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ANTRIEBS- & SCHALTTECHNIK 68 www.etz.de 12/2013 Mehr Zuverlässigkeit und Effizienz bei Schalt- anlagen durch Diagnose Die Temperaturmessung ist in Schaltanlagen nicht so ohne Weiteres möglich. Mit dem passenden Konzept lässt sich jedoch eine moderne autarke Temperatur- überwachung an kritischen Stellen ergänzen. Daraus ergibt sich eine Diagnose- fähigkeit, die nicht nur vor Schäden und Ausfällen schützen, sondern auch den Ausnutzungsgrad unter Berücksichtigung der Umgebungstemperaturen der Anlagen steigern kann. Auch der Einsatz bei Retrofitmaßnahmen ist denkbar. Text: Thomas Gräf H insichtlich der Auslastung und Sicherheit von elektri- schen Betriebsmitteln, auch im Hinblick auf das Errei- chen einer entsprechenden Lebensdauer bzw. einer Alte- rungserkennung, ist die Temperaturmessung im laufenden Prozess eine der entscheidenden Prozessgrößen. Allerdings erlauben elektrische Schaltanlagen, insbesondere bei Nieder- spannungsschaltgerätekombinationen nach IEC 61439-1 [1] oder metallgekapselten typgeprüften Schalt-anlagen nach IEC 62271-200 [2], die Messung der Temperaturen an kri- tischen Stellen im laufenden Betrieb nur unter großen Ein- schränkungen. Verschiedene Vorgaben für Geräte der Nieder- und der Mittelspannungstechnik Die einschlägigen Normen definieren unterschiedliche Tem- peraturgrenzen und Grenzübertemperaturen für Betriebs- mittel der Nieder- und der Mittelspannungstechnik, ob- wohl die gleichen Materialien für Schalter, Strombahnen oder Anschlusstechnik zum Einsatz kommen. So gilt für die Erwärmungs-Typprüfungen in der Mittelspannungstechnik nach IEC 62271-1 [3] ein Umgebungs-Temperaturbereich von 10 °C bis 40 °C. Die Tabelle 3 aus dieser Norm definiert Grenzwerte für Temperaturen und Übertemperaturen für verschiedene Werkstoffe und Isolierstoffe von Hochspan- nungsschaltgeräten und -schaltanlagen. Zum Beispiel ist dort eine maximale Temperatur von 90 °C bzw. eine Grenz- übertemperatur von 50 °C bei blanken Kupferverbindungen in Luft vorgegeben. Für die Niederspannungstechnik geht man hingegen von einer mittleren Umgebungstemperatur von 35 °C aus. Dabei wird die Grenzübertemperatur derart variabel gestaltet, dass bei niedrigerer Umgebungstemperatur als 35 °C die Grenz- 01 Übersicht zum Thermal Observation Contactless (TOC) Datenbank Empfänger Sender Wärmequelle 1 Energy Harvester Sender Wärmequelle 2 Energy Harvester

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ANTRIEBS- & SCHALTTECHNIK

68 www.etz.de 12/2013

Mehr Zuverlässigkeit und Effizienz bei Schalt-anlagen durch DiagnoseDie Temperaturmessung ist in Schaltanlagen nicht so ohne Weiteres möglich.

Mit dem passenden Konzept lässt sich jedoch eine moderne autarke Temperatur-

überwachung an kritischen Stellen ergänzen. Daraus ergibt sich eine Diagnose-

fähigkeit, die nicht nur vor Schäden und Ausfällen schützen, sondern auch den

Ausnutzungsgrad unter Berücksichtigung der Umgebungstemperaturen der

Anlagen steigern kann. Auch der Einsatz bei Retrofitmaßnahmen ist denkbar.

Text: Thomas Gräf

Hinsichtlich der Auslastung und Sicherheit von elektri-schen Betriebsmitteln, auch im Hinblick auf das Errei-

chen einer entsprechenden Lebensdauer bzw. einer Alte-rungserkennung, ist die Temperaturmessung im laufenden Prozess eine der entscheidenden Prozessgrößen. Allerdings erlauben elektrische Schaltanlagen, insbesondere bei Nieder-spannungsschaltgerätekombinationen nach IEC 61439-1 [1] oder metallgekapselten typgeprüften Schalt-anlagen nach IEC 62271-200 [2], die Messung der Temperaturen an kri-tischen Stellen im laufenden Betrieb nur unter großen Ein-schränkungen.

