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Universitätsverlag Potsdam MenschenRechtsZentrum MenschenRechtsMagazin Informationen | Meinungen | Analysen Aus dem Inhalt: Auf dem Weg zu einem menschenrechtlichen Schutz vor Abschiebung für Schwerkranke? Anmerkungen zum Paposhvili- Urteil des EGMR Der EGMR und die Derogation von Menschenrechten – Werden Notstände zu akzeptierten Dauerzuständen in Zeiten des Terrorismus? EGMR: Wolter und Sarfert ./. Deutschland – Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht 22. Jahrgang 2017 | Heft 2

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MenschenRechtsMagazinInformationen | Meinungen | Analysen

Aus dem Inhalt:

Auf dem Weg zu einem menschenrechtlichen Schutz vor Abschiebung für Schwerkranke? Anmerkungen zum Paposhvili-Urteil des EGMR

Der EGMR und die Derogation von Menschenrechten – Werden Notstände zu akzeptierten Dauerzuständen in Zeiten des Terrorismus?

EGMR: Wolter und Sarfert ./. Deutschland – Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht

22. Jahrgang 2017 | Heft 2

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Aus dem Inhalt:

▪ AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebungfürSchwerkranke?Anmerkungen zum Paposhvili-Urteil des EGMR

▪ DerEGMRunddieDerogationvonMenschenrechten–WerdenNotständezuakzeptiertenDauerzuständeninZeitendesTerrorismus?

▪ EGMR:WolterundSarfert./.Deutschland–UngleichbehandlungehelicherundnichtehelicherKinderimErbrecht

22.Jahrgang2017|Heft2

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschenNationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüberhttp://dnb.dnb.de/abrufbar.

Universitätsverlag Potsdam 2018http://verlag.ub.uni-potsdam.de/

AmNeuenPalais10,14469PotsdamTel.:+49(0)3319772533/Fax:2292E-Mail:[email protected]

Herausgeber:Prof.Dr.phil.LogiGunnarsson([email protected])Prof.Dr.iur.EckartKlein([email protected])Prof.Dr.iur.AndreasZimmermann,LL.M.(Harvard)([email protected])

MenschenRechtsZentrumderUniversitätPotsdamAugust-Bebel-Straße89,14482PotsdamTel.:+49(0)3319773450/Fax:3451([email protected])

Redaktion:Prof.Dr.iur.NormanWeiß([email protected])Mag.iur.JohannaWeber([email protected])

DasManuskriptisturheberrechtlichgeschützt.Satz:textplusform,DresdenDruck:docupointGmbHMagdeburgISSN 1434-2820

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Inhaltsverzeichnis

Editorial ............................................................................................................................... 86

Aufsätze:

CharlotteSteinorthAufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebungfürSchwerkranke?AnmerkungenzumPaposhvili-UrteildesEGMR ........................ 87

KatrinKappler/SvenjaAuerswaldDerEGMRunddieDerogationvonMenschenrechten–WerdenNotständezuakzeptiertenDauerzuständeninZeitendesTerrorismus? .................................... 97

AnnaPhirtskhalashviliMenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung .................................. 108

Berichte und dokumentAtionen:

JohannaWeberBerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschussesderVereintenNationenimJahre2016–TeilII:Individualbeschwerden ............... 119

urteilsBesprechungen:

JaschaPattEGMR:WolterundSarfert./.Deutschland–UngleichbehandlungehelicherundnichtehelicherKinderimErbrecht ....................................................... 135

BuchBesprechungen:

Tania Fabricius,AufarbeitungvoninKolonialkriegenbegangenemUnrecht. AnwendbarkeitundAnwendunginternationalerRegeln desbewaffnetenKonfliktsundnationalenMilitärrechtsaufGeschehnisse ineuropäischenKolonialgebieteninAfrika(Steinbach) ............................................ 143

Berenike Schriewer, Zur Theorie der internationalen Offenheit undderVölkerrechtsfreundlichkeiteinerRechtsordnung undihrerErprobungamBeispielderEU-Rechtsordnung(Klein) ........................... 148

Autorenverzeichnis .......................................................................................................... 152

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86 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

Editorial

DieerstenBeiträgediesesHeftsbeschäftigensichausverschiedenenPerspektivenmitderEMRKundderdiesbezüglichenTätigkeitdesEGMR.Charlotte Steinorth stellt den AusweisungsschutzfürSchwerkrankedarundnimmtkritischzurReichweitedieses

SchutzesStellung.Katrin Kappler und Svenja Auerswald fragenmitBlickaufdieDerogationvonMenschenrechten,obNotständezuakzeptiertenDauerzuständeninZeitendesTerrorismuswerden.

Anna Phirtskhalashvili erläutert, inwieweitMenschenrechte als Grundwert der georgischenVerfassunganzusehensind.EineUrteilsbesprechungvonJascha PattgiltdemFallWolterundSarfertgegenDeutschland, indemesumdieUngleichbehandlungehelicherundnichtehe-licherKinderimErbrechtgeht.

DerBerichtausderFedervonJohanna WeberüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschus-sesderVereintenNationenwirdmitdemzweitenTeilzudenIndividualbeschwerdeverfah-rendesJahres2016abgeschlossen.

BuchbesprechungenvonPeter Steinbach und Eckart KleinbeschließendasHeft.

WirwünschenunserenLeserneineanregendeLektüre.

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Steinorth:AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebung 87

Auf dem Weg zu einem menschenrechtlichen Schutz vor Abschiebung für Schwerkranke ? Anmerkungen zum Paposhvili-Urteil des EGMRCharlotte Steinorth

InhaltsübersichtI. EinführungII. Das Abschiebeverbot nach Artikel 3

EMRKIII. Der eingeschränkte Umfang des Ab-

schiebungsschutzes für SchwerkrankeIV. Das Paposhvili-Urteil: Ein verbesserter

Schutz vor Abschiebung in Länder mit unzureichender medizinischer Ver-sorgung ?

V. Abschließende Bewertung

I. Einführung

Die Europäische Konvention zum Schutzder Menschenrechte und Grundfreiheiten(EMRK)bietetAusländernkeinengenerel-lenSchutzvorindividuellerAbschiebung.1 DerStraßburgerGerichtshof(EuropäischerGerichtshof für Menschenrechte, EGMR)weist immerwiederdaraufhin,dassnachdem Völkerrecht jeder Staat selbst be-stimmen kann, wer sich auf seinem Ge-biet aufhalten darf.2 Dennoch habenmen-schenrechtlicheStandardsaufdiesesRechteinschränkend gewirkt. Insbesondere dasVerbotderFolterundderunmenschlichenodererniedrigendenBehandlungoderStra-fekannzueinerVerletzungderKonventionbeiAbschiebungenführen.DadieseBegrif-fe nicht inArt.3 derKonvention definiert

1 DiekollektiveAusweisungistnachArt.4Proto-kollNo.4verboten,EuropeanTreatiesSeries46.Zudemvölkerrechtlich anerkanntenRechtdesStaates, die Einreise, den Aufenthalt und dieAusweisung von Ausländern zu kontrollierensiehe z.B. EGMR,Vilvarajah et al. ./. Vereinigtes Königreich, 45/1990/236/302–306, Urteil vom26.September1991.DieUrteiledesEGMRsindabrufbarunter:www.echr.coe.int.

2 Vgl auch EGMR,Moustaquim ./. Belgien, 12313/86,Urteil vom 18. Februar 1991 undVilvarajah (Fn.1).

sind, istesSachedesGerichtszuentschei-den,wanneinVerstoßvorliegt.DabeikanndasdrohendeUnheilimauswärtigenEmp-fangsland ganzunterschiedlicherArt sein,wiez.B.unmenschlicheHaftbedingungen,3 die Todesstrafe,4 oder unzumutbare wirt-schaftliche Bedingungen.5Auch die Frage,inwieweit diemangelndeGesundheitsver-sorgung imHerkunftsland ein Abschiebe-verbotdurchdenSchutzdesArt.3begrün-den kann, hat sich in der Rechtsprechunggestellt.6 Dieser Beitrag möchte sich derProblematik der Ausweisung schwerkran-ker Ausländer ohne Aufenthaltsstatus an-handderRechtsprechungimFallPaposhvili widmen.7 Einführend sollen imFolgendenzunächst jedoch die Besonderheiten desanArt.3EMRKgeknüpftenAusweisungs-schutzes skizziertwerden, die eine beson-dere Herausforderung für die Rechtspre-chungdarstellen.

II. Das Abschiebeverbot nach Artikel 3 EMRK

Im Gegensatz zu den meisten VerfahrengehtesinAusweisungsfällen,indenenFol-ter oder unmenschliche oder degradierende Behandlung droht, um noch nicht gesche-heneEreignisse.DerStraßburgerGerichts-

3 Vgl. z.B. EGMR,Soldatenko ./. Ukraine, 2440/07,Urteilvom23.Oktober2008.

4 Vgl.EGMR,Al-Saadoon and Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich,61498/08,Urteilvom2.März2010.

5 Vgl. EGMR,M. S. S. ./. Belgien und Griechenland, 30696/09,Urteilvom21.Januar2011.

6 Zum ersten Mal vor dem EGMR in D./.Ver-einigtesKönigreich,30240/96,Urteilvom2.Mai1997.

7 EGMR, Paposhvili ./. Belgien, 41738/10, Urteilvom13.Dezember2016.

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88 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

hof,wieauchzuvordienationalenGerichte,habenalsonichtdasVorliegeneinerMen-schenrechtsverletzung festszustellen, son-dernvielmehrzubeurteilen,obeinesolchezukünftigeintretenwird. Indembahnbre-chenden Soering-Urteil,indemdasGerichtzum ersten Mal aus Art.3 einen Auswei-sungsschutz abgeleitet hat, formuliert derGerichtshof als ausschlaggebenden Maß-stabfürdieBewertungdieAnnahmeeinesrealen Risikos einer Behandlung, die demVerbotdesArt.3zuwiderläuft.8Wieinvie-lenUrteilenbestätigt,verlangtdasGerichtbeidieserBewertungeinsehrhohesMaßanWahrscheinlichkeit,dassdieGefahrsichimFallederRückführungrealisiert.9Dastrotzalledemweiterbestehende spekulativeEle-ment bringt allerdings unweigerlich einenUnsicherheitsfaktormitsichunderschwertsowohl dem Kläger als auch demGerichtdieDarlegung bzw. EinschätzungderGe-fahrenlage. Obgleich der Gerichtshof indenAusweisungsfällenhäufigdasVokabu-lar des Beweisrechts benutzt,10 hat Richter ZupančičzuRechtaufdaslogischeProblemhingewiesen, dass man genau genommendieWahrscheinlichkeitvonzukünftigenEr-eignissen nie beweisen, sondern nur pro-

8 EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, 14038/88,Urteilvom7Juli1989.ZuderBedeutungdesUrteils für Abschiebungen siehe u.a. Susanne Ziih1ke/Jens-Christian Pastille,SoeringRevisited,in:ZaöRV59(1999),S.749–784(750–751),Marie-Bénédicte Dembours,WhenHumansBecomeMi-grants.StudyoftheEuropeanCourtofHumanRights with an Inter-American Counterpoint,2015,S.202ff.

9 SoverdeutlichtederEGMR,dassdiebloßeMög-lichkeit(“merepossibility”)einerMisshandlungnicht ausreicht, um Art.3 zu aktivieren. SieheVilvarajah (Fn. 1) §111. Für eine ausführlicheÜbersichtderBeschreibungdesWahrscheinlich-keitsgrades in derRechtsprechung sieheFanny de Weck,Non-RefoulementundertheEuropeanConventiononHumanRightsandtheUNCon-ventionagainstTorture,2014,S.232–43.

10 NebendemBegriff “evidence” hat dasGerichtauchvoneinem“standardofproof”und“bur-denofproof”gesprochenvgl.EGMR,Chahal ./. Vereingtes Königreich, 22414/93, 15. November1996, §117; EGMR, Ahorugeze ./. Schweden, 37075/09,Urteilvom27Oktober2011,§116.

gnostizieren kann.11 Daher spricht er voneiner Risikoeinschätzung für die Informa-tionen, nicht aber Beweise, heranzuziehenseien.12

Nicht nur die zeitliche Komponente, son-dern auch die räumliche Distanz der zubeurteilenden Situation jenseits nationalerGrenzengehörtzudenBesonderheitenderAusweisungsklagen.NachArt.1EMRKistderWirkungskreisderKonventionaufdiePersonen beschränkt, die sich in der Ho-heitsgewalteinesMitgliedsstaatesbefinden.ZwarhatderGerichtshofbestätigt,dassdieKonvention auch extra-territorial anwend-barist,abernurdann,wennzwischendemBetroffenenunddemVertragsstaatein ‘ju-risdictionallink’besteht.13InAusweisungs-fällen hingegen werden Konventionsstan-dards extraterritorial projiziert, obgleichkeine grenzüberschreitendeHoheitsgewalteines Vertragsstaates ausgeübt wird. DieVerantwortung des ausweisenden Staatesliegt darin begründet, dass er einenMen-schen,dersichinseinerJurisdiktionbefin-det,durchdenAktderAusweisungvoraus-sichtlich einer Situation aussetzt, die nichtdemKonventionsverbotderFolteroderdesunmenschlichen oder erniedrigenden Be-handelnsentspricht.SowirdhierderMaß-stabderEMRKinAusweisungsfällenfiktivangewendet,obgleichdieSituationindemRückführungslandnichtindenräumlichenWirkungsbereichderKonventionfällt.14

AlsleitendenGedankenfürdieFrage,wannein Verstoß gegen Artikel 3 vorliegt, hatsichderGerichtshofineinigenUrteilenaufdie Verletzung derMenschenwürde beru-fen. So hat der Gerichtshof z. B unwürdi-geHaftbedingungenimRückführungslandund unzureichendematerielle VersorgungvonAsylsuchendenimLandderErstregis-trierung als unvereinbarmit demRespektvorderWürdedesMenschenbeschriebenundalsinkompatibelmitdenAnforderun-

11 EGMR, Saadi ./. Italien, 37201/06, Urteil vom28. Februar 2008, Zustimmende Meinung vonRichterZupančič.

12 Ibid.

13 Vgl.EGMR,Banković et al. ./. Belgien et al.,52207/99,Entscheidungvom12.Dezember2001.

14 Vgl.Soering(Fn.8),§91.

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Steinorth:AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebung 89

gendesArt.3bewertet.15WiederGerichts-hof vielfach verdeutlicht hat, nimmt dasVerbotderFolterundderunmenschlichenBehandlung eine ganz besondere Bedeu-tung innerhalb der Konvention ein.16 NurimHinblickaufwenigeBestimmungenderKonvention hat der Gerichtshof die Ver-pflichtungeinesRückführungsschutzes in-terpretativ entwickelt.17 Im Gegensatz zudeneinschränkbarenRechtensiehtderTextdes Art.3 keinerlei Einschränkungen vor.Der Gerichtshof hat das Verbot des Art.3als ein absolutes Verbot interpretiert.18 Selbst in Rückweisungsfällen von Terror-verdächtigen hat der EMGR die absoluteNaturdesVerbotsbekräftigt – auchwenndie Abzuweisenden eine Gefahr für denRücksendestaat darstellten.19 Die Nachtei-le, die durch das Verbot der AusweisungndemKontextdesTerrorismusfürdieGe-meinschaft des Vertragsstaates entstehen,wurdenvondemGerichtalsunmaßgeblichangesehen.20

DieherausragendeBedeutungdesArt.3in-nerhalb der Konvention stellte auch einen

15 Vgl.EGMR,Babar Ahmad et al. ./. Vereinigtes Kö-nigreich, 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, Urteil vom 10. April 2012. DieRechtsprechungistzusammengestelltinLennart von Schichow,DieMenschenwürdeinderEMRK,2016, S.27–111. Siehe auch Anmerkungen vonJean-Paul Costa, Human Dignity in the Juris-prudence of the European Court of HumanRights,in:ChristopherMcCrudden(Hrsg.),Un-derstanding Human Dignity, 2013, S.393–402(396f).

16 Vgl.Soering(Fn.8)§88.

17 SohatderGerichtshofaucheinenAbschiebungs-schutzimRahmenvonArt.8,Art.6,Art.5,Art.2EMRKentwickelt.VgldieÜbersichtvonRichterJohannes Silvis, Extradition and Human RightsDiplomatic Assurances and Human Rights inthe Extradition Context, abrufbar unter:www.coe.int/t/dghl/standardsetting/pc-oc/PCOC_documents/Documents%202014/Special%20session%20Extradition%20-%20Extradition%20and%20human%20rights%20-%20Silvis.pdf (zu-letztbesucht30.September2017).

18 Vgl.Chahal(Fn.10);Saadi(Fn.11).

19 SohatderEGMRinChahal hinsichtlich des Aus-weisungsschutzes im Rahmen von Art.3 ver-deutlicht: “the activities of the individual inquestion, however undesirable or dangerous,cannotbeamaterialconsideration”(§80).

20 Chahal(Fn.10),§79.

wichtigenBeweggrundfürdenGerichtshofdar,dieAnwendungdesRückweisungsver-botsselbstinSituationenzuerwägen,inde-nendieGefahrweder von staatlichenAk-teuren noch von Privaten ausgeht. So hatsich der Gerichtshof im Rahmen der Be-schwerden,diesichaufArt.3stützen,auchmit der Ausweisung Schwerkranker be-schäftigt.Allerdingshabennurwenigedie-serKlagenErfolggehabt,wie imnächstenAbschnittdargestelltwird.

III. Der eingeschränkte Umfang des Abschiebungsschutzes für Schwerkranke

DerEGMRhat 1997 indemFall einesmitHIV/AIDS erkrankten Beschwerdeführerserstmals entschieden, dass eine unzurei-chendemedizinischeVersorgungimRück-führungsland ein Abschiebungsverbot zurFolge haben kann.21 Der straffällige Be-schwerdeführerohneAufenthaltsrechtsoll-te nach seinerHaft aus Großbritannien insein Herkunftsland St. Kitts abgeschobenwerden. Der Beschwerdeführer brachtegegenseineAbschiebungvor,dasserauf-grund des fortgeschrittenen Krankheits-verlaufs ohne ausreichende medizinischeBehandlung, die in seinemHerkunftslandnichtzurVerfügungstehe,einemfrüherenund elendenTod ausgeliefert sei.Darüberhinaus habe er dort weder UnterstützungvonFamilieoderFreunden,nochkönneerauf staatliche Unterstützung zählen. DerGerichtshof entschied, dass in diesen “ex-ceptionalcircumstances”eineAbschiebungeinen Verstoß darstellen würde.22 Bemer-kenswerterWeisehattederGerichtshofvor-angestellt,dasserdenAusweisungsschutznicht auf Situationenbeschränkt, indeneneinVersagen desHerkunftslandes für daszu erwartende Unheil verantwortlich istunddaherauchbereit ist,Faktorenzube-rücksichtigen, die allein genommen keineVerletzungdesArt.3darstellenwürden.23

21 EGMR,D. ./. Vereinigtes Königreich, 30240/96,Ur-teilvom2.Mai1997.

22 Ibid.,§53.

23 Ibid.,§49.

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90 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

Zahlreiche weitere Klagen Schwerkrankergegen ihre Abschiebungen wurden vomGerichtshof als unzulässig abgewiesen, daihre Umstände nicht einen vergleichbarenSchweregrad erreichten.24 In der Zulässig-keitsentscheidung Henao gegen Niederlande benannte der Gerichtshof erneut als rele-vanteKriterien,diegegeneineAbschiebungsprechen,denschlechtenZustanddesKran-ken und die mangelnde Aussicht auf an-gemessene medizinische Versorgung undden Beistand der Familie.25 Das ProblemderRechtmäßigkeitderAbschiebungeinerSchwerkrankenimRahmendesArt.3wur-dezumerstenMalvonderGroßenKammerdesEGMR2008beurteilt.26DerFallN. gegen Vereinigtes Königreich betraf eine aidskran-ke, abgelehnteAsylsuchende ausUganda.InseinemUrteilentschiedderGerichtshof,dass die Abschiebung aufgrund des nochnicht kritischen Gesundheitszustands derKlägerin und der theoretisch verfügbarenmedikamentösen Versorgung rechtmässigsei.27 Der Gerichtshof nahm den Fall zumAnlass seine bisherige Rechtsprechung zurekapitulieren und unterstrich dabei, dassnurinwenigenAusnahmefällendieKrank-heit eine konventions-konforme Abschie-bungunmöglichmachenwürde.Aufderei-nenSeiteräumtederGerichtshofzwarein,dassauchandereschwerwiegendeGründealsdiebisherinderRechtsprechungbehan-delten, denkbar wären, was den Anwen-dungsbereichdesArt.3beiAusweisungenvon Kranken potentiell ausweiten könnte.AufderanderenSeiteabervertratderGe-

24 EGMR, S. C. C. ./. Schweden, 46553/99, Entschei-dung vom 15. Februar 2000, EGMR, Arcila Henao ./. Niederlande, 13669/03, Entscheidungvom24Juni2003,EGMR,Ndangoya./.Schwe-den,17868/03,Entscheidungvom22.Juni2004,EGMR, Amegnigan./.Niederlande, 25629/04,Entscheidungvom25November2004.

