in das Journal notierte. Insgesamt finden sich für den Zeitraum 1854/55, in dem Carl das Buch führte, 64 Konsultationsangaben von Clemens von Bönninghausen. Diese stammen besonders aus den Monaten September bis November, als Carl selbst wohl nur wenige Tage anwesend war.114

Die meisten Patienten blieben lediglich ein Jahr in Behandlung, neun er-schienen in zwei Jahren bei Vater und Sohn, um sich homöopathisch the-rapieren zu lassen.115 Weitere sieben Patienten ließen sich, nachdem der

114 Zumindest anhand der Eintragungen in IGM Bestand P 101b müsste Carl in der Zeit vom 5. bis zum 12. September, vom 29. September bis zum 3. Oktober sowie vom 11. Oktober bis zum 20. Dezember 1854 nicht in der Praxis gewesen sein. Auch am 9. Oktober notierte der Vater die Konsultationen, an den Tagen vorher und am 10. Ok-tober war Carl jedoch selbst tätig. Andersherum findet sich die Schrift Carls in den regulären Journalen des Vaters an Tagen, an denen dieser offenbar nicht zu sprechen war oder für diese Konsultation keine Zeit hatte. Dies ist bei den Patienten IGM Be-stand P 88 Fol. 179, Fol. 189, Fol. 224, Fol. 226, Fol. 227, Fol. 235, Fol. 239 und Fol. 254 der Fall. Gleiches gilt für IGM Bestand P 89 Fol. 10, Fol. 15, Fol. 20, Fol. 61, Fol. 100, Fol. 109, Fol. 193, Fol. 210 sowie Fol. 241. Dies betrifft folgende Tage, an denen keine Erstkonsultationen durch den Vater vermerkt wurden: 10., 11. und 12. Mai (IGM Bestand P 88 Fol. 189, Fol. 224 und Fol. 235), 7. und 21. Juni (IGM Bestand P 88 Fol. 179, Fol. 254), 4., 6. und 27. Juli (IGM Bestand P 89 Fol. 10, Fol. 20, Fol. 100) sowie 26. und 27. September (IGM Bestand P 88 Fol. 239, P 89 Fol. 193, Fol. 210 und Fol. 241). Es betrifft ebenfalls die folgenden Tage, an denen der Vater aber auch selbst Erstkonsultationen notierte: 13. und 27. Mai (IGM Bestand P 88 Fol. 179, Fol. 227), 1. und 3. Juni (IGM Bestand P 88 Fol. 226, P 89 Fol. 15, Fol. 61), 12. Juli (IGM Bestand P 89 Fol. 100), 1. August (IGM Bestand P 89 Fol. 20) sowie 5. Januar 1855 (IGM Bestand P 89 Fol. 109). Der Vater füllte später die leeren Seiten des Journals P 101b, da der Sohn nur bis Fol. 109 Eintragungen gemacht hatte. Clemens von Bön-ninghausen begann seine Notizen am 30. Mai 1858 und führte sie bis Fol. 287 am 22. August dieses Jahres fort. Siehe Tabelle 1.

115 Dies war auch in der Praxis des Vaters der Fall, in der in der Mehrheit aller Fälle eine

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Marion Baschin 262

Sohn die Erstkonsultation durchgeführt hatte, sogar noch mehrere Jahre später vom Vater behandeln und blieben somit der Therapeutenfamilie und der Lehre Hahnemanns treu.116 Die Anzahl der Besuche je Patient schwank-te zwischen einer einmaligen Konsultation und 28 Sitzungen. Während die 25 Kranken, die nur ein einziges Mal in der homöopathischen Praxis er-schienen waren, alle von Carl betreut wurden, traf dies auf die übrigen nicht zu. Von den 31 Kranken, die immerhin zweimal kamen, hatten sieben ihren Folgetermin bei Clemens von Bönninghausen. Von den Betroffenen, die dreimal in die Praxis gekommen waren, hatten elf einmal beziehungs-weise eine Person zweimal eine Konsultation beim Vater gehabt.117

Die Kranken suchten Clemens und Carl von Bönninghausen in deren Pra-xen persönlich auf. Gemäß den Vorgaben Hahnemanns führten beide Sprechstunden, zu denen die Patienten zu erscheinen hatten, oder sie muss-ten einen Boten senden. Bemerkenswert ist jedoch, dass Carl drei Kranken-besuche vornahm.118 Zwei davon machte er in Münster, wohin Carl aller Wahrscheinlichkeit nach sogar von Darup aus angereist war. Die Anamne-sen der drei Betroffenen sind verhältnismäßig lang, und die Beschwerden hinderten die Betroffenen daran, selbst in die Praxis zu kommen, ohne dass ausdrücklich auf eine Bettlägerigkeit verwiesen wurde. Zwei der Patienten litten an Inkontinenz beziehungsweise heftigen Stuhlentleerungen, so dass der Weg in die Praxis wohl nicht zumutbar war.119

Therapie ebenfalls nur ein oder zwei Konsultationen umfasste und innerhalb eines Jahres beendet war. Baschin (2009).

116 90 Kranke erschienen lediglich einmal in der Praxis. Je ein Patient setzte seine Thera-pie sechs, neun oder zwölf Jahre fort, je zwei zehn beziehungsweise elf Jahre. Die letz-ten beiden sowie der Patient mit der zwölfjährigen Behandlungsdauer kamen noch zu Friedrich von Bönninghausen, der nach dem Tod des Vaters die Praxis in Münster übernahm. Auch in der Praxis des belgischen Arztes van den Berghe erschien mehr als ein Viertel der Patienten nur einmal: Baal (2004), S. 179f. Gleiches galt für die Praxis von Samuel Hahnemann: Schuricht (2004), S. 11. Ein einziges Mal erschienen 37 % der Kranken, zwei- bis viermal 25,6 %.

117 Zu der Anzahl der Konsultationen je Patient: »1«: 25, »2«: 31 (sieben), »3«: 21 (zwölf), »4«: sieben (zwei), »5«: zwei (einer), »6«: sechs (fünf), »7«: zwei (zwei), »8«: einer (ei-ner), »9«: zwei (zwei), »13«: einer (einer), »15«: drei (drei), »20«: einer (einer), »22«: ei-ner (einer), »24«: zwei (zwei), »28«: einer (einer), »unbekannt«: drei. In Klammern die Anzahl der Patienten, bei denen mindestens eine Konsultation durch den Vater erfolg-te.

118 Zu den Vorgaben Hahnemanns diesbezüglich: Jütte (2008), S. 113. Wie sein Vater notierte auch Carl, ob er die Patienten gesehen hatte oder nicht. Dies traf auf 68 (62,4 %) zu, 27 (24,8 %) waren nicht erschienen, ohne dass ein Vermerk über einen Boten gemacht worden war. IGM Bestand P 101b Fol. 106 vermerkt aber »Sehr schlechter Bescheid«, womit klar wird, dass Carl zumindest eine Nachricht erhalten haben muss, ähnlich auch Fol. 23, Fol. 33 oder Fol. 61. Bei den Übrigen war der Erhalt einer Nachricht unbekannt. Zu Clemens von Bönninghausen: Baschin (2009).

119 Bei den Besuchen handelt es sich um IGM Bestand P 101b Fol. 100, Fol. 104 und Fol.

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Carl von Bönninghausen 263

Die Mehrheit der von Carl Behandelten waren Frauen.120 Der Familien-stand war nur bei einer Patientin ausdrücklich vermerkt. Allerdings wurde bei Kranken bis zu einem Alter von einschließlich 18 Jahren davon ausge-gangen, dass diese als »Kind« und somit ledig einzustufen seien. Dies traf auf 27 Betroffene zu.121 Auch hielt es Carl für unnötig, den Beruf zu notie-ren. Daher ist eine schichtspezifische Analyse der von ihm betreuten Patien-ten nicht durchführbar.122

Das Alter notierte Carl hingegen sehr gewissenhaft bei jedem, der zu ihm kam. Die meisten der Betroffenen waren bei ihrer Erstkonsultation zwischen 26 und 30 Jahre alt. Ähnlich stark besetzt war jedoch die Gruppe der 31- bis 35-Jährigen. Kinder bis zu einem Alter von zehn machten 14,6 % der Klientel aus.123 Im direkten Vergleich mit der Praxis des Vaters fällt daher auf, dass der Sohn weniger Kinder und Jugendliche und mehr ältere Perso-

105.

120 Für die 109 Patienten in der Datenbank ließ sich bei zweien kein Geschlecht eindeutig feststellen (1,8 %), 45 waren männlich (41,3 %) und 62 weiblich (56,9 %). Damit war der Anteil der Patientinnen, die Carl behandelte, höher als in der Praxis des Vaters. In dessen Behandlung waren 51,3 % der Patienten weiblichen und 33,9 % männlichen Geschlechts. Bei 14,8 % war das Geschlecht unbekannt. Baschin (2009). Allerdings gibt es die These, dass junge Ärzte eher Frauen und Kinder behandelten. Boschung (1996), S. 8. Heute sind in Arztpraxen durchweg mehr Frauen anzutreffen. Einen Überblick bietet Dinges (2007). In der Praxis Samuel Hahnemanns überwog je nach untersuchtem Journal mal das eine, mal das andere Geschlecht. Hierzu Jütte (1996), S. 30f.

121 In P 101b Fol. 4 notierte Carl »verh.«. 27 der Patienten waren zwischen null und 18 Jahre alt und wurden daher als ledig eingestuft (24,8 %). Bei den übrigen 81 Personen war der Familienstand unbekannt (74,3 %).

122 Bei lediglich einem Kranken vermerkte Carl, er sei »Krämer« (IGM Bestand P 101b Fol. 71), bei einem anderen schrieb er »dient in Nottuln« (IGM Bestand P 101b Fol. 43), so dass auch in diesem Fall die Zuordnung Unterschicht getroffen werden konnte. Bei zwei weiteren Kranken notierte der Vater einen Beruf, so dass auch diese Betroffe-nen der Unterschicht zugewiesen wurden (IGM Bestand P 101b Fol. 53 und Fol. 102). Dies entspricht 3,6 % der Patienten, womit eine Analyse wenig sinnvoll ist. Dass aber diese vier Patienten der Unterschicht zugerechnet werden können, muss nicht ver-wundern. In der Praxis des Vaters stieg der Anteil von Patienten aus dieser Schicht im Laufe der Zeit. Baschin (2009). Zur Schichtzugehörigkeit der Patienten in der Praxis Hahnemanns Jütte (1996), S. 33-39. In seiner Praxis stieg der Anteil wohlhabender Kranker aus der Oberschicht.

123 Die Gliederung der Altersklassen wie folgt, Prozentangaben in Klammern: »0-5«: 8 (7,3 %), »6-10«: 8 (7,3 %), »11-15«: 7 (6,4 %), »16-20«: 8 (7,3 %), »21-25«: 8 (7,3 %), »26-30«: 17 (15,6 %), »31-35«: 16 (14,7 %), »36-40«: 8 (7,3 %), »41-45«: 6 (5,5 %), »46-50«: 7 (6,4 %), »51-55«: 6 (5,5 %), »56-60«: 6 (5,5 %), »61-65«: 1 (0,9 %), »66-70«: 2 (1,8 %), »71-75«: 1 (0,9 %). Damit ähnelt die Altersstruktur der von Carl Behandelten eher derjenigen der Patienten, die Hahnemann in Eilenburg und Leipzig therapierte. Jütte (1996), S. 32f.

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Marion Baschin 264

nen behandelte. Betroffene, die älter als 60 Jahre waren, kamen eher zu Clemens von Bönninghausen in die Behandlungen.124

Schaubild 1: Altersstruktur der Patienten in den Praxen von Vater und Sohn (A = Alter)

Geographisch gesehen stammten die meisten Kranken, die den Weg zu Carl fanden, aus dem Kreis Münster, der die Provinzialhauptstadt umgab. Aus Münster selbst kamen elf Patienten. Im Kreis Coesfeld, in dem der spätere Wohnsitz Carls lag, waren zwölf Patienten zu Hause. Weitere Patienten stammten aus etwa 30 Kilometer entfernten Ortschaften im Königreich Hannover, und zwei Kranke konsultierten Carl aus dem Ausland.125 Carl behandelte somit weniger Kranke, die direkt aus Münster stammten, als sein Vater. Deutlich stärker waren aber Patienten aus dem Kreis Coesfeld bei ihm vertreten.126

124 Hierzu Schaubild 1. Höher war auch der Anteil der Kinder und Jugendlichen: In der Praxis des Vaters lag er bei 28,6 % (4077 von 14.266), während dies bei Carl nur 24,8 % (27 von 109) der Klientel waren.