Verschiedene Vorgaben für Geräte

der Nieder- und der Mittelspannungstechnik

Die einschlägigen Normen de!nieren unterschiedliche Tem-peraturgrenzen und Grenzübertemperaturen für Betriebs-

mittel der Nieder- und der Mittelspannungstechnik, ob-wohl die gleichen Materialien für Schalter, Strombahnen oder Anschlusstechnik zum Einsatz kommen. So gilt für die Erwärmungs-Typprüfungen in der Mittelspannungstechnik nach IEC 62271-1 [3] ein Umgebungs-Temperaturbereich von 10 °C bis 40 °C. Die Tabelle 3 aus dieser Norm de!niert Grenzwerte für Temperaturen und Übertemperaturen für verschiedene Werksto$e und Isoliersto$e von Hochspan-nungsschaltgeräten und -schaltanlagen. Zum Beispiel ist dort eine maximale Temperatur von 90 °C bzw. eine Grenz-übertemperatur von 50 °C bei blanken Kupferverbindungen in Luft vorgegeben.

Für die Niederspannungstechnik geht man hingegen von einer mittleren Umgebungstemperatur von 35 °C aus. Dabei wird die Grenzübertemperatur derart variabel gestaltet, dass bei niedrigerer Umgebungstemperatur als 35 °C die Grenz-

01 Übersicht zum Thermal

Observation Contactless (TOC)Datenbank

Empfänger Sender

Wärmequelle 1

EnergyHarvester

Sender

Wärmequelle 2

EnergyHarvester

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übertemperatur überschritten werden darf, die Grenztempe-ratur von 140 °C (Entfestigung Kupfer bzw. 105 °C für von außen eingeführte Leitungen) jedoch nicht überschritten werden darf.

Diese Variabilität bei den Grenzübertemperaturen kann dahin gehend genutzt werden, um bei niedrigeren Umge-bungsbedingungen < 35 °C die Grenztemperatur von 140 °C (105 °C) mit höher belasteten Betriebsmitteln zu erreichen, sofern der Hersteller und der Anwender eine entsprechende Vereinbarung getro$en haben.

Temperaturmessung gestaltet sich schwierig

Häu!g ist bei Inhomogenitätsstellen an Strombahnen, also an Schraubstellen oder Kontaktstellen von Schaltgeräten, die Zugänglichkeit bei unter Spannung stehenden Schaltan-lagen nur sehr eingeschränkt und häu!g sogar gar nicht möglich. Aus Sicherheitsgründen – Personen- und Anlagen-schutz stehen hier im Vordergrund – werden die Messungen im Allgemeinen an geö$neten, im Betrieb be!ndlichen Schaltanlagen nur zu dringenden punktuellen Wartungs- und Diagnosefunktionen durchgeführt. Aufgrund der Ge-fahr des Auftretens von Störlichtbögen ist es nicht erlaubt die zu messenden Stellen im laufenden Betrieb mit heranzu-führenden Sensoren, zum Beispiel &ermoelementen, zu berühren.

Die berührungslose Erfassung von Temperaturen mittels Strahlungspyrometer oder Bolometer wäre erlaubt, hat je-doch den Nachteil, dass der Emissionsfaktor der zu messen-den Stelle bekannt sein muss. Andere Messverfahren, die die Wellenlängenänderung von injizierter Laserstrahlung durch temperaturabhängige Atom-/Molekül-Gitterstrukturen und die dadurch verursachte Modulation der originalen Laser-strahlung nutzen, leiten den Laserstrahl mittels Lichtwellen-leiter an die Messstelle. Dabei ist vorab zu prüfen, ob durch den Einbau der Faseroptiken die dielektrischen Verhältnisse nicht negativ beein'usst werden.

