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STANDORTE Medizinische und ethische Aspekte am Lebensende Mit dem Heft 8 der ZEFQ wurde eine Serie ,,Standorte‘‘ begründet, in der Beiträge von Wissenschaftlern oder Entscheidungsträgern im Gesund- heitswesen zu verschiedenen Themen aus Wissenschaft, Ethik, Ökonomie Politik oder Gesellschaft publiziert werden, in denen wertvolle Reflex- ionen oder Anregungen verarbeitet werden. Die Beiträge stehen grund- sätzlich in alleiniger Verantwortung der Autoren, sie werden nicht von der Schriftleitung redigiert. Auch dieser Beitrag stellt wie der im vergangenen Heft (Heft 2, S. 134137) eine Niederschrift eines Vortrages dar, der auf Anregung von Professor Dr. Frank Lammert, Homburg, unter dem Oberthema ,,Innere Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb‘‘ beim 54. Jahres- kongress der Saarländisch-Pfälzischen Internistengesellschaft gehalten wurde. Johannes Köbberling Das Spannungsfeld zwischen der mo- dernen Medizin, wie sie heute gelebt und praktiziert wird, und ethischen Fragestellungen, die bei der Aus- übung unserer ärztlichen Tätigkeit obligat bedacht werden sollten, be- schäftigt mich sowohl als Geriater, als auch als Palliativmediziner fast alltäglich. Dabei ist es sicherlich so, dass diese beiden auf den ersten Blick unterschiedlichen Fachbereiche Gemeinsamkeiten haben. Vorweg möchte ich bemerken, dass ich mich beim Begriff ,,Lebensende‘‘ nicht auf eine terminale Sterbesituation beziehe, sondern auf die Situation hochbetagter geriatrischer Patienten oder schwer kranker Palliativpa- tienten, die sich gewissermaßen in der letzten Lebensphase befin- den, welche durchaus auch einen längeren zeitlichen Verlauf haben kann. Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich mich an einen Artikel von James Goodwin aus dem New England Journal erin- nert, welcher bereits 1999 er- schienen ist [1]. In diesem habe ich schon damals vieles wiederge- funden, was mich in meiner ärzt- lichen Tätigkeit beschäftigt. Er hat meines Erachtens auch nach über 10 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt, weshalb ich Ihnen den Inhalt kurz näher bringen möchte. In dem Artikel mit dem Titel ‘‘Geriatrics and the limits of mo- dern medicine’’ [1] stellt der Au- tor die provokante Aussage in den Raum: ‘‘Evidence-based medicine is not kind to the elderly.’’ In sei- ner Begründung für diese Aussage führt er drei wesentliche Prob- lembereiche für alte Patienten im modernen Medizinsystem auf, welche ich Ihnen im Folgenden darstellen werde: Der erste, ‘‘The Medicalization of everyday life’’, also die Medi- kalisierung des täglichen Lebens, ist ein Begriff der - auch wenn er schon seit Mitte des 18. Jahr- hunderts verwendet wurde - vom Theologen und Philosophen Ivan Illich in den 70er und 80er Jah- ren des letzten Jahrhunderts in mehreren Werken bearbeitet und entscheidend geprägt wurde [2]. Er setzt sich sehr kritisch mit den modernen Gesundheitssystemen auseinander und meint, dass wir heute für jede Abweichung von der