125 Die genauen Angaben: Stadt Münster und Kreis Tecklenburg: je elf (10,1 %), Kreis Ahaus, Kreis Recklinghausen und aus dem Regierungsbezirk Minden: je einer (0,9 %), Kreis Münster: 27 (24,8 %), Kreis Lüdinghausen: zehn (9,2 %), Kreis Warendorf: sechs (5,5 %), Kreis Coesfeld: zwölf (11,0 %), Kreis Steinfurt: vier (3,7 %), Hannover: 15 (13,8 %), Ausland: zwei (Dänemark und Norwegen, 1,8 %). Bei acht Patienten war der Wohnort in der Karte nicht zu finden oder die Zuordnung aufgrund ungenauer An-gaben nicht zu treffen.

126 In der Praxis des Vaters waren 18,2 % der Kranken aus der Stadt Münster, 18,1 % aus

0

5

10

15

20

25 %

A 0-10 A 11-20 A 21-30 A 31-40 A 41-50 A 51-60 A 61-70 A über 70

Patienten ClemensPatienten Carl

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Carl von Bönninghausen 265

Die Kranken, die zu Carl kamen oder vom Vater an diesen verwiesen wur-den, klagten über verschiedene Leiden. Das Beschwerdespektrum war beim Sohn jedoch nicht so differenziert wie in der Praxis des Vaters, was aber im Wesentlichen der kurzen Zeit und der geringeren Anzahl der Patienten zu-zuschreiben ist.127 Durchschnittlich notierte Carl während der Erstanamne-sen knapp fünf Symptombereiche. Seine Angaben waren damit etwas aus-führlicher als diejenigen seines Vaters, aber ähnlich lang wie diejenigen, welche Samuel Hahnemann in seinen ersten Journalen festhielt. Frauen wa-ren – sowohl in der Praxis des Vaters als auch in der des Sohnes – aus-kunftsfreudiger als Männer, und die Anamnesen der Kinder waren kürzer als diejenigen der Erwachsenen.128

Knapp 40 % aller Kranken hatten Beschwerden an den Untergliedern. Fer-ner wurden meist akute Symptome beschrieben, die unter dem Oberbegriff »Fieberzustände« zusammengefasst wurden. Darunter verstand man im 19. Jahrhundert nicht nur Fiebererkrankungen, wie beispielsweise »Wechselfie-

dem Kreis gleichen Namens, 4,5 % aus dem Kreis Coesfeld und 10,6 % aus Hannover. Aus dem Kreis Tecklenburg stammten 9,4 % und aus dem Kreis Lüdinghausen 9,7 % der Klientel Clemens von Bönninghausens. Der Vater hatte aber mehr Patienten aus dem Ausland sowie aus anderen Regierungsbezirken Preußens und den Kreisen Ahaus, Recklinghausen, Borken und Beckum. Zur Einteilung der Kreise und deren Beschreibung: König (1860). Auch Hahnemann führte zeitweise eine bescheidene Pra-xis, deren Klientel sich aus dem näheren Umland rekrutierte. Mit zunehmender Be-rühmtheit wuchs jedoch das Einzugsgebiet. Jütte (1996), S. 39-41.

127 Die Angaben in den Erstanamnesen wurden entsprechend einem Leitfaden struktu-riert, den Clemens von Bönninghausen veröffentlicht hatte, um Patienten, welche sich brieflich an einen Homöopathen wandten, zu sagen, in welcher Form sie dieses Schreiben abzufassen hatten und nach welchem Schema sie ihre Beschwerden schil-dern sollten. Der Leitfaden: Clemens von Bönninghausen (1833), zum Vorgehen Ba-schin (2009). So wurden durch Carl von Bönninghausen die Bereiche »Verstandes- und Gedächtnismängel«, »Schluchsen«, »Blähungen«, »Mittelfleisch«, »Schnupfen«, »Kehlkopf und Luftröhre«, »Knochen-Leiden« und »Genussmittelverbrauch« nicht erwähnt. Zum Teil waren diese Kategorien auch bei Clemens von Bönninghausen nur sehr selten erwähnt worden. Hierzu Baschin (2009).

128 Durchschnittlich wurden in den Erstanamnesen 4,9 Kategorien genannt, bei den Frauen 5,5, bei den Männern 4,2 und bei denjenigen der Kinder 4,0. Die am dichtes-ten besetzte Klasse waren drei Beschwerdekategorien mit 21 Kranken. Je einen Bereich erwähnten 13 Patienten, zwei: sieben, vier: zwölf, fünf: 16, sechs: elf, sieben: zehn, acht: sechs, neun: sieben, zehn: zwei, elf und zwölf: je einer, 13: zwei. Auch in der Klientel Clemens von Bönninghausens waren die Anamnesen der Frauen länger und diejenigen der Kinder kürzer. Der Vater notierte durchschnittlich 4,2 Beschwerden je Patient. Hierzu Baschin (2009). Die Frage, ob Frauen »kränker« oder aufgrund ihrer Sozialisation auskunftsfreudiger waren, kann nicht beantwortet werden. Beide Inter-pretationen des Befunds wären möglich. Dies ist bis heute der Fall. Allerdings ist auch der »Beschwerdedruck« stark von sozialen Faktoren abhängig und wandelt sich: Bräh-ler/Schumacher/Felder (1999). Samuel Hahnemann notierte in den Journalen D 2 bis D 4 durchschnittlich 4,8 Beschwerdekategorien pro Patient. Eine geschlechtsspezifi-sche Auswertung wurde nicht vorgenommen. Hörsten (2004), S. 60.

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ber« im engeren Sinn, sondern Hitze- und Kälteempfindungen im Allge-meinen sowie Schweißbildungen und Probleme mit dem »Blutlauf«.129 Un-gewöhnliche »Stuhlausleerungen« und somit in gewisser Weise Probleme mit dem Verdauungsvorgang hatten etwa 37 % der Betroffenen. »Inneres Kopfweh« plagte 33 % aller Kranken, und »Husten« zählte ebenfalls zu den fünf häufigsten Beschwerdekategorien.130

Damit unterschied sich das Krankheitsspektrum, das Carl zu behandeln hatte, nur geringfügig von demjenigen in der Praxis seines Vaters. Leiden an den unteren Gliedmaßen waren bei Carl häufiger erwähnt worden, wäh-rend er Angaben zum Essverhalten seiner Patienten und deren Appetit kei-ne große Bedeutung beimaß. Demgegenüber verzeichnete Carl verhältnis-mäßig öfter bei seinen Patientinnen Angaben zu deren Menstruation. An-sonsten waren die Hauptbeschwerdekategorien ähnlich.131

Krankheitsspektrum insgesamt

Krankheitsspektrum der Männer

Krankheitsspektrum der Frauen

Krankheitsspektrum der Kinder

Unterglieder (39,4 %)

Stuhlausleerung (35,6 %)

Menstruation (50,0 % aller Frau-en)

Stuhlausleerung (40,7 %)

Fieberzustände (38,5 %)

Husten (35,6 %)

Unterglieder (43,5 %)

Fieberzustände (33,3 %)

Stuhlausleerung (36,7 %)

Unterglieder (33,3 %)

Fieberzustände (43,5 %)

Husten (29,6 %)

Inneres Kopfweh (33,0 %)

Fieberzustände (33,3 %)

Inneres Kopfweh (41,9 %)

Inneres Kopfweh (22,2 %)

Husten (31,2 %)

Inneres Kopfweh (22,2 %)

Stuhlausleerung (38,7 %)

Angesicht (18,5 %)

Menstruation (28,4 % aller Patien-ten)

Magen und Herz-grube (20,0 %), auch Brust (20,0 %)

Husten (29,0 %)

Unterglieder (18,5 %), auch Menstrua-tion (18,5 % aller Kinder)

Tab. 2: Die fünf größten Gruppen des Krankheitsspektrums der Patienten Carls

Bei einer geschlechtsspezifischen Differenzierung fällt auf, dass Frauen öfter Beschwerden an den »Untergliedern« hatten als Männer. Bei Letzteren wa-ren hingegen Symptome im Bereich der Brust sowie des Magens und der

129 Clemens von Bönninghausen (1833), S. 38.

130 Hierzu Tabelle 2. Die ausführlichen absoluten Angaben zu allen Kategorien in Tabelle 3 im Anhang.

131 In der Praxis des Vaters waren die Hauptkategorien »Fieberzustände« mit 31,7 %, »Appetit« mit 23,6 %, »Stuhlausleerung« mit 22,3 %, »Unterglieder« mit 20,5 %, »Menstruation« mit 19,8 % (bezogen nur auf die weiblichen Patienten waren es 38,5 %) und »Husten« mit 18,8 %. Mit diesen großen Beschwerdegruppen unterschied sich das Behandlungsspektrum von Vater und Sohn kaum von demjenigen in anderen zeitgenössischen Arztpraxen. Ausführlicher hierzu Baschin (2009).

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Carl von Bönninghausen 267

Herzgrube so häufig, dass sie sogar unter den sechs größten Gruppen er-schienen. Auch stellten bei den Männern Angaben im Bereich der »Stuhl-ausleerung« die größte Beschwerdekategorie dar. Bei den Kindern waren derartige Probleme ebenfalls am häufigsten. Im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen waren unter den jüngeren Patienten Probleme im »Ange-sicht« stärker vertreten.132

Interessant ist darüber hinaus, dass nur Frauen Probleme im Bereich »Zäh-ne und Zahnfleisch« schilderten. Gleiches galt für »After und Mastdarm« sowie die »Harnorgane«, den »äußeren Bauch« und das »Angesicht«. Nur von Männern wurden hingegen Klagen im Zusammenhang mit dem »Ge-schlechtstrieb« geäußert.133 Bei den Kindern wurden im Vergleich zu allen Patienten »Drüsen-Leiden« häufiger thematisiert.134 Geschwollene Körper-drüsen, besonders am Hals, waren, wie Augenentzündungen, markante Symptome der »Skropheln«, einer sehr verbreiteten Kinderkrankheit. Ent-sprechend waren Beschwerden am »außeren Hals und Nacken« und »Au-genbeschwerden« häufiger bei Kindern vertreten. Carl von Bönninghausen verwendete den Krankheitsnamen »Skropheln« jedoch nie.135

Bei 34 Patienten gebrauchte Carl »allopathische« Krankheitsnamen. Aller-dings notierte er stets ergänzende Symptome in der Erstanamnese und fass-te die Namen somit kaum als richtungsweisend in seiner Therapie auf.136 Unter den verwendeten Bezeichnungen stechen behandelte Wurmerkran-kungen sowie die Bezeichnung »hydropische Anschwellung« hervor. Im letzteren Fall handelte es sich um Wasseransammlungen in der Bauchhöhle und den unteren Extremitäten. Dass derartige Symptome die Aufmerksam-keit des jungen Homöopathen erregten oder sein Vater Patienten mit sol-chen Leiden direkt an ihn verwies, hängt mit Carls Interesse an und Kennt-

132 Hierzu Tabelle 2. Bei Clemens von Bönninghausen waren die entsprechend differen-zierten Rangfolgen bei den Männern: »Fieberzustände, Husten, Stuhlausleerung, Ap-petit, Unterglieder, Durst«, bei den Frauen: »Menstruation, Fieberzustände, Appetit, Stuhlausleerung, Kopfweh, Unterglieder« und bei den Kindern: »Fieberzustände, An-gesicht, Husten, Haut, Stuhlausleerung, Durst«. Die kleinen Patienten Carls litten je-doch weniger an Hauterkrankungen, sondern in den Anamnesen wurden häufiger unnatürliche Gesichtsfarben wie krankhafte Röte oder Blässe beschrieben.

133 Dies ist ein üblicher Befund. Wann und unter welchen Umständen auch Frauen auf den »Geschlechtstrieb« zu sprechen kamen, belegt ausführlicher Brockmeyer (2007).

134 Die absoluten Angaben in Tabelle 3 im Anhang.

135 Dies tat sein Vater durchaus. Baschin (2009). Zu den »Skropheln«, ihren Symptomen und der Behandlung: Hellmund (1850), S. 52-86.

136 Dies sind 31,2 % aller Patienten. Der Vater hatte in 21,4 % aller Erstanamnesen die eigentlich zu vermeidenden Krankheitsnamen verwendet. Hierzu: Hahnemann (1999), § 81, S. 167. Der höhere Anteil ist nicht verwunderlich, da Carl Medizin studiert hatte und deshalb mit ihnen vertrauter war. Immerhin sind seine Anamnesen nicht so stark »allopathisch« ausgerichtet wie die publizierten Fallgeschichten von Friedrich Gau-werky (1852).