25 Henao(Fn.24).DerEGMRfasstedieGründefürdieUnzulässigkeitderBeschwerdeimRahmendesArt.3wiefolgtzusammen:“itdoesnotap-pear that theapplicant’s illnesshasattainedanadvanced or terminal stage, or that he has noprospectofmedicalcareorfamilysupportinhiscountryoforigin”.

26 EGMR,N. ./. Vereinigtes Königreich, 26565/05,Ur-teilvom27.Mai2008.

27 Ibid.,§§47–48.

richtshofdasPrinzipeinerrestriktivenAus-legung des Ausweisungsschutzes, der imFallevonKrankheitnurinHärtefällengrei-fensolle.HierzuführtedasGerichtzunächstan, dassArt.3 vor allemgegen staatlichesVersagen (Misshandlung oder fehlenderSchutzvordemHandelnNicht-StaatlicherAkteure)Anwendungfindet.28DieKonven-tionzieledaraufab,bürgerlicheFreiheitenundpolitischeRechtezuschützen,undseinicht dazu geeignet, ein sozialwirtschaft-liches Versorgungsgefälle auszugleichen.29 Der Gerichtshof betonte daher, dass dieKlägerinkeineGefahrpolitisch-motivierterMisshandlung in ihremHerkunftslandan-geführthabe.30

Darüber hinaus verwies der Gerichtshofin einer viel kritisierten Passage auf dieGrundidee eines Gleichgewichts zwischendemSchutzderRechtedesEinzelnenundden Interessen der Gemeinschaft. Vehe-mentverneintedasGericht,dassdieKon-ventionvonMitgliedstaateneinekostenloseGesundheitsversorgung von Ausländernohne Aufenthaltsrecht beinhalte. Dies, sodie Richter,würde eine zu große Last fürdieVertragsstaatenbedeuten.31

DasUrteil stieß sowohl innerhalb desGe-richts als auch inderLiteratur auf scharfeKritik.32 In ihrer gemeinsamen abweichen-den Meinung distanzierten sich die Rich-ter Tulkens, Bonello und Spielmann vonder

28 Ibid.,§43.

29 Ibid.,§44.

30 Ibid.,§46.

31 Ibid.,§44.

32 Siehe u.a. Sylvie da Lomba, The ECHR and theProtection of Irregular Migrants in the SocialSphere, in: International Journal on MinorityandGroupRights 22 (2015), S.39–67,Fanny de Weck (Fn. 9), S.174–175;Tobias Thienel, ECtHRonExpulsionofAIDSPatient:Nv.UnitedKing-dom,Blogpostvom27.Mai 2008, abrufbarun-ter: https://invisiblecollege.weblog.leidenuniv.nl/2008/05/27/ecthr-on-expulsion-of-aids-patient-n-v-u/ (zuletzt besucht am30. September2017), siehe auch Kathryn Greenman, A Castle BuiltonSand?Article3ECHRandtheSourceofRiskinNon-RefoulementObligationsinInterna-tionalLaw, in: International JournalofRefugeeLaw29(2015),S.264–296,(S.268ff).

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Steinorth:AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebung 91

Einschätzung,eslägenbeiderBeschwerde-führerinkeinebesondersschwerwiegendenUmständevor.33SchließlichwürdedieAus-weisungeinenfrühenTodunderheblichesLeidnachsichziehen.Grundsätzlichwider-sprachen die Richter der Mehrheit, die inder Anwendung von Art.3 zwischen derArt der Gefahr unterschieden und beson-ders hohe Anforderungen bei Krankheits-fällenverlangten.Außerdemkritisiertensiedie verzerrte Wiedergabe der Rechtspre-chung, welche die soziale Dimension derKonvention durchaus anerkennt. Letztlichzeigten sichdieRichter entrüstet,dassdieMehrheit im Kontext des Art.3 den Ge-danken einesAusgleichs zwischen Einzel-interesse undGemeinwohl heranzog. DenwahrenGrundfürdenMehrheitsbeschlusssahen die dissentierenden Richter in der AngstvorvermeintlichvermehrterEinwan-derungerkrankterMenschen,welche„Eu-ropa indieKrankenstationderWelt“ ver-wandelnwürden.34

AuchinnachfolgendenUrteilenverdeutlich-tederGerichtshofseinerestriktiveInterpre-tationdesAusweisungsschutzes inKrank-heitsfällen.SosahendieRichterindemFallYoh-Ekale Mwanje gegen Belgien in der Aus-weisung einerAIDS-Patientin nachKame-run keine Verletzung des Art.3, obgleichdemGerichtshofbewusstwar,dassdieKlä-gerinwenigChance hatte Zugang zu not-wendigen Medikamenten zu bekommen.EntscheidendfürdasGerichtwar,dassdieAuszuweisende sich zum Zeitpunkt derAusweisung aufgrund der medikamentö-senBehandlunginBelgienineinemstabilenZustand befand und reisefähig war.35 Ob-gleichdasUrteileinstimmiggefälltwordenwar,drückteneinigederRichterihrUnbe-hagen über die hohenAnforderungen desAbschiebungsschutzesaus,dessenAnwen-dungsreichweitelediglichaufSterbendebe-schränktsei.Dies,sodieMeinungvonfünfderRichter,wärenurschwermitArt.3zu

33 GemeinsameabweichendeMeinungderRichterTulkens,BonelloandSpielmann,§§9–13.

34 Ibid.,§§3–8.

35 EGMR, Yoh-Ekale Mwanje ./. Belgien, 10486/10,Urteilvom20.Dezember2011.

vereinbaren,derdie IntegritätundWürdedesMenschenbetreffe.36

NichtnurfehlendeBehandlungsaussichtenfür AIDS-Kranke, auch der unsichere Zu-gang zu lebenswichtigen DialysegerätenwarenfürdenEGMRkeinGrundeineAb-schiebung ins Herkunftsland als konven-tionswidriginBezugaufArt.3einzuschät-zen.AuchindemFallM. T. gegen Schweden war der Beschwerdeführer nicht in aku-ter Lebensgefahr; denn die Konsequenzender Ausweisung auf die tatsächliche me-dizinischeVersorgung stellten fürdasGe-richtkeinAbschiebungshindernisdar.37DerEGMR stellte lediglich fest, dass Dialyse-geräte im Herkunftsland vorhanden seienund der Kläger nicht hinreichend bewie-senhabe,dassihmderZugangzumedizi-nischerVersorgungverwehrtbliebe.

DerbegrenzteSchutz,denderGerichtshofin diesenAbschiebungsfällen Schwerkran-ken gewährte, legt die Vermutung nahe,dass die Wichtigkeit, die dem Recht derVertragsstaaten, den Aufenthalt von Aus-ländern zu steuern, zugeschrieben wird,sich auf die Leidensanforderung der Ab-zuschiebenden auswirkte. Dass für inlän-dische Situationen und AbschiebungsfälleverschiedeneMaßstäbe zulässig seien, un-terstrich das Gericht in dem Fall Harkins und Edwards gegen Vereinigtes Königreich,38 in demdieRichterüberdieAbschiebungineinLand,indemdenKlägerneinelebenslangeGefängnishaftdrohte,zuurteilenhatten.Ineiner allgemeinen Bemerkung betonte dasGericht, dass die Konvention nicht dazudiene, seine Standards anderen Ländern

36 Teilweise zustimmende Meinung der RichterTulkens, Jočiené, Popović, Karakaş, Raimondi,PintodeAlbuquerque,die ihreKritikwiefolgtäußerten:«Nouspensonscependantqu’unseuildegravitéaussiextrême–êtrequasi-mourant–estdifficilementcompatibleaveclalettreetl’es-pritdel’article3,undroitabsoluquifaitpartiedesdroitslesplusfondamentauxdelaConven-tionetquiconcernel’intégritéetladignitédelapersonne.»(§6)

37 EGMR, M. T. ./. Schweden, 1412/12, Urteil vom26.Februar2015.

38 EGMR,Harkins und Edwards ./. Vereinigtes König-reich,9146/07und32650/07,Urteilvom17. Ja-nuar2012.

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92 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

aufzudrängen.39 So könnte in einem Aus-weisungsfalldernötigeSchweregradnochnichterreichtsein,selbstwenndiegleichenUmstände im Inland zu einer VerletzungdesArt.3geführthätten.AlsBeispielnann-tedasGerichteinemangelndemedizinischeVersorgung,dievomEGMReheriminlän-dischenKontextalsbeiAbschiebungsfällenalskonventionswidrigeingestuftwürde.40

Zu einer Neubewertung der bisherigenRechtsprechung führte schließlich der FallAswat gegen Vereinigtes Königreich.41 HierhandelteessichumdieAusweisungeinesanSchizophrenieleidendenTerrorverdäch-tigtenindieVereinigtenStaaten.Aufgrundder zu erwartenden hartenHaftbedingun-genundderTatsache,dassderKlägerkei-ne sozialen Beziehungen in den Vereinig-ten Staaten hatte, sah das Gericht einereale Gefahr gegeben, dass sich sein Ge-sundheitszustandentscheidendverschlech-ternwürde.42 ImGegensatzzudembishervom Gericht angewendeten Standard, derdieAusweisungKrankernurbeisehrfort-geschrittener Krankheit als unzulässig be-trachtete, hatte der Gerichtshof in Aswat bereits die Gefahr der VerschlechterungdesGesundheitszustandsalseinerAbschie-bung zuwiderlaufend gewertet. Mit demFallAswat hatte der Gerichtshof denWegfür einen weitergefassten Abschiebungs-schutznachArt.3geschaffen.

IV. Das Paposhvili-Urteil: Ein ver-besserter Schutz vor Abschiebung in Länder mit unzureichender medizinischer Versorgung ?

IndemFallPaposhvili43hattederEGMRzuentscheiden,obdieAbschiebungeinesLeu-kämie-Kranken nachGeorgien nachArt.3der Konvention rechtmäßig sei. Bevor der

39 Ibid.,§§129,134(“theConventiondoesnotpur-porttobeameansofrequiringtheContractingStatestoimposeConventionstandardsonotherStates.”).

40 Ibid.,§129.

41 EGMR,Aswat ./. Vereinigtes Königreich,17299/12,Urteilvom16.April2013.

42 Ibid.,§57.

43 Paposhvili(Fn.7).

Fall andieGroßeKammer ging, hatte zu-nächst das Kammerurteil entschieden,44 dassbeiAbschiebungdesBeschwerdefüh-rers kein Schutz nach Art.3 zu gewährensei.DerGerichtshofberiefsichabermalsaufden stabilen Zustand des Abzuschieben-den, die zumindest theoretisch möglichemedizinische Versorgung im Herkunfts-land Georgien und den besonders hohenMaßstab,derbeidemAbschiebungsschutzvonKrankenanzulegensei.45ObgleichderKläger während der Verhandlungen vorderGroßenKammerseinerKrankheiterlag,verabschiedete das Gericht posthum dasUrteil, indemesdieGrundsätzedarlegte,nachdenenAbschiebungenSchwerkrankermitHinblickaufArt.3zubeurteilenseien.Dabei nahm der EGMR eine vielfach be-grüßteKurskorrekturvor.46

Dem Urteil der Großen Kammer warenzwei Entwicklungen vorangegangen. Zumeinen,wieder belgischeRichterLemmens

44 Ebd.

45 Ibid.,§§119–124.

46 Siehe u.a. folgende Blogbeiträge:Adrienne An-derson, Comment on Paposhvili v Belgiumand the Temporal Scope of Risk Assessment,abrufbar unter: www.ejiltalk.org/comment-on-paposhvili-v-belgium-and-the-temporal-scope-of-risk-assessment/ (zuletzt besucht am30.September2017).Lourdes Peroni,Paposhviliv.Belgium:MemorableGrandChamberJudgmentReshapes Article 3 Case Law on Expulsion ofSeriously Ill Persons, abrufbar unter: https://strasbourgobservers.com/2016/12/15/paposhvili-v-belgium-memorable-grand-chamber-judgment-reshapes-article-3-case-law-on-expulsion-of-seriously-ill-persons/ (zuletzt besuchtam 30. September 2017). Lourdes Peroni und Steve Peers, Expulsion of seriously illmigrants:a new ECtHR ruling reshapes ECHR and EUlaw, abrufbar unter: http://eulawanalysis.blogspot.de/2017/01/expulsion-of-seriously-ill-migrants-new.html(zuletztbesuchtam30.Septem-ber2017),Duran Seddon,Strasbourgrevisitsap-proachtoseriousillness,medicaltreatmentandArticle 3, abrufbar unter: https://www.freemovement.org.uk/strasbourg-revisits-approach-to-serious-illness-medical-treatment-and-article-3/(zuletzt besucht am30. September 2017). Sieheauch die Äußerungen von Richter Guido Rai-mond über das vielfach beachtete Urteil, Ope-ning address of the President Guido Raimondi vom27.Januar2017,abrufbarunter:www.echr.coe.int/Documents/Speech_20170127_Raimondi_JY_ENG.pdf(zuletztbesuchtam30.Septem-ber2017).

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Steinorth:AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebung 93

betonte,47 hatte sich bereits die belgischeRechtslagedahingeändert,dassderSchutzvor Ausweisungen Schwerkranker erwei-tert interpretiert worden war und nichtnurdieunmittelbareGefahrdesTodesBe-rücksichtigung fand. Zum anderen hat-te der Europäische Gerichtshof (EuGH)in dem FallAbdida48 entschieden, dass dieRückführung eines schwerkranken Dritt-staatsangehörigen denAnforderungenderRückführungsrichtlinie49 von 2008 sowiederEU-Grundrechts-Chartaunterliege.DerEUGHdefinierte inseinemUrteildievomStraßburger Gericht entwickelten Anfor-derungen der besonderen Umstände fürden Abschiebungsschutz Schwerkrankerals dann gegeben, wenn dem Abzuschie-bendeneineernsthafteundirreparableVer-schlechterung des gesundheitlichen Zu-standsdrohe.50

VordiesemHintergrundverabschiedetedieGroße Kammer des EGMR dasPaposhvili-Urteil,dasimFolgendengenauerbeleuchtetwerdensoll.IneinemerstenSchrittwerdendieAspektedesUrteilsanalysiert,diedenAbschiebungsschutzfürSchwerkrankefes-tigen.IneinemzweitenSchrittsollerörtertwerden,inwiefernauchnachPaposhvili das Nichtrückführungsverbot für Schwerkran-keHindernissebirgt.

1. Die Erweiterung des Abschiebungs­schutzes für Schwerkranke

ImGegensatzzudenvorausgehendenUr-teilen und Entscheidungen, sah die großeKammerindemFallPaposhvilidasBesteheneines bereits kritischen Krankheitszustan-desdesBetroffenen,beidemvoneinembal-digen Tod auszugehen ist, nichtmehr fürnotwendig, umden erforderlichen Schwe-

47 ZustimmendeMeinung von Richter Lemmens,§5.

48 EUGH,CaseC-562/13,Urteilvom18.Dezember2014.

49 Richtlinie 2018/115/EC des Europäischen Par-lamentsunddesRatesvom16.Dezember2008übergemeinsameNormenundVerfahrenindenMitgliedstaaten zur Rückführung illegal auf-hältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungs-richtlinie).

50 Ebd.

regrad der außergewöhnlichen Umständezu erfüllen. In vergleichsweise deutlicherFormwendetesichdieGroßeKammerda-mit von ihrer bisherigen Rechtsprechungab. Nach der Feststellung, dass Schwer-kranken,dienichtunmittelbarmitdemTodkonfrontiertwaren,bisherkeinSchutzvoreiner Abschiebung durch Art.3 gewährtwurde, fügte das Gericht einen weiterenbesonderen Umstand ein, der ebenfallsalsHärtefall zuwerten sei: nämlich dann,wennaufgrundmangelndermedizinischerBehandlung imHerkunftsland,dieGefahreiner ernsthaften, schnellen, und irrever-siblen(“serious,rapid,andirreversiblede-cline”) gesundheitlichen VerschlechterungdesAbzuschiebendendroht.51SomithatdasUrteildenSchweregradvondemErforder-nis eines unmittelbar bevorstehen Todesauf das einer schnellen gesundheitlichen VerschlechterungderErkrankungherabge-senkt.52

Das Paposhvili-Urteil hat darüber hinausden Schutz für Schwerkranke verbessert,indemesandieAusweisungsstaatennichtnur die Anforderung stellt zu prüfen, obin dem Herkunftsland eine angemessenemedizinische Versorgung prinzipiell an-geboten wird, sondern auch, inwiefernder Betroffene einen tatsächlichenZugangzu medizinischer Versorgung haben wür-de. Das Urteil benennt als relevante Fak-torenunteranderemdieKostendermedi-zinischen Versorgung und die physischeDistanz,dievondemKranken fürdieBe-handlungzurückgelegtwerdenmuss.53So-ferndieVersorgungslageimLichtederdemAusweisungsland vorliegenden Informa-tionenunklarist,habedasLanddiePflicht,Zusagen des Rückführungslands einzuho-len,dieeineausreichendemedizinischeBe-handlungfürdenBetroffenengarantieren.54 AllerdingshatdasUrteilnichtgenauerbe-stimmt,wanndasGericht eineZusage alsglaubhaft ansieht und inwiefern das Aus-weisungsland eine Pflicht hat, nachzuprü-

51 Paposhvili(Fn.7),§183.

52 ZuderProblematikdeszeitlichenFaktorssieheKommentarvonAnderson(Fn.46).

53 Paposhvili(Fn.7),§190.

54 Ibid.,§191.

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94 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

fen,obdiemedizinischeBehandlungnachAnkunft des Kranken im Herkunftslandauchtatsächlicherfolgt.DieProblematikderBelastbarkeit diplomatischer Zusagen hatsichbereitsinderRechtsprechungüberdieRechtmäßigkeitvonAbschiebungenTerror-verdächtigerdargestellt,inderdasGerichteinen ganzenKatalog vonAnforderungenformulierte.55 Hier könnte das Gericht inZukunft genauere Vorgaben machen, diedieEffektivitätderZusagenerhöhen.Den-nochistesgrundsätzlichpositivzubewer-ten, dass das Gericht sich nicht mehr mitdem bloßen Vorhandensein medizinischerBehandlungsmöglichkeiten zufrieden gibt.IndemFalldesleukämiekrankenPaposhvi-libefandendieRichter,dassdieVerletzungdesArt.3dadurchbegründetwar,dassBel-gien aufgrund der Informa tionslage nicht davonausgehenkonnte,dasskeinkonkre-tes Risiko einer konventionswidrigen Be-handlungnachArt.3indemHerkunftslandGeorgienbestand.

Letztlich ist auch noch hervorzuheben,dass die Große Kammer inPaposhvili ver-deutlichthat,dass ineinemAusweisungs-fall eines Schwerkranken die völkerrecht-liche Verantwortung des ausweisendenStaates nicht auf der unzureichendenme-dizinischenVersorgung imRückführungs-ortbasiert,sonderndurchdenAktderAus-weisung begründet wird.56 Damit verliertdie Unterscheidung zwischen Gefahren,diedurchstaatlicheAkteureausgelöstwer-denund„natürlichen“KrankheitenanBe-deutung. Das Urteil war in diesem Punktsichtlichvonder StellungnahmedesMen-schenrechtszentrums der Universität Gentgeleitet.Dieseshatteunterstrichen,dassdiebewusste Ausweisung des Kranken an ei-nenOrt,andemeinelebenserhaltendeBe-

55 Vgl. EGMR,Othman (Abu Qatada) ./. Vereinigtes Königreich,8139/09,Urteilvom17.Januar2012.Für eine kritische Analyse der Auswirkungender Praxis diplomatischer Zusagen auf dasNichtrückführungsverbot sieheYannick Ghelen, ErodingtheAbsoluteCharacterofthePrincipleof Non-Refoulement. A Comparative Study oftheUseofDiplomaticAssurancesAgainstTor-ture,LLMThesis,abrufbarunterwww.etd.ceu.hu/2014/ghelen_yannick.pdf (zuletzt besuchtam30.September2017).