Norm oder Befindlichkeitsstörung eine medizinische Diagnose finden, um nicht zu sagen ,,kreieren‘‘. Ich möchte, ohne inhaltliche Diskussio- nen auslösen zu wollen, hier zum Beispiel das so genannte ,,Chronic fatigue syndrom‘‘, die Fibromyalgie oder ähnliche, häufig kontrovers diskutierte Diagnosen nennen, wel- che in der Regel aber eher jüngere Menschen betreffen. Bezogen auf die Älteren wäre in diesem Zusam- menhang ganz aktuell die immer mehr aufkommende ,,Anti-Aging- Medizin‘‘ aber auch die von Good- win so genannten ,,proto-illnesses‘‘ wie den Bluthochdruck oder die Hypercholesterinämie zu nennen, die per se nicht unmittelbar zu kör- perlichen Leiden führen, aber dem 85- oder 90-jährigen, welcher mit der entsprechenden Diagnose ver- sehen wird, das Gefühl vermitteln, krank zu sein, obwohl wir bei ihnen in der Regel zunächst einmal nur Surrogatparameter oder statistische Risiken und nicht etwa direkte kör- perliche Beschwerden behandeln. Dies gilt zum Beispiel auch für den sprunghaften Anstieg der Diag- nose Prostatakarzinom durch die inzwischen fast routinemäßig durchgeführten PSA-Bestimmungen bei älteren Männern. Nach wie vor ist hier nicht erwiesen, ob bei den sehr zahlreich festgestellten asymptomatischen Karzinomen der therapeutische Nutzen der durchgeführten Operationen und Maßnahmen den teilweise ange- richteten Schaden wirklich über- wiegt [3]. Es ist gerade im Alter in der subjektiven Wahrnehmung einfach ein Unterschied, ob man sich sagt: ,,Mir tun ab und zu die Knie weh und ich bin ein bisschen vergesslich‘‘ oder ob man in der Gewissheit lebt mit den Diagnosen ,,schwere Arthrose‘‘ und ,,Morbus Alzheimer‘‘ behaftet zu sein. So wird letztlich eine Abhängigkeit von medizinischer Versorgung mit zunehmender Aufgabe der Eigen- verantwortung verursacht. Illich spricht in diesem Zusammenhang auch von der Enteignung der Ge- sundheit und Verantwortungsüber- tragung der Patienten an die Ärzte im Sinne einer Entmündigung bzw. Selbstentmündigung. Der Begriff der Medikalisierung hängt im Grunde unmittelbar zu- sammen mit dem zweiten Pro- blembereich, den Goodwin ‘‘The Primacy of diagnosis’’ nennt, das Primat oder die Vorrangstellung der Diagnose und Diagnostik. Gerade im DRG-Zeitalter ist diese Entwick- lung gewissermaßen buchstäblich perfektioniert worden: Die organ- bezogene Diagnose determiniert alles, von der Diagnostik über die Behandlung bis zur Vergütung. Durch die stetige Weiterentwick- lung der apparativ-technischen Diagnostik haben wir heute die Möglichkeit, pathologische Befunde in anschaulicher und teilweise atemberaubender Weise darzustel- len und zu visualisieren. Es bleibt uns kaum noch etwas verborgen, und nach exakter Diagnosestellung gibt es in der evidenzbasierten Medizin für nahezu jede Diagnose eine Behandlungsleitlinie oder gar einen Behandlungspfad, der - vom QM-Beauftragten abgesegnet - im Intranet der Klinik hinterlegt ist. Gerade für die jüngeren Kollegen Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) 227 doi:10.1016/j.zefq.2012.03.004