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Marion Baschin 268

nis der »Brightschen« Krankheit zusammen. Besonders bei Nierenleiden waren derartige Erscheinungen üblich.137

In den Medikationen orientierte sich Carl an der Verschreibungspraxis sei-nes Vaters. Beide verabreichten während der Behandlungen im berücksich-tigten Zeitraum meistens zwei Globuli in der 200. Potenz.138 Pro Sitzung bekam der Kranke immer mehrere »Mittel« mit, die er in bestimmten Ab-ständen einzunehmen hatte.139 Meistens enthielten eine oder mehrere der Arzneiportionen lediglich Milchzucker als Placebo, was in den Aufzeich-nungen durch ein Paragraphenzeichen kenntlich gemacht wurde.140 In der überwiegenden Mehrheit der Fälle bestand die Medikation aus einem Arz-neimittel, gefolgt von drei Milchzuckergaben.141 Hierbei tendierte Carl oft dazu, seine Therapie mit einer Gabe Sulphur zu beginnen. Auch Pulsatilla war als Erstmedikation beliebt. Sepia, Nux vomica, Rhus und Bryonia fan-

137 Hierzu die Ausführungen im Zusammenhang mit Carls Dissertation im ersten Teil des Aufsatzes. Wurmerkrankungen wurden, ebenso wie »hydropische« Anschwellungen (Wassersucht, Wasseransammlungen), bei sieben Patienten vermerkt. Drei Betroffene litten an Wechselfieber (hierzu die Ausführungen im ersten Teil, da auch Carl ein sol-ches gehabt hatte), je zwei Patienten hatten einen Leistenbruch, »Stickhusten« (Keuch-husten) oder »Phthisis« (Schwindsucht), je ein Kranker litt an einem Mastdarm- bezie-hungsweise Gebärmuttervorfall (»prolapsus ani« und »prolapsus uteri«), »Dyspnoe« (Atemnot), »Gicht«, »rheumatischen Schmerzen«, grauem »Staar«, »Atrophia« (Ver-kümmerung, Abzehrung), »Tresmus« (Krampf), »Molimina menstricorum« (Menstrua-tionsbeschwerden), »globus hystericus« (Hysterie), »Scabies« (Krätze), »Diarrhoe« (Durchfall), »Lymphangitis« (Entzündung der Lymphgefäße) oder war »kachektisch« (abgemagert). Die in Klammern angegebenen Erklärungen nach Medizinalabteilung des Ministeriums der geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (1905).

138 Für Clemens von Bönninghausen die eigene Aussage in Clemens von Bönninghausen (1863), S. 165, sowie Kunkle (2008). Für Carl auch Dunham (1855), S. 457f. Die Auswertung der Notizen in IGM Bestand P 101b ergab, dass Carl nur in vier Fällen nicht die 200. Potenz verschrieb. Dies waren Fol. 1, wo er dem Patienten Nux vomica in der 30. Potenz gab, Fol. 2, wo die Kranke Sepia in der 30. und nach zwei Milchzu-ckerportionen Causticum in der 15. Potenz erhielt, sowie Fol. 102, wo der Betroffene Arnica in der 30. Potenz bekam. Die Auflösung der Arzneimittelkürzel nach Schmidt (2001), S. 238-240.

139 In den meisten Fällen waren es vier Päckchen. Nur in IGM Bestand P 101b Fol. 98 verschrieb Carl drei Portionen (»1. Rhus. 200., 2.3. §«), und in Fol. 42 sowie Fol. 65 erhielten die Kranken drei Mittel in fünf Portionen (»1.3.5. Bell. 200., 2. Hyos. 200., 4. Stram. 200.« beziehungsweise »1.2. Acon. 200., 3.5. Hep. 200., 4. Spong.«). Dies be-zeichnet man als Sequenzgaben. Hierzu am Beispiel der Medikation Clemens von Bönninghausens Kunkle (2008).

140 Hierzu wiederum Clemens von Bönninghausen (1863), S. 165. Clemens schreibt selbst: »Das Paragraphenzeichen (§) bedeutet Sacch. lactis, eine Bezeichnung, derer Hahnemann sich ebenfalls bediente und die ich aus Pietät adoptirt habe.«

141 Dies traf auf 74 der 108 Erstkonsultationen zu. Auch der Vater verschrieb bei der von ihm durchgeführten Erstkonsultation »1. Sulph. 200., 2-4 §« (IGM Bestand P 101b Fol. 71).

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den außerdem Verwendung.142 Bei den übrigen Ordinationen wurden zwei verschiedene Wirkstoffe jeweils getrennt durch Placebogaben verschrie-ben.143 Beispielsweise war sich Carl zunächst nicht sicher, welche Medika-mente er einem 65 Jahre alten Kranken aus Glandorf geben sollte. Dieser hatte »seit 8 Tagen [eine] Anschwellung des rechten bes.[onders] auch des linken Unterschenkels, mit feinem rothen Ausschlage«. »Die Haut [war] sehr hart und gespannt«; »starkes Brennen und Jucken, bes.[onders] beim Liegen im Bette«, begleiteten die Beschwerden. Zudem litt der Patient an »Druck in der Herzgrube« und »Husten mit weißem, süßlichem Auswurf«. Carl verordnete als Erstes Pulsatilla in der 200. Potenz, gefolgt von einer Gabe Milchzucker. Darauf notierte er zunächst die Wahl Sepia, entschied sich jedoch anders und ersetzte diese Notiz durch eine Verordnung von Arsenicum album in der 200. Potenz. Abgeschlossen wurde die Medikation durch eine erneute Einnahme von Milchzucker.144 Häufiger kombinierte Carl auch Gaben von Pulsatilla mit Sulphur.145

Was die zeitlichen Abstände zwischen den Einnahmen angeht, notierte Carl entweder »St.« oder »Ab.«, was vermutlich als Abkürzung für Stunden be-ziehungsweise Abende gelesen werden kann.146 Am häufigsten sollten dem-

142 Die verwendeten Medikamente wie folgt, in Klammern die Häufigkeit der Nennung: »Sulph.« (35), »Puls.« (29), »Sep.« (13), »N. vom.« und »Rhus.« (je acht), »Bry.« (sie-ben), »Caust.« und »Merc.« (je vier), »Ars.«, »Sil.«, »Hep.« und »Arn.« (je drei), »Phos.«, »Ignat.«, »Bell.« und »Calc.« (je zwei), »Graph.«, »Phos. ac.«, »Euphr.«, »Ka-li.«, »Hyos.«, »Strum.«, »Acon.«, »Spong.« und »Lyc.« (je eine). In Folgeordinationen konnte es auch vorkommen, dass Carl nur Milchzucker verschrieb, um die ersten Mit-tel auswirken zu lassen. Beispielsweise IGM Bestand P 101b Fol. 19, Fol. 39, Fol. 60 oder Fol. 79 (insgesamt 33-mal in der Datenbank).

143 Dies traf auf 29 Patienten zu. Bei den übrigen wurden keine Angaben zur Ordination gemacht.

144 IGM Bestand P 101b Fol. 82. Der volle Wortlaut der Erstanamnese lautet: »Seit 8 Tagen Anschwellung des rechten bes. auch des linken Unterschenkels, mit feinem ro-then Ausschlage; die Haut sehr hart und gespannt; starkes Brennen \und Jucken/, bes. beim Liegen im Bette, Druck in der ///Magen/// Herzgrube, verschl. nüchtern und beim Drücken; früher viel Schnaps getrunken; Morgens Husten mit weißlichem, süß-lichem Auswurf; große Benautheit, bes. Abends beim Liegen im Bette; ///auch Mor-gens//// früher sehr starker Schweiß an den Füßen; ///v. v.//// früher Scabies gehabt, die verschmiert ist. v. v.« »///« bedeutet, dass das Wort ausgestrichen wurde. Die Me-dikation wurde mit »1. Puls. 200., 3. ///Sep./// Ars. 200., 2-4 §« notiert. Die Auflö-sung der Kürzel nach Schmidt (2001), S. 238-240.

145 Diese Kombination verordnete er sechsmal. Jeweils einmal kombinierte er »Sep./Caust.«, »Sulph./Sil.«, »Sulph./Ars.«, »Bry./Sulph.«, »Rhus./Bry.«, »N. vom./Rhus.«, »Puls./Calc.«, »Puls./Sep.«, »Arn./Sulph.« sowie »N. vom./Sulph.« Dreimal verschrieb er »Rhus./Puls.« gemeinsam, und »Ars./Puls.« wurden einmal in dieser und einmal in der umgekehrten Reihenfolge verwendet. Gleiches galt für »Bry./Puls.«. Die gemeinsame Verschreibung von »Sulph./Merc.« erfolgte einmal in dieser Reihenfolge und zweimal in der umgekehrten Weise.

146 Clemens von Bönninghausen verwendete die Abkürzung »T« für Tage. Kunkle (2008),

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.

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zufolge die verschriebenen Mittel alle drei oder alle vier Abende einge-nommen werden.147 Besonders wenn es sich um akute Erkrankungen wie »Stickhusten« oder eine frische Verletzung handelte, wurde eine stunden-weise Einnahme vorgeschrieben.148 Auch bei Durchfall und Zahnschmer-zen kamen die Medikamente im Abstand von zwölf Stunden zum Ein-satz.149

Dies sind die ersten Eindrücke, die die Aufzeichnungen Carls über seine frühe Tätigkeit als Homöopath vermitteln. Die Beschwerden, die er notierte, waren durchaus häufig und dürften auch während seiner späteren Tätigkeit in Köln oder Paris von ihm behandelt worden sein. Wie deutlich wurde, kann man anhand des Krankenjournals als Quelle nicht nur verschiedene Details über die Tätigkeit des jungen Therapeuten erfahren, sondern erhält zugleich eine Vielzahl von Informationen über die Kranken selbst.150 Ein-zelne Aspekte des Journals konnten hier nicht im Detail bearbeitet werden, doch zeigt die vorliegende Analyse, worüber die Aufzeichnungen Auf-schluss geben können. Aufgrund der kleinen Fallzahl sei aber davor ge-warnt, die einzelnen Ergebnisse zu überbewerten. Es ist außerordentlich bedauerlich, dass sich von Carls Tätigkeit nicht weitere Unterlagen erhalten haben. Damit ist dieser Aufsatz zugleich eine Werbung dafür, den Kranken-journalen, seien sie von Homöopathen oder Allopathen, als Quelle weiter-hin großes Forschungsinteresse zu widmen, um mehr Kenntnisse über die Ärzte, ihre Praxen und ihre Patienten in der Vergangenheit zu gewinnen.

S. 173, 176 und S. 178.

147 Die Abkürzung »a. 3 Ab.« findet sich 41-mal, »a. 4 Ab.« 35-mal. Es kamen aber auch Einnahmen im Abstand von zwei Abenden (15-mal) oder fünf Abenden (einmal) vor. In einer Folgekonsultation gab es auch den Vermerk »a. 6 Ab.« (IGM Bestand P 101b Fol. 60).

148 Bei »Stickhusten« verschrieb Carl einmal »a. 6 St.« die Einnahme von »Acon., Hep. und Spong.«. IGM Bestand P 101b Fol. 65, auch Fol. 90, litt an »Stickhusten«, wo die Einnahme von »Merc.« aber »a. 24 St.« erfolgen sollte. Bei einer zugezogenen Schnitt-verletzung verordnete er »a. 24 St.« die Einnahme von »Arn.«. IGM Bestand P 101b Fol. 86. Insgesamt wurde die Notiz »a. 24 St.« siebenmal vermerkt.

149 Insgesamt gab es fünf Fälle, in denen »a. 12 St.« die Medikamente verordnet wurden. Dies sind IGM Bestand P 101b Fol. 94, Fol. 97 und Fol. 99 (Durchfall) sowie Fol. 98 und Fol. 103 (Zahnweh).

150 Noch deutlicher wird dieser Befund, wenn man größere Fallzahlen zur Verfügung hat. Beispiele für eine derartig patientenzentrierte Auswertung von Krankenjournalen: Baal (2004) und Baschin (2009).