56 Paposhvili(Fn.7),§192.

handlungnichterfolgenwürde,denBetrof-fenenvermeidbaremLeidaussetzenwürdeund daher eine Verletzung des Art.3 be-deutete.57

2. Hindernisse und Begrenzungen einer effektiven Schutzwirkung für Schwerkranke

Trotzder erweitertenUmstände, indenenSchwerkranke nach dem Paposhvili-Urteil Schutz vor einer Rückführung in ihrHer-kunftsland genießen, weist das Urteil derGroßen Kammer auch potentiell schutz-begrenzendeTendenzenauf.SoordnetdasUrteil Abschiebungsfälle Schwerkranker,bei denen eine schnelle und irreversibleVerschlechterungdesGesundheitszustandsnachderRückführungzuerwarten ist, als“theothervery exceptional cases” ein,dieeine Verletzung des Art.3 bewirken kön-nen.58DasGerichtbezogsichdabeiaufdenerstenAusweisungsfalleinesAidskranken,beidemesdasErfordernisaußergewöhnli-cherUmständeetablierte (kritischeKrank-heitsphase, keine soziale/familiäre Unter-stützungoderUnterstützungdesStaates).59 In dem erstenUrteil der Großen Kammerzu der Rückführung Schwerkranker, hattedasGericht sichdannzusätzlichaufmög-liche andere außergewöhnliche Umständebezogen,dieauchzueiner rechtswidrigenAbschiebungführenkönnten.60 In Paposhvili (kritischeKrankheitsphaseoderrapideVer-schlechterungderKrankheitnachAbschie-bung) schien die Große Kammer nun dieMöglichkeit noch weiterer Umstände, dieeinerAbschiebungzuwiderlaufenkönnten,nichtmehrinBetrachtzuziehen.Dabeier-scheintesschwer,abstraktzuantizipieren,obnichtnochandereSzenarieneinerRück-führungdenAnforderungendesArt.3wi-dersprechenkönnten.So istbeispielsweisedenkbar, dass für schwerkranke Minder-jährige eine Rückführung nicht zumut-bar sei, sofern der Beistand wichtiger Be-zugspersonennichtgewährleistetist,selbst

57 Ibid.,§168.

58 Ibid.,§183.

59 D. ./. Vereinigtes Königreich (Fn.21),§53.

60 N. ./. Vereinigtes Königreich(Fn.26),§43.

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Steinorth:AufdemWegzueinemmenschenrechtlichenSchutzvorAbschiebung 95

wenndiemedizinischeBehandlungimHer-kunftslandgarantiertwäre.Daherwäreeswünschenswert gewesen, dass der EGMRexplizit darauf hinweist, dass es keine ab-schließende Aufzählung der Sonderfällegebenkann,sondern,dasssichdasGerichtauchinZukunftdienotwendigeFlexibilitätvorbehält,umalleFaktoreneinesFalles inihremZusammenspielzubewerten.

EineweiterePassagedesPaposhvili-Urteils könnteaufeinezukünftigeBegrenzungdesAbschiebungsschutzes deuten, da sie densubsidiären Charakter der Konvention be-tont,undunterstreicht,dass esprimärdieAufgabederVertragsstaatenist,dieGefah-ren,denenAbzuschiebendeausgesetztseinkönnten, zu bewerten. Da der subsidiäreSchutzderKonvention für alleRechtegiltundkeineBesonderheitdesAusweisungs-schutzesdurchArt.3darstellt,liegtesnahe,dasshierderEGMRzumAusdruckbringt,wieungernerinFragenderMigrationein-greift. Nach den Worten einer Kommen-tatorin scheut das Gericht die Rolle einerBerufungsinstanz für gescheiterte Asyl-anträge anzunehmen.61 So hat bezeichnen-derweisederGerichtshof indemFallCruz Varas,62 wie auch dem FallVilvaraja,63 die Beschwerden abgelehnter AsylsuchenderausChileundSriLankabetrafen,dieErfah-rungenderStaatenmitderBeurteilungvonAnträgenausdiesenLändernhervorgeho-ben.VordemHintergrunddesvomGerichthäufigbetontenabsolutenVerbotsderFol-terundMisshandlungdesArt.3scheintesparadox, dass gerade in demKontext die-ser Konventionsbestimmung der Gerichts-hof seine Rolle einschränkend beschreibt.Die Besorgnis, dass der Gerichtshof einerGefahrenbeurteilung in Rückführungsfäl-len ausweichen möchte, könnte auch derBemerkung des Gerichts zu Grunde lie-gen, dass die Verpflichtung der Vertrags-staateninFällendieserArtvorallemdurchangemesseneBeurteilungsverfahren erfülltwerde. Es bleibt daher abzuwarten, wie

61 Nuala Mole, AsylumandtheEuropeanConven-tiononHumanRights,2000,S.39.

62 EGMR, Cruz Varas et al ./. Schweden, 15576/89,Urteilvom20.März1991,§81.

63 Vilvarajah et al (Fn.1)1991,§114.

engagiert in Zukunft der Gerichtshof dieUmständeeinesSchwerkranken,derabge-schobenwerdensoll,prüfenwird,oderobsichdasGerichtalleindaraufzurückziehenwird,festzustellen,dasseinnationalesVer-fahrenstattgefundenhat,indemdieGefah-renlagegeprüftwurde.

Letztlichistzuhinterfragen,inwieferneineanfängliche Beweislast,64 die die GroßeKammer dem Betroffenen weiterhin zu-schreibt,einHindernisfüreineneffektivenSchutzdarstellt.LautUrteilisteszunächstdieAufgabe derAbzuschiebenden, glaub-hafteBeweisedafürzuliefern,dasseinbe-gründeterVerdachtbesteht,dasssiedurcheineAbschiebungUmständeerleidenmüss-ten, die nicht mit Art.3 vereinbar seien.Abgesehen davon, dass für potentiell ein-tretende Gefahren keine Beweise erbrachtwerden können,65 stellt sich auchdasPro-blem, inwiefern es Schwerkranken realis-tischzuzumutenist,dieseInformationenzuerbringen. Abhängig von der gesundheit-lichenSituationderBetroffenenwäreesda-her sinnvoll, sie lediglich in die Informa-tionsfindungeinzubinden,nichtaberdieseAufgabe gänzlich bei ihnen zu verorten.Hätte das Rücksendeland wissen können,dass in dem Herkunftsland keine ausrei-chendemedizinischeVersorgungzuerwar-ten ist, wäre es schwer nachzuvollziehen,dasskeineKonventionsverletzungvorläge,auchdann,wennderSchwerkranke selbstdieseInformationnichtvorgebrachthätte.

V. Abschließende Bewertung

Die Rechtsprechung des Straßburger Ge-richts auf dem Gebiet des Abschiebungs-schutzes für Schwerkranke spiegelt deut-lichdieSpannungzwischendemAnspruchuniversalerMenschenrechteunddernatio-nalstaatlich-orientiertenStrukturder inter-nationalenOrdnungwider.66 Auf der einen SeitehatderGerichtshofdurchdieInterpre-

64 Vgl.RichterZupančič(Fn.11).

65 Ibid.

66 ZudemgrundsätzlichenParadoxonstaatenzen-trierterMenschenrechtsinstrumente, sieheAna-lysevonCathryn Costello,HumanRightsandthe

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96 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

tation einesRückführungsschutzes, der andasVerbotderFolteroderderunmensch-lichenoderherabsetzendenBehandlungan-knüpft,einenentscheidendenSchrittgetan,auch die Menschenrechte von MigrantenohneBleiberechtzuschützen.DieAnwen-dungdiesesSchutzesaufdieSituationvonSchwerkranken unterstreicht dabei denAuftrag der Konvention, die Menschen-rechte aller Personen, die sich in der Ho-heitsgewalteinesVertragsstaatesbefinden,zu schützen – selbst wenn sich das un-menschlicheLeiderst jenseitsderGrenzenereignenwird.DennochhatderGerichtshofinseinerRechtsprechungnachMöglichkei-ten gesucht, die Schutzwirkung desArt.3in seiner extra-territorialen Wirkung ein-zugrenzen.ImmerwiederbetontderEGMRdenGrundsatz,nachdemStaatendassou-veräne Recht haben, Immigration zu kon-trollieren,auchwenndasGerichtdiemen-schenrechtlichen Grenzen dieses Rechtsnichtabstreitet.67

Das Paposhvili-Urteil der Großen Kammerbedeutet eine Erweiterung des Abschie-bungsschutzesfürSchwerkranke,dennderEGMR wendet sich deutlich von der zy-nischenPraxisab,Schwerkranke,diedurchdiemedizinischeVersorgungdesRücksen-destaates in einem reisefähigen Zustand

Elusive Universal Subject, in: Indiana Journalof Global Legal Studies 19 (2012), S.257–303,(S.261ff).

67 Marie-Benedicte DemboursbeschreibtdieHaltungdesEGMRalseinefürdiedieSouveränitätinderMigrationskontrolledieRegelund indenKon-ventionsrechtendiesichfürdenStaateinschrän-kend auswirken die Ausnahme und plädiertfürdielogischeUmkehrung.(Fn.8),S.3–4.DieIndividualrechtlichePerspektivewirdvorallemunterdemEindruckderMassenmigrationindenHintergrundgeschoben.Vgl.Elspeth Guild, The RighttoDignityofRefugees.AresponsetoFleurJohns,in:AJILUnbound111(2017),S.193–195.

waren, einer voraussehbaren Leidenspha-seundeinembeschleunigtenTodinihremHerkunftslandauszusetzen.AberauchdasPaposhviliUrteil istnicht freivon restrikti-ven Tendenzen. Es gibt insbesondere An-lasszurSorge,dassderGerichtshofsichinZukunft von einer faktischen Prüfung ab-wenden könnte und sich lediglich daraufbeschränkt, zu untersuchen, ob ein natio-nalesPrüfungsverfahrenstattgefundenhat,welches die Konsequenzen der Abschie-bungaufdengesundheitlichenZustanddesBetroffenengewürdigthat.

EineskeptischeHaltunggegenüberdenAb-schiebungsentscheidungen der Mitglied-staatenwäre jedochanzuraten.Gerade fürjeneMenschen,diekeinepolitischeStimmebesitzen,kommtdemmenschenrechtlichenSchutz,denGerichtegewährenkönnen,be-sondere Bedeutung zu.68 SchwerkrankenMigranten ohne Aufenthaltsrecht, die kei-ne Aussicht auf eine ausreichende medi-zinische Versorgung nach einer Abschie-bung haben, droht schweres Leid. Ob derGerichtshof und die Mitgliedstaaten demAnspruch der Konvention auch in Zeitenglobaler Migrationsströme gerecht wer-den,hängtdavonab,obsiewillensundinderLagesind,denunbedingtenSchutzderMenschenwürdezugewährleisten.

68 ZuderRollevonGerichtenfürdieRealisierungderRechtevonMigrantensieheCathryn Costello, The Human Rights of Migrants and RefugeesinEuropeanLaw,2016.Sieheauch Joseph H. H. Weiler,ThouShaltNotOppress aStranger:Onthe Judicial Protection of the Human Rightsof Non-ECNationals – A Critique, in: EJIL 65(1992),S.65–91.

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Kappler/Auerswald:DerEGMRunddieDerogationvonMenschenrechten 97

Der EGMR und die Derogation von Menschenrechten – Werden Notstände zu akzeptierten Dauerzuständen in Zeiten des Terrorismus ?Katrin Kappler/Svenja Auerswald

InhaltsübersichtI. ProblemaufrissII. Sinn und Zweck von NotstandsklauselnIII. Derogation von Menschenrechten gemäß

Art. 15 EMRK – Voraussetzungen und (fehlende) Kontrolle des EGMR

IV. Ausnahmezustände als Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat

V. Ausblick und Fazit

I. Problemaufriss

NachdemdieNotstandsklauseldesArt.15Europäische Menschenrechtskonvention(EMRK) lange Zeit eine eher untergeord-neteRollegespielthat1unddiegroßeMehr-zahl der Vertragsstaaten noch nie von ih-rem Derogationsrecht Gebraucht gemachthat,2 scheint es in Zeiten des Terrorismus,der Flüchtlingsbewegungen und Militär-aufstände üblich geworden zu sein, denStaatsnotstandauszurufen.

Soberief sichFrankreichnachdenTerror-anschlägeninParisam13.November2015aufdenStaatsnotstand:dieserwarzunächstauf drei Monate begrenzt, wurde abermehrfachverlängert.3DasKabinettdesneu-

1 So hatten bis zum Jahre 2015 seit InkrafttretenderEMRK im Jahre1953 lediglichachtStaatenvom Notstandsrecht Gebraucht gemacht. Vgl.zu den Entwicklungen vor 1980: Heinz-Eber-hard Kritz, Die Notstandsklausel des Art.15der Europäischen Menschenrechtskonvention,1982,S.30–48;S.96–99.ZudenEntwicklungenseit 1980:Heike Krieger, in: Oliver Dörr/RainerGrote/ThiloMarauhn,EMRK/GGKonkordanz-kommentar,2.Aufl.2013,Kap.8,Rn.2.

2 David Harris/Michael O’Boyle/Colin Warbick,LawoftheEuropeanConventiononHumanRights,2.Aufl.2009,S.618.

3 EGMR,Factsheet–Derogationintimeofemer-gency,Juli2016,S.2.

enPräsidentenEmmanuel Macronbeschlossbereitsdie erneuteVerlängerungdesAus-nahmezustandes bis zumindest AnfangNovember 2017 und brachte zugleich einneues Anti-Terror-Gesetz mit weitgehen-denBefugnissenderRegierungzurTerror-abwehraufdenWeg.4EinweiteresBeispielist die Türkei: Nach dem MilitäraufstandimJuli letzten JahreswurdederStaatsnot-stand ausgerufen,5 welcher ebenfalls zu-nächstaufdreiMonatebegrenztwar,abermittlerweile drei Mal verlängert wurde.6 ErstkürzlichkündigtedertürkischeMinis-terpräsidentBinali YildirimdieerneuteVer-längerungdesAusnahmezustandesan,deresdemumstrittenentürkischenPräsidentenRecep Tayyip ErdoganermöglichtperDekretzuregieren.7BereitsvorderletztenVerlän-gerung erhobHuman Rights Watch schwe-re Vorwürfe gegen die türkische Polizei.EskonntevonderNGOdargelegtwerden,dass seit Verkündung des Staatsnotstan-

4 Macrons Kabinett will Ausnahmezustand ver-längern,(FAZ.netohneweitereAutorenangabe),www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kabinett-von-emmanuel-macron-will-ausnahmezustand-verlaengern-15072471.html (zuletzt be-suchtam22.Oktober2017).

5 Fn.3.

6 Die letzte offizielle Verlängerung des Ausnah-mezustandes erfolgte am 18. April 2017 nachdem türkischen Unabhängigkeitsreferendum:Türkische Regierung verlängert Ausnahme-zustand, SZ.de (ohne weitere Autorenangabe),www.sueddeutsche.de/politik/nach-dem-referendum-tuerkische-regierung-verlaengert-ausnahmezustand-1.3467251#redirectedFromLandingpage(zuletztbesuchtam22.Oktober2017).

7 Türkische Regierung will den Ausnahmezu-standverlängern,WR.de(ohneweitereAutoren-angabe), www.wr.de/politik/tuerkische-regie-rung-will-den-ausnahmezustand-verlaengern-id211244731.html (zuletzt besucht am 22. Ok-tober2017).

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98 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

des dieMenschenrechte Schritt für Schrittausgehöhlt werden; unter anderem sollenFoltermaßnahmen in Gefängnissen durch-geführtworden seien.8 Klar ist, dass Staa-tenmitKriegen,Krisen,NaturkatastrophenoderanderenHerausforderungenkonfron-tiertseinkönnen.OhneZweifelstelltvoral-lem der organisierte Terrorismus9 durch sei-neUnvorhersehbarkeitderAnschlägeundGewalttatenfürdenSchutzderMenschen-rechte eine große Herausforderung dar.10 AufgrundderDauergefahrdesTerrorismuskönnen Krisen alltäglich werden,11 sodass wirunszunehmendineinerZeitwiederfin-den, inderdieAusnahmezurRegelwird.Wird damit auch der Ausnahmezustandzur Gewohnheit, führt dies unweigerlichzu einer Gefährdung der Demokratie, desRechtsstaats und der Achtung der Men-schenrechte. Dies zeigen die dauerhaftenAusnahmezuständeunddiedamit einher-gehendenEinschränkungenderMenschen-rechte in Frankreich und der Türkei ein-drucksvoll.12 Präsident Erdogan kündigte

8 Human Rights Watch,WorldReport2017Türkei,abrufbar unter: www.hrw.org/world-report/2017/country-chapters/turkey (zuletzt besuchtam3.Februar2017).

9 DerBegriffdesTerrorismusistbishernichtein-heitlich definiert, vgl. dazu auch ausführlich:Tobias Kerber, Der Begriff des Terrorismus imVölkerrecht, 2009;Thomas Herzog, Terrorismus: Versuch einer Definition und Analyse interna-tionalerÜbereinkommenzuseinerBekämpfung,1991.

10 Vgl.Wolfgang S. Heinz, Internationale Terroris-musbekämpfung und Achtung der Menschen-rechte, in: APuZ B 3-4 (2004), S.32–40;Günter Krings,TerrorismusbekämpfungimSpannungs-feld zwischen Sicherheit und Freiheit, in: ZRP2015,S.167–170.;Katja Weigelt, DieAuswirkungder Bekämpfung des internationalen Terroris-musaufdiestaatlicheSouveränität,2016,S.15–16.

11 Hierzu Terrorismusexperte PeterNeumann imInterview:Die Terroristenwollen uns verrücktmachen, Christine Böhme, www.tagesspiegel.de/politik/experte-peter-neumann-im-interview-die-terroristen-wollen-uns-verrueckt-machen/19893648.html(zuletztbesuchtam22.Ok-tober2017);vgl.William E. Scheuerman,DieGlo-balisierungvonCarlSchmitt?,in:KJ2017,S.30–38(S.30).

12 Vgl.u.a.Amnesty International, JointStatement:Turkey– stateof emergencyprovisionsviolatehumanrightsandshouldberevoked(EUR44/

bereitsan,denAusnahmezustandnichtzubeenden, solange die Notwendigkeit zumKampf gegen den Terrorismus bestehe.13 Dies legtdieAnnahmenahe:DerAusnah-mezustand wird zum Dauerzustand. Ge-rade in solchenZeiten ist eswichtig, dassderEuropäischeGerichtshoffürMenschen-rechte (EGMR) seinerÜberwachungsfunk-tionnachkommt.DazumussArt.15EMRKrestriktiv angewendetwerden. Dieser Bei-tragmöchtezumeinenaufzeigen,dassderEGMR dieser Funktion nicht nachkommt,sondern zurNormalisierung vonAusnah-mezuständenbeiträgt.ZumanderensollenHandlungsalternativenentwickeltwerden.

II. Sinn und Zweck von Notstands-klauseln

Art.15EMRKistnichtdieeinzigeDeroga-tionsklausel im internationalen Recht. ImGegenteil:DiemeistenMenschenrechtsver-träge beinhalten Notstandsklauseln,14 die sichgrundsätzlich imWortlautkaumvon-einander unterscheiden.15 Auch nationa-le Verfassungen enthalten normalerweiseähnlicheKlauseln.16 SolcheNotstandsklau-selnverkörperndieEinsicht,dassdieStaa-tenimFalleeinesNotstandesMaßnahmenergreifen können, welche die Menschen-rechteeinschränkenkönnen;zugleichwirddamitanerkannt,dassdieÜbergängezwi-schen vorübergehenden Maßnahmen zurWiederherstellung des Normalzustandesund dauerhafter unkontrollierbarerMachtfließendseinkönnen.17DeshalbsindDero-gationsklauseln als Ausnahmetatbestände

5012/2016),www.amnesty.org/en/documents/eur44/5012/2016/en/ (zuletzt besucht am20.Juli2017).