Medizinische und ethische Aspekte am Lebensende

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Medizinische und ethische A

Mit dem Heft 8 der ZEFQ wurde eineSerie ,,Standorte‘‘ begründet, in derBeiträge von Wissenschaftlern oderEntscheidungsträgern im Gesund-heitswesen zu verschiedenen Themenaus Wissenschaft, Ethik, ÖkonomiePolitik oder Gesellschaft publiziertwerden, in denen wertvolle Reflex-ionen oder Anregungen verarbeitetwerden. Die Beiträge stehen grund-sätzlich in alleiniger Verantwortungder Autoren, sie werden nicht vonder Schriftleitung redigiert.Auch dieser Beitrag stellt wie derim vergangenen Heft (Heft 2,S. 134−137) eine Niederschrifteines Vortrages dar, der auf Anregungvon Professor Dr. Frank Lammert,Homburg, unter dem Oberthema,,Innere Medizin zwischen Humanitätund Wettbewerb‘‘ beim 54. Jahres-kongress der Saarländisch-PfälzischenInternistengesellschaft gehaltenwurde.

Johannes Köbberling

Das Spannungsfeld zwischen der mo-dernen Medizin, wie sie heute gelebtund praktiziert wird, und ethischenFragestellungen, die bei der Aus-übung unserer ärztlichen Tätigkeitobligat bedacht werden sollten, be-schäftigt mich sowohl als Geriater,als auch als Palliativmediziner fastalltäglich. Dabei ist es sicherlich so,dass diese beiden auf den erstenBlick unterschiedlichen FachbereicheGemeinsamkeiten haben. Vorwegmöchte ich bemerken, dass ich michbeim Begriff ,,Lebensende‘‘ nichtauf eine terminale Sterbesituationbeziehe, sondern auf die Situationhochbetagter geriatrischer Patientenoder schwer kranker Palliativpa-tienten, die sich gewissermaßenin der letzten Lebensphase befin-den, welche durchaus auch einenlängeren zeitlichen Verlauf habenkann.Bei der Vorbereitung auf diesenVortrag habe ich mich an einenArtikel von James Goodwin ausdem New England Journal erin-nert, welcher bereits 1999 er-schienen ist [1]. In diesem habe

ich schon damals vieles wiederge-funden, was mich in meiner ärzt-lichen Tätigkeit beschäftigt. Erhat meines Erachtens auch nach

Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesendoi:10.1016/j.zefq.2012.03.004

ekte am Lebensende

ber 10 Jahren nichts an Aktualitätingebüßt, weshalb ich Ihnen dennhalt kurz näher bringen möchte.n dem Artikel mit dem Titel‘Geriatrics and the limits of mo-ern medicine’’ [1] stellt der Au-or die provokante Aussage in denaum: ‘‘Evidence-based medicine

s not kind to the elderly.’’ In sei-er Begründung für diese Aussageührt er drei wesentliche Prob-embereiche für alte Patienten imodernen Medizinsystem auf, welche

ch Ihnen im Folgenden darstellenerde:

Der erste, ‘‘The Medicalizationof everyday life’’, also die Medi-kalisierung des täglichen Lebens,ist ein Begriff der - auch wenner schon seit Mitte des 18. Jahr-hunderts verwendet wurde - vomTheologen und Philosophen IvanIllich in den 70er und 80er Jah-ren des letzten Jahrhunderts inmehreren Werken bearbeitet undentscheidend geprägt wurde [2].Er setzt sich sehr kritisch mit denmodernen Gesundheitssystemenauseinander und meint, dass wirheute für jede Abweichung von derNorm oder Befindlichkeitsstörungeine medizinische Diagnose finden,um nicht zu sagen ,,kreieren‘‘. Ichmöchte, ohne inhaltliche Diskussio-nen auslösen zu wollen, hier zumBeispiel das so genannte ,,Chronicfatigue syndrom‘‘, die Fibromyalgieoder ähnliche, häufig kontroversdiskutierte Diagnosen nennen, wel-che in der Regel aber eher jüngereMenschen betreffen. Bezogen aufdie Älteren wäre in diesem Zusam-menhang ganz aktuell die immermehr aufkommende ,,Anti-Aging-Medizin‘‘ aber auch die von Good-win so genannten ,,proto-illnesses‘‘wie den Bluthochdruck oder dieHypercholesterinämie zu nennen,die per se nicht unmittelbar zu kör-perlichen Leiden führen, aber dem85- oder 90-jährigen, welcher mitder entsprechenden Diagnose ver-sehen wird, das Gefühl vermitteln,krank zu sein, obwohl wir bei ihnenin der Regel zunächst einmal nur

Surrogatparameter oder statistischeRisiken und nicht etwa direkte kör-perliche Beschwerden behandeln.Dies gilt zum Beispiel auch für