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Anhang

Abb. 1: Porträt Carl von Bönninghausen (Bestand IGM)

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Abb. 2: Porträt Sophie von Bönninghausen, geb. Bohrer (Bestand IGM)

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Abb. 3: Schriftvergleich P101b Fol.70 IGM

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Abb. 4: Schriftvergleich P182 (Auszug) IGM

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Carl von Bönninghausen 275

Nummer Kategorie Insgesamt Männer Frauen Kinder 1 Schwindel 6 2 4 2 2 Benebelung 9 6 3 1 3 Verstandesmängel 0 0 0 0 4 Gedächtnismängel 0 0 0 0 5 Inneres Kopfweh 36 10 26 6 6 Aeußere Kopfbeschwerden 4 2 2 1 7 Augenbeschwerden 8 3 4 3 8 Gesicht 3 2 1 1 9 Ohren und Gehör 8 5 3 4 10 Nase und Geruch 7 1 6 4 11 Angesicht 8 0 8 5 12 Zähne und Zahnfleisch 5 0 5 0 13 Mund 14 5 9 3 14 Appetit 17 5 12 4 15 Durst 10 6 4 1 16 Geschmack 4 2 1 0 17 Auffschwulken 14 6 8 1 18 Schluchsen 0 0 0 0 19 Uebelkeit 9 1 8 4 20 Magen und Herzgrube 25 9 16 3 21 Unterleib 11 3 8 1 22 Der äußere Bauch 2 0 2 0 23 Schooß und Bauchring 2 1 1 1 24 Blähungen 0 0 0 0 25 Stuhlausleerung 40 16 24 11 26 After und Mastdarm 3 0 3 0 27 Mittelfleisch 0 0 0 0 28 Harn 10 4 6 3 29 Harnorgane 1 0 1 0 30 Geschlechtstheile 9 0 9 1 31 Geschlechtstrieb 1 1 0 0 32 Menstruation 31 0 31 5 33 Schnupfen 0 0 0 0 34 Athem 5 2 3 0 35 Husten 34 16 18 8 36 Kehlkopf und Luftröhre 0 0 0 0 37 Außerer Hals und Nacken 3 2 1 2 38 Brust 23 9 14 1 39 Rücken 18 8 9 3

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Marion Baschin 276

40 Oberglieder 14 8 6 2 41 Unterglieder 43 15 27 5 42 Gemeinsame Beschwer-

den 12 6 6 1

43 Knochen=Leiden 0 0 0 0 44 Drüsen=Leiden 4 2 2 3 45 Hautübel 17 7 10 1 46 Schlafbeschwerden 9 4 5 3 47 Fieberzustände 42 15 27 9 48 Gemüthsbeschaffenheit 7 1 6 2 49 Genussmittelverbrauch 0 0 0 0 50 Körperliche Verfassung 6 2 4 2 Summe 534 187 343 107 keine Angabe 0 0 0 0 Patienten insgesamt 109 45 62 27

Tab. 3: Beschwerdespektrum in der Praxis Carls. Absolute Angaben differenziert nach Geschlecht und Alter.151

Bibliographie

Archivalien

Bistumsarchiv Münster

Pfarramt Münster St. Lamberti, Kirchenbuch 5

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart (IGM)

Bilddatenbank

Bestand M

M 1: Kirchliche Heiratsurkunde [?] für »Carolum nobilem de Bönninghausen« [Carl von Bönninghausen] und »Sophiam Mariam Barbaram Bohrer« [Sophie Bohrer] vom 25. Mai 1857

M 107: Notiz oder Teil eines Briefes von Mélanie Hahnemann

M 111: Konzept [von Mélanie Hahnemann?] für »Monsieur le Président & Juges Compo-sant la chambre du Conseil du Tribunal Civil de la Seine«, [nach dem 29. November 1876]

M 406: Brief von Mélanie Hahnemann an »Monsieur et honorable ami« [Clemens von Bönninghausen], 12. Januar [18]56

151 Bei zwei Patienten ließ sich das Geschlecht nicht feststellen. In deren Erstanamnesen wurden vier Krankheitsmerkmale notiert, daher ergeben die Zahlen in den Spalten »Männer« und »Frauen« in der Summe nicht immer die Zahl aus der Spalte »Insge-samt«.

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Carl von Bönninghausen 277

M 407: Brief von Mélanie Hahnemann an »Monsieur le Baron et honorable ami« [Cle-mens von Bönninghausen], Paris, 21. April [18]56

M 408: Brief von Mélanie Hahnemann an »Monsieur et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], 30. Mai [18]56

M 409: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et venerable Ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 27. Juni 1856

M 411: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 13. Oktober [1856]

M 412: Brief von Sophie Hahnemann [Bohrer] an Monsieur le Baron [von Bönninghau-sen], Paris, 29. September [1856]

M 492: Brief von Mélanie Hahnemann an »Monsieur et honorable ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 12. Dezember 1855

M 493: Brief von Caroline Niebay an Clemens von Bönninghausen und Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an Mélanie Hahnemann, Glandorf, 14. Dezember 1855, und Münster, Dezember 1855

M 494: Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an Mélanie Hahnemann, ohne Datum [vermutlich Januar 1856]

M 495: Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an »Madame et très honorée amie!« [Mélanie Hahnemann], 20. Februar 1856

M 496: Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an »Madame et honorable amie!« [Mélanie Hahnemann], Münster, 27. April 1856

M 497: Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an »M.[adame] et très hon. Amie!« [Mélanie Hahnemann], Münster, 1. Juni [18]56

M 498: Briefkonzept von Clemens von Bönninghausen an »Hochzuverehrende Madame!« [Mélanie Hahnemann], ohne Datum [vermutlich Oktober 1856]

M 499: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et vénerable Ami« [Clemens von Bönninghausen], 29. September 1856

M 500: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], 30. Oktober 1856

M 501: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 12. November [1856]

M 502: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher Frère« [Clemens von Bönning-hausen], Versailles, 10. September [1857]

M 516: Brief von Mélanie Hahnemann an Clemens von Bönninghausen, 6. September 1849

M 553: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 18. September [1856]

M 554: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et honorable Ami« [Clemens von Bönninghausen], Paris, 8. September [1856]

M 557: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher et respectable Ami« [Clemens von Bönninghausen], 13. September [18]56

M 558: Brief von Mélanie Hahnemann an »Mon très cher Ami« [Clemens von Bönning-hausen], Paris, 21. September [1856]

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Marion Baschin 278

Bestand DF

Französische Krankenjournale von Samuel und Mélanie Hahnemann (Laufzeit von 1835 bis 1863)

Bestand P

P 2, P 41, P 77, P 78, P 79, P 88, P 89, P 92, P 96 und P 99: Krankenjournale von Cle-mens Maria Franz von Bönninghausen

P 101b: Krankenjournal ab 27.4.1858 [richtig: 1854], Carl und Clemens Maria Franz von Bönninghausen

P 151: Homöopathische Heilungsversuche, angefangen im September 1829, von Cr. C. M. F. von Bönninghausen

P 154: Tagebuch für die homöopathische Praxis. Angefangen am 1. Julius 1830, beendigt den 31. December 1833 [richtig: 1832].

P 155: Homöopathische Heilversuche, angefangen den 1. Januar 1833

P 182: Hahnemann’s klinische Erfahrungen mit Bewilligung und im Auftrage der Mad. Hahnemann herausgegeben. Von Dr. C. v. Boenninghausen jun. oder: Die Krankenjour-nale Hahnemann’s herausgegeben von Mélanie Hahnemann und ins Werk gesetzt von Dr. Carl v. B[oenninghausen] jun[ior]. Leipzig 1862 (lose Lagen).

P 183 und P 184: Bönninghausen, Clemens von: Versuch einer homöopathischen Thera-pie der Wechsel- und anderen Fieber zuerst für den angehenden Homöopathiker. Münster 1863.

Staatsarchiv Münster (StAM)

3.1.2. Bezirksregierungen

Regierung Münster Nr. 893 V-236: Die Homöopathie und die homöopathischen Ärzte, 1854-1895

4.3.2. Adelige Häuser, Familien, Höfe

Haus Darup (Akten) Nr. 6

Stadtarchiv Münster (StdAM)

Bestand A: Archive der Stadt Münster – 2. Registraturen der Preußischen Stadtverwaltung (1802-1945)

Stadtregistratur Medizinalangelegenheiten Fach 201 Nr. 3: Approbation und Vereidigung von Medizinalpersonen, Band 2, 1839-1929

Personenkartei Ferdinand Theissing

Universitätsarchiv Münster

Verzeichnisse der Behörden, Lehrer, Beamten, Institute und sämmtlicher Studirenden auf der Königl. Theologischen und philosophischen Akademie zu Münster im Wintersemester 1844/45 bis Sommersemester 1848, Münster [o. J.].

Quellen

Allgemeine Homöopathische Zeitung 48 und 49 (1854/1855) sowie 80 bis 83 (1870/1871).

Ameke, Wilhelm: Die Entstehung und Bekämpfung der Homöopathie. Berlin 1884.

Amts-Blatt der königlichen Regierung zu Münster. Münster 1854.

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Carl von Bönninghausen 279

Anonym: Personalnachrichten. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 53 (1856), 120.

Anonym: Tagesangelegenheiten. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 54 (1857), 95.

Anonym: Tagesgeschichte und Feuilleton. In: Neue Zeitschrift für homöopathische Klinik 2 (1857), 86.

Anonym: Personalia. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 145 (1902), 63.

Bönninghausen, Carl von: De Morbo Brightii. Diss. med. Berlin 1853.

Bönninghausen, Clemens von: Kurze Anleitung zur Heilung der Wechselfieber auf ho-möopathischem Wege. Münster 1832.

Bönninghausen, Clemens von: Die homöopathische Diät und die Entwerfung eines voll-ständigen Krankheitsbildes behufs homöopathischer Heilung für das nichtärztliche Publi-kum. Münster 1833.

Bönninghausen, Clemens von: Triduum homoeopathicum. In: Archiv für die homöopa-thische Heilkunst 19 (1842), H. 3, 34-68. Auch in: Bönninghausen, Clemens von: Bön-ninghausens Kleine medizinische Schriften. Hg. von Klaus-Henning Gypser. Heidelberg 1984, 277-310.

Bönninghausen, Clemens von: Neunte Jahresversammlung der homöopathischen Aerzte Rheinlands und Westphalens zu Münster am 31. Juli 1856. In: Allgemeine Homöopathi-sche Zeitung 53 (1856), 20-22.

Bönninghausen, Clemens von: Bericht über die Versammlung der homöopathischen Aerz-te Rheinlands und Westphalens zu Dortmund am 30. Juli 1857. In: Allgemeine Homöopa-thische Zeitung 55 (1857), 29f.

Bönninghausen, Clemens von: Das Krankenjournal. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 67 (1863), 114-116, 121-123, 129-131, 140f., 147-149 und 163-165. Auch in: Bön-ninghausen, Clemens von: Bönninghausens Kleine medizinische Schriften. Hg. von Klaus-Henning Gypser. Heidelberg 1984, 745-776.

Bönninghausen, Clemens von: Die Stammväter von Bönninghausen. Ihr Leben, ihre Taten und ihre Zeit. Biographien von der älteren Genealogie und von der Stammlinie I. Coesfeld 1958.

Bradford, Thomas: The Pioneers of Homoeopathy. Philadelphia 1897.

Buchner, Joseph: Morbus Bright. Leipzig 1870.

Dunham, Caroll: Letter from Dr. C. Dunham. In: The Philadelphia Journal of Homoeopa-thy 4 (1855), 449-458.

Fraatz, Paul: Das Matrikelbuch der Münsterschen »Medizinisch-Chirurgischen Lehran-stalt«. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 35 (1942), 68-97.

Gauwerky, Friedrich: Mittheilungen aus der Praxis. In: Allgemeine Homöopathische Zei-tung 43 (1852), 241-248.

Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst. »Aude sapere«. Standardausgabe der 6. Auflage. Hg. von Josef Schmidt. Stuttgart 1999.

Hahnemann, Samuel: Die chronischen Krankheiten. Theoretische Grundlagen. Mit allen Änderungen von der 1. Auflage (1828) zur 2. Auflage (1835) auf einen Blick. Bearbeitet von Matthias Wischner. 3. Aufl. Stuttgart 2006.

Haxthausen: General-Sanitäts-Bericht von Westfalen auf das Jahr 1840. Herausgegeben von dem Königlichen Medizinal-Collegium zu Münster. Münster 1842.

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Marion Baschin 280

Hellmund, J. M.: Die gefährlichsten Kinderkrankheiten und ihre homöopathische Heilung. Zweite Abtheilung. Gotha 1850.

Höfler, Max: Deutsches Krankheitsnamen-Buch. [München 1899] ND Hildesheim; New York 1970.