13 Vgl.(Fn.7).

14 Vgl. Art.30 ESC, Art.4 IPBPR, Art.27 AMRK,Art.4ArMRK.

15 Dinah L. Shelton, Advanced Introduction to In-ternationalHumanRightsLaw,2014,S.200.

16 Harris/O’Boyle/Warbick(Fn.2),S.618.

17 Ähnlich auch Christoph Ashauer,DieMenschen-rechteimNotstand.EineUntersuchungzudenVoraussetzungen der Derogation nach Artikel15 EMRK unter besonderer BerücksichtigungderFigurdesüberpositivenNotstandes,in:AVR2007,S.400–431.

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Kappler/Auerswald:DerEGMRunddieDerogationvonMenschenrechten 99

konzipiert – ausgehendvonderGrundan-nahme,dassNotstandslagenaußergewöhn-liche Ereignisse sind und stark von demNormalzustand abweichen.18 Einschrän-kungen werden dann in Kauf genommenund dadurch gerechtfertigt, dass sie tem-porär erfolgen und der Rettung der Ver-fassung dienen.19 Sinn und Zweck vonNotstandsklauseln istdaher,demStaat ei-nen ausreichenden Handlungsapparat fürKrisensituationen zur Verfügung zu stel-len, aber gleichzeitig die Wahrscheinlich-keit eines Machtmissbrauchs zu minimie-ren.20DiesemgrundsätzlichenPrinzipfolgtauchdieEMRK.DieStaatenkönnengemäßArt.15EMRKinAusnahmefällenvonihrenvertraglichen Rechten abweichen, sie ste-henallerdingsunterderinternationalenSu-pervisiondesEGMR.21Diesbedeutet,dassletztlichdieKonventionundnichtetwaderVertragsstaat selbst über den Eintritt desNotstandes entscheidet.22 Denn die Dero-gationvonMenschenrechten imSinnedesArt.15EMRKbedeutetnicht,dassdieVer-tragsstaaten nicht mehr an die EMRK ge-bundensindodernichtmehrderJurisdik-tiondesEGMRunterliegen.23

Zu beachten ist aber, dass das Recht imNotstandsfall den Ausnahmezustand aus-zurufen und Bestimmungen menschen-

18 Oren Gross, “OnceMoreunto theBreach”:TheSystemicFailureofApplyingtheEuropeanCon-ventiononHumanRightstoEntrenchedEmer-gencies, in: Yale Journal of International LawVol.23(1998),S.437–501(S.442).

19 Franziska Brachthäuser/Anton Haffner,DasKrisen-regimeinEuropaunddieRedevomAusnahme-zustand,in:KJ2017,S.19–29(S.24–25).

20 Oren Gross/Fionnuala Ni Aolin, FromDiscretionto Scrutiny: Revisiting the Application of theMarginofAppreciationDoctrineintheContextofArticle15oftheEuropeanConventiononHu-manRights,in:HumanRightsQuarterlyVol.23(2001),S.625–649(S.635).

21 Dazu auch ausführlichGross/Ni Aolin (Fn. 20),S.634–636.

22 So auch der EGMR: EGMR, Lawless ./. Irland, 332/57,Entscheidungvom1. Juli1961,Rn.43–44; EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Königreich, 14553/89; 14554/89, Entscheidungvom25.Mai1993,Rn.43.

23 Felix Weber, Die Europäische Menschenrechts-konvention und die Türkei, in: DÖV 2016,S.921–928(S.924).

rechtlicher Verträge zu derogieren zu denwichtigstenAusprägungenderStaatensou-veränität24 gehört und NotstandsklauselndaherhäufigvondenStaatenzurBedingungfürdenVertragsbeitritt gemachtwerden.25 SowirdderAusnahmezustandalsGrund-pfeiler derDemokratie imGegensatz zumAbsolutismus angesehen.26 Art.15 EMRKmuss daher so ausgelegt werden, dass ei-nerseitsdasstaatlicheSouveränitätsbedürf-nis durch ein Derogationsrecht befriedigtwirdundandererseitseinSchutzregimebe-steht, um Staaten davor zu bewahren, diein der EMRK geschützten Menschenrech-tenurallzuleichtzuumgehen.27Demwirdvor allemdurchdieMargin of Appreciation Rechnunggetragen,indemdenStaatenbeiderAnwendungderKonventionsrechteeinBeurteilungsspielraum zugestanden wird,weil diese besser geeignet seien, die Lageihrer Nation einzuschätzen.28 Im Ergebnisentstehtdaher stetseinSpannungsverhält-niszwischendersouveränenEntscheidungüber die Derogation und dem Schutz derMenschenrechte,welchesdurchdenEGMRausbalanciertwerdenmuss.29

24 Frederick Cowell,SovereigntyandtheQuestionofDerogation; An Analysis of Article 15 of theECHRandtheAbsenceofaDerogationClauseintheACHPR,in:BirkbeckLawReviewVol.1(2013),S.135–162(S.136).

25 Weber(Fn.23),S.922.

26 Stephen Humphrey, Legalizing lawlessness: onGiorgioAgamben’sStateofException,in:Euro-pean Journal of International Law 17 (2006),S.677–687(S.677).

27 Cowell(Fn.24),S.145.

28 Vgl.EGMRAksoy ./. Türkei, 21987/93,Entschei-dungvom18.Dezember1996,Rn.68:“[…]thenationalauthoritieswereinprinciplebetterpla-ced than the international judge todecidebothonthepresenceofsuchanemergencyandonthenatureandscopeofthederogationsnecessarytoavertit.“

29 SoauchJörg Künzli,ZwischenRigiditätundFle-xibilität:DerVerpflichtungsgradinternationalerMenschenrechte,2001,S.362.

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III. Derogation von Menschenrechten gemäß Art. 15 EMRK – Voraussetzungen und (fehlende) Kontrolle des EGMR

DemEGMRwirdzunehmendderVorwurfgemacht, seinerKontrollfunktionnicht ge-rechtzuwerden.30Umdieszuüberprüfen,soll die Rechtsprechungmit Blick auf denKontrollmaßstab der Richter*innen ana-lysiertwerden.DerBeitragfolgtderStruk-tur des Tatbestandes und analysiert dieAuslegungsowiedenPrüfungsmaßstabimRahmen der einzelnen Tatbestandsmerk-male.

1. Krieg oder öffentlicher Notstand

DamitVertragsstaaten überhaupt von denKonventionsrechten abweichen dürfen,musszunächsteinKriegodersonstigerNot-stand vorliegen. Die Konventionsstaatenhaben bisher stets auf dasVorliegen einesNotstandesverwiesen,inkeinemFallwur-de ein Kriegszustand geltend gemacht.31 Schon nach der allgemeinen Wortbedeu-tung sind solche Notstandslagen Ausnah-mezustände, also Abweichungen von derRegel;32 sie herrschen, wenn ein Normal-zustand nichtmehr vorliegt, insbesonderewenndie Institutionen,welcheNormalitätgarantieren sollen, kollabieren oder aus-geschaltetwerden.33

a) DerBegriffdesNotstandes

Diesem Bild ähnelt auch die DefinitiondesGerichtshofs:InLawlesshatderEGMRden Notstand, der das Leben der Nationbedroht, als eine außergewöhnliche undunmittelbar bevorstehende Krisen- undGefahrensituation definiert, die die Ge-

30 Ashauer (Fn. 17), S.420;Künzli (Fn. 29), S.377–378.

31 Jens Meyer-Ladewig/Christiane Schmaltz, in: JensMeyer-Ladewig/MartinNettesheim/StefanvonRaumer (Hrsg.), EMRK Handkommentar,4.Aufl.,Art.15,Rn.3.

32 Brachthäuser/Haffner(Fn.19),S.26;Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.644.

33 Günter Frankenberg,ImAusnahmezustand,in:KJ2017,S.3–18(S.6).

samtheitderBevölkerungbetrifftundeineBedrohungfürdasgeregelteLebenderdenStaatbildendenGemeinschaftdarstellt.34 Im Griechenland-Fall hat die Kommission einedavon abweichende Definition verwendetund strengeVoraussetzungen andasVor-liegen einesNotstandes aufgestellt: erstens mussderNotstandbestehenoderunmittel-barbevorstehen,wobeizuberücksichtigenist, dass der Ausnahmezustand – andersals im Internationalen Pakt über bürger-licheundpolitischeRechte(IPbpR)35–nichtnotwendigerweise zeitlich begrenzt seinmuss;36 zweitensmüssenAuswirkungenfürdiegesamteNationbestehen;drittens muss die Gefahrensituation eine Bedrohung fürdas organisierte Gemeinschaftswesen dar-stellen; und viertensmuss die Situation soaußergewöhnlich sein, dass normaleMaß-nahmen eindeutig unzureichend sind, umdieSicherheit,Gesundheit,unddieöffent-liche Ordnung zu gewährleisten.37 DieseDefinition hat der EGMR allerdings nichtübernommen,sondernstetsandie inLaw-lessentwickelteDefinitionangeknüpft.38

b) AuslegungdesBegriffesdurchdenEGMR

WährenddieDefinitiondesEGMRzunächstaufstarreKriterienundhoheAnforderun-gen hindeutet, wird bei einer detaillier-tenAnwendungderbisherigenRechtspre-chung sichtbar, dass die Richter*innendie Tatbestandsvoraussetzungen des Not-

34 EGMR,Lawless ./. Irland, (Fn.22),Rn.30.

35 Human Rights Council, General Comment 5,Rn.3; Ausführlich zur Derogation im IPbpRzudem:Sarah Joseph/Melissa Castan, The Interna-tional Covenant on Civil and Political Rights.Cases,MaterialsandCommentary,3.Aufl.2013,S.910–923.

36 Dies wurde im Fortgang auch nochmal durchdenGerichtshofbestätigt:EGMR, A. und Ande-re ./. Vereinigtes Königreich, 3455/05, Entschei-dungvom19.Februar2009,Rn.178.

37 EKMR, Regierungen von Dänemark, Norwegen, Schweden und die Niederlande ./. Griechenland, 3321/67, 3322/67, 3323/67und 3344/67,Kom-missionsberichtvom5.November1969,Rn.113.

38 Gross(Fn.18),S.457.Vgl.auchEGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Königreich, (Fn. 22),Rn.47.

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standsnurunzureichendüberprüfen.Dennin ständiger Rechtsprechung gesteht derGerichtshofdenVertragsstaateneinenwei-tenBeurteilungsspielrauminderFragezu,obeinNotstandvorliegt.39DiesistnachAn-sicht der Richter*innen dem Umstand ge-schuldet, dass die staatlichen Behördengrundsätzlich näher an den bestehendenVerhältnissenagierenundBedürfnisseda-her besser einschätzen können.40 Dem-entsprechend seien sie häufig auch besserinderLage, über dasBestehen einesNot-standes zu urteilen.41 Diese Annahme desEGMRkannbereitsgrundsätzlichinFragegestelltwerden,dennobwohldieFrage,obeinNotstandvorliegt,zunächstinnerstaatli-cherNaturist,42folgtdarausnichtdenknot-wendig, dass die staatlichen Institutionenauch besser in der Lage sind die Voraus-setzungen einer rechtmäßigen DerogationnachArt.15EMRKzubeurteilen.43Klarist,dass die staatlichen Institutionen unmittel-barundfortlaufendmitdenaktuellenVer-hältnissen in Verbindung stehen und des-halbauchgrundsätzlichgeeignetsindüberdasBesteheneinesNotstandeszuurteilen.44 Dennoch gibt es auch berechtigte Zwei-fel daran, dass der Vertragsstaat tatsäch-lichbessergeeignetistalseinunabhängigerGerichtshof,umzubeurteilen,obeinNot-standvorliegt.SowirdimSchrifttumetwadaraufhingewiesen,dassKrisensituationen

39 Der Beurteilungsspielraum ist keine exklusiveFigurdesArt.15EMRK.DieserBeitragmöchteaber zeigen, dass der Beurteilungsspielraumhier besondersweit ist. Für eine kritischeHin-terfragung der Konzepts siehe Carla M. Zoet-hout, MarginofAppreciation,Violationand(in)Compatibility:WhytheECtHRMightConsiderUsinganAlternativeModeofAdjudication,in:EuropeanPublicLawVol.20(2014),S.309–330.

40 Vgl.etwaEGMR,Brannigan und McBride ./. Ver-einigtes Königreich,(Fn.22),Rn.43.

41 Ebd.

42 Otto Wurst,DerSchutzderMenschenrechtenachderMRKinZeitendesNotstandes,in:JZ1967,S.483–485 (S.484);Eberhard Menzel,Notstands-gesetzgebung und Europäische Menschen-rechtskonvention,in:DÖV1968,S.1–10(S.6–7).

43 Soauch:Ashauer (Fn.17),S.420;Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.638–639.

44 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.43;siehedazuMeyer-Lade-wig/Schmaltz(Fn.31),Art.15,Rn.8.

Emotionen hervorrufen, welche die ratio-nale Dimension des öffentlichen Denkensbeschädigen können.45 Dies führe häufigdazu, dass rechtsstaatliche und demokra-tische Strukturen nicht mehr ausreichendberücksichtigt würden.46 Deshalb darf derBeurteilungsspielraumderVertragsstaatenauchunterBerücksichtigungdesTelosdesArt.15EMRKnichtunbegrenztsein.Staat-liches Handeln muss sich auch in Zeitendes Notstandes an den Konventionsrech-tenmessenlassen,sodassdieLetztkontrolleüberdasVorliegen einesNotstandesbeimGerichtshofverbleibenmuss.47

DieseKontrolleübtderGerichtshofaberauf-grund des weiten Beurteilungsspielraumsnichtaus.Deutlichwirddiesbeispielswei-seindemFallA. und Andere:NachdenAn-schlägenvom11.September2001gingdiebritische Regierung von einer akuten Be-drohungslagefürdasVereinigteKönigreichaus und erließ Notstandsgesetze, welcheunteranderemdiepräventiveInhaftierungausländischerTerrorverdächtigeraufunbe-stimmteZeit ermöglichten.48DerGerichts-hof urteilte, dass dieVoraussetzungen füreinen öffentlichen Notstand nach Art.15EMRK erfüllt seien, denn ein Staatmüssenichterstwarten,biseineschwereKatastro-phe oderKrisensituation eintrete, sondernkönne bei ausreichend sicherer Informa-tionslage bereits präventiv tätig werden.49 Zudem betonten die Richter*innen, dassder EGMR nur von der Entscheidung desHouse of Lords –welchesebenfallsmehrheit-lichentschiedenhatte,dasseineNotstands-lagevorliege–abweichenwürde,wenndas

45 Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.639.

46 Ebd.,dieetwadaraufhinweisen,dassMinder-heitenrechtebeisolchenNotstandsmaßnahmenbesondersgefährdetsind.

47 So zumindest theoretisch auch der EGMR:EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich (Fn. 22), wenngleich die Richter*innendieswohl insbesondere auf dieNotwendigkeitder Maßnahmen, nicht aber auf den Notstandselbstbeziehen.AusführlichdazuKrieger(Fn.1),Rn.7.Vgl.Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.627,welchedieKontrolledesEGMRebenfallsalstheoretischbezeichnen.

48 EGMR, A. und Andere ./. Vereinigtes Königreich, (Fn.36),Rn.90–97.

49 Ibid.,Rn.177.

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britischeGerichtArt.15EMRKbzw.dieda-mit verbundeneRechtsprechung falsch in-terpretierthätteoderzueineroffensichtlichunvertretbaren Schlussfolgerung gekom-mensei.50Dieszeigt,dassderEGMRnichtgewillt ist,dasVorliegeneinesNotstandestatsächlichzuüberprüfen.Zudemverpass-teereszukonkretisieren,wanneineInfor-mationslageausreichendsicher ist,umbe-reitspräventiveinenNotstandauszurufen.Einen anderen und weitaus überzeugen-deren Prüfungsmaßstab schien bereits dieEuropäische Kommission für Menschen-rechte(EKMR)anzulegen:ImGriechenland-Fall führte sie aus, dassdie Beweislast füreine solche Notstandslage bei der griechi-schenRegierunglagundbeanspruchte fürsicheinautonomesPrüfungsrecht.51

c) Schlussfolgerungen

Die bisherige Rechtsprechung zeigt, dassdieKontrolledesEGMRbeiderFrage,obein Notstand vorliegt, mangelhaft ist.52 Esistzwarrichtig,denStaatenbeiderBeurtei-lungderFrage, ob einStaatsnotstandvor-liegt,einenBeurteilungsspielraumzuzuge-stehen,weildiestaatlichenBehördennäherandenhiesigenVerhältnissensindundsichdaher grundsätzlich eignen, die Lage ein-zuschätzen. Gleichwohl darf der Gerichts-hof nicht pauschal auf einen weiten Be-urteilungsspielraum verweisen. Vielmehrmüssen die Richter*innen eine Einzelfall-überprüfung vornehmen. Insoweit solltesichderEGMRandenPrüfungsmaßstabderEKMRannähern:DieRichter*innenkönnennurdannauf einenBeurteilungsspielraumverweisen,wennderStaatschlüssiggeltendmachenkann,dasseinNotstandvorliegt.

50 Ibid.,Rn.174.

51 EKMR, Regierungen von Dänemark, Norwegen, Schweden und die Niederlande ./. Griechenland, (Fn. 37). Anders wohl Sebastian Wolf, Die po-litische Dimension der Notstandsklausel derEuropäischen Menschenrechtskonvention, inMatthias Lemke(Hrsg.),Ausnahmezustand,2017,S.257–270(S.264,267),derannimmt,dassauchderEGMReine„bemerkenswertePrüfungskom-petenzfürsichinAnspruchgenommenhat“.

52 SoauchGross/Ni Aolin (Fn.20),S.634.

Bedenklich ist zudem die Auffassung desGerichtshofs, dass die Staaten auch dazubefugtsind,präventiveinenNotstandaus-zurufen. Es ist verständlich, dass der Ge-richtshof den Staaten die Möglichkeiteinräumenmöchte,bereitsvoreinerKrisen-situation tätig zuwerden. Eine solcheAr-gumentationbirgtaberdieGefahr,dassdieAusnahmekonzeption des Art.15 EMRKnichthinreichendbeachtetwirdundMen-schenrechte leichtfertigaußerKraftgesetztwerden.SinnundZweckdesArt.15EMRKist, dassMenschenrechte nur in absolutenAusnahmefällen derogierbar sein sollen.Dies ist bei präventiven Notständen nichtgewahrt,sodassdieStaatenzunächstunterEinhaltungderGrund-undMenschenrech-teversuchenmüssen,dieSituationzukon-trollieren.

2. Notwendigkeit der einzelnen Maß­nahmen

ImRahmeneinesAusnahmezustandesdarfderVertragsstaatnurunterengenVoraus-setzungenunterVerweisaufArt.15EMRKRegelungen treffen, die von den Kon-ventionsrechten abweichen. Denn gemäßArt.15Abs.1EMRKmussdieAbweichungunbedingtnotwendigsein.53

a) GrundsätzlicheKonzeption

DerEGMRhatinständigerRechtsprechungfestgelegt,dassesandenRichter*innensei,zu prüfen, ob die konkreten Maßnahmenunbedingt notwendig sind.54GeprüftwirdalsodieVerhältnismäßigkeitdereinzelnenMaßnahmen.55 Im Rahmen der mehrstufi-genPrüfungwirduntersucht,obderStaatdie Situation auch durch andere mildereMaßnahmen hätte beherrschen können;56

53 Hierzu auch Meyer-Ladewig/Schmaltz (Fn. 31),Art.15,Rn.9.

54 Vgl. etwa EGMR, A. und Andere ./. Vereinigtes Königreich,(Fn.36),Rn.184.

55 Krieger(Fn.1),Rn.25.

56 Dazubereits ausführlichStein,DieAußerkraft-setzung von Garantien menschenrechtlicherVerträge, in: Ines Maier (Hrsg.), EuropäischerMenschenrechtsschutz,1982,S.134–147(S.144).

