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Meine schlichten Reisen

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Meine schlichten Reisen - Poesie der Nachbarn - Belgien, Herausgegeben von Hans Thill, Verlag Das Wunderhorn, 2011.

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Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichterbegründet von Gregor Laschen

© 2011 Verlag Das WunderhornRohrbacher Straße 1869115 Heidelbergwww.wunderhorn.de© 2011 Autoren und ÜbersetzerAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmi-gung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Cyan, HeidelbergDruck: NINO Druck GmbH, Neustadt/WeinstraßeISBN 978-3-88423-375-7

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Hans Thill (Hrsg.)

Meine schlichten Reisen

Gedichte aus Belgienübersetzt nach Interlinearversionenvon Beate Thill und Stefan Wieczorek

Wunderhorn

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Vorbemerkung

Vielleicht ist es kein Zufall, daß eine der ersten wirklich europäischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der Surrealismus, nach dem zweiten Weltkrieg eine Erneuerung erfuhr, die von den Rändern der Metropolen kam: Copenhagen, Brüssel, Amsterdam. Wer sich für eine experimentelle Kunst interessiert, die die Grenzen überschreitet und Übergänge produktiv macht, wenn sie ihre poetischen Slogans und Verwirrsätze in die Welt hineinschreibt, der wird sehr bald bei Pierre Alechinsky und Christian Dotremont fündig. Beide sind Belgier, wobei letzterer, Bild-Dichter mit einem sprechenden Namen (autrement, autre monde), Theoretiker der Gruppe COBRA, zeitlebens die Einsamkeit des Künstlers thematisiert hat – indem er das Malen zu mehreren propagierte und praktizierte. Bei manchen gemeinsam enstandenen Bildern des Duos Alechinsky/Dotremont handelt es sich um eine sich gegenseitig befeuernde spontane Wortkunst, direkt auf die Leinwand geschrieben, gemalt: »Wenn die Nacht kommt, zünde ich ein wenig Schrift an, damit ich etwas sehe, aber ich sehe nichts, also krieche ich unter den Buchstaben hindurch, um in dem, was ich gesagt hätte, davonzufliegen.« Eine Übersetzung dieses Bild-Textes, wie ich sie hier gewagt habe, bleibt notwendigerweise halbseitig, nur eine trauriger Abklatsch des Kunstwerks. Der Übersetzer, der den Text nicht mit vergleichbarem Schwung auf die Leinwand zu bringen vermag, gibt nur den Inhalt wieder, verglichen mit den beiden Kunst-Aktionisten ist er ein trauriger Maulheld.Das Problem einer adäquaten Widergabe poetisch aufgeladener Texte beschäftigt uns in Edenkoben, wenn sich Dichter und Dichter zur Über-setzung treffen. Dass man erst dann ein guter Übersetzer ist, wenn man sich der Unzulänglichkeit seines Produkts bewusst ist, diese Erkenntnis soll schon immer, seit es das Projekt „Poesie der Nachbarn“ gibt, in einen

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Prozess gemeinsamer künstlerischer Arbeit umgemünzt werden. Hier, wo die Sprachen beides sind, Material an dem gearbeitet wird und Medium in dem gearbeitet wird, zeigt sich eine leise Politik von Verstehen und Verständnis, besonders wenn eine mehrsprachige Nation wie Belgien zu Gast ist. Angesichts einer Krise, in der diese Nation auseinanderzu-brechen drohte, wäre das nicht wenig (mehr darüber im Nachwort der beiden Interlinearübersetzer Beate Thill/Stefan Wieczorek am Ende dieser Anthologie). Um die Vielfalt der Übersetzungen zu präsentieren und zu signalisieren, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit jede für sich triftig sein können, wurden, wo es sich anbot, zahlreiche deutsche Versionen eines Gedichts aufgenommen. Der Titel dieser Anthologie »Meine schlichten Reisen« ist die (gewagte) Übersetzung aus einem Gedicht von Karel Lo-gist, die allerdings keiner der Nachdichter für seine Version gewählt hat.

Der Herausgeber

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Hans Thill Mein Nam mein Leich mon voyage mineur. Ein Wiedergänger sprühtin kleiner Trance an alle Trafo-Stationen: Pas Op! Verkehrter Kaffee und verirrter Wein steigen zu Koppund heissen beispielsweise Chloroform. In einem weit entfernten Land hilft gegen wortverklebten MundThalassa als ein Zungenlöser aus l und s. dar zamin dur dast. Mein Nam mein Dotter eines Gottes ärmerals die Nacht blau im Gesicht und für ein halbes Sommerstück bin ich in Form: ein kahler Fall ein Overalldas Stresswort allemaal dem Anton Reiser hinters Ohr geschrieben. Mein Nam meine Entgleisung meinüberall beseeltes immerzu rasiertes Pädonym bin ich auch kein Korkenzieher wär ich doch gerneeine Vogeluhr Edenkoben, 23. Juni 2010

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Liliane Wouters

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Liliane Wouters

Pas rien, pas rien, le petit vent de l’aube, le petit rose du petit matin, changé en pourpre, en noir, en nuit de taupe. Je suis la taupe et le ciel est lointain. Pas rien, pas rien, les flaques sur la plage, la dune blonde et la blonde clarté, la mer sans fin et les vagues sans âge. Nous n’y aurons dansé qu’un seul été. Pas rien, pas rien, même si l’on décompte les vaches maigres, les années de chien. J’aurai vécu tel jour, telle seconde. C’était trop peu, mais ce ne fut pas rien.