Hölscher, Franz: Verzeichnis der Abiturienten des Paul.[inischen] Gymnasiums zu Müns-ter i.[n] Westf.[alen] von 1820 bis 1866. Münster 1909.

König, Ewald: Statistische Nachrichten über den Regierungs-Bezirk Münster für die Jahre 1858-1860. Nach amtlichen Quellen bearbeitet. Münster 1860.

Loew, Wm.: Mittheilungen aus dem homöopathischen Spitale in der Leopoldstadt. In: Allgemeine Homöopathische Zeitung 53 (1856), 28f.

Medizinalabteilung des Ministeriums der geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangele-genheiten (Hg.): Alphabethisches Register der Krankheiten und Todesursachen mit den Nummern des durch Ministerialerlass vom 22. April 1904 eingeführten Verzeichnisses. Berlin 1905.

Pellengahr, Anton: Einige Bemerkungen über die im Sommer und Spätjahre 1827 zu Münster in Westfalen beobachtete Parotitis epidemica. In: Ärztliche Gesellschaft zu Müns-ter (Hg.): Abhandlungen und Beobachtungen der ärztlichen Gesellschaft zu Münster. Bd. 1. Münster 1829, 177-189.

Sanitaets-Bericht des koeniglichen Medicinal-Collegii zu Münster vom Jahre 1831. Müns-ter 1833.

Literatur

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Baal, Anne van: In Search of a Cure. The Patients of the Ghent Homoeopathic Physician Gustave A. van den Berghe (1837-1902). Diss. phil. Amsterdam 2004.

Baschin, Marion: Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen. Diss. phil. Stuttgart 2009.

Bettin, Hartmut; Meyer, Ulrich; Friedrich, Christoph: »Diese Bitte war ich der Menschheit schuldig.« Das Wirken des homöopathischen Laienheilers Arthur Lutze (1813-1870) in Preußen. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 19 (2001), 199-227.

Bleker, Johanna: Die Geschichte der Nierenkrankheiten. Mannheim 1972.

Borscheid, Peter: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Part-nerwahl im 19. Jahrhundert. In: Borscheid, Peter; Teuteberg, Hans (Hg.): Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit. (=Studien zur Geschichte des Alltags 1) Münster 1983, 112-134.

Boschung, Urs: Albrecht Haller’s Patient Records (Berne 1731-1736). In: Gesnerus 53 (1996), 5-14.

Brähler, Elmar; Schumacher, Jörg; Felder, Hildegard: Die Geschlechtsabhängigkeit von Körperbeschwerden im Wandel der Zeit. In: Brähler, Elmar; Felder, Hildegard (Hg.): Weiblichkeit, Männlichkeit und Gesundheit. 2. Aufl. Opladen; Wiesbaden 1999, 171-185.

Brockmeyer, Bettina: Schreibweisen des Selbst. Zur Geschichte der Wahrnehmungen und Darstellungen von Körper und Gemüt um 1830. Diss. phil. Kassel 2007.

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The Dialectic of the Hospital in the History of Homoeopathy

Phillip A. Nicholls

Zusammenfassung

Die Dialektik des Krankenhauses in der Geschichte der Homöopathie

Aufkommen und Verbreitung von speziell homöopathischen Krankenhäusern (und prakti-zierenden Ärzten) im Großbritannien des 19. Jahrhunderts wurden von ähnlichen Fakto-ren vorangetrieben wie die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung generell. Dazu kam natürlich, dass Homöopathen ihre Krankenhäuser dazu nutzen wollten, ihre besonde-re Heilmethode zur Anwendung zu bringen. Ihr Optimismus sollte sich jedoch nicht be-wahrheiten: Das Krankenhaus als Ort der Pflege erwies sich letztendlich als weit weniger vorteilhaft für Homöopathen als für konventionelle Ärzte. Die vorliegende Arbeit geht sogar davon aus, dass die Homöopathen durch das Krankenhaus in drei verschiedene dialektische und für sie schädigende Prozesse einbezogen wurden – Prozesse, die die fol-gende Stagnation und den Rückgang der Homöopathie vom Ende des 19. Jahrhunderts an erklären.

The Growth of the Hospital System and General Practice in Nine-teenth Century Britain

The emergence of the hospital as the key institution through which health care could be provided for the sick poor – an innovation which had begun in the first years of the nineteenth century in France – was a development of profound significance for the fundamental changes in medical theory and practice which were to occur during the following decades.1

Lying behind the growth of the hospital system itself, of course, was the irresistible transformation of social and economic structure driven by the industrial revolution. The inevitable concomitant of this process was the emergence and expansion of a new class of urban, industrial wage labour-ers. Concentrated in the rapidly developing towns and cities which charac-terised the new manufacturing and commercial age, such workers simply could not afford, in times of illness, to pay for medical attention or care: all that was left in countries like Britain was either municipal or private charity – and it was on this basis that wealthy philanthropists began to found, and then help to maintain, more and more of the so-called ‘voluntary hospitals’.

The City of Liverpool was a typical example of these processes at work. In 1745 its population numbered around 18,000. By 1865 this had risen to 444,000. As the century drew to a close, however, the City had further ex-panded to the point where it rivalled London as one of the great merchant and manufacturing centres of the British Empire. In this situation arrange-ments to provide medical care for the destitute and the poor – although always struggling to keep pace with an ever expanding demand – grew cor-

1 Shryock (1948); Ackerknecht (1967).

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respondingly. In 1800, for example, Liverpool had one general hospital; during the next hundred years, however, twenty-three new voluntary hospi-tals were founded, to which the City Corporation added another six. Four new dispensaries were also opened during this period.2

This pattern of development was repeated in towns and cities across the country. For the medical profession these changes offered new and exciting opportunities in terms of career, appointments, income and status.3 The dramatic expansion in the number and kinds of hospitals provided the cru-cial context for this transformation in the life chances of medical men. De-velopments in the voluntary sector – especially those involving the estab-lishment of specialist hospitals – were matched by those at the municipal level, as the sick wards of the Poor Law workhouse began to be replaced, first, by separate infirmaries and then, later and increasingly, by publicly funded hospitals. These changes resulted in a steady expansion in the num-ber of hospital beds during the nineteenth and into the twentieth century. In 1861, for example, there were 14,800 beds available in voluntary hospitals with another 50,000 being provided under the auspices of the Poor Law. By 1911 these numbers had grown to 43,200 and 80,000 respectively, with a further 32,000 being provided by local authorities.4

These developments soon turned the hospital into the most important insti-tution, and the new centre of power, in the lives of medical practitioners, not least because the hospital medical school increasingly replaced appren-ticeship, the anatomy school and the traditional academic role of the uni-versities in medical education. Concomitantly, at the apex of the profession, hospital consultants began to emerge as medicine’s new elite, mediating the power of the old Royal Colleges. The new status and role of a hospital based medical education – especially following the Medical Act of 1858 which established a national register of qualified medical practitioners – helped to usher in a period where medicine began to become more obvi-ously recognisable as a profession rather than as a craft, or as the scholastic pastime of the gentleman.

Beyond the hospital, however, change was also occurring: the expansion of demand for medical services from a new middle class, from private firms seeking company doctors, from private health insurance schemes, from Poor Law administrators, and from sick clubs, friendly societies and a vari-ety of other public sector institutions such as schools, prisons and the Police Service, heralded the rise of the general practitioner, whose modus operandi

2 Brewer (1987), pp. 1-2.

3 Peterson (1978).

4 Cherry (1996), Table 4.1, p. 46.

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and qualifications straddled the archaic boundaries between physicians, surgeons and apothecaries.5

Again, the statistics are revealing: in 1861 there were 15,297 general practi-tioners in England and Wales; by 1891 there were 19,037.6 During this pe-riod, however, population had tended to expand faster than the number of doctors, so although the perception among many ordinary medical men was that the profession was overcrowded, the number of people per doctor tended to rise.7 However, the growth in the number of hospitals, and their new and strategic role in education, training and in medical careers, always remained the key development: hospitals were the main axis around which therapeutic and diagnostic innovation occurred, and represented the me-dium through which a body of knowledge could be consolidated and re-produced as the basis of the profession’s claim to occupational power and prestige.

The Major Features of the Dialectic

The emergence and growth of specifically homoeopathic hospitals (and general practitioners) in nineteenth century Britain was fuelled by much the same kinds of forces that had stimulated the development of health care resources more generally. In addition, of course, homoeopaths were keen to use their hospitals as a way of celebrating their distinctive mode of medical practice. This optimism, however, was destined to remain unfulfilled: the hospital as an environment for the delivery of care would eventually prove itself to be of much less advantage to homoeopaths than to regular practi-tioners. Indeed, this paper will argue that the hospital actually embroiled homoeopaths in three distinct dialectical and damaging processes – proc-esses which help us to understand the eventual stagnation and decline of homoeopathy from the late nineteenth century onwards.

Firstly, the opening of even the very earliest hospitals revealed a deep po-litical divide within the ranks of British homoeopathy itself over the rela-tionship between homoeopathic doctors and the public, and over ideas about the process and management of social reform. Secondly, the growth of homoeopathic hospitals was to turn out to be as much of a response to strategies of professional exclusion and ostracism by regular practitioners as it was a celebration of homoeopathy’s own therapeutic distinctiveness. This process, ironically, was one which resulted in the institutionalisation of the very therapeutic divide which regular doctors had railed against in the first place – and which, in all honesty, was not warranted by the views and ac-tual practices of most British homoeopaths.

5 Digby (1994), Table 4.1, p. 121; Digby (1999), Table 4.3, p. 80.

6 Cherry (1996), Table 3.1, p. 29.

7 Digby (1999), Table 2.1, p. 27.

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The third, but easily the most damaging of these dialectical processes as far as the future of homoeopathy was concerned, was the fact that homoeopa-thy could not, in the end, take advantage of the transformative potential of the new therapeutic environment presented by the hospital in the same way as the regular profession. Homoeopathy, to use Jewson’s terminology8, was intellectually predisposed to treating the ‘sick-man’; but it was precisely emancipation from control by the ‘sick-man’ which allowed the regular profession, in the new relations of power between doctor and patient which obtained in hospitals, to transform its knowledge base and revolutionise its therapeutic and diagnostic resources.

The nineteenth century, after all, witnessed a profound transformation of medical theory and practice. Vaccination, anaesthesia, antisepsis and the understanding of the causation of infectious disease were, according to Sir George Newman (Chief Medical Officer to the Ministry of Health 1919-1935), the ‘four great ideas’ which had helped to anchor the credentials of medicine first in science, and then, and as a consequence, in terms of in-creasingly successful therapeutic intervention.9

Accompanying this revolution in knowledge and understanding had been a host of technological innovations designed to aid diagnosis (for example, the ophthalmoscope, the otolaryngoscope, the haemocytometer and the sphygmograph). The most important of these diagnostic innovations, how-ever, had been a move toward the histological examination of morbid tis-sue samples, undertaken using the microscope in hospital laboratories, to inform and confirm clinical judgements about the nature of bacteriological disease processes. Jacyna’s case study of the emergence of this approach at the Glasgow Western Infirmary is an interesting illustration of what was a generic tendency.10

Bynum provides us with a meticulous account of the more general intro-duction of these new scientific ideas and techniques into medical work. The new ‘hospital medicine’ of Paris at the turn of the century, which first cre-ated the systematic opportunities to link the post-mortem signature of dis-ease with patient symptoms (tubercles with phthisis, for example), was a key innovation. The later theories of ‘cellular pathology’ and bacteriology, however, were needed to close the circle of causation and explanation, for it was these ideas which were able to account for the morbid changes in tis-sues which doctors had long been witnessing on the dissecting table.11 These later developments were pioneered, of course, by figures such as Ru-dolf Virchow (1821-1902), Louis Pasteur (1822-1895) and Robert Koch

8 Jewson (1976).

9 Cherry (1996) , p. 17.

10 Jacyna (1988).

11 Bynum (1994), esp. chapters 4-5.

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(1843-1910). During the nineteenth century, then, the real cutting edge of medical innovation had been led by France and Germany – but the initia-tives springing from these centres impacted across Continental Europe, Britain and especially America.