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erstwenndiesnichtderFallist,isteineDe-rogationmöglich.57IneinemletztenSchrittnimmtderEGMReineumfassendeAbwä-gungvor.58Notwendigsindzudemnursol-cheMaßnahmen,dieeineechteReaktionaufdie Notstandslage sind, die den besonde-renUmständenderNotstandslage gerechtwerdenundangemesseneSicherungenge-genMissbrauchvorsehen.59 Im Rahmen der PrüfungberücksichtigendieRichter*innentheoretisch eine Vielzahl von greifbarenFaktoren,vorallemdieNaturderRechte60,unddieEingriffsintensität,61 aber auchdieDauerdesNotstandes62unddieUmstände,diedenNotstandverursachthaben.63

b) KontrolldichtedesEGMR

Diese grundsätzliche Konzeption betontauchderEGMRinseinerRechtsprechung.So führendieRichter*innenbeispielsweisein Aksoyaus,dassdieVertragsstaatentrotzihresweiten Beurteilungsspielraums keineunbeschränkte Entscheidungsbefugnis ha-benund letztlichderGerichtshofentschei-det, obderStaat sich imRahmendernot-wendigenMaßnahmenbewegt.64Aberauchhierzeigtsich,dassderGerichtshofletztlichin dem konkreten Einzelfall zumeist nichtprüft,obdieMaßnahmenwirklichnotwen-digsind,umdieKrisensituationzubewälti-gen.DennauchbeiderPrüfungderVerhält-nismäßigkeit gesteht der Gerichtshof denMitgliedsstaateneinenweitenBeurteilungs-spielraumzu,sodassdiezuvorerarbeiteten,starren Kriterien weitgehend leerlaufen.65 SobejahtederEGMRindenFällenLawless,

57 Harris/O’Boyle/Warbick(Fn.2),S.635.

58 Krieger(Fn.1),Rn.28.

59 EGMR, A. und Andere ./. Vereinigtes Königreich, (Fn.36),Rn.184.

60 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.43.

61 Vgl.etwaEGMR,Aksoy ./. Türkei,(Fn.28),Rn.83.

62 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.43.

63 Ibid.,Rn.43.

64 EGMR,Aksoy ./. Türkei,(Fn.28),Rn.68.

65 Ähnlich Ashauer(Fn.17),S.421.

Irland ./. GroßbritanniensowieBrannigan und McBride,welchedieSituationinNordirlandbetrafen, dieNotwendigkeit der einzelnenMaßnahmen. InLawless etwa sahen es dieRichter*innen als vereinbar mit den Kon-ventionsrechten an, dass terrorverdächtig-tePersonenlängereZeitinhaftiertwurden,ohnesieeinemRichtervorzuführen.66 Ähn-lichargumentiertederGerichtshofauch inBrannigan und McBride.67HierzeigtsichdiegeringeKontrolldichtedesEGMR,dennhierwird nur pauschal auf den Beurteilungs-spielraumderStaatenverwiesen,ohnedassdie Richter*innen die von ihnen erarbeite-tenKriterientatsächlichinihreAbwägungeinfließen lassen. Die Weite dieses Beur-teilungsspielraumsistauchnichtabhängigvondenUmständendesNotstandes.68Diessoll exemplarisch am Beispiel der Dauerdes Notstandes und der Notstandslage inNordirlandaufgezeigtwerden:ZwarbetontderGerichtshofauchindemUrteil Branni-gan und McBride69,dassdieDauerdesNot-standes imRahmenderAbwägungzube-rücksichtigenist,dieseFeststellunghatdieRichter*innen allerdings nicht dazu bewo-gen,denBeurteilungsspielraumderStaateneinzuschränkenoderauchnuranderVer-hältnismäßigkeitderMaßnahmenzuzwei-feln.70VielmehrverwiesderGerichtshofnurdarauf, dassdieVertragsstaatenverpflich-tet seien,dieNotstandslage regelmäßigzuüberprüfen.71

Mit Blick auf den Beurteilungsspielraumbemühte der EGMR einen anderen Maß-stabindenFällenmitBezugzumKurden-

66 EGMR,Lawless ./. Irland,(Fn.22),Rn.31–38.

67 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.58–60.

68 Vgl.Krieger(Fn.1),Rn.10.

69 Ausführlich zu dem Urteil auch: Susan Marks, CivilLibertiesattheMargin:theUKDerogationand the European Court ofHuman Rights, in:Oxford Journal ofLegal StudiesVol. 15 (1995),S.69–95; Edward Crysler, Branningan and Mc-Bridev.U.K.–ANewGenerationonArticle15DerogationsundertheEuropeanConventiononHuman Rights?, in: Nordic Journal of Interna-tionalLawVol.65(1996),S.91–121.

70 Ähnlich Krieger(Fn.1),Rn.30.

71 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.65.

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konflikt inderTürkei: IndenFällenAksoy und Demir gegendieTürkeiverneintederGerichtshof die Erforderlichkeit der Maß-nahmen.Diesbegründeteerdamit,dassdieRegierungkeinegenauenGründedafüran-führen konnte, weshalb der Kampf gegendenTerrorismusdieEinschränkungderge-richtlichen Kontrolle der Anhaltung vonPersonen erfordert hätte.72 Im Fall Aksoy stellten die Richter*innen fest, dass nichtgesichertsei,dassdiegetroffenenMaßnah-men tatsächlich geeignet seien, den Nor-malzustand wiederherzustellen und hiel-tensiedaherfürunverhältnismäßig.73 Und auch imFallA. und AnderehatderEGMRdiekonkretenMaßnahmenfürunvereinbarmit derKonvention gehalten, da die briti-scheRegelungausländischeTerrorverdäch-tige gegenüber mutmaßlichen Terroristenmit britischer Staatsbürgerschaft diskrimi-niere.74

c) Schlussfolgerungen

Im Ergebnis ist eine deutliche DiskrepanzzwischendemWortlautderNormunddertatsächlichen Anwendung des EGMR er-kennbar.WährendderWortlautdesArt.15EMRK auf eine strenge Verhältnismäßig-keitsprüfung hindeutet, verweisen dieRichter*innenindenmeistenFällenaufei-nenweitenBeurteilungsspielraumderStaa-ten.EtwasandereskanninAnsätzennurindenFällenAksoy und Demirfestgestelltwer-den,wobeioffenbleibt,auswelchenGrün-denderGerichtshofhierscheinbareinehö-hereKontrolldichteangenommenhat.Diesführt gleichsam zu scheinbar willkürli-chen Prüfungsmaßstäben.75Hier kannAb-hilfedadurchgeschaffenwerden,dassdieRichter*innen die bereits vom Gerichtshof

72 EGMR, Aksoy ./. Türkei, (Fn. 28), Rn.83–84;EGMR, Demir u.a../.Türkei, 21380/93 u.a.,Entscheidungvom23.9.1998,Rn.49–50.

73 EGMR,Aksoy ./. Türkei,(Fn.28),Rn.78.

74 EGMR, A. und Andere ./. Vereinigtes Königreich, (Fn.36),Rn.190.

75 Vgl.auchGross/Ni Aolin (Fn.20),S.636,diedar-auf hinweisen, dassKrisensituationen sehr un-terschiedlichseinkönnenunddeshalbaucheineEinzelfallprüfungnotwendigist.

ausdekliniertenFaktoren76auch tatsächlichanwenden. Die Faustregelmuss lauten: JelängerderNotstandandauertundjeinten-siveringewichtigeRechtsgütereingegriffenwird,destokleinermussderBeurteilungs-spielraumderStaatensein.

3. Übereinstimmung mit sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen

Die von einemMitgliedsstaat im Falle ei-nes Staatsnotstandes getroffenen Maßnah-mendürfennachArt.15Abs.1EMRKnichtin Widerspruch zu sonstigen völkerrecht-lichen Verpflichtungen stehen. Zu beach-tenistnebendemzwingendenVölkerrecht,den Regeln des humanitären Völkerrechtsund den Genfer Konventionen insbeson-dereArt.4 IPbpR77,dereineamtlicheVer-kündung des Notstands voraussetzt.78 BeiArt.15 EMRK ist eine amtliche Verkün-dung hingegen nicht zwingend erforder-lich.79 Unterschiede bei den Tatbestands-voraussetzungen zwischen den sonstigenvölkerrechtlichen Verpflichtungen werdendadurch gelöst, dass auch die materiel-len Notstandsbefugnisse der EMRK sichanden engstenNotstandsklauseln aus an-deren einschränkenden Verträgen messenlassenmüssen.80DaraufistderEGMRabernur in Brannigan und McBrideeingegangen,indemer geprüft hat, obderNotstandof-fiziell verkündet werden muss.81 Hier be-tonte derGerichtshof, dass es nicht seinerAufgabeentspreche,dieBestimmungendes

76 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.43.

77 AlleMitgliedsstaatendesEuroparatessindauchVertragsparteiendesIPbpR.

78 Vgl.Krieger(Fn.1),Rn.31.

79 Robert Eser, in: Löwe-Rosenberg (Hrsg.), StPO,Bd.11,2012,Art.15EMRK/Art.4IPBPR,Rn.10.;EGMR,Lawless ./. Irland,(Fn.22),Rn.45–47.

80 Vgl.Eser (Fn. 79),Art.15 EMRK/Art.4 IPBPR,Rn.18.

81 EGMR,Marshall ./. Vereinigtes Königreich,41571/98,EntscheidungüberdieZulässigkeit;Bart Van Der Sloot, Is all fair inLoveandWar:AnAna-lysisoftheCaseLawonArticle15ECHR,Mili-taryLawandLawofWarReviewVol53(2014),S.319–358(S.336);Eser(Fn.79),Art.15EMRK/Art.4IPBPR,Rn.10.

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IPbpR auszulegen.82 Letztlich stellte er imWegeeinerPlausibilitätskontrolleeineEnt-sprechungdesFallszudeninArt.4IPbpRverwendetenTerminiherundließeineRe-gierungserklärungandasParlamentausrei-chen.83Wiebereitsfestgestellt,müssenhieraberdieengerenVoraussetzungengelten.84 InsofernmussauchvondenVertragsstaatenverlangtwerden, die Berufung aufArt.15EMRK amtlich zu verkünden; eine bloßeRegierungserklärung würde dann wie imFallBrannigan nichtmehrausreichen.Die-sesErforderniskönntezumeinenzueinerverstärktenöffentlichenWahrnehmungderNotstandserklärungführen;zudemkönntederEGMRdurcheinekonsequenteEinbin-dungandererinternationalerVerpflichtun-gen die Schutzdichte des Tatbestandes er-höhen.

4. Unterrichtung des Generalsekretärs

Das formelle Kriterium der Unterrichtungdes Generalsekretärs dient insbesonde-reals InformationderÖffentlichkeitsowieder anderen Vertragsstaaten.85 Form- oderFristerfordernisse zurBekanntmachungandenGeneralsekretärgibtderWortlautvonArt.15EMRKindesnichther.ImGriechen-land-FallwurdevonderEKMRlediglichderunbestimmteBegriffdervermeidbarenVer-spätung als Richtschnur angesetzt.86 DerEGMRhatesbisherfürausreichenderach-tet,wennderGeneralsekretär nach 12 Ta-gen über die Notstandsgesetze informiertwird;87verspätetwardieUnterrichtungso-garerstnach4Monaten88–eineklareLinie

82 EGMR,Brannigan und McBride ./. Vereinigtes Kö-nigreich,(Fn.22),Rn.72.

83 Ibid.,Rn.73.

84 Eser(Fn.79),Art.15EMRK/Art.4IPBPR,Rn.18.

85 EKMR,Zypern ./. Türkei,8007/77,Entscheidungvom12.Mai2014,Rn.67.

86 EKMR,Griechenland ./. Vereinigtes Königreich,176/56,EntscheidungüberdieZulässigkeit,Rn.158.

87 EGMR,Lawless ./. Irland,(Fn.22),Rn.47.

88 EKMR, Regierungen von Dänemark, Norwegen, Schweden und die Niederlande ./. Griechenland,(Fn.37),Rn.45–46.

ist hier nicht erkennbar. Zudembleibt dieRechtsfolge eines Verstoßes gegen Art.15Abs.3 EMRK bisher unklar.89 Im SinnederRechtsklarheitisterforderlich,dassderEGMRdieVoraussetzungenundRechtsfol-genderUnterrichtungdesGeneralsekretärskonkretisiert.

5. Schlussfolgerungen

Deutlich wurde, dass den Vertragsstaa-ten seit jeher sowohlbeiderEinschätzungdesVorliegensderNotstandslagealsauchbeiderNotwendigkeitdereinzelnenMaß-nahmen ein weiter Beurteilungsspielraumzugestandenwird.Dieserdefactodoppel-te Beurteilungsspielraum der Staaten lässtden Prüfungsmaßstab des EGMR zusam-menschrumpfen.ImErgebnismachtesdieaktuelle Rechtsprechung nahezu unmög-lich,eineEntscheidunggegendieVertrags-staatenzutreffen.90DerEGMRhatdiesbis-lang inKauf genommenundvornehmlichmit der Begründung gerechtfertigt, dassdieseEinschränkungennurtemporärerfol-gen.91 Diese Argumentation schlägt aller-dingsdannnichtdurch,wennAusnahme-zustände nicht mehr die Ausnahme sind,sondernzuDauerzuständenwerden.92 Mit seinerRechtsprechungträgtderEGMRda-her zu einerNormalisierung vonAusnah-mezuständen bei. Dies kannmit Blick aufdie zukünftige Entwicklung gravierendeFolgenhaben. Schon jetztwird imSchrift-tumzuRechtdaraufhingewiesen,dassdieDauer der Verfolgung des internationalenTerrorismusnurbegrenztkalkulierbarist,93

89 Vgl.hierzuausführlich:Matthias Maslaton,Not-standsklauseln im regionalen Menschenrechts-schutz, 2002, S.229–230, der zu dem Ergebniskommt, dass „[…] die StraßburgerOrgane dieFragenachderRechtsfolgeeinerVerletzungdesArt.15Abs.3EMRKbewusstoffengelassenha-ben.“

90 Gross (Fn. 18), S.497; Gross/Ni Aolin (Fn. 20),S.632.

91 Brachthäuser/Haffner(Fn.19),S.24–25.

92 Ähnlich Frankenberg(Fn.34),S.18,derdraufhin-weist, dass dieGrenze zwischendemAusnah-mefallunddemNormalzustandverschwimmt.

93 Krieger (Fn.1),Rn.30.

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106 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

wasinneuererZeitzuimmerlängerenNot-standslagengeführthat.94DerKampfgegenden Terrorismus kann allerdings für sichgenommen noch kein Grund sein, gemäßArt.15 EMRK von den Menschenrechtenabzuweichen.95 Vielmehr ist auch hier er-forderlich, dass der Terrorismus zu einemNotstandimSinnedesArt.15EMRKführt,denneineAbweichungistnurinextremenAusnahmesituationenmöglich.96Wirddie-se Voraussetzung nicht ernst genommen,drohtdieGefahr,dassmenschenrechtlicheGarantieninderheutigenZeitweitgehendleerlaufen.

IV. Ausnahmezustände als Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat

Ausnahmezuständestellendarüberhinauseine ernstzunehmendeGefahr für den de-mokratischenRechtsstaat dar.Krisensitua-tionenattackierendieGrundpfeilerunsererdemokratischen Gesellschaft.97 Ausnahme-zuständeunddiedamitverbundenenMög-lichkeiten, weitreichende Maßnahmen zuergreifen, können bei Vorliegen einer Ka-tastrophe zunächst beruhigend wirken.98 Der Staat signalisiert den Bürger*innen,dasserMaßnahmenergreift,umdenNor-malzustandwiederherzustellen.99 Zugleich weisteraufdieMöglichkeithin,dassmög-licherweise Maßnahmen ergriffen wer-den,dieaußerhalbseinerMachtbefugnisseliegen.100 Aber: Je länger der Ausnahme-zustanddauert,destogrößeristdieGefahrsowohl fürdenSchutzderMenschenrech-tealsauchfürdendemokratischenRechts-staat.101Menschenrechtesindohnehinanfäl-

94 SobeispielsweiseinFrankreich,vgl.umfassenddazuWihl,DerAusnahmezustandinFrankreich,in:KJ2017,S.68–80.ÄhnlichauchGross(Fn.18),S.455–456.

95 SoauchDavid Harris/Michael O’Boyle/Colin War-bick(Fn.2),S.623.

96 SoauchGross/Ni Aolin (Fn.20),S.644.

97 Ibid.(Fn.20),S.637.

98 Gross(Fn.18),S.438.

99 Frankenberg(Fn.33),S.4.

100 Ebd.,Susan Marks(Fn.69),S.72.

101 Brachthäuser/Haffner(Fn.19),S.24.

ligfürInterventionenundVerletzungen;102 diesgiltumsomehrinKrisensituationen.103 DiedauerhafteDerogationvonMenschen-rechtenhatdeshalbaucheinengroßenEin-flussaufdendemokratischenRechtsstaat.104 Die Grund- undMenschenrechte sind Ba-sis unseres friedlichen Zusammenlebensund begrenzen in einem demokratischenRechtsstaat die Staatsgewalt.105 Dies giltauchfürdieEMRK,dennauchdieKonven-tionstellteineverfassungsrechtlicheMate-riedar,indemsiedieAusübungöffentlicherGewaltbegrenzt.106Dahergehtvonstaatli-chenAusnahmemaßnahmengrundsätzlichdie Gefahr aus, dass sie missbraucht undüberdehnt werden.107 So dienen Ausnah-mezuständenichtnurdazu,Krisensituatio-nen zu beherrschen, sondern können bei-spielsweiseauchimDiensteeinerDiktaturstehen.108Esbestehtnurein schmalerGratzwischen der Funktion derWiederherstel-lungdesNormalzustandesundunkontrol-lierbarerMachtderStaatsorgane.109GeradedeshalbisteineeindeutigeBestimmbarkeitder Modalitäten des Ausnahmezustandesnotwendig.DennallzuflexibleDefinitionenundVoraussetzungengestattetendenstaat-lichenBehörden einen sehrweitenErmes-sensspielraumzu,ohnejedochgewisseKri-terien oder Leitlinien zu bestimmen.110 Es

102 Gross(Fn.18),S.454.

103 Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.627.

104 Brachthäuser/Haffner(Fn.19),S.24.

105 AusführlichhierzuHarris/O’Boyle/Warbick(Fn.2),S.618.

106 Anne Peters/Tilmann Altwicker,EuropäischeMen-schenrechtskonvention,2.Aufl.2012,§2,Rn.10.

107 Rüdiger Voigt,Ausnahmezustand.WirddieSta-tue der Freiheit nur kurzzeitig verhüllt, oderwird sie aufDauer zerstört?, in: Voigt (Hrsg.),Ausnahmezustand,CarlSchmittsLehrevonderkommissarischenDiktatur,S.9–18(S.9).

108 Frankenberg (Fn. 33), S.5–6, der unter Verweisauf historische Beispiele eindrucksvoll daraufaufmerksam macht, dass AusnahmezuständeauchfürethnischeSäuberungenoderpolitischenMachterhalt genutzt werden; Wurst (Fn. 42),S.483–484.

109 Ashauer (Fn.17),S.400.Ausführlichdazuauch:Klein, in: Isensee (Hrsg.),HandbuchdesStaats-recht,S.936–937;Gross/Ni Aolin (Fn.20),S.644.

110 Gross(Fn.18),S.438.

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Kappler/Auerswald:DerEGMRunddieDerogationvonMenschenrechten 107

wurdeaufgezeigt,dassderEGMRdiestar-ren Kriterien nicht ernst nimmt, sonderndenStaatenstetseinenweitenBeurteilungs-spielraumzugestehtundeineKontrolleda-durchnahezuunmöglichgemachthat.Einumfassender Schutz des demokratischenRechtsstaates und der Menschenrechte ist damitnichtgewährleistet.