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den sprunghaften Anstieg der Diag-nose Prostatakarzinom durchdie inzwischen fast routinemäßigdurchgeführten PSA-Bestimmungenbei älteren Männern. Nach wievor ist hier nicht erwiesen, ob beiden sehr zahlreich festgestelltenasymptomatischen Karzinomender therapeutische Nutzen derdurchgeführten Operationen undMaßnahmen den teilweise ange-richteten Schaden wirklich über-wiegt [3]. Es ist gerade im Alterin der subjektiven Wahrnehmungeinfach ein Unterschied, ob mansich sagt: ,,Mir tun ab und zu dieKnie weh und ich bin ein bisschenvergesslich‘‘ oder ob man in derGewissheit lebt mit den Diagnosen,,schwere Arthrose‘‘ und ,,MorbusAlzheimer‘‘ behaftet zu sein. Sowird letztlich eine Abhängigkeitvon medizinischer Versorgung mitzunehmender Aufgabe der Eigen-verantwortung verursacht. Illichspricht in diesem Zusammenhangauch von der Enteignung der Ge-sundheit und Verantwortungsüber-tragung der Patienten an die Ärzteim Sinne einer Entmündigung bzw.Selbstentmündigung.Der Begriff der Medikalisierunghängt im Grunde unmittelbar zu-sammen mit dem zweiten Pro-blembereich, den Goodwin ‘‘ThePrimacy of diagnosis’’ nennt, dasPrimat oder die Vorrangstellung derDiagnose und Diagnostik. Geradeim DRG-Zeitalter ist diese Entwick-lung gewissermaßen buchstäblichperfektioniert worden: Die organ-bezogene Diagnose determiniertalles, von der Diagnostik über dieBehandlung bis zur Vergütung.Durch die stetige Weiterentwick-lung der apparativ-technischenDiagnostik haben wir heute dieMöglichkeit, pathologische Befundein anschaulicher und teilweiseatemberaubender Weise darzustel-len und zu visualisieren. Es bleibtuns kaum noch etwas verborgen,und nach exakter Diagnosestellunggibt es in der evidenzbasiertenMedizin für nahezu jede Diagnoseeine Behandlungsleitlinie oder gar

einen Behandlungspfad, der - vomQM-Beauftragten abgesegnet - imIntranet der Klinik hinterlegt ist.Gerade für die jüngeren Kollegen

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in der Ausbildung eine wunderbareSituation: Medizinische Behandlungnach Schema F - wenn Diagnose A,dann Behandlung B. Aber was ma-chen wir mit den Alten, bei denenwir, wo auch immer wir hinsehen,pathologische Befunde finden? Istdas 9., 10. und 11. Medikament,welches durchaus leitliniengerechtverordnet wird, noch zum Nut-zen des Patienten, oder fügen wirihm damit sogar Schaden zu? Andieser Stelle möchte ich kritischanmerken, dass die überwiegendeAnzahl der Studien, auf welchewir unsere Leitlinien und Thera-pieentscheidungen stützen, nichtan der Zielgruppe durchgeführtwurde, die wir in großem Umfangdanach behandeln. Sehr häufig sindbeispielsweise Multimorbidität undAlter über 75 Jahre Ausschlusskri-terien in klinischen Studien, auchwenn hier in den letzten Jahrenein gewisses Umdenken einge-setzt hat. Nicht umsonst gelteniatrogene Störungen als eines derKardinal-Syndrome in der Geria-trie, zählen also zu den großengeriatrischen ,,I’s‘‘ nach Brock-lehurst. Hierbei sind neben denunerwünschten Arzneimittelneben-wirkungen und -wechselwirkungenauch Nebenwirkungen einer über-zogenen Diagnostik zu nennen.Der Autor führt das Beispiel desSchwiegervaters eines Kollegenan, bei dem zur Vorbereitung aufeine Leistenhernien-OP eine bis-lang symptomfreie myokardialeIschämie festgestellt wurde. Nacheiner Koronarangiographie hattesich ein operationsbedürftigerBefund ergeben. In der Vorberei-tung auf die Bypass-Operation warwiederum eine asymptomatischehochgradige Carotisstenose fest-gestellt worden. Bei der daraufhindurchgeführten Thrombenarteriek-tomie kam es zu einem Schlaganfallmit Hemiparese, was die Herz-operation dann um ein halbesJahr verzögerte. Nach etwa einemganzen Jahr resultierte nur nocheine leichte Restparese. Die nichtoperierte Leistenhernie indessenstörte den Patienten aufgrundseiner reduzierten körperlichen