Alle zuvor genannten Messverfahren haben zudem den Nachteil, dass sie teuer sind, direkten Blickkontakt zur zu messenden Stelle benötigen oder dass sich mehrere Mess-stellen nur mit hohem Aufwand gleichzeitig überwachen las-sen. Es bietet sich daher zweckmäßigerweise an, ein Verfah-ren zu nutzen, dass direkt an der interessierenden Messstelle die Temperatur erfasst, die dielektrischen Eigenschaften des zu überwachenden Betriebsmittels so wenig wie möglich beeinträchtigt und gleichzeitig die Messung auf Hochspan-nungspotenzial erlaubt.

Berührungslose Messung

Bei der &ermal Observation Contactless (TOC) (Bild ) wird für die Energieversorgung der auf Hochspannungs-potenzial sich be!ndenden Messelektronik ein &ermogene-rator eingesetzt. Dieser erlaubt als Energy Harvester die Ge-nerierung von elektrischer Hilfsenergie anhand vorhandener thermischer Energie und speist einen Aufwärtswandler mit Energiespeicherfunktion. Das Gehäuse des Messsensors ist so gestaltet, dass die dielektrischen Eigenschaften so wenig wie möglich beein'usst werden.

Die Temperaturmessung und Datendigitalisierung sowie das Versenden der Messdaten erfolgen unter Verwendung

eines standardisierten und verschlüsselten Funktelegramms. Das Empfangen und Decodieren übernimmt ein konven-tioneller Funk empfangender und standardisierter Buskopp-ler. Er rechnet auch auf die lokale Messstellentemperatur zurück. Eine Ethernetanbindung erlaubt die Datenweiter-verarbeitung in einem PC. Dort sind Funktionen wie die Überwachung des Betriebs- und Alterungsverhaltens der Anlagen durch Datenbankauswertung möglich.

Funktionalität geprüft

Unter Verwendung der zur Verfügung stehenden Hoch-stromquellen wurde einer 12-kV-Schaltanlage des Typs GT4 von Ritter Starkstromtechnik [4] mit einem TOC-Mess-system ausgerüstet. Man entschied sich für diesen Typ, weil sie eine der kompaktesten verfügbaren luftisolierten Schalt-anlagen ist und damit hohe Anforderungen an das TOC-Messsystem hinsichtlich der dielektrischen Eigenschaften stellt. Es stellte sich heraus, dass nach dem Einbau des TOC-Messsystems die ermittelten Werte für die Bemessungssteh-stoßspannung sowie die Bemessungsstehwechselspannung im Rahmen der Messtoleranz von 2 % schwankten und weiterhin deutlich über den geforderten Werten der DIN EN 62271-1 (VDE 0671-1) lagen.

Die Messungen der Teilentladungseinsetzspannung nach DIN EN 60270 [5] mit einem schmalbandigen TE-Mess-system zeigten, dass an den Stromschienen mit und ohne eingebautem TOC-Messsystems keine Änderung der TE-Einsetzspannung auftrat (Bild ). Damit lässt sich hinsicht-lich der dielektrischen Untersuchungen feststellen, dass die gewählte Gehäuseform des Messsystems die dielektrischen Eigenschaften der Schaltanlage im Bereich der Sammelschie-nenverschraubungen nicht nachteilig beein'usst.

Bild zeigt, dass – abgesehen von einer konstanten Dif-ferenz – die mit dem &ermoelement sowie mit dem TOC-Messsystem gemessene Temperatur den gleichen Verlauf hat. Trotz der immensen Belastung durch die auftretenden Mag-netfelder traten keine Messfehler oder Störungen während

02 Der Einbauort des TOC-Messsystems an der Sammelschiene

in der Nähe der Schraubstellen des Abgangs zum Leistungsschalter

TOC-Temperatursensor

ReferenztemperatursensorSchraubstelle

SensorUmgebungstemperatur

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des Betriebs auf. Die Temperaturdi$erenz ist auf die räum-lich unterschiedliche Anordnung zwischen dem &ermo-element (2) und dem Einbauort des TOC-Messsensors (1) entlang der Stromschiene zurückzuführen.