V. Ausblick und Fazit

Auch in Zeiten des Terrorismus sind Rechtsstaatlichkeit und MenschenrechtedieGrundpfeiler unsererDemokratie. DerGerichtshofmussdemnach–entgegensei-ner bisherigen Praxis – gerade in ZeitenstetigverlängerterAusnahmezuständesei-ner Kontrollfunktion nachkommen. Dazuisterforderlich,dassderEGMRseineKon-trolldichteerhöht:Esistrichtig,denStaatensowohlbeiderFrage,obeinNotstandvor-liegt als auch bei der Verhältnismäßigkeit

derEinzelmaßnahmen einenBeurteilungs-spielraum zuzugestehen. Dessen UmfangistjedochjenachUmständendesEinzelfallszu variieren.Mit Blick auf dieGefahr derDauerzuständemussderBeurteilungsspiel-raumderStaatenmitzunehmenderDauerimmerengerwerden.AußerdemistimSin-ne einer klareren Übereinstimmung mitArt.4IPbpRdieForderungnacheineramt-lichen Verkündung durch die Richter*in-nenwünschenswert.ZurzeitträgtauchderEGMRdurchseinefehlendeÜberwachungvonStaatsnotständenunddendazugehöri-genMaßnahmendazubei,dassNotständezuakzeptiertenDauerzuständewerden.Esist angesichts der Fülle von Staatsnotstän-dennureineFragederZeit,bisdemEGMRneue Fälle zur Entscheidung vorliegen.DannistesanderZeit,dassderEGMRdiestarrenVoraussetzungendesArt.15EMRKunddie ihmübertrageneKontrollfunktionernstnimmt.

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108 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

Menschenrechte als Grundwert der georgischen VerfassungAnna Phirtskhalashvili

InhaltsübersichtI. EinführungII. Auslegung von Art. 6 Abs. 2

der georgischen Verfassung und die rechtlichen Garantien hinsichtlich der „allgemein anerkannten Vorschriften und Prinzipien“

III. Die Universalität der Menschenrechte, Relativismus und Konsenstheorie – „Der relative Universalismus“

IV. Schlussfolgerung

I. Einführung

Wie die Verfassungsrechtsgeschichte be-weist, wurden im 19./20. Jahrhundert indenVerfassungenvielereuropäischerLän-der–unterdiesenVerfassungenwarauchdie Verfassung Georgiens von 1921 – dieMenschenrechte anerkannt und garantiert.Auf internationaler Ebenewurden sie erstspäter,nachdemZweitenWeltkrieg,aner-kannt.AmEndedes20.JahrhundertsschufdienationaleGesetzgebung–darunterauchdie Verfassung – neue Standards.Auf dieEntwicklung des Konstitutionalismus ha-bendieallgemeinanerkanntenVorschriftenund Prinzipien des internationalen RechtseinenstarkenEinflussausgeübt.

Obwohl inGeorgiendieEuropäischeKon-vention zum Schutz der MenschenrechteundGrundfreiheitenhierarchischnachderVerfassung, dem Verfassungsgesetz undVerfassungsvertrag kommt, bekundet diegeorgische Verfassung, dass die nationaleGesetzgebung –darunter auchdieVerfas-sung – „den allgemein anerkannten Vor-schriften und Prinzipien des internationa-len Rechts“1 entspricht. Auf die Frage, obsich die Verfassung oder „die allgemeinanerkannten Vorschriften und Prinzipien

1 Art.6Abs.2VerfassungGeorgiens.

des internationalen Rechts“2 in der Quel-lenhierarchiedesVerfassungsrechtsaufderhöchsten Position befinden, gibt es nichtnurindergeorgischen,sondernauchinderausländischen Rechtsliteratur unterschied-licheMeinungen.IndieserHinsichtsinddieMeinungen einiger Autoren interessant3.Siebehaupten, dass die imArtikel 7 derVer-fassungvorgesehenenMenschenrechteundFreiheiteninGeorgiendirektundunmittel-bar anwendbar sind. Bei der Bestimmungder Vorschriften und Prinzipien der Ver-fassungsinddasVolkundderStaatsowohlmitdenallgemeinanerkanntenMenschen-rechten und Freiheiten, als auch mit demunmittelbargeltendenRechteingeschränkt.Der Autor meint, ungeachtet dessen, obdie allgemein anerkanntenMenschenrech-te und Freiheiten in dem innerstaatlichenRechtsaktreflektiertsind,müssensiedurchdenStaatgeschütztsein.Jedochbleibteineoffene Frage: Was wird geschehen, wenndie Verfassungsnorm und die allgemeinanerkannten Menschenrechte miteinanderinKollisiongeraten?

Manche georgische Autoren4legendasPri-mat auf die Hauptkomponenten des in-ternationalen Rechts – den Platz des Ge-

2 Ebd.

3 Iakob Putkaradze,DieallgemeinanerkanntenVor-schriften und Prinzipien des internationalenRechtsundderSchutzderpolitisch-wirtschaft-lichenund sozio-kulturellenRechtederBürgervordemVerfassungsgericht,„DerMenschunddieVerfassung“,1998,S.3.[i.futkaraZe,saerTa-Soriso samarTlis sayovelTaod aRiarebuli nor-mebidamoqalaqeTapolitikur-ekonomikurida-socialur-kulturuli uflebebisa da Tavisuflebebisdacva saqarTvelos sakonstitucio sasamarTloSi,„adamianidakonstitucia“,1998,gv.3].

4 Konstantine Korkelia, Internationales Gewohn-heitsrechtimgeorgischenRechtsystem,GeorgienundinternationalesRecht,2001,S.62–80.[k.kor-kelia, saerTaSorisoCveulebiTisamarTalisaqar-Tvelos samarTlebriv sistemaSi, saqarTvelo dasaerTaSorisosamarTali,Tb.,2001,gv.62–80].

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Phirtskhalashvili:MenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung 109

wohnheitsrechts in der Hierarchie desVölkerrechts – und ziehen so gegensätz-liche Schlussfolgerungen. Nach Meinungvon K. Korkelia5 gilt: Weil Art.7 der ge-orgischen Verfassung keine EntscheidungüberdasVerhältnisdesinternationalenGe-wohnheitsrechtszudenandereninnerstaat-lichenRechtsaktentrifft,mussaufdieVor-schriftendieserKategorieArt.6Abs.2dergeorgischen Verfassung angewendet wer-den. Internationales Gewohnheitsrecht er-langt vorrangige Rechtskraft gegenüberden innerstaatlichen Normativakten vonGeorgien. Wenn sie gegen das internatio-nale Gewohnheitsrecht verstoßen würde,müsste die innerstaatliche Norm aufgeho-benodergeändertwerden.

Die Arbeiten georgischer Autoren behan-delnauchdieVorrangfrageder internatio-nalenVerträge gegenüber dem innerstaat-lichen Recht.6 Die Autoren meinen: Art.6Abs.2 der georgischen Verfassung bevor-zugt die internationalen Verträge gegen-überdeninnerstaatlichenRechtsakten,abernichtgegenüberderVerfassung.Hiermussunbedingterwähntwerden,dassdieAuto-rendieinternationalenVerträgeunddieall-gemeinanerkanntenVorschriftenundPrin-zipien voneinander trennen, insbesonderenachdemKriterium,dassbeidemvölker-rechtlichen Vertragsabschluss der Staats-wille klar und eindeutig ist. Nach denallgemein anerkannten Vorschriften undPrinzipienentscheidetsichderStaatnicht,ob er sich an die genannten „VorschriftenundPrinzipien“anschließenwill.DieMei-nungvonI.Kurdadzeweichtdavonab;sieistmitKorkelianichteinverstandenindemSinne,dassdasPrimatdes internationalen

5 Ebd.

6 Irine Kurdadze,DieEntwicklungsphasenunddieModernitätdesKonzeptsvonderGleichstellungderinternationalenundinnerstaatlichenRechte,Die Zeitschrift der internationalen Rechte, #1,2008,S.7–17;[i.qurdaZe, saerTaSorisodaSidasa-xelmwifoebrivisamarTlisTanafardobisSesaxebmecnieruli koncefciebis ganviTarebis etapebida Tanamedroveoba, saerTaSoriso samarTlisJurnali, #1, 2008, gv. 7 – 17]; Putkaradze (Fn. 3); Paata Cnobiladze, Die Zusammenarbeit der na-tionalenGesetzgebungunddes internationalenRechts, ebd., S.48–61. [p. cnobilaZe, erovnulikanonmdeblobisadasaerTaSorisosamarTlisur-TierTqmedeba,iqve,gv.48–61].

Rechts, nämlich die allgemein anerkann-ten Vorschriften und Prinzipien (darunterauch die Vorschriften, die Menschenrech-teschützen),aufeinerniedrigerenPositionstehen als die georgischeVerfassung und,dassbeieinerKollisiondieVerfassungbe-vorzugtwerdenmuss.7 Ihre Argumente da-hingehend8, dass die in Art.6 Abs.2 dergeorgischenVerfassungverwendetenWör-ter „entspricht der Gesetzgebung“ meint,dass die georgische Verfassung immerundnichtnurbeiderVerabschiedungvonGesetzen diesem Grundsatz entsprechensoll, sind überzeugend. Die GesetzgebungunddasGrundgesetzmüssennämlichdenallgemein anerkannten Vorschriften undPrinzipien des internationalen Rechts ent-sprechen. Diese Wortauslegung von „ent-spricht“kannmitfolgendemArgumentbe-kräftigtwerden:Die Rechtsnorm – sowiedieganzeRechtswissenschaft–istpräskrip-tiv, also beschreibt die Rechtsvorschriftnichtwieetwasist,sondernwieesseinsoll.EsbedeutetindemFall,dassdiegeorgischeVerfassungnichtnurdemStatusquo„ent-spricht“, den allgemein anerkannten Vor-schriften und Prinzipien des internationa-len Rechts, sondern es stellt fest, dass dieVerfassung den genannten Prinzipien im-mer„entsprechen“soll.

Es ist bemerkenswert, dass in der georgi-schenRechtsliteraturkeineForschungoderDiskussion darüber vorliegt, was genau„die allgemein anerkannten VorschriftenundPrinzipiendesinternationalenRechts“bedeuten und wann, wo und für wen siegelten. Das heißt, dass die Frage darüber,wasdergeorgischenVerfassungentspricht,ohneAntwortbleibt.

7 Fn.6,S.16.

8 Ebd.

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110 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

II. Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der georgischen Verfassung und die rechtlichen Garantien der „allgemein anerkannten Vorschriften und Prinzipien“

IndieserArbeitwird versuchtdarzulegenund zu analysieren, was unter den „all-gemeinanerkanntenVorschriftenundPrin-zipien des internationalen Rechts“ (Art.6Abs.2georgischerVerfassung)gemeintist,denen auch die georgische GesetzgebungunddiegeorgischeVerfassungentsprechenmüssen.

Grammatikalischeund logischeAuslegun-gen der Definition [„die allgemein aner-kanntenVorschriftenundPrinzipiendesin-ternationalen Rechts“] sind interessant. Esistwahr, dass es im internationalenRechtkeine genaue Liste der Vorschriften undPrinzipiengibt,dieallgemeinanerkanntist,abernachderherrschendenMeinung9 ist es unstrittig, dass das allgemeineGewaltver-bot,dasVerbotdesVölkermordesunddasRecht auf Einhaltung der grundlegendenMenschenrechte als zentrale Bestandtei-ledesVölkerrechtsgelten.Esistklar,dassdasZieldererstenzweiPunktedenSchutzdes kollektiven Menschenrechts fördert.Derdrittebeinhaltet aberdieGrundrechtedeseinzelnenMenschen.Dasinternationa-leRechtgibtsolchenVorschriftenundPrin-zipiendieKraftvonIuscogens,alsozwin-gendes und imperatives Völkerrecht.10 EsstehthöheralsinternationaleVerträgeunddas internationale Gewohnheitsrecht. DervölkerrechtlicheVertrag,dernichtinterna-tionalen Vorschriften und Prinzipien ent-spricht,kanndeswegennichtalsinternatio-nal anerkanntes Dokument angenommenwerden.11Weil„dieallgemeinanerkanntenVorschriften und Prinzipien des interna-tionalen Rechts“ die Kraft von Ius cogensaufweisen, führt uns die ausführliche Er-klärung vonArt.6 Abs.2 der georgischen

9 Christian J. Tams, Schwierigkeitenmit dem IusCogens, in: Archiv des Völkerrechts 40 (2002),S.331–349.

10 Jost Delbrück, Georg Dahm und Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, Band I, De Gruyter, 2. Aufl. 2002,S.707ff.

11 Fn.10.

Verfassung zu folgendem Schluss: „Dieallgemein anerkannten Vorschriften undPrinzipiendesinternationalenRechts“,de-nendiegeorgischeVerfassungentsprechenmuss,entsprechendemSchutzderkollekti-venundindividuellenMenschenrechte.

Von den vier klassischen Methoden derVerfassungs-undGesetzesauslegungwirdmeistens die systematische Auslegung an-gewendet. Es handelt sich um eine Aus-legungimLichtedesZusammenhangsderVerfassungsbestimmungen. Bei der Aus-legung der Verfassungsnormen ist dieseAuslegungsmethode am verbreitetsten.12 Art.6 Abs.2 der georgischen Verfassunggehörtzudem1.Teil (AllgemeineBestim-mungen) der Verfassug. Diese Vorschriftist nicht nur formal, sondern auch inhalt-lich ein allgemeiner Grundsatz der Ver-fassung, also Lex generalis. Ihrerseits ver-zweigtsiesichkonsequentinverschiedenekonkrete Bestimmungen der Verfassung.Es muss erwähnt werden, dass jede Vor-schrift,währenddesGebrauchs der syste-matischenAuslegungsmethode,imZusam-menhang von gleichen oder hierarchischhöheren Vorschriften ausgelegt werdensoll.ZuerstsollsieinVerbindungmitande-renallgemeinenBestimmungenderVerfas-sung interpretiert werden. Eine besondersengeVerbindunghatsiezurPräambeldergeorgischenVerfassungundzuderinArt.7dergeorgischenVerfassunganerkanntenBestimmung.Nachder Präambel derVer-fassung gilt:

„Wir, Bürger Georgiens, deren unerschüt-terlicher Wille es ist, eine demokratische Ge-sellschaftsordnung zu begründen und wirt-schaftliche Freiheit einzuführen sowie einenSozial- und Rechtsstaat aufzubauen, die all-gemeinanerkanntenMenschenrechteundFrei-heiten zu gewährleisten, die staatliche Un-abhängigkeit und die friedlichen BeziehungenzuanderenVölkernzustärken“.

Ein ähnlicher Leitgedanke zeigt sich auchim 7. Teil der Verfassung. In diesem Teilheißtes:

12 Reinhold Zippelius, DasWesendesRechts,1997,Kap.8d.

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Phirtskhalashvili:MenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung 111

„DerStaatbekenntsichzudenallgemeinaner-kanntenMenschenrechten und Freiheiten undschütztsiealsdiehöchstenundunabdingbarenmenschlichen Werte. Bei der Ausübung derMacht bindendieseRechteundFreiheitendasVolk und den Staat als unmittelbar geltendesRecht“.

WennmandiesegrundlegendenVorschrif-ten im Zusammenhang liest, wird klar,dassdiegeorgischeVerfassungimGanzen„den allgemein anerkannten VorschriftenundPrinzipiendesinternationalenRechts“(Art.6Abs.2)entspricht.Dabeiistesgera-dedieFunktiondesArt.6Abs.2dieseZiel-setzung der georgischenVerfassung deut-lichzumachen.DieVerfassungerkenntdieMenschenrechte offensichtlich als höchsteundunabdingbareWerteanundmachtdaspositive Recht (die Verfassung) davon ab-hängig.DerVerfassungsgeberschützt„dieallgemein anerkannten MenschenrechteundFreiheiten“mitderPräambelundgibtihmdurchArt.6Abs.2dieKraftvonIusco-gens.

EsmussderhistorischeKontextderNormberücksichtigtwerden.WieSavignymeinte,dasRechtseiderAusdruckdesMenschen-geistesunddieseVerbindunghabesichimZusammenhang mit dem Menschenver-stand mit den Zeiten gehalten, d.h., dasRecht entwickelte sich mit den Menschenzusammen.13

DieVerfassungsgebunginGeorgienistmitdem historischenÜbergangsprozess, näm-lichmit demZerfall der Sowjetunion, engverbunden. Genau aufgrund dieses wich-tigen historischen Ereignisses wurde be-schlossen, eine Verfassung für einen mo-dernenStaatzuentwerfen.DieVerfassung,dieam24.August1995inKraftgesetztwur-de, ist das Echo des georgischen Volkes.Dieses protestierte gegen die kommunis-tischeDiktaturundbeschloss,zudereuro-päischen Zivilisation und den westlichenWerten zurückzukehren. Deswegen sinddie Rechtsprinzipien und Bestimmungen,diedieMenschenrechtegarantieren,indergeorgischenVerfassunghervorgehoben.Es

13 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsererZeit fürGesetzgebungundRechtswissenschaft,1814,S.11.

bestehtkeinZweifeldaran,dassdiehistori-sche,politischeundrechtlicheReife soeinwertvolles Dokument geschaffen hat, wiees die heutige georgische Verfassung ist.Die historischen und teleologischen Aus-legungenvonArt.6Abs.2dergeorgischenVerfassung stehen in engem Zusammen-hang. Der Verfassungsgeber wollte, dassdiegeorgischeVerfassungmit imperativerKraftmitden„allgemeinanerkanntenVor-schriftenundPrinzipien“verbundenwird.Mit dem 7. Artikel der Verfassung wur-den die Grundprinzipien des Naturrechtsanerkannt. Die Angst des Verfassungs-gebers vor der „Positivität“ des Rechts istverständlich: Die siebzigjährige Geschich-tehatklardargestellt,dassdasRechtssys-tem vom kommunistischen Regime miss-brauchtwurde.UnddasistmitderIdeederGerechtigkeitnichtvereinbar.Daspolitischdiktatorische Regime hat die „kommunis-tische“Gesellschaftvonderanderen,west-lichen Gesellschaft stark abgehoben. DiesführtezueinerinternationalenIsolationGe-orgiens (wie auchvonanderenpostsowje-tischenLändern).Art.6Abs.2 der georgi-schenVerfassung,welcherdergeorgischenGesetzgebungund(darunterauchdieVer-fassung)den„allgemeinanerkanntenVor-schriften und Prinzipien des internationa-len Rechts“ entspricht, ist der offene undlauteProtest.InfolgederhistorischenErklä-rung dieser Aufzeichnung wird der Geistder Vorschrift klar. Daher lässt sich fest-stellen, dass das Ziel der erwähnten Vor-schrift (teleologische Auslegungsmethode)darin besteht, dassGeorgien zumTeil derwestlichen Gesellschaft wird. Der georgi-scheStaatsollsichbedingungslosundim-perativdenWertenunterwerfen, die „denallgemein anerkannten Vorschriften undPrinzipiendesinternationalenRechts“ent-sprechen.

Dielogische,systematische,historischeundteleologischeAuslegungdesobengenann-tenVerfassungsabsatzes zeigt: Die Verfas-sung Georgiens ist von naturrechtlichenGrundprinzipiengeprägt.NachdemArt.6Abs.2 der georgischenVerfassung soll siesogar den „allgemein anerkannten Vor-schriften und Prinzipien des internationa-lenRechts“entsprechen,diedenSchutzderkollektiven und individuellen Menschen-

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112 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

rechteergeben.„DieallgemeinanerkanntenVorschriftenundPrinzipiendesinternatio-nalen Rechts“ haben ihrerseits imperativeKraft(ungeachtetdessen,obeseinTeildesVertragesist).EsisteindeutignachderobenausgeführtenAuslegung,dassArt.6Abs.2der georgischen Verfassung den Haupt-wertfürdieVerfassungundGesetzgebungdarstellt.14 Alle diese Argumente, Diskus-sionen und Schlussfolgerungen machendeutlich:Erstens,diegeorgischeVerfassunggarantiert die international anerkanntenMenschenrechteaufVerfassungsebene,undzweitens,sieistkonzeptionellaufderUni-versalitätderMenschenrechtebasiert.