Bynum sums up the impact of these profound changes as follows:

The doctor of 1900 had reason to be grateful for the scientific medicine of the previ-ous century. His profession was more coherent, more stable, and probably more pres-tigious than it had been in 1850 or 1800 [...] in the European countries, North Amer-ica, Australia, and wherever European values had established a cultural hegemony, the medicine that was more-or-less aligned with science and the laboratory had won.12

Bynum hardly overstates the position. Case studies of the transformation of medicine in particular countries or cities during the nineteenth century con-firm that these same processes were being repeated. Mooij notes, for exam-ple, in her detailed study of the development of health care in Amsterdam, that:

New science laboratories were mushrooming throughout the country in the latter half of the nineteenth century, the vast majority of which were for the benefit of medical science. By 1870 the Netherlands had thirty laboratories attached to universities and colleges [...] embodying the new scientific emphasis in medicine.13

The outcome of these momentous developments for homoeopathy itself was a tide of new practice and new understanding which it could not claim credit for – and which it could still less ignore – but which increasingly meant that it was marginalised as a therapeutic practice even within its own institutions. Homoeopathy, then, it will be argued here, could not afford not to have its own hospitals, but the hospital, having dispensed with ‘the sick man’ as the locus of therapeutic endeavour, and replaced him with cells, tissues and disease processes, could not be a comfortable home for homoeopathy. Homoeopathy was, in short, to become a ‘therapy out of place’ even within those institutions whose principle aim was to preserve Hahnemann’s legacy.14

The Politics of Homoeopathy

It is well known that the early history of homoeopathy in Britain was, in large measure, a product of the single minded determination and enthusi-asm of Dr Frederick Foster Hervey Quin (1798-1878). He was not the first doctor to have practised homoeopathy in Britain, but it was Quin who gave homoeopathy its early institutional identity, being responsible for the founding, in 1844, of the British Homoeopathic Society (BHS) and its asso-ciated journal, the British Journal of Homoeopathy (BJH). Quin, however, also

12 Bynum (1994), pp. 222-223.

13 Mooij (2002), p. 238.

14 Reiswitz (2007); Leary et al (1998); Rogers (1998).

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played a key role in promoting and supporting the work of the British Homoeopathic Association (BHA) whose principal task was to raise funds for the foundation of the London Homoeopathic Hospital (LHH). First erected in Golden Square, the hospital was eventually completed in Octo-ber 1849, and admitted its first patients – twenty-five in number – on the 10th April 1850. During its first year of operation the LHH treated 156 in-patients and over 1500 out-patients.15 Nine years later, and again as a result of continuing fund raising efforts, the LHH moved to new premises in Great Ormond Street.

Although Quin can certainly lay claim to the more significant and endur-ing legacy as far as the development of homoeopathy in Britain was con-cerned, he was not alone in such efforts. Unfortunately, however, he did not always enjoy congenial relations with others engaged in this work. Opposi-tion to Quin – arising more from a difference in political values than thera-peutic approach – emerged from the very beginning. One of the leading dissidents to Quin’s early hegemony was Dr John Epps (1805-1869). Epps himself was a political radical, a vehement democrat, a deeply religious non-conformist and a supporter of many popular movements for social reform. He had been a phrenologist before he was a convert to homoeopa-thy. He was also part of the anti-slavery movement, of the anti-Corn Law League, a supporter of moderate Chartism, and an enthusiastic writer and speaker who regularly addressed working men’s associations throughout the country. For Epps, it was at least as important to address the wider public on these matters as it was to speak to professional, medical or other more refined audiences.

These orientations did not bode well for a therapeutic alliance with some-one like Quin who had moved in aristocratic circles for many years, and who enjoyed considerable support from members of the Whig aristocracy. Quin’s particular concern in his pioneering work to establish homoeopathy had always been to ensure the maintenance of appropriate standards of professional honour and integrity, and in this way to distance himself and homoeopathic practitioners in general from the otherwise too easy charges of opportunism, quackery and sharp practice. If homoeopathy, for Quin, had its lay supporters, then their job was one of fund raising under the tute-lage of a professional body such as the BHS; issues of professional etiquette meant that doctors should not, for example, actively engage with lay sup-porters in any society which resorted to sensationalism or the tactics of crude commercialism in advertising the merits of homoeopathy.

Quin’s view of the relationship between homoeopathy and its public (where the ‘knowledgeable expert’ would act in ‘the best interests’ of an unenlight-ened and dependent clientele) mirrored the reforming orientation of the Whig aristocracy: social reform was to be pursued, but only if it was di-

15 Bosanquet/Lorentzon (1997), p. 166.

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rected and managed by the governing class for the people, who needed a benevolent elite to help them. Epps had a very different perspective. His view was much more obviously populist: that reform of any kind needed to be informed by the views of those to be affected by the reforms them-selves.16 Moreover, especially where homoeopathy was concerned, it seemed clear enough that the ‘raw material’ of illness, and therefore remedy selection, was not wrapped in mystery or esoteric knowledge at all, but was available to everyone as the symptomatic expression of the disease.

These contradictory orientations clashed, predictably enough, from the very beginning of Quin’s attempts to create an institutional framework for Brit-ish homoeopathy. Dr Epps soon made it clear that he was not happy with the constitution of the BHS, as proposed by Quin, which he felt gave too much power to the President. Epps withdrew from Quin’s circle and then joined with others – including doctors such as Paul Curie (1799-1853) and lay enthusiasts like Mr Sampson, Mr Heurtley and Mr Leaf – to form the English Homoeopathic Association (EHA) in 1845.

The constitution of the EHA reflected the more democratic and populist principles favoured by Epps and others. Membership of the Association was open to both medical and lay supporters of homoeopathy. The Asso-ciation’s main aim – to promote knowledge about and use of homoeopathy among the public through the distribution of books and pamphlets – was well-exemplified in its first publication which was written, very pointedly, by a layperson: the banker and journalist Marmaduke Sampson (“Homoe-opathy: Its Principle, Theory and Practice”).17

The EHA was also natural home for someone like the merchant and book seller Mr Leaf. Leaf, a keen protagonist of homoeopathy, had been respon-sible for bringing Dr Curie to England in 1835 in order to help make ho-moeopathic treatment available to London’s working class poor. To this end dispensaries had been opened, with Dr Curie as medical officer, in Finsbury in 1837, and then Holborn in 1839. Three years later a further move occurred which resulted in the opening of a twenty-four bed hospital in Hanover Square.

However, the over-zealous nature of Dr Curie’s attempt to promote homoe-opathy – he had, for example, organised public exhibitions of patients treated successfully at the Hanover Square hospital – together with his sometimes eccentric dietary choices for patients (which seem to have led to at least one fatality18), soon caused friction even in the EHA. Sampson and Heurtley resigned, and looked to Quin for support. Quin was prepared to give this, provided that – and this would have been entirely predictable –

16 Rankin (1988).

17 Sampson (1845).

18 Nicholls (2005), p. 206.

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relations were severed with all those connected with Dr Curie and the Hanover Square Hospital. Sampson and Heurtley then went on, with Quin’s endorsement, to form the BHA in 1848, whose fund raising efforts eventually helped to provide the resources for the development of the LHH.

Facing increasing isolation from the ‘respectable’ apparatus of professional endeavour which Quin had been keen to develop for homoeopathy, the hospital in Hanover Square soon closed. It was, however, succeeded by a new hospital, which opened in Bloomsbury Square, in 1850. Known as the ‘Hahnemann Hospital’, it became the centre for the new Hahnemann Medical Society, and the basis of a new school where doctors like Epps and Curie were able to practise and teach. This institution, however, was also destined to be short-lived: following Curie’s death in 1853, from typhus or typhoid fever which he had contracted from one of his patients, the trustees of the hospital withdrew their support, and the Hahnemann hospital closed. These events left Quin, the BHS and the LHH in the ascendancy.

Professional Ostracism and the Consolidation of Homoeopathic Identity

The proposed move of the LHH, some years after these events, to the Great Ormond Street site was a significant enough development to have been no-ticed by the Illustrated London News. On May 1st 1858 it carried an article reporting on a public dinner which had taken place in support of the build-ing fund needed for the hospital.19 It was presided over by the Duke of Wellington. Among the other dignitaries in attendance – illustrating the strength of support for homoeopathy from among Britain’s economic and social elites – were the Duke of Beaufort, Viscount Lismore, Viscount Maldon, Lord Rokeby, Lord Grey de Wilton, Lord Cosmo Russell, the Hon. R. Grosvenor, Dr Quin and ‘[...] about 150 other gentlemen’.20 At the dinner two of the attendees, Lord Rokeby and Captain Fishbourne – spying an opportunity for double commendation which was obviously too good to miss – both spoke of their service in the Crimean war, and of the benefits which they each had obtained from homoeopathy during this bloody cam-paign.

The Chairman went on to note that since the opening of the hospital in 1850 the LHH had given relief to some 23,000 people. Twelve hundred of these had been in-patients. The cost per annum of sustaining this relief had been an average of £1,000. Treatment returns, the Chairman continued, showed the merit of homoeopathy, with the LHH recording a mortality rate of 4.6%, including deaths from cholera, against an average death rate of 7.6% in other metropolitan hospitals. To ensure that such good work

19 Jenkins (1999).

20 Jenkins (1999), p. 128.

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continued bigger premises, it was argued, were needed – and those antici-pated for the new building would have space for some 200 in-patients, in-cluding two accident wards, a children’s ward, and a lecture/demonstration theatre for teaching. The Chairman had been advised that the total cost of the project would be around £4,900.

The appeal for donations ‘was liberally responded to by the company, and contributions were announced amounting to about £1000, including twenty guineas from the Chairman, fifteen from the Duke of Beaufort, and £100 from the Earl of Wilton and Captain Felix V. Smith’.21

The 200 in-patients envisaged in the Chairman’s address referred to above proved optimistic22; the hospital actually opened with 50 beds. The first admissions took place on the 20th June 1859. Before the hospital moved into expanded premises, still in Great Ormond Street, in 1895, the LHH had treated 275,083 people.23 Predictably, the kinds of patients most usu-ally admitted had been those suffering from the diseases characteristic of overcrowded, unsanitary conditions and poor diet (typhoid, diphtheria, pneumonia, pleurisy, tuberculosis, cholera, bronchitis, anaemia, eczema, abscesses and ulcers were all classic examples), or from industrial acci-dents.24

Like other voluntary hospitals of the period, the LHH was run as a charita-ble organisation, and depended on contributions from wealthy supporters, and on the services of honorary medical consultants. Only the resident medical officers, nurses, domestic and other staff were salaried. Financial support for the hospital by donors would typically bring with it certain privileges, such as the rights to engage in the governance of the institution, and to support the admission of a patient or patients. For example, an:

[...] annual subscription of 10 guineas [£10.50], or a donation of 50 guineas, entitles the subscriber or Donor to have one in-patient always in the hospital, and ten out-patients every month, and to have ten votes; and so on for every further Annual Sub-scription of Ten Guineas, or Donation of Fifty Guineas.25

Candidates for hospital care needed, of course, to be too poor to pay for treatment themselves – and also needed to present a letter of recommenda-tion from either a governor or from one of the subscribers. In addition, the Medical Board of the Hospital needed to be satisfied that the patient was a suitable one for admission – that is to say, that they were of good character,

21 Jenkins (1999), p. 129.

22 Lorentzon et al (undated), p. 7.

23 Jenkins (1989), p. 198.

24 Reiswitz (2007), p. 153; Leary et al (1998), p. 258.

25 Bayes (1866), p. 124.

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that their medical need was urgent, and that they were not suffering from certain illnesses – such as smallpox.26

The development and organisational principles of the LHH followed what had become a template for voluntary hospitals in general, and represented a pattern which homoeopaths repeated as other institutions opened. In Liver-pool, for example, the great sugar magnate Henry Tate donated £20,000 to ensure the building of the Liverpool Hahnemann Hospital and Dispensary. The hospital was finally completed, and accepted by the Mayor on behalf of the citizens of Liverpool, on 23rd September 1887.27 The Laws of the Hospital, as adopted that same year, were clear that the institution ‘[...] shall be open for the treatment of the sick poor, as in and out-patients [...]’.28 In line with by now well-established principles, the Governors decided that, for example, ‘A Donor of £100 shall be entitled, during his life, to the use of one free bed for a period or periods not exceeding in the aggregate nine weeks in each year’, whereas an annual donation of twenty guineas would bring an entitlement ‘[...] to the use of a free bed during each year of sub-scription’.29

The guiding principle of providing charitable care for the sick poor also informed the development of homoeopathic dispensaries. These were much humbler institutions compared to hospitals, and did not usually offer any in-patient care. Three broad types of dispensaries emerged: firstly, those that were run on similar principles to hospitals, with subscribers or donors being able to nominate patients; secondly, those that depended on charita-ble giving and support, but did not link this with any special rights of pa-tient nomination; and, thirdly, those which guaranteed treatment and medicines to people who could just manage to pay a quarterly nominal fee – effectively, a kind of medical insurance.