Nicht nichts, nicht nichts, der kleine Dämmerungswind das kleine Vormittagsrosa am kleinen Morgenverdunkelt ins Purpur, ins Schwarze, ins MaulwurfnachtschwarzeIch bin der Maulwurf und der Himmel ist fern. Nicht nichts, nicht nichts, die Pfützen am Stranddie blonde Düne, der blonde Schimmerdas Meer kein Ende, die Wellen kein Alter.Wir haben nicht nur einen einzigen Sommer getanzt. Nicht nichts, nicht nichts, sogar wenn man abziehtdie mageren Kühe, die Hundejahre.So einen Tag und so eine Sekunde hab ich erlebt.Das war zu wenig, aber nichts war es nicht.

(Ulrike Almut Sandig)

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J’étais plus pauvre que la nuit, plus taciturne qu’un monarque à la fenêtre, plus solitaire qu’un stylite. Je n’avais plus au creux des mains que la poussière de ma vie. Tu es venue, les pierres ont crié, les ruines ont levé la tête, la braise dans mon sang s’est rallumée, la vie a repris cours, l’ombre a donné naissance. Tous les chemins conduisent jusqu’à toi.

ärmer war ich als die nachtschweigsamer als der monarch am fenstereinsamer als ein säulenheiliger in meinen händen hielt ich nichtsals staub von meinem leben da erschienst du und es schrie der steinruinen hoben ihre häupterdie asche meines blutes flammte fahrt nahm das leben aufschatten gebar alle wege führen zu dir

(Michael Speier)

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Liliane Wouters

Ich war ärmer als die Nacht,verschwiegener als ein Regent am Fenster,verwaister als ein Säulenheiliger. In meinen leeren Händenwar nur noch Staub des Lebens. Als du kamst, machten die Steine ein Geschrei,die Ruinen hoben den Kopf,mein Blut entfachte seine Flammendas Leben bekam neuen Schwung,der Schatten hat etwas zur Welt gebracht. Alle Wege führen zu dir.

(Hans Thill)

Au bout de l’amour il y a l’amour. Au bout du désir il n’y a rien. L’amour n’a ni commencement ni fin. Il ne naît pas, il ressuscite. Il ne rencontre pas, il reconnaît. Il se réveille comme après un songe dont la mémoire aurait perdu les clefs. Il se réveille les yeux clairs et prêt à vivre sa journée. Mais le désir insomniaque meurt à l’aube Après avoir lutté toute la nuit. Parfois l’amour et le désir dorment ensemble. En ces nuits-là on voit la lune et le soleil.

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Am Ende der Liebe gibt es die LiebeAm Ende der Lust gibt es nichts.Mit Anfang und Ende hat Lieben nichts zu tun.Sie wird nicht geboren, erweckt wird sieund braucht keine Begegnungen, erkennen muss sie und erwacht wie nach einem Traum,dessen Schlüssel man vergessen hat.Mit hellen Augen erwacht sietagesbereit, lebensbereit.Die schlaflose Lust aber quält sich durchdie Nacht und stirbt grauend in der Früh. Manchmal schlafen Liebe und Lust zusammen,dann gibt es nachts Sonne und Mond zugleich.

(Zsuzsanna Gahse)

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Liliane Wouters

Qu’un palmier sorte de ta bouche : j’y chercherai mon ombre. Qu’une rivière coule entre tes seins : j’y lirai mon visage. Qu’une vallée apprenne à vivre dans ton ventre : j’y creuserai mon lit.

ein palmbaum soll aus deinem munde wachsenunter ihm werde ich schatten suchen ein flüsslein soll zwischen deinen brüsten fließenich werde in ihm mein gesicht lesen in deinem schoß soll ein tal auflebendorthin werde ich mich betten.

(Michael Speier)

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Pour vivre, il faut planter un arbre, il faut faire un enfant, bâtir une maison. J’ai seulement regardé l’eau qui passe en nous disant que tout s’écoule. J’ai seulement cherché le feu qui brûle en nous disant que tout s’éteint. J’ai seulement suivi le vent qui fuit en nous disant que tout se perd. Je n’ai rien semé dans la terre qui reste en nous disant: je vous attends.

Im Leben soll man einen Baum pflanzen, sollein Kind zeugen, ein Haus bauen. Ich aber hab nur aufs Wasser geschautdas vorbeifließt und sagt, dass alles vergeht. Ich aber hab nur das Feuer gesuchtdas brennt und uns sagt, dass alles ausgeht. Ich aber bin nur dem Wind hinterherder flieht und uns sagt, dass sich alles verliert. Ich aber hab nichts in die Erde gestreutdie bleibt und uns sagt: ich warte auf euch.

(Ulrike Almut Sandig)

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Liliane Wouters

Il faut savoir tout perdre, même soi, même le souvenir de soi, il faut quitter le lieu, sortir du temps, jeter le vêtement précaire, ôter les six membranes, accepter que la septième avec le grain pourrisse, que l’eau du fleuve tout recouvre, que le soleil sèche cette eau, que le vent du désert efface sa trace sur le sable.

Man mussalles verlieren können, sogar sich selbstsogar die Erinnerung an sich selbst, man mussden Ort verlassen, aus der Zeit aussteigendas dürftige Kleid wegwerfendie sechs Häute abschälen, zulassendass die Siebente mit dem Samen verfault,dass das Flusswasser alles bedeckt,dass die Sonne das Wasser austrocknet,dass der Wüstenwind seine Spurim Sand verwischt.

(Ulrike Almut Sandig)