Der Schutz derMenschenrechte hat schondie Barriere überwunden15, die den Men-schenrechtschutz nur für innerstaatlicheAngelegenheitenhielt,darüberaufvölker-rechtlicher Ebene zu sprechen, wurde alsVerletzungderstaatlichenSouveränitätbe-trachtet.ImUnterschiedzumtraditionellenVerständnissindimmodernenVölkerrechtdie Menschenrechtstandards die Visiten-kartederStaaten.DieIndividualbeschwer-de (z.B. an den Europäischen Gerichtshoffür Menschenrechte) etabliert das Men-schenrecht als das Recht des Individuumsauf internationalerEbene.DerEinzelne istnichtnurTeildesStaates,Staatsbürger,son-dernauchderTrägerderMenschenrechte,weilereinMenschundnichtderBürgerir-gendeinesStaates ist.16Hiermusserwähntwerden,dasstrotzdesenormenWachstumsdes Mechanismus des internationalen Men-schenrechtsschutzes die internationaleGa-rantie der Menschenrechte einige Schwä-chen aufweist; davon sind die folgendendreizubeobachten:

14 Anna Phirtskhalashvili, Schutzpflichten und diehorizontaleWirkung vonGrundrechten in derVerfassung Georgiens vom 24. August 1995,Potsdam2010,S.94ff.

15 Während des Zweiten Weltkriegs, nach demVölkermord durch die National-Sozialisten,habensichdieVorstellungenderMenschenbe-treffend der fundamentalen Rechte und ihren Garantiengeändert.

16 DermodernenormativeUniversalismusbasiertgenau auf dieser Argumentation. Vgl.: Heiner Bielefeldt, DerAnspruchderAllgemeinenMen-schenrechtserklärung.In:VeronikaBock(Hrsg.),DieWürdedesMenschenistunantastbar?,S.20.

Die erste Schwäche: Auf internationaler EbenekannsichdasIndividuuminderRe-gel nur dann verteidigen,wenn der Staat,derseineRechtevermutlichverletzthat,ei-nen konkreten internationalen Vertrag ra-tifiziert hat.Damithat er sichverpflichtet,eine Konvention oder irgendeine interna-tionale Verpflichtung zu erfüllen. Die Ra-tifizierung internationaler Verträge erfolgtinderRegelfreiwillig,weilsichschließlichder Staat entscheidet, ob er an dem inter-nationalen Schutzversuch der Menschen-rechte teilnimmt.DaherkannderEinzelnedenStaatwegendesVerstoßesgegenseineRechte nicht international anklagen,wennvondemStaatkeinbestimmter internatio-nalerVertragratifiziertwurde.

Die zweite Schwäche des internationalen Menschenrechtsschutzes: Obwohl interna-tionale, insbesondere europäische und in-ter-amerikanische Menschenrechtgerichts-höfe,sehreinflussreichsind,gibteskeinenwirksamen internationalen Mechanismus,der alle ihre Entscheidungen ausführt.17 Hiermusserwähntwerden,dassinderPra-xismeistensEntscheidungendieserGerich-te von den Staaten ausgeführtwerden. Esgibt aber Fälle, in denendie Staaten dieseEntscheidungennichterfüllen.Esbestehenzwar eine Reihe von Sanktionen, aber derEuroparatbesitztkeinenwirksamenMecha-nismus, durch den er die EntscheidungendereuropäischenGerichteselbsterzwingt.FürdieseAusführungderEntscheidungistderStaatselbstbevollmächtigtundverant-wortlich. In solchenFällenkann selbstdieformale Beteiligung des Staates an eineminternationalen Vertrag, einem internatio-nalen Mechanismus, keinen wirksamenSchutz für einen konkretenMenschen ga-rantieren.

Die dritte Schwäche besteht darin, dassjeder konkrete Staat die Hierarchie derRechtsnormen für sich selbst bestimmt.DementsprechendistdieStellungeinesin-ternationalenPakteszueinerVereinbarungin der innerstaatlichen Rechtshierarchie

17 Nach den Fakten der Nichterfüllung der Ge-richtsentscheidung von Russland siehe Olaf Melzer, DerEuroparatundRussland1992–2006:Demokratieförderung in Russland, S.172–174,S.288.

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Phirtskhalashvili:MenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung 113

unterschiedlich. Während beispielsweisedie Europäische Menschenrechtskonven-tion indenNiederlandenüberderVerfas-sung steht und in Österreich verfassungs-rechtlichen Status genießt, steht sie inGeorgien(wieauchinFrankreich,Portugal,BelgienundGriechenland)inderHierarchiederRechtsnormennachderVerfassung(sowiedemVerfassungsgesetzundderVerfas-sungsvereinbarung),aberüberanderenna-tionalen Gesetzen. In der BundesrepublikDeutschlandundinItalienstehtjedochdieKonventionaufderEbenederüblichenGe-setzeundwirdnichtalshöhereRechtsnormangesehen.InGroßbritanien18warbis1998diedirekteAnwendungderKonventionimnationalenRechtüberhauptnichterlaubt.

Obwohl es auf der internationalen Ebenerecht erfolgreiche Sicherungversuche derMenschenrechte gibt, ist die internationa-leGesellschaftnochweitvondervollkom-menenundrealenGarantiederMenschen-rechte entfernt. Die praktischen Garantiender Menschenrechte zu erreichen, ist nurdannmöglich, wenn die theoretische Dis-kussion solcher Rechte mindestens aufüberzeugendenArgumentenbasiert.

WieschonbeiderInterpretationvonArt.6Abs.2der georgischenVerfassung imers-ten Teil dieses Beitrags ausgelegt wurde,basiert die georgischeVerfassung konzep-tionellaufderUniversalitätderMenschen-rechte.DahersinddieAnalyseundBewer-tungdieserTheorieinteressant.

III. Die Universalität der Menschen-rechte, Relativismus und Konsenstheorie – „Der relative Universalismus“

1. Die Universalität der Menschenrechte

Universalität bedeutet, dass der gleicheunduniverselleSchutzderMenschenrechtetheoretischüberall,injedemStaatderWelt,möglich ist. Die Menschenrechtsgarantiengelten für alle Menschen auf der ganzenWelt.DieseTheoriehatverschiedenedok-

18 ObwohlsieheuteinGroßbritannien,ähnlichwieinderBundesrepublikDeutschland, alsGesetzangesehenwird.

trinäre Begründungsmöglichkeiten. DieserBeitragbefasstsichmitderKritikunddenrechtspositivistischenundnaturrechtlichenBegründungenderUniversalität.

a) DierechtspositivistischeBegründungderUniversalität

Die Idee der Universalität der Menschen-rechte wird mit verschiedenen GründenundArgumentenuntermauert.NureinTeilderRechtspositivisten19 ist fürdenUniver-salismus der Menschenrechte und stärktdiese Theorie mit folgenden „positivisti-schen“ Argumenten:20 Praktisch sind alleStaatenderWeltUN-Mitgliedstaaten.NachArt.55UN-Chartahabensiesichverpflich-tet,dass sie sich fürdieallgemeinenMen-schenrechte einsetzen und alle MenschenungeachtetvonRasse,Geschlecht,Spracheund Religion respektieren. Nach Art.56UN-Chartagilt:

„AlleMitgliedstaatenverpflichtensich,gemein-samundjederfürsichmitderOrganisationzu-sammenzuarbeiten,umdieinArtikel55darge-legtenZielezuerreichen“.

KühnhardtsMeinunglautet,dassalleStaa-tennachdemUN-Beitrittungeachtet ihrerpolitischen, ideologischen,wirtschaftlichenoderkulturellenUnterschiedeinihrenVer-fassungendievondenUNgenanntenPrin-zipien und Normen übernehmen müssen.Er meint, dass die verbale Anerkennungder Menschenrechte nie universeller alsheute gewesen sei. Solch eine Einheit undgleichzeitig auch souveräne EntscheidungsprechefürdieUniversalitätderMenschen-rechte.21

BewertungWenn wir uns auf das Prinzip der Ver-tragstreueverlassen:„pactasuntservanda“klingtschonüberzeugend.Manmussaberberücksichtigen, dass die allgemeine An-erkennung oft einen deklarativen Charak-ter zeigt. Bei seiner Implementierung auf

19 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Men-schenrechte,München,1987.

20 Ebd.,S.16.

21 Ebd.

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derGesetzgebungsebenebestehtderBedarfder Klarstellung hinsichtlich der Grenzender Menschenrechte. Bei der allgemeinen,deklarativenAnerkennung derMenschen-rechte ist die Reichweite des konkretenSchutzgutsdesRechts, sein InhaltunddiekonkretenGrenzendochunklar.Esistein-deutig, dass die oben genanntenKriterienwegen ihrer politischen, ideologischen,wirtschaftlichen oder kuturellen Unter-schiede in den jeweiligen Ländern unter-schiedlich angenommen werden, z.B.:Gender- oderMinderheitenrechte, Frauen-rechte,dieinöstlichenundwestlichenLän-dernganzunterschiedlichangesehenundinder Gesetzgebung auch dementsprechendreflektiert werden. In westlichen Länderngilt,dassKopftuch,HijabundSchleier fürFrauen restriktiv sind und ihre Entwick-lungsrechte und Würde verletzen. In deröstlichenKulturdenktmangenau anders,undzwar,dasseinesolcheBekleidungfürFrauenSicherheitbedeutet.22DasbekannteArgument desNaturrechts (sog. inhärenteSchwäche) widerspricht der positiv-recht-lichenBegründungderUniversalität.Nachdiesem Argument darf der Staat jede Ge-setzgebungändernoder aufhebenoder je-denVereinbarungsvertragwiderrufen.Da-herkönnenkodifizierteinternationaleodernationaleRechtsnormennichtalsBasisderUniversalität von Menschenrechten ange-nommenwerden.

b) DienaturrechtlicheBegründungdesUniversalismus

Die naturrechtliche Theorie hat starkeAr-gumente für die Begründung der Univer-salitätvonMenschenrechten,weilselbstdasNaturrecht aufderUniversalität derMen-schenrechteaufgebautist.SeitdemStoizis-mus23 verfolgt die ideologische Entwick-lungderMenschenrechteinEuropaständigdieIdee,dassdieMenschenvonGeburtanfreiundgleichsind.Später,nachMeinung

22 Mitdem59.Teildes33.KapitelsimKoranistdieBedeutung des Kopftuchs „für eine gläubigeFrau, dass sie nicht erkanntundnicht gestört“wird.

23 Stoizisten:Chysipp,Zenon,Herodot,SenecaCi-cero.

römischerJuristen,warendieSklavennichtfrei,weilsiedieNaturoderGottsogeschaf-fen hat, sondern nach Ius gentium – d.h.,sie waren nur auf Grund des vom Men-schen geschaffenen Rechts nicht frei und gleichberechtigt.24 Das in Stoa entstande-neVerhältniszuderMenschenfreiheitundGleichberechtigung wurde in vielen reli-giösenIdeologien(Christentum,IslamundBuddhismus)25reflektiert.

Das moderne Konzept der UniversalitätvonMenschenrechtenbeginntmitdenvonPhilosophenentwickeltenTheorienim16./17. Jahrhundert. Bei der Entwicklung die-ser Theorie haben die NaturrechtsdenkereinegroßeRollegespielt,wieHugoGrotius(1583–1645),BenedictSpinoza(1632–1677),Samuel von Pufendorf (1632–1694), JeanBodin(1530–1596)sowieinsbesondereJohnLocke (1632–1704) und Thomas Hobbes(1588–1679).JohnLockeschätztedenMen-schen („Zwei Abhandlungen über die Re-gierung“, 1690) als unabhängiges und ab-solutfreiesWesen,dasdieMenschenrechtewegenseinerGeburtbesitze.ErhatteVer-trauenzudemStaatunddeswegenmuss-tederStaatnachdiesemVertrauensprinziphandeln. Die Universalität der Menschen-rechte im Naturrecht hat sich noch mehrindenWerkenvonJeanJacquesRousseau(1712–1778) und Immanuel Kant (1724–1804)verfeinert.

BewertungZusammenfassend muss man sagen, dassdie naturrechtliche Argumentation der Uni-versalität von Menschenrechten auf zweiAusgangspunkten basiert: Erstens auf derVorstellung des Menschenbildes, dass inder Welt jeder Mensch gleich vernunft-begabtsei,sowohldengleichenfreienWil-lenalsauchdiegleicheWürdebesitze.Diemenschliche Existenz ist ausreichend da-für,dassjederinseinerindividuellenAuto-nomie respektiertwird.Zweitens aufdem

24 Norman Weiß, Die Entwicklung derMenschen-rechtsidee,HeutigeAusformungderMenschen-rechteundFrageihreruniversellenGeltung,in:Jana Hasse/Erwin Müller/Patricia Schneider(Hrsg.),Menschenrechte,BilanzundPerspekti-ven,Baden-Baden,2002,S.39–69(S.40).

25 Ebd.

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Phirtskhalashvili:MenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung 115

Staatszweck,dennfüreinenmodernenStaatistdasersteZiel,dieSicherheitundFreiheitjedes Individuums zu sichern. Menschen-rechterichtensichalsAbwehr-undSchutz-ansprüchegegendenStaat,daerwegensei-nesGewaltmonopolsdieMachtbesitzt.

2. Relativismus

Die relativistischeKritik an der These deruniversellen Geltung der Menschenrechteexistiert in mehreren Modifikationen undwidersprichtdemUniversalismusmitver-schiedenenArgumenten.DerRelativismusstimmtabermitdemUniversalismusinei-nemPunkt überein, und zwar gründet er,wieauchderUniversalismus,dieArgumen-tationauf„dieVorstellungderMenschlich-keit“undden„Staatszweck“.JedochistdieRelativität mit diesen zwei KritikpunktendesUniversalismuseinverstandenundent-wickeltdieseindreifolgendeRichtungen:

a) HistorischeKritik

NachderhistorischenKritikderUniversali-tätderMenschenrechtesinddieMenschen-rechtealsdasStaatszielvonderGeschichteabhängig.DieKritikerdesUniversalismusmeinen:DiegesetzlicheGarantiederMen-schenrechte wurde erst dann möglich, alsdie notwendigen sozialen, politischenundwirtschaftlichen Faktoren gegeben waren.AusdiesemGrundmussdierechtlicheLagederMenschenrechteindenStaaten,diesichin der anderen Entwicklungsphase befin-den26,andersartigbewertetwerden.Indie-serHinsichtistKarlMarx’VorstellungvondenMenschenrechteninteressant.Erbeton-te,dassdieMenschenrechtedenInteressenderbürgerlichenGesellschaftfürbestimmtehistorischeEntwicklungsstufendienten.SiehattenindenverschiedenenEntwicklungs-phasenjeweilsandereBedeutungen.27Nach

26 ChinesischeDelegationaufderWienerWeltkon-ferenz imJahr1993, in:Walter Kälin/Jörg Künzli (Hrsg.), Universeller Menschenrechtsschutz,S.16(§35).

27 Marx analysierte diese Theorie nach dem Bei-spieldesEigentumsrechts.Karl Marx, ZurJuden-frage(1843),in:Marx-Engels-WerkeBd.1Berlin1972,S.365.

Meinung der zeitgenössischen Autoren28,auchwennalleLänderderWeltdieMen-schenrechte deklarativ anerkennen, blei-bensie fürdenStaatobjektiveWerte. IhresubjektivenGarantienundauchderindivi-duelleSchutzwerdennurindenwestlichenLändern realisiert.WennderStaatdas fürihngesetzteZiel–dieinstitutionelleGaran-tie derMenschenrechte – verletzt, ist ihreindividuelle Gerichtsschutzgarantie nur inwestlichenLändernmöglich,weilsiesichineiner höheren historischen Entwicklungs-phasebefinden.

b) KulturelleKritik

DiekulturelleKritikdesUniversalismushatdie kuturellen Unterschiede der verschie-denenVölker zurGrundlage.Während inder westlichen Kultur der Mensch als In-dividuum betrachtetwird, ist derMenschin den östlichen und afrikanischen Kul-turen ein Teil der Familie,Gemeinde,Gil-deoderdesEthnos.DerMenschisteinTeilder gesellschaftlichen Klassen oder einerethnischen Gruppe. Ein Mensch asoziiertsichalseinTeilderGesellschaft.ErgenießtdieRechtenichtwie ein Individuum, son-dernerhatPflichtengegenüberderFamilieoderderUmgebung,indererlebtundexis-tiert.29IndenöstlichenKulturenistdieIso-lierungdesMenschenvonderGesellschaftkompliziert.Daheristesfastunvorstellbar,das individuelle Recht einesMenschen zusichern, z.B. Meinungs- und Äußerungs-freiheit,wennesnichtkonformmitderge-sellschaftlichenMeinung ist.Auchkönnensich Frauenrechte nicht selbst präsentie-ren,wennsiekeinenverbreitetenreligiösenDogmenentsprechen.AufdieFrage,obdasKonzeptderMenschenrechteuniversellist,gibtderbekannteWissenschaftlerundPhi-losophRaimon Panikkar30 eindeutig eine ne-gativeAntwort.Ermeint,dasseinKonzept

28 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Men-schenrechte,München,1987,S.290.

29 Die Afrikanische Charta der MenschenrechteundderRechtederVölker,§§27,28,29.

30 Raimundo Panikkar, in: Lars Kälin/WalterMül-ler/Judith Wyttenbach (Hrsg.), Das Bild derMenschenrechte,Baden,2007,S.34.

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116 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

allgemeinnichtuniversellseinkannundje-desKonzeptgiltda,woesentworfenundentwickeltwurde. Außerdem erwähntPa-nikkar,dassdieAblehnungderUniversali-tätderMenschenrechtenichtbedeutet,dasssienieuniversellwerdenkönnen.DamitdasbenannteKonzeptuniversellwird,mussesfolgendeVoraussetzung erfüllen:DieKul-tur,inderdieUniversalitätderMenschen-rechte entworfen wurde (Panikkar meintdie westliche, europäische Kultur), mussweltweit universell werden. Es ist wich-tigzuerwähnen,dass sichdie sozial-wirt-schaftlichenBeziehungennachverschiede-nenNationenundKulturenunterscheiden.In mancher Gesellschaft ist die finanziel-le oder soziale Unterstützung, Hilfe undPflegederVerwandten,Freunde,Familien-angehörigeneinemoralischeVerpflichtung.Solche sozial-wirtschaftlich engen Kontak-te und moralischen Verpflichtungen ken-nendieanderenKulturennicht,deswegenwerdeninsolchenunterschiedlichengesell-schaftlichen Beziehungen die Ausdrucks-formenderSolidaritätauchunterschiedlichsein,unabhängigdavon,welcheGarantienundRechtederStaatsetzt.

c) ErkenntnistheoretischeKritik

ObwohlsichdieWissenschaftlereinigsind,dass der Grund der Menschenrechte dieMenschenwürdeist–dieFragedarauf,wasgenaudieMenschenwürdebedeutet,bleibtoffen. Genau von der erkenntnistheore-tischen Erklärung derMenschenwürde istder Inhalt der Menschenrechte abhängig.BeiderErarbeitungderAllgemeinenErklä-rungderMenschenrechtehatdieamerika-nischeanthropologischeGesellschaft(Ame-rican Anthropological Society) im Jahre1947 einemethodische Studie zurUniver-salität derMenschenrechte durchgeführt.31 LautdieserForschungistdieKognitionei-nesMenschen,einesIndividuums,einPro-duktderkulturellenUmgebung,deswegenkönne es keinewissenschaftlicheMethode

31 American Anthropological Association, State-mentonHumanRightsbyTheExecutiveBoard,49, Source:AmericanAnthropologist,New Se-ries, Vol. 49, No. 4, Part 1 (Oct.–Dec., 1947),S.543,http://franke.uchicago.edu/aaa1947.pdf.

geben, für die die objektive Bewertung ir-gendwelcher konkreten kulturellen Wertemöglichwäre.NachdemForschungsergeb-niskönneeskeinewissenschaftlicheMetho-degeben,dieeserlaubenwürde,denWerteinerbestimmtenkulturellenTraditionvoneinemüberkulturellenStandpunkt ausob-jektiv zu bewerten. Die Eigenschaften dereinzelnenKulturenmüssennachihreneige-nen Traditionen und Werten analysiertwerden.WeiljederMaßstabundjederWertnacheinemkulturellenSpezifikumcharak-terisiertwerde,könnensichdieWerteundPostulate einer bestimmten Kultur nichtüberdieganzeWeltverbreiten.