Anwendungsbereich und Funktionalität

Der energieautarke patentierte Messsensor erfasst schon ge-ringe Temperaturdi$erenzen an unzugänglichen, auf Hoch-spannungspotenzial sich be!ndenden Messstellen im lau-fenden Betrieb von Schaltanlagen. Damit bietet sich eine Überwachung kritischer Stellen zum Beispiel an Leistungs-schaltern, Stromschienenschraubstellen oder Kontaktstellen hinsichtlich schleichender, langfristig ablaufender Verän-derungen an. Dies ist besonders beim Einsatz von Schaltan-lagen sinnvoll, die eine hohe Verfügbarkeit erreichen müs-sen oder hohe Ausfallkosten angeschlossener Prozessanlagen drohen wie in Rechenzentren, Kraftwerksanlagen oder pro-zesstechnischen Chemieanlagen.

Zugleich erlaubt das System die Bestimmung der aktuel-len Temperatur an kritischen Kontaktstellen unter Berück-sichtigung der Umgebungstemperatur bei geschlossenen Schaltanlagen und damit die Personen- und Anlagensicher-heit aufrechtzuerhalten. Auch bei einem Austausch zum Beispiel von Leistungsschaltern an Altanlagen im Rahmen einer Retro!tmaßnahme kann das TOC-Messsystem durch die Erfassung der Temperaturen im laufenden Betrieb Hin-weise auf unzulässige Betriebszustände durch zu hohe Tem-peraturen innerhalb der Schaltanlage liefern. Es eignet sich zudem für die Wartung und Diagnosefähigkeit, was die Neuinvestitionen reduziert, da die Anlagen maximiert aus-genutzt werden können.

Für die zukünftige Weiterentwicklung ist eine Miniaturi-sierung der Sensorkomponenten vorgehen, die zu weiteren Anwendungen führten wird. Darüber hinaus wird die Da-tenerfassung so erfolgen, dass eine Reduktion der Daten-mengen bei Feldeinsatz durch gezielte Abtastung und Trend-erfassung möglich sein wird.

Fazit

Online-Messverfahren zur Erfassung von Zuständen neh-men zusehends einen berechtigten Platz im Betrieb elektri-scher Betriebsmittel ein. Damit lassen sich Funktionen und Zustands-aussagen im laufenden Prozess der Energieüber-tragung gewinnen, die bislang nicht auf einfache Art und Weise zugänglich waren. Ziele dabei sind die Ausnutzung der Betriebsmittel zu erhöhen, eine zustandsorientierte War-tung zu erreichen, um Ausfällen vorbeugen zu können, so-mit Folgekosten und Anlagenstillstände zu vermeiden. Die Funktion eines Energiemanagements kann ebenso hinzuge-zählt werden. (no)

Literatur

[1] DIN EN 61936-1 (VDE 0101-1):2011-11 Starkstromanlagen

mit Nennwechselspannungen über 1 kV – Teil 1: Allgemeine

Bestimmungen. Berlin · Offenbach: VDE VERLAG

[2] DIN EN 62271-200 (VDE 0671-200):2012-08 Hochspannungs-

Schaltgeräte und -Schaltanlagen – Teil 200: Metallgekapselte

Wechselstrom-Schaltanlagen für Bemessungsspannungen

über 1 kV bis einschließlich 52 kV. Berlin · Offenbach:

VDE VERLAG

[3] DIN EN 62271-1 (VDE 0671-1):2009-08 Hochspannungs-

Schaltgeräte und -Schaltanlagen – Teil 1: Gemeinsame

Bestimmungen. Berlin · Offenbach: VDE VERLAG

[4] Ritter Starkstromtechnik GmbH & Co. KG, Dortmund:

www.ritter-starkstromtechnik.de

[5] DIN EN 60270 (VDE 0434):2001-08 Hochspannungs-Prüf-

technik – Teilentladungsmessungen. Berlin · Offenbach:

VDE VERLAG

Autor

Prof. Dr.-Ing. Thomas Gräf arbeitet an der

Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

im Fachgebiet Elektrische Anlagentechnik.

[email protected]

03 Temperaturmessung

in der Schaltanlage

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TOCStromschiene

ReferenzStromschine