Aktivität kaum noch. Und er wardankbar. Dankbar, dass die Ärzteseine Herz- und Gefäßproblemerechtzeitig erkannt hatten. Diese

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komplikationsreiche diagnostischeund therapeutische Eskalation magzwar etwas überzogen wirken, aberich kann Ihnen versichern, dasswir auch in unserer Klinik solcheKrankengeschichten regelmäßigsehen.

• Möglicherweise sind diese Anam-nesen - wenn wir ehrlich undselbstkritisch sind - auch durchdas dritte Problemfeld für dieÄlteren mit verursacht, nämlichder Finanzierung bzw. dem Ver-gütungssystem der medizinischenVersorgung: Ein Vergütungssystem,welches - ob stationär oder ambu-lant - in Diagnostik und Therapiedie höchsten finanziellen Anreizefür technische Leistungen setzt,wird eine hohe Anzahl dieser Leis-tungen produzieren - oder soll ichsagen provozieren? Umgekehrtgibt es Gesundheitssysteme oderBereiche von Gesundheitssyste-men, in denen nach Einführungvon Kopfpauschalen die Leistungendramatisch zurückgingen: ‘‘fromoverdiagnosis to underdiagnosis’’und ‘‘from overtreatment to un-dertreatment’’ gewissermaßen.Auch die dramatische Verkürzungder stationären Behandlungsdauerin fast allen Fachgebieten seitEinführung des DRG-Systems inDeutschland lässt uns die Theseschwer aufrechterhalten, dass al-lein die Sorge um den Patientenim Zentrum unserer medizinischenEntscheidungen steht. So könn-ten Zielvereinbarungen mit derGeschäftsführung den Chefarztheute dazu bewegen, in erster Li-nie auf eine möglichst kurze bzw.DRG-adaptierte Verweildauer inseiner Abteilung zu achten. Ausdem Primat der Diagnose resultiertzunehmend ein Primat der Ökono-mie. Für jüngere Patienten ergebensich hieraus in der Regel ledig-lich gewisse Unannehmlichkeiten.Bei der medizinischen Versorgungder älteren, multimorbiden Pa-tienten kann dies aber durchausernste und weit reichende Folgenhaben.

James Goodwin kommt bezüg-lich einer besseren Betreuung

geriatrischer Patienten zu fol-gendem Schluss: ‘‘The challen-ges of very old age are spiritual,not medical. The appropriate

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role of the physician is as a coun-selor or helper, not as scientificexpert.’’Also etwas frei, beziehungsweiseauch abgemildert, übersetzt: ,,DieHerausforderungen des hohen Altersan uns betreuende Ärzte sind eherspirituell, nicht so sehr medizinisch.Die angemessene Rolle des Arztesist deshalb vielmehr die eines Bera-ters und Helfers und nicht die eineswissenschaftlichen Experten.‘‘ DieseConclusio entspricht auch meinerÜberzeugung und ist nach meinerErfahrung auch in gleichem Maßeauf Palliativpatienten anzuwenden.Bitte verstehen Sie mich an dieserStelle nicht falsch: Ich möchte hierkeinesfalls einem therapeutischenNihilismus das Wort reden. Selbst-verständlich halte ich es für richtigund wichtig, den Patienten auf derGrundlage einer breiten fachlichenExpertise zu untersuchen und zu be-handeln. Genauso wichtig erscheintes mir aber, die individuellen Wün-sche und Wertvorstellungen desPatienten zu erfahren und diese zuakzeptieren und bei der Therapie zuberücksichtigen. Die Erfahrung zeigt,dass dies eine wichtige Grundlagefür das Vertrauen des Patienten und- daraus resultierend - seine Compli-ance darstellt.Im Grunde stellt sich uns Ärzten beiden geschilderten Patientengrup-pen, also geriatrischen Patientenund Palliativpatienten, im Klinik-alltag sehr häufig folgende Frage:Sollen wir eine strikt leitlinienge-rechte Therapie durchführen odermüssen wir eine Priorisierung un-ter Berücksichtigung der individu-ellen Situation, der Wünsche undWertvorstellungen des Patientenvornehmen? Dies führt häufig zu Ent-scheidungssituationen, welche mandurchaus als Dilemma bezeichnenkann, da wir nicht sicher wissen,ob bzw. womit wir schaden odernützen. Als Beispiel sei die Anti-koagulation bei Vorhofflimmerngenannt, welche wir heutzutagebei Heerscharen von 80-, 85- und90-jährigen durchführen [4]. Zwei-felsohne ist ein Vorgehen unter strik-ter Einhaltung der Leitlinien füruns der einfachere Weg. Meiner An-