3. Konsenstheorie – „Der relative Universalismus“

Die These „des relativen Universalismus“derMenschenrechte istmit vielen interes-santenArgumentenrechtüberzeugend.SiebasiertaufderZwischenpositionvonUni-versalismusundRelativismusundschließtdie Idee nicht aus, dass es einenWeg zurUniversalität der Menschenrechte gibt. Esmuss erwähnt werden, dass man die ra-dikale Idee der Relativität der Menschen-rechte „zynisch“nennenkann,weil sie zueinem Rechtspartikularismus tendiert undideologisch als das Gegenteil der Univer-salität angesehen wird. In dieser Hinsichtist die Meinung von Heiner Bielefeldt in-teressant32, wonach die Menschenrechteeine Institutionbilden,diecharakteristischnurfürdiewestlicheWeltist.Dementspre-chend gilt sie lediglich für dieMenschen,dieinder„westlichenWelt“leben.AndereMenschen,diez.B.mitschwarzerHautge-borenwurdenundnichtineinerwestlichenGesellschaftleben,müssenkeineGarantienvon ihrer diktatorischenRegierung erwar-ten.ImUnterschiedzuderIdeedesPartiku-larismus(alsauchRelativismus)anerkenntderrelativeUniversalismusdieMenschen-rechte in bestimmten Formen als univer-sell,abernachdieserTheoriekannderUni-versalismusnurdurchKonsensentwickeltwerden.DieExistenzderMöglichkeitenei-

32 Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwür-de,Freiburg2011,S.118.

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Phirtskhalashvili:MenschenrechtealsGrundwertdergeorgischenVerfassung 117

ner solchenTheoriebeschreibt JohnRawlsim Rahmen der Theorie „des übergreifen-denKonsenses“.DieAntwortaufdieFrage,wiediegemeinsameKonzeptionindenBe-dingungen vom Weltplurarismus erreichtwird, lautet folgenderweise: Die verschie-denen Richtungen der jeweiligen politi-schenKonzeptionenmüssenmindestensei-nengemeinsamenPunktderVereinbarungfinden.Nach John Rawls ist sogar eine sol-cheminimalefakultativeVereinbarungaus-reichend,wennsichdieVertreterderKul-turen auf die Anerkennung irgendeinerNorm mit verschiedenen Begründungeneinigen. Die inhaltlich gleicheNorm kannmit verschiedenen Motivationen begrün-detwerden,z.B.dasVerbotderFolterundunmenschlicher Behandlung kannmit dernaturrechtlichen,religiösenoderauchwis-senschaftlichen Forschung, historisch oderauchandersbegründetwerden.DasWich-tigste ist, dass die Vereinbarung auf demminimalenInhalteinerkonkretenVorschriftbasierenmuss.33DieBegründungder„Kon-senstheorie“ wird erst dann kompliziert,wennesinirgendeinerKulturnichtnurkei-neGarantien fürdieMenschenrechte gibt,sondern sie sich auch völlig gegen solcheGarantien stellt. Solche Unterschiede kön-nen zwischen kulturellen Wertschätzun-genmitgroßenBedeutungenbelastetsein.Die Liste solcher kulturellen Unterschiedeistnichtlang.SogardertraditionelleIslamverurteilt den Völkermord, verbietet Fol-terundanerkenntdieGarantiendesmen-schenwürdigenLebens.Obwohlsichsofortdas Problem des Kulturkompromisses er-gibt,wennmanvonderGleichberechtigungderMännerundFrauenundvondergesell-schaftlichenRollederFrauspricht.Ausdie-semGrundstelltdie„Konsenstheorie“fest,dass die Menschenrechte in der heutigen WeltordnungkeineuniversaleEinheitseinkönnen.DeswegenkannsichdieKonsens-theorie nichtüberdie allgemeinenRechte,sondernnurübereinzelne„konsensfähige“Rechteverbreiten.

DieKonsenstheoriedesUniversalismusderMenschenrechte ist recht realistisch und

33 John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt1998.

verwendbar.34WährendderGlobalisierungistderWillezurZusammenarbeitnichtnurzwischen den Staaten groß, sondern auchzwischen den Menschen und Gesellschaf-ten, weil die Menschen die gleichen An-forderungenundInteressenhaben,diedieGarantiender Sicherheit undStabilität be-rücksichtigen.

„Die Konsenstheorie“ basiert auf zweiGrundlagen,die rechtbemerkenswertundgleichzeitig auch gut begründet sind. DerersteGrundstammtvondenmenschlichenBedürfnissen, die überall gleich sind, un-abhängig davon, in welcher Gesellschaftund inwelcherkulturellenUmgebungdiePersonen leben, ungeachtet ihrer Traditio-nen,KuturenundMentalitäten.AlleMen-schen erleben körperliche und psychischeSchmerzengleichermaßenundallestrebennachGlück.Selbstverständlichsindsiever-schiedeneIndividuenundihrepersönlicheEntwicklung liegt an der natürlichenUm-gebung, aber ihre Ähnlichkeit mit intel-ligentenWesen ist sogroß,dass sogardiezwischen ihnen existierenden Persönlich-keitsmerkmaledieUnterschiedeabdecken.Solche fundamentalen Lebensregeln undTraditionen, wie z.B. Pflichten gegenübereigenenKindern,Hunger,derWunschnachWärme,Verteidigungsreflex,Geschlechter-unterschiede und viele andere biologischeBedürfnisse hat jeder Mensch, unabhän-gigdavon,woundwannerlebt.35Derkri-tische Moment entsteht aber da, wo sichnicht nur genannte fundamentale Bedürf-nisse,sonderndaskonkreteBestrebenunddieRechteeinesgemeinsamenPhänomensmiteinemNamen„dieuniverselleFreiheit“ergeben soll. Der zweite Grund, auf demdie„Konsenstheorie“derUniversalitätderMenschenrechte basiert, ist folgendes Ar-gument:ObwohldieideologischeKonzep-tionderMenschenrechtehistorischwirklichinWesteuropa und Nordamerika entstan-

34 Anna Phirtskhalashvili, UniversalismusderMen-schenrechte, in: Justice andLaw,N: 2’14, S.80.[anapircxalaSvili,adaminisuflebataunibersalu-robisteoria,marTmsajulebadakanoni,N:2‘14]

35 Tushar Kanti Barua, HumanitätzwischenUniver-salität und Regionalität, in: Batzli/Kissling/Zihlmann (Hrsg.), Menschenbilder, Menschen-rechte.Zürich.1994,S.26.

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118 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

denundweiterentwickeltworden ist, sindsie langsam als Folge des jahrhunderte-langen Zusammenlebens der unterschied-lichen Kulturen ineinander verschmol-zen.WährenddiesesProzesseswirddurchverschiedene Kulturen die „Assimilation“derpositivenEigenschaftendurchgeführt.36 Deswegen schließt die „westliche Her-kunft“derKonzeptionderMenschenrechteihreVerbreitungundNutzungdurchande-reKulturennichtaus.

IV. Schlussfolgerung

Die georgische Verfassung basiert als dasobersteGesetzdesLandesaufbestimmtenWertvorstellungen.WiejederMensch,weistdieVerfassungaucheigeneWerteundIdeen

36 Heiner Bielefeldt, MenschenrechtlicherUniversa-lismus ohne eurozentrische Verkürzung, in:Nooke/Lohmann/Wahlers(Hrsg.),GeltenMen-schenrechte universal? Begründungen und In-fragestellungen, Freiburg: 2008, S.98–141(S.125).

auf. DieseWerte stellen die unterschiedli-chen Erkenntnise und Ansichten dar, wo-nach die Ideen und Vorteile eingeschätztwerden. InderBewertungshierarchiewirdschließlich das Beste bevorzugt. Nach dergeorgischenVerfassungwird„derMensch“als der höchstgeschätzte Wert gewürdigt.DieVerfassunganerkenntseineWürdeundFreiheitundderdurchdieVerfassungge-währteGrundwertistderMensch,dendieVerfassung nicht nur als Träger der Na-turrechte ansieht (nachArtikel7), sondernwelchemsieauchdenSchutzmechanismusdieser Rechte durch „die allgemein aner-kanntenVorschriftenundPrinzipiendesin-ternationalenRechts“(Art.6Abs.2georgi-scherVerfassung)sichert.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 119

Bericht über die Tätigkeit des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen im Jahre 2016 – Teil II: Individualbeschwerden

Johanna Weber

InhaltsübersichtI. EinführungII. Das IndividualbeschwerdeverfahrenIII. Statistische AngabenIV. ZulässigkeitsfragenV. Materiellrechtliche Fragen

I. Einführung

DieserBeitragstelltdieFortführungderBe-richterstattungüberdieTätigkeitdesMen-schenrechtsausschusses der Vereinten Na-tionen (imFolgendenAusschuss) im Jahre2016 dar.1WährendHeft 1 allgemeine Er-eignisse und die Auswertung von Staa-tenbeschwerden im Berichtszeitraum 2016(116. bis 118. Sitzung) zum Thema hatte,widmet sich dieser Artikel den vomAus-schuss 2016 entschiedenen Individualbe-schwerden und schließt damit an die Be-richterstattungfürdasJahr2015an.2

II. Das Individualbeschwerdeverfahren

Das 1. Fakultativprotokoll zum Zivilpakt(imFolgendenFPI)3ermöglichtEinzelper-soneneineBeschwerdeaufBasisderimIn-ternationalenPaktüberbürgerlicheundpo-litische Rechte (im Folgenden Zivilpakt)4

1 SiehebereitsJohanna Weber,BerichtüberdieTä-tigkeitdesMenschenrechtsausschussesderVer-eintenNationenimJahre2016–TeilI:Staatenbe-richte,in:MRM2017,S.56–78.

2 SiehePascal Nägeler, Bericht über die Tätigkeitdes Menschenrechtsausschusses der VereintenNationen im Jahre 2015 – Teil II: Individual-beschwerden,in:MRM2016,S.148–157.

3 OptionalProtocoltotheInternationalCovenantonCivilandPoliticalRightsvom16.Dezember1966.UNTSBd.999,S.302;BGBl.1992II,S.1247.

4 International Covenant on Civil and PoliticalRights, UNTS Bd. 999, S.171; BGBl. 1973 II,

verbürgtenRechtebeimAusschuss.ImGe-gensatz zum StaatenbeschwerdeverfahrennachArt.40Abs.1,welchesfür jedenMit-gliedstaat obligatorisch gilt, ist der Aus-schuss für die Entgegennahme und Prü-fungvonIndividualbeschwerdennurdannzuständig,wennder betreffende Staat dasZusatzprotokollratifizierthat.

DieZulässigkeitderBeschwerdeistimFPIgeregelt, der Ablauf des Verfahrens ist inder Verfahrensordnung festgelegt. GemäßArt.2 FP I wird das Verfahren durch dieschriftliche Einreichung der Beschwerdeeingeleitet. Der Ausschuss kann zum Er-gebnis kommen,dassdieseunzulässig ist,dann wird die Entscheidungmittels einer“Inadmissability decision” dem Beschwer-deführer und dem betroffenen Vertrags-staatmitgeteilt.

KommtderAusschusszuderSchlussfolge-rung,dassdieBeschwerdezulässigist,wirdineinemnächstenSchrittdieBegründetheitanHandderimZivilpaktundimZweitenFakultativprotokoll zur Abschaffung derTodesstrafe5 verbürgten Rechte geprüft.AbgeschlossenwirddiesesVerfahrendurcheineAuffassung(“View”),diedenParteieninderFolgemitgeteiltwird.

FormellkommtdiesenAuffassungenman-gelseinerentsprechendengesetzlichenRe-gelungzwarkeinerechtsverbindlicheWir-kungzu,6dieStaatensindabergemäßArt.2

S.1524. Alle im Folgenden genannten Artikelsind, sofernnicht ausdrücklichandersbezeich-net,solchedesZivilpaktes.

5 Second Optional Protocol to the InternationalCovenant onCivil andPoliticalRights, aimingattheabolitionofthedeathpenaltyvom15.De-zember1989,UNTSBd.1642,S.414;BGBl.1992II,S.391.

6 Theodor Schilling, Internationaler Menschen-rechtsschutz,3.Aufl.2016.

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120 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

dazu verpflichtet die Bestimmungen desZivilpaktes zu wahren und umzusetzen,sowie Rechtsbehelfe zur GeltendmachungvonMenschenrechtsverletzungenzuschaf-fen und insbesondere ihre Durchsetzungnach Artikel 2 Abs.3 lit. c zu gewährleis-ten. Des Weiteren führte der Ausschussin seiner Allgemeinen BemerkungNr. 337 zu den Verpflichtungen der Vertragsstaa-tenausdemFP Iaus,dasseineVerpflich-tungzurKooperationnachTreuundGlau-bengegebenist.EinSonderberichterstatterüberprüftzudemdieUmsetzungundkanndenVertragsstaatengegebenenfallsweitereEmpfehlungenunterbreiten.

III. Statistische Angaben

SeitdemBeginnderBeurteilungderIndivi-dualbeschwerdenimJahre1977wurdenbisEndeMärz2017insgesamt2970Individual-beschwerdengegen92Vertragsstaatenein-gereicht.8ImBerichtszeitraum2016hatderAusschuss 90 Beschwerden behandelt, da-vonwurden14alsunzulässigzurückgewie-sen und 8 eingestellt. In 44 Fällen hat ereineVerletzungdesZivilpaktesfestgestellt.In 24 Fällenwurde keine Verletzung fest-gestellt.9

IV. Zulässigkeitsfragen

ZunächstprüftderAusschuss,obdievor-liegendeBeschwerdegemäßArt.1bisArt.3undArt.5Abs.2FPIzulässigist.10

7 General Comment Nr. 33 (2008), UN-Dok.CCPR/C/GC/33.

8 Bericht des Ausschusses an die Generalver-sammlung der Vereinten Nationen von 2016,UN-Dok.A/72/40,S.4.

9 EineÜbersichtderbehandeltenFällefindetsichhier:http://ccprcentre.org/decision-by-session/(letzterZugriffam4.Februar2018).

10 Ausführlich dazu:Bernhard Schäfer, Die Indivi-dualbeschwerde nach dem FakultativprotokollzumZivilpakt,2.Aufl.2007,S.40–100.

1. Beschwerdebefugnis/Opfereigenschaft

Voraussetzung ist, dass der Beschwerde-führer durch eineHandlung oder einUn-terlassen des Vertragsstaates persönlichin seinen Rechten beeinträchtigt ist. Da-bei reichtesnichtausaufallgemeineUm-ständezuverweisen,die sichzueinerBe-drohung entwickeln könnten. Es zählt diegegenwärtige odervergangeneVerletzungeinesodermehrererRechte,diedurchdenPakt geschützt werden. Es dürfen nur In-dividuen,die selbst oder inVertretung ei-nesanderenbetroffensind,denAusschussbefassen. Juristische Personen sind dem-nachausgeschlossen,abergemäßAllgemei-nerBemerkungNr.31(2004)11schließtdasdieMöglichkeitnichtaus,dassIndividuenVermögenswerte juristischer Personen alsVerletzung ihres eigenen Vermögens gel-tendmachen.12

ImFallA. N. ./. Dänemark13wurdedieVor-aussetzung derOpfereigenschaft und per-sönliche Betroffenheit behandelt. Der Be-schwerdeführer sah sich als MoslempersönlichverletztdurchdieHassredege-genMuslimevonderDanishPeople’sPartyunddie anschließendeEinstellungder Er-mittlungendurchdendänischenStaat.DerAusschussführtedazuaus,dasskeinePer-sonintheoretischerWeiseundmittelsActiopopularisEinspruchgegeneinGesetzodereineHandlungerhebendarf,welcheerodersie als fürnicht imEinklangmitderKon-ventionhält.JedePerson,diebehauptetOp-fereinerVerletzungeinerBestimmungderKonventionzusein,mussnachweisen,dassdiese Verletzung entweder schon passiertist oder unmittelbar bevorsteht, basierendauf einem Gesetz oder einer richterlichenoder administrativen Entscheidung oderHandlung.DaderKlägernichtnachweisenkonnte,dasserpersönlichdavonbetroffen

11 General Comment Nr. 31 (2004), UN-Dok.CCPR/C/21/Rev.1/Add.13,para.9.

12 Auffassung vom 30. März 2016, Roberto Isaias Dassum und William Isais Dassum ./. Ecuador,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2244/2013,para.7.3.

13 Entscheidungvom30.März2016,A. N. ./. Däne-mark,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2039/2011,pa-ra.7.4.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 121

war,wurdedieBeschwerdealsunzulässigabgewiesen.14

2. Hinreichende Substantiiertheit der Beschwerde

DieVerletzungmuss entsprechendArt.96lit. b S.1VerfO15 hinreichend substantiiertsein.Diesistnurdannerfüllt,wenndieBe-hauptungendurchentsprechendesBeweis-material belegt sind.16Wird beispielsweisebehauptet,dassdieBefragungvonZeugenwährend des Verfahrens verwehrt wur-de und der Richter voreingenommenwarohneaufDetailseinzugehenundkonkreteBeweisevorzubringen,wirddieBeschwer-dealsunzulässigabgewiesen.17EinMangelanausreichendenInformationenmussabernicht dazu führen, dass die gesamte Be-schwerdezurückgewiesenwird,eskönnenauch nur Teile von der weiteren Prüfungausgeschlossenwerden.18

14 Ebd.,para.7.5.;ähnlich:Auffassungvom14.Juli2016,Mohamed Rabbae, A. B. S. und N. A. ./. Nieder-lande,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2124/2011be-treffend Hassrede durch den niederländischenPolitikerGeertWilders.

15 RulesofProcedureof theHumanRightsCom-mittee,UN-Dok.CCPR/C/3/Rev.10.(2012).

16 Auffassung vom 31. März 2016, Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2078/2011,para.6.4.

17 Auffassungvom11.März2016,Vladimir Vasilie-vich Neporoyhnev ./. Russland, UN-Dok. CCPR/C/116/D/1941/2010, para. 7.3. Weitere Fälle:Entscheidungvom14.Juli2016,X ./. Niederlande, CCPR/C/117/D/2729/2016;Entscheidungvom30. März 2016, V. L. ./. Weißrussland, UN-Dok.CCPR/C/116/D/2084/2011;Entscheidungvom14.Juli2016,S. M. ./. Bulgarien,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2100/2011; Entscheidung vom30. März 2016, S. V. ./. Weißrussland, UN-Dok.CCPR/C/116/D/2047/2011;Entscheidungvom30.März2016,V. K. ./. Russland,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2411/2014; Entscheidung vom3. November 2016, K. A. ./. Weißrussland, UN-Dok.CCPR/C/118/D/2112/2011.

18 Auffassungvom26.Oktober2016,Kayum Orti-kov ./. Usbekistan, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2317/2013; Auffassung vom 27. Oktober 2016,S. P. ./. Russland, UN-Dok. CCPR/C/118/2152/2012.

3. Zuständigkeit ratione materiae

AufmateriellerEbenemusseinBeschwer-degegenstand vorliegen, der eine Verlet-zungvonRechtenausdemZivilpaktoderseinen Fakultativprotokollen zum Inhalthat. Die in Art.2 vorgesehene generelleVerpflichtungderStaatenkannnichtsepa-ratgeltendgemachtwerden,sondernnurinVerbindungmiteinerkonkretenVerpflich-tung aus demZivilpakt.Andernfallswirddieser Teil der Beschwerde, wie beispiels-weise im Fall W. M. G. ./. Kanada, als un-zulässigzurückgewiesen.19

4. Zuständigkeit ratione temporis

DerAusschussdarfnurüberBeschwerdenentscheiden,dieeineVerletzungzugrundehaben,diesichnachdemInkrafttretendesZivilpaktes und des FP I im betreffendenStaat zugetragen hat. Eine Ausnahme be-steht, wenn die ursprüngliche Verletzungfortwirkt, andernfallsmussderAusschussdie Beschwerde verwerfen. Im Fall Rama-zan Esergepov ./. Russland 20 brachte der Be-schwerdeführervor,dasseram1.Dezem-ber 2008 und am 6. Januar 2009 entführtwurde.DasFPItratinRusslandallerdingserst am 30. September 2009 inKraft,wes-halb dieser Teil der Beschwerde abgewie-senwerdenmusste. Das innerstaatlich er-gangeneUrteil gegendenKläger,welchesauchdavorgefälltwurde,wurde ineinemweiteren Verfahren am 22. Oktober 2009bestätigtundeineÜberprüfungdurchdasHöchstgericht am 14. Dezember 2009 undam24.Mai2010verworfen.DerAusschusskonntealsodieseTeilederBeschwerdezu-lassen,weildieVerletzungfortwirkte.21

19 Auffassungvom11.