By the 1870s the number of dispensaries had grown to 112, and there were general homoeopathic hospitals not only in London, but also in Bath, Bir-mingham, Hastings, Manchester and Southport.30 Cottage hospitals, offer-ing a more restricted and modest range of services, had also been opened in Doncaster, Tunbridge Wells, Bromley and St. Leonards. A convalescent home was also opened in Bournemouth in the late 1870s.31 These decades represented the high water mark of homoeopathy’s institutional develop-ment in Britain. The establishment of hospitals and dispensaries was

26 Lorentzon et al (undated), p. 8.

27 Brewer (1987), pp. 10-12, 55.

28 Brewer (1987), p. 60.

29 Brewer (1987), p. 67.

30 Blackley (1874), pp. 106-149.

31 Leary (1993).

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matched by other indices of professional consolidation: the BJH was joined by the Monthly Homoeopathic Review and the Homoeopathic World as regular publications, while the BHS was complemented by four other provincial homoeopathic medical societies.32

On the one hand, as suggested above, the systematic elaboration of this institutional framework can be seen as a celebration by homoeopathic doc-tors of their therapeutic distinctiveness and success. Indeed, in one sense it was. But it can also be seen as a result of the tactics of professional ostra-cism initiated by their orthodox ‘colleagues’.

Homoeopaths had never sought such professional isolation, and certainly never thought that, as medically qualified, trained and experienced practi-tioners, it was justified. All that had really been sought was acceptance that as doctors they had the right to add the homoeopathic approach to the means of cure at their disposal. Most homoeopaths – exemplified by such major nineteenth century figures in Britain as William Henderson (1810-1872), Robert Dudgeon (1820-1904) and Richard Hughes (1836-1902) – did not, as Leary argues33, abjure all other modes of treatment as a conse-quence of their adoption of homoeopathic principles, and were content to use the lower dilutions and advocate material doses. These facts should cer-tainly have removed in practice one of the principle critiques of homoeopa-thy coming from the regular school – especially as orthodox practitioners increasingly came, in the latter part of the century, to prescribe remedies on homoeopathic indications and in smaller and smaller doses (but invariably without due recognition of the sources consulted).34

Such, however, was not to be the case, not least because the growth in popularity of homoeopathy in Britain from the 1830s onwards was coinci-dent with the movement for medical reform. General practitioners were keen for protection from the competition of quacks and charlatan healers, they were worried about medical incomes in an over-crowded profession, they were anxious for the reform and improvement of medical education and about the status of doctors in general, and they were keen for a voice in the running of a profession controlled by the gentleman elites of the Royal Colleges.35

Homoeopathy struck directly at many of these concerns or was directly affected by them. It was already clear that an easy road to medical success was to declare oneself ‘a homoeopath’; given the popularity of the therapy among the aristocracy and the rich the financial benefits to be gained by capturing this affluent clientele were considerable. Homoeopaths could (and

32 Blackley (1874), pp. 150-159, 166.

33 Leary (1994).

34 Nicholls (1988), pp. 165-186.

35 Nicholls (1988), pp. 41-54.

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did) sweep up some of the most sought after patients in any area, and thus damaged the incomes of their regular rivals. Moreover, homoeopathy ap-peared to be a system of therapeutic absurdity with its insistence on the se-rial dilution and attenuation of remedies. Doctors who adopted it must therefore either be ‘fools’ of ‘knaves’ – and therefore unwelcome members of a profession seeking improvements in educational provision and occupa-tional status.36

These particular concerns were of especial importance to the growing class of general practitioners which began to emerge in the early decades of the nineteenth century. The first organisational expression of this new kind of ‘dually licensed’ practitioner was the Association of Apothecaries and Sur-geon Apothecaries which was formed in 1812. The original intention of this Association was to press for a new licensing body to regulate general prac-tice. Its most significant achievement – the passing of the Apothecaries’ Act of 1815 – fell some way short of this goal, but by requiring those surgeons who had already been prescribing and dispensing drugs to take the Licenti-ate examinations of the Society of Apothecaries the Act did succeed in marking the formal entrance of the ‘general practitioner’ into the new medi-cal division of labour.

From this point onwards local and provincial medical societies, whose aim was to promote and protect the interests of ordinary doctors – interests which had so far been studiously ignored by the gentleman elites of the London Royal Colleges – began to flourish. First among these societies was the Provincial Medical and Surgical Association (PMSA), which had been founded in Worcester in 1832. This grouping rapidly assumed status as the national voice of the general practitioner. It was not therefore surprising, given the shared concerns of many doctors about unregulated competition, incomes, education, governance and licensing, that homoeopaths would rapidly find themselves subject to the hostile scrutiny of the PMSA.37

This scrutiny culminated in the resolutions of August 1851, which were adopted at the nineteenth annual meeting of the PMSA, held in Brighton. These resolutions stated that homoeopathy could not be taken seriously as a therapeutic alternative by any reputable medical practitioner; that homoeo-paths had brought the profession into disrepute by abusing its members’ allegiance to allopathic principles; that no PMSA member should therefore entertain any form of professional association with homoeopathic doctors; and furthermore that homoeopaths should be expunged from the Associa-tion. These resolutions were strengthened the following year with the addi-

36 Nicholls (1988), pp. 133-158.

37 Nicholls (1988), pp. 41-54.

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tion of a ‘consultation ban’ – thenceforth any doctor consulting or working with a homoeopath would also be excluded from the PMSA.38

The following decades saw an intensive implementation of these strategies as the popularity of homoeopathy continued to grow. Homoeopaths found themselves not only excluded from the PMSA (or British Medical Associa-tion as it became in 1856) but also from provincial medical societies, from employment in regular hospitals, from any kind of professional intercourse or dialogue with their ‘regular’ peers, and subject to ridicule and insult in the medical press.

The regular profession, then, had succeeded in forcing a therapeutic divi-sion which, as argued above (and as I have argued elsewhere39), homoeo-paths had never wanted, and which was never really justified by their actual modes of practice. But ostracism meant, inevitably, that homoeopaths had little option other than to create a parallel set of professional institutions. Once in place this apparatus gave homoeopathy a separate identity; and the separate identity seemed in turn to justify the original decision to ex-clude them from association with their regular peers. The point to grasp, however, is that the identity of homoeopaths as a ‘dissident and distinct therapeutic group’ was a product of the strategy of ostracism, not its cause. In this way, the regular profession closed the second arc of the dialectic: by forcing homoeopaths away from relations with the regular profession, or-thodox practitioners had created and then institutionalised the very deviant identity and therapeutic divide which they had first objected to and had originally sought to eliminate.

The Social Relations of the Hospital and the Scientific Transforma-tion of Nineteenth Century Medicine

However, whether the development of specialist hospitals by homoeopaths and their supporters is accounted for as a celebration of ‘distinctiveness’ or as a ‘reaction to exclusion’ the fact remains that the new environment of the hospital itself presented all doctors with a set of revolutionary opportunities – for the profession as a whole and for themselves as individuals. These opportunities stemmed ultimately from the nature, number and status of the clientele which doctors were treating in hospitals, and the changed relations of power between doctor and patient which this entailed. Waddington, in his seminal article “The Role of the Hospital in the Development of Mod-ern Medicine”, follows Ackerknecht in pointing to the growth of the hospi-tal system in early nineteenth century Paris as being the first step in under-standing the origin of these processes.40 The argument here, however, is that

38 Nicholls (1988), p. 137.

39 Nicholls (2001).

40 Waddington (1973).

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homoeopaths did not, and could not, take advantage of the new opportuni-ties which the development of hospitals presented to doctors to the same extent, or in the same way, as their regular colleagues.

Waddington notes that under state control the pace of hospital develop-ment was much faster in France than in Britain where, as we have seen, this process was left largely to the charitable inclinations of individual philan-thropists: even by the middle of the nineteenth century there were signifi-cantly larger numbers of in-patients in Paris hospitals than there were in comparable institutions in Britain. This meant, immediately, that there were many more patients who potentially could be seen than would ever be available to physicians or surgeons on the basis of private practice alone.

More significant, however, than the number of patients who could be seen was the changed relationship between doctor and patient which was a fea-ture of the hospital environment itself. Unlike a physician’s private patients, who could exert much more control over the nature of the therapeutic en-counter, Paris hospitals were filled with the sick poor. These were patients who had no alternative, in terms of kin, domicile or money, to the hospital for care or treatment. Besides, it was common knowledge that hospitals were overcrowded, dirty and dangerous – so the very presence of any pa-tient in this environment signalled that all other options had been ex-hausted. Hospitalisation was not a choice which anyone made lightly.

In this situation patients had much less power to resist or negotiate the de-cisions of their physicians in relation to their own well-being. For the first time, then, doctors could begin to exploit an environment in which they were more able to access patients’ bodies without restriction. Two reasons were important in bringing about this change: firstly, the typical hospital patient would have come from an environment where any coyness about the display of the body or bodily functions was largely absent; secondly, the patient was in no position to object anyway – if they did, hospital rules would have led to their removal from the institution. Thus it was much eas-ier in this situation for physicians to suspend medical judgement, to ‘wait and see’, and to observe in large number the nature and outcome of par-ticular disease processes. Little was really at stake, after all, for the physician if the patient died. Indeed, unclaimed cadavers were positively valuable – they could be used for pathological and anatomical investigations, and post-mortem findings could then be correlated with the observation of signs and symptoms displayed by patients on the wards of the hospital.

Here then was a much more propitious environment for the development of anatomical knowledge, innovation in techniques of bodily examination (such as the introduction of the stethoscope, the thermometer, and the use of auscultation), and for improvements in the identification, diagnosis and understanding of particular classes of disease. Physicians were under much less pressure ‘to do something’ in terms of treatment, and could focus on the development of their understanding of the signs, symptoms and proc-

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esses associated with disease and its manifestation in the human body. In this way hospitals laid the foundations for the systematic and scientific de-velopment of regular medicine which was to characterise the later decades of the century – and, via the role of the hospital in medical education, also ensure the reproduction of the discipline’s own specialised knowledge base.

This situation contrasted strongly with the exigencies and restrictions im-posed on physician activity where there was a need to find and retain a group of affluent patrons from the higher ranks of society. Here, power re-lations between doctor and patient were in favour of the patron or client, and so treatment tended to be something which was negotiated with the patient – on whose fees, of course, the physician’s livelihood depended; results from any therapeutic encounter had therefore to be rapid; and there was no real opportunity to suspend judgement, experiment or conduct re-search. The physician’s ‘best friend’ in such circumstances was allegiance to one of the ‘monistic’ theories of disease characteristic of the eighteenth cen-tury medical market place, since such an intellectual resource allowed rapid diagnosis, and entailed a given plan of treatment (whose ‘heroic’ effects the client would always become rapidly aware). In addition, among the higher status social groups, access to the patient’s body by the physician was re-stricted by codes of courtesy and bodily modesty, and so opportunities for intimate modes of physical examination were largely absent. Here, then, was a set of social relations in which physicians tended to be chosen and judged less on the basis of any technically based competence they might have than on their qualities and character as ‘a gentleman’, and their fitness to occupy the same social spaces as their patrons.

Building on Waddington’s insights, Jewson notes that the most important outcome of the expansion of hospitals as the locus of treatment for the ma-jority of patients was to ensure “The Disappearance of the Sick-Man from Medical Cosmology”.41 Jewson points to the same exigencies of eighteenth century patron-controlled practice as Waddington, but characterises these more precisely at the conceptual level as representing a particular ‘mode of production of medical knowledge’: ‘bedside medicine’. In this mode of production the patient, as we have seen, tended to be, as employer and in terms of cultural capital, the controlling force in the physician-client rela-tionship, and physicians tended to be chosen more on the basis of personal attributes than on any special measure of medical skill. These same circum-stances meant that illness was conceptualised holistically as the totality of physical and mental symptoms: the object of treatment here, after all, had to be the sick person (the client) since it was s/he who wanted to negotiate a therapeutic regime in which they could recognise their own personal (physical and mental) experience of illness. Finally, the role of the physician needed to be focussed on prognosis – and on treatment. In short, ‘bedside

41 Jewson (1976).

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medicine’, as a mode of production of medical knowledge, was associated with a particular ‘medical cosmology’ whose ontological predispositions were firmly ‘person centred’.