sicht nach dürfen wir uns in unsererArztrolle aber nicht auf einen sol-chen technisch-materialistischenReduktionismus beschränken,

. wesen (ZEFQ) (2012) 106, 227—230www.elsevier.de/zefq

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sondern müssen unsere therapeuti-sche Aufgabe doch wesentlich weiterfassen.Dabei kann uns die Bewusstmachungund Einbeziehung von Spiritualitätals wichtiger therapeutischer Ko-faktor dienen, und zwar die unserereigenen wie auch die unserer Pa-tienten. Sie mögen jetzt vielleichtmutmaßen, die Erwähnung von Spiri-tualität sei der Tatsache geschuldet,dass ich bei einem katholischen Trä-ger im Dienst bin und mich somitdem religiösen Bezug verpflichtetsehe. In der Tat bezog sich der Be-griff Spiritualität historisch gesehenursprünglich auf spiritus - den gött-lichen Geist - und war sehr starkvom Bezug zur christlichen Religiongeprägt. Dies hat sich im Lauf derZeit gewandelt, und es gibt heute inverschiedenen Kulturen zahlreiche,leicht variierende Interpretationender Spiritualität.Gisinger, ein Geriater aus Wien, hatden Begriff für mich mit folgen-der Definition gut auf den Punktgebracht [5]: ,,Spiritualität istdie persönliche sinnstiftende Gr-undeinstellung, die transzendie-rende Selbstreflexion darstellt,welche religiöses Denken beinhal-ten kann, aber nicht muss.‘‘ Wiekönnen wir dies nun in unsere all-tägliche Arbeit integrieren? Wieund wo findet Spiritualität in derMedizin statt? Ulrich Körtner, Vor-stand des Instituts für Ethik undRecht in der Medizin der UniversitätWien, hat folgende Elemente vonSpiritualität in Medizin und Pflegebenannt [6]:

• Körtner verweist erstens darauf,dass zur Spiritualität die Fragegehört, aus welchem Geist herausich meine Arbeit tue und anderenMenschen begegne. Neudeutschwird in diesem Zusammenhangauch von ,,professional attitudes‘‘gesprochen, womit hier Empathie,Nächstenliebe oder Philanthropie,Fürsorglichkeit und auch - vielleichtim christlichen Sinne - Barmher-zigkeit gemeint sind, welche dieGrundhaltung von Medizinern prä-gen sollten.

• Ein weiterer wichtiger Punkt der

Spiritualität in der Medizin ist es,die eigene Endlichkeit, aber auchdie Endlichkeit der Heilkunst zu ak-zeptieren. Das Gelingen therapeu-