The Third Arc of the Dialectic: The Unhappy Marriage of Homoe-opathy and the Hospital

Ironically, although Hahnemann’s own inspiration for the development of homoeopathy came from a disgust with the kinds of competing mono-causal accounts of illness encouraged by client dominated practice, and especially at the iatrogenic consequences for patients which the associated therapeutic regimes produced, homoeopathy was also a classic example of a system of ‘bedside medicine’. It was no surprise, therefore, that homoe-opathy had first flourished among those elite social groups where wealthy patrons for medical services could be found. Hahnemann’s object, of course, in elaborating the homoeopathic perspective, had been nothing to do with a cynical attempt to capture these kinds of markets by ‘inventing’ a system of medicine which clients would find attractive. On the contrary, he was convinced that the use of the medical simile was a genuine solution to solving the long-standing problem of identifying the appropriate remedy for a particular illness. Nevertheless, although a concern to proceed empiri-cally and holistically, and to note carefully all the patient’s symptoms be-fore remedy selection could be made came, for Hahnemann, from the re-sults of his own experimentation, and was not something induced by the social relations of patron-controlled medical practice, homoeopathy could do nothing else but focus on ‘the sick man’ if it was to be homoeopathy at all.

Here, then, was the conundrum for homoeopathy – how could it preserve its focus on the ‘sick man’ in the new environment of the hospital? For the hospital initiated and represented a new mode of production of medical knowledge, and a new medical cosmology (‘hospital medicine’), which no longer saw the patient in holistic terms, but as an example of a class of dis-ease. The new opportunities to suspend judgement, to collect data, to exam-ine cadavers, and to correlate post-mortem findings with multiple examples of the signs and symptoms of disease displayed by patients on the wards, had led to a re-conceptualisation of disease as a localised, organ or tissue based lesion. Rather than a pressure to affect the entirety of a patient’s symptoms, doctors could examine the patient to diagnose which category of materially defined disease they were dealing with – and were able to use statistical records to determine the likely outcome of the disease process, even if left untreated. Moreover, doctors no longer needed to look to a cir-cle of powerful private patrons for advancement – but instead could turn, as clinicians, to the new professional career structure being opened up by the hospital system itself (although it should be noted that this was, to begin with, a more powerful force in Paris than in Britain, as hospitals were state

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sponsored, and did not depend to the same extent on philanthropic ges-ture).

Jewson goes in to describe a third mode of production of medical knowl-edge, and a third medical cosmology, ‘laboratory medicine’, in which ‘the sick man’ recedes even further from medical attention. In ‘laboratory medi-cine’ disease comes to be located in cells rather than tissues, and is ex-plained in terms of biochemical process at the molecular level. In this mode, the clinician is able to evolve into the research scientist. To press the point argued here, however, it is not necessary to pursue this third element of Jewson’s thesis in any further detail. The stark dilemma for homoeopaths is posed sufficiently well by the era of hospital medicine – it could only get worse, as the following discussion makes clear, when laboratory medicine (ironically, given Hahnemann’s country of origin, driven strongly from Germany) came to the fore.

To retain credibility homoeopathic hospitals had, after all, to avail them-selves of the initiatives developed by their regular colleagues. They had to do pathology, and become familiar with pathological changes in tissues, and the way in which particular diseases caused specific changes in discrete organs. They had to adopt the techniques of physical investigation. They had thereby to start dealing in the currency of materially defined diseases. They were forced to begin to treat the disease, and not the patient. They had to introduce all the other kinds of services, procedures and specialities which other hospitals introduced. In short, if homoeopathic hospitals were to survive, homoeopathy had to move from its position as their defining principle or paradigm, and become simply one option among a variety of therapeutic possibilities offered to patients. This, then, was the third and most damaging arc of the dialectic: for homoeopathy to retain a medical presence in the nineteenth and succeeding centuries it had to have its hospi-tals, but its hospitals could only retain credibility by a progressive margin-alisation and stagnation of the very therapy they were supposed to cele-brate. It was inevitable: homoeopathy was a ‘therapy out of place’ in the hospital, and as ‘the sick man’ walked out of the wards, so too would ho-moeopathy.

Evidence to support this argument is not difficult to find. In Liverpool, for example, Henry Tate was careful to point up – in the address which marked the opening in 1887 of the hospital he had done so much to sup-port – the fact that:

[...] although this institution will bear the venerated name of Hahnemann, and will be unequivocally associated with the system he propounded, there shall be no restriction on the managers in the future to the present practice. The medical officers shall ever be free to adopt such measures as future scientific research may discover and develop [...].42

42 Brewer (1987), p. 59.

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The hospital in Liverpool was only following in the footsteps long estab-lished by Quin himself. Ironically, Quin had set the stage for the marginali-sation of homoeopathy within the hospitals he was so keen to promote and defend by establishing them, from the first, as both Leary and Reiswitz point out, as general hospitals – that is to say, they would replicate the fa-cilities and treatments made available by their regular counterparts – and by Quin’s further insistence that the institutional apparatus of homoeopa-thy, and its practitioners, should be ‘respectable’.43 Homoeopathic doctors, then, were all regularly trained and qualified practitioners, and homoeopa-thy’s journals and societies reflected the structure and tenor of their allo-pathic rivals.

It was therefore easy for the gradual attenuation of homoeopathic activity in supposedly ‘homoeopathic’ hospitals to begin: modelled on regular insti-tutions, and already committed to practising ‘generally’, it was inevitable that the innovations which orthodox medicine was able to reap from the new power relations between doctors and patients would be progressively introduced into homoeopathic hospitals.

Mostly this process consisted of ‘one-way traffic’, because the social rela-tions characteristic of hospitals could not stretch the development of ho-moeopathy in the same way they were able to stretch regular theory and practice.44 Homoeopathy had come to the hospital as a theoretically ‘fin-ished’ therapeutic system which conceptualised and treated the patient ho-listically; regular practice, on the other hand, despite the vigorous protesta-tion of many of its adherents, was in much need of just such a ‘finishing’ process, and was waiting for an environment like that of the hospital for this to begin – not least by being able, in the first instance, to abandon a focus on ‘the sick man’.

It is therefore no surprise to find Lorentzon et al noting, in their examina-tion of clinical records at the LHH for the years 1889-1923, making the point that the LHH ‘[...] provided both medical and surgical services, mainly delivered according to homoeopathic principles, but not exclusively so [...]’.45

This view of practice at the LHH is further supported by Leary’s more de-tailed study of homoeopathic prescribing in the late nineteenth century. Based again on the extant records for the period 1889-1923, Leary con-cludes that:

During this time patients could receive 5, 10 or even 20 different homoeopathic medi-cines. Some of these are explicable as treatment for intercurrent episodes but it is diffi-cult to avoid the first impression that medicines were prescribed on an arbitrary basis.

43 Leary et al (1998); Reiswitz (2007).

44 But see Nicholls (1988), pp. 165-186.

45 Lorentzon et al (undated), p. 19.

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The Dialectic of the Hospital in the History of Homoeopathy 303

There is no evidence in the records that a repertory of any kind was used in the Pre-Kentian period.46

Moreover ‘[t]he choice of medicament was limited to no more than 2 dozen’.47 Neither, Leary continues:

[...] was there reluctance to use conventional together with or instead of homoeopathic medicines. Iron was given for anaemia although sometimes as a 1X potency. Potas-sium iodide, a common medicine at the time, was prescribed although its purpose is not obvious. Morphine was used for pain relief in one case where there appeared to have been no attempt to relieve the symptoms homoeopathically [...] Diphtheria anti-toxin was used, but not, it seems, as a routine, possibly because of the expense rather than on medical grounds.48

Leary also makes a point of noting that although surgery was part of the normal set of procedures offered at the hospital, and that although the sur-geons were trained homoeopaths, there seems little evidence that homoeo-pathic remedies were used in any aftercare. Many patients, he notes, ‘[...] admitted for surgery received no homoeopathy at all’.49

In a subsequent article, based on further examination of the 1889-1923 re-cords, Leary also notes that, at the London Homoeopathic and Medical School, ‘[a]lthough training included homoeopathic practice, it did not vary greatly from that at other hospitals’; that diagnostic technologies such as the sphygmograph and X ray equipment were in use; that Koch’s ‘tuberculin’ was being prescribed routinely by 1914 and, most significantly (in terms of the disappearance of ‘the sick man’) that by 1919 the LHH had its own laboratories engaging in ‘[...] chemical, histological and bacteriological ex-amination and preparation of therapeutic agents’.50

The records, then, paint a picture which is in accord with the argument pursued here that homoeopathy could not wrest the same advantages from hospital practice as regular practitioners. The evidence points to the (some-times random) use of a limited number of remedies, in material dose, used on pathological indications for specific diseases, and accompanied by the progressive introduction of medicines and techniques (including bacteriol-ogy) made current by regular practitioners. The more this process unfolded, the more homoeopathy itself became a stranger in its own land.

These tendencies were not confined to Britain. Rogers’ detailed study of the Hahnemann Medical College and Hospital of Philadelphia tells much the same story as that which unfolded at the LHH. The Medical College, from

46 Leary (1994), p. 242.

47 Leary (1994), p. 242.

48 Leary (1994), p. 243.

49 Leary (1994), p. 243.

50 Leary et al (1998), pp. 255, 262. (The quote on p. 262 is from the annual report of the LHH 1919.)

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Phillip A. Nicholls 304

the beginning, was modelled on the conventions already established for regular hospitals, and was always committed to operating as a general, rather than as a specialist hospital, and to ensuring that its educational pro-vision reflected the best and latest medical knowledge and practice. She observes of the new generation of doctors emerging from homoeopathic medical schools in the 1860s that they ‘[...] wanted to be considered rea-soned gentlemen of science [...]’.51 The ‘science’ here was very firmly that which had been developed within and by the so-called ‘regular’ school. Writing of developments occurring in the later nineteenth century, Rogers elaborates the point as follows:

Like many other schools in this period, Hahnemann began to introduce new courses and ways of teaching reflecting the growing esteem for the hallmarks of German medicine: laboratory science and clinical specialisation. Hahnemann increased its laboratory teaching and introduced new courses in bacteriology, experimental physi-ology, and clinical specialities such as ophthalmology [...] During the 1870s and 1880s Listerism and the bacteriology of Pasteur and Koch had been quickly integrated into American homoeopathic practice.52

The tendency towards the dilution of homoeopathy within its own sup-posed sanctuaries was, not surprisingly, a cause of concern for some ho-moeopaths. In an exchange of correspondence on this issue in the Homoeo-pathic World in 1912, Dr Henry Mason was moved to comment on a plea by one of his colleagues, Dr Hoyle, that homoeopathic hospitals should be kept purely homoeopathic. Dr Mason commented:

I would like to ask if such an institution exists or ever has existed. I presume in most of them, surgical operations are occasionally performed, and surely a very large num-ber of patients are admitted into every hospital when no drug treatment whatever is necessary. In a very large proportion of our cases tolle causam is all that is required, and although we may prescribe a drug, for its suggestive effect or other reasons, it is certainly the main factor in the cure, in only a minority of these. The title “Homoeo-pathic” therefore, whether applied to hospitals or individuals, is a misnomer.53

Dr Mason, in effect, was recognising the reality of, and necessity for eclecti-cism

as far as homoeopathy’s hospitals were concerned. Dr Pullar, in making further comment on the debate a few months later, entirely agreed: ‘[...] it is obvious that the general idea of the work of a hospital covers a fairly wide field, including [...] methods of treatment which cannot be designated ho-moeopathic’.54 For Pullar it seemed ‘[...] impractical to run a hospital on the lines laid down by Dr Hoyle [...]’.55

51 Rogers (1998), p. 49.

52 Rogers (1998), p. 83.

53 Mason (1912), p. 329.

54 Pullar (1912), p. 426.

55 Pullar (1912), p. 427.

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The Dialectic of the Hospital in the History of Homoeopathy 305

These observations, by homoeopaths themselves, signal the closing of the third arc of the dialectic. Homoeopaths had had to have their hospitals but, as it turned out, their hospitals did not in the end have to have homoeopa-thy – or, at least, not very much of it, and where they did it was a curious kind of ‘bastard homoeopathy’ which rather than treating the patient (or, in Jewson’s terms, ‘the sick-man’), treated the disease instead. Homoeopathy, in short, proved constitutionally unable to find in the hospital a comfort-able environment for its particular therapeutic principles, and neither did it succeed in exploiting the hospital as a way of ensuring the reflexive devel-opment and elaboration of its own therapeutic modality. Inevitably, then, with the closing of this third arc of the dialectic, homoeopathy would enter the long period of stagnation and decline from which it is has still, in insti-tutional terms, to recover in the United Kingdom.

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