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tischer Maßnahmen hängt nicht nurvon unseren Fähigkeiten ab, liegtalso nicht nur in Menschenhand,sondern obliegt auch anderen, wieauch immer gearteten spirituel-len Faktoren oder - wenn Sie sowollen - höheren Mächten. Lebenund Gesundheit sind auch in Zeiteneiner hoch technisierten Medizinimmer noch Geschenke, die nichtbeliebig verfügbar und steuerbarsind. Ein solches Grundverständ-nis entlastet Ärzte und Patientenwechselseitig von übertriebenenErwartungen und hilft ihnen mitMisserfolgen und Scheitern umzu-gehen. Dies stellt gewissermaßenein Gegenmodell zum Bild des om-nipotenten, unfehlbaren Arztesdar.Zur Spiritualität in der Medizingehört weiterhin die Einsicht,dass Medizin nicht nur eine reineNaturwissenschaft, sondern eineKunst ist, die wie alle Kunst derInspiration, der Intuition, des rech-ten Augenblickes und der Fügungbedarf. Denn sonst wären wir le-diglich Medizintechniker, die -wie oben bereits erwähnt - nurstarr und schematisch Gebrauchs-anweisungen, sprich Leitlinien,umsetzen.Ein ganz wesentlicher Bestandteilder Spiritualität in der Medizin istdie Ressource Vertrauen. Ärztebenötigen Selbstvertrauen undVertrauen in ihre Fähigkeiten unddie ihnen zur Verfügung stehendenMittel. Patienten und Angehörigebrauchen Vertrauen in die Heilkunstder Ärzte. Vertrauen bedeutetin diesem Zusammenhang - auchim Zeitalter der Internetrecher-che und der eingeholten Zweit-oder Drittmeinung - akzeptierteAbhängigkeit vom Arzt, in dessenHände ich mich begebe. Dieseselbst gewählte und akzeptierteAbhängigkeit kann aber im Grundenur auf Glauben und Vertrauenbasieren.Ein weiterer Punkt ist, dass Spiri-tualität auch die Kommunikationzwischen Arzt und Patient begrün-det und stützt. Der spirituelle Geiststiftet und eröffnet Kommunikationund bestimmt die Atmosphäre, in

der diese stattfindet.Nicht zuletzt hat Spiritualitätnicht nur mit der Haltung undEinstellung des Einzelnen zu tun,

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(ZEFQ)

sondern als organisationstheoreti-sches Thema auch mit der Kultureiner medizinischen Einrichtung.Man spricht zum Beispiel nichtzu Unrecht vom ,,guten Geist‘‘,der in einem Haus herrscht. Die-ser hängt neben den Menschen,die hier arbeiten, aber auch vonanderen Faktoren wie Architek-tur, Ausstattung und Atmosphäreab.

oweit wichtige Elemente der Spiri-ualität in der Medizin, wie Körtnerie beschreibt.ch persönlich bin der Meinung, dassich jeder therapeutisch tätige Arztinmal bewusst mit ethischen undpirituellen Fragestellungen beschäf-igen sollte. Im Studium und währender Ausbildung kommt dies leider oftu kurz. Für die Arbeit in der Geria-rie, Palliativmedizin und Onkologieber ist eine intensive Auseinan-ersetzung damit unabdingbar, zuminen um den Anforderungen underechtigten Erwartungen der Patien-en und Angehörigen gerecht werdenu können, zum anderen - und diesst mindestens genauso wichtig -m für sich selbst auch dauerhaftine befriedigende und erfüllenderbeitssituation zu schaffen und zurhalten.ir wundern oder ärgern uns manch-al darüber, dass auch oder gerade

chwer kranke Patienten häufig ihreil in alternativen Behandlungsme-hoden jenseits der so genanntenchulmedizin suchen. Ganz gewiss ists von unserer Seite in Anbetrachtessen nicht damit getan, immeroch ein weiteres Chemotherapie-chema anzubieten, manchmal viel-eicht mehr um das eigene Gewissenu beruhigen und um schwierigenesprächen aus dem Weg zu gehen,ls im Glauben an einen möglichenherapieerfolg. Ein Beleg ist dasolgende Zitat aus einer Tumorkon-erenz: ,,Beim Mammakarzinom hörtan nie auf zu therapieren.‘‘ Ande-

erseits wird dann irgendwann einunkt erreicht, an dem es heißt,

,der Patient ist austherapiert‘‘ oder,wir haben keine Therapieoptionen

ehr‘‘. Der amerikanische Psychoana-ytiker Irvin Yalom zitiert in seinem

uch ,,Die Reise mit Paula‘‘ einerebskranke Patientin folgenderma-en [7]: ,,Was ist nur mit unserenrzten los? Warum begreifen Sie nicht

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ie Bedeutung ihrer schieren Ge-enwart? Warum können sie nichtrkennen, dass gerade der Augen-lick, in dem sie sonst nichts mehru bieten haben, der Augenblick ist,n dem man sie am nötigsten hat?‘‘ch denke, genau darauf müssen wirns in der Ausübung unseres Berufesückbesinnen und genau dieser Her-usforderung müssen wir uns stellen:iese Patienten brauchen neben demeelsorger oder Psychologen, den wirn solchen Situationen gerne hinzuzie-en, auch gerade uns Ärzte in einerehr umfassenden Rolle, nämlichls fachlich kompetente Mediziner,hrliche Berater und empathischeegleiter auf einem oft schwereneg.

ch werde manchmal von Laien oderefreundeten Kollegen gefragt, wieie Arbeit in Geriatrie und Palliativ-edizin auszuhalten sei, da habe manoch keine Erfolgserlebnisse. Demann ich nur entgegnen, dass zuminen die Linderung einer schwerenyspnoe durch eine banale Pleura-

der Aszitespunktion durchaus einerößere therapeutische Befriedigungrzeugen kann, als die Senkung deslutdruckes um 20 mmHg oder des

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Cholesterins um 20% mit einer theo-retischen Reduktion der potenziellenstatistischen Sekundärkomplikatio-nen. Zum anderen aber erfährt derTherapeut in einer authentisch ge-lebten, umfassenden therapeutischenBeziehung, wie ich sie beschriebenhabe, auch große Befriedigung durchzahlreiche positive Rückmeldungenund die Dankbarkeit von Patientenund Angehörigen. Gerade von unserenalten Patienten, die viele Gebrechenund Einschränkungen oft geduldigertragen und ihrem Leben dennochpositive Seiten abgewinnen, die alsoneudeutsch gesprochen ein sehr gu-tes ,,Coping‘‘ haben, können wirdabei auch für uns selbst noch viellernen.

Korrespondenzadresse:Dr. med. Peter Koch-Gwinner, Chef-arztHELIOS Klinikum ErfurtZentrum für GeriatrieNordhäuser Straße 7499089 Erfurt

Telefon: (0361) 781-29 01Telefax: (0361) 781-29 02E-Mail: [email protected]

[

Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh

Literatur

1] Goodwin JS. Geriatrics and the limitsof modern medicine. N Engl J Med1999;340:1283—5.

2] Illich I. Medical nemesis: the expro-priation of health. London: Calder &Boyars; 1975.

3] Barry MJ. Screening for prostate can-cer — the controversy that refuses todie. N Engl J Med 2009;360:1351—4.

4] Lewalter T, Tebbenjohanns J, WichterT, Antz M, Geller C, Seidl KH, GulbaD, Röhrig FR, Willems S. Kommentarzu ,,ACC/AHA/ESC 2006 guidelinesfor the management of patientswith atrial fibrillation — execu-tive summary‘‘. Kardiologe 2008;2:181—205.

5] Gisinger C, et al. Seelsorge undSpiritualität bei Krankheit undPflege. Österreichische Ärztezeitung2007;15/16:28—9.

6] Körtner UH. Für einen mehrdimen-sionalen Spiritualitätsbegriff: Eineinterdisziplinäre Perspektive. In: FrickE, Roser T (Hrsg.) Spiritualität undMedizin. Gemeinsame Sorge für denkranken Menschen. Stuttgart: Kohl-hammer, 2009: 26—34.

7] Yalom ID. Die Reise mit Paula (Origi-naltitel: Momma and the meaning of

life. Tales of psychotherapy). Mün-chen: btb; 2000.

. wesen (ZEFQ) (2012) 106, 227—230www.elsevier.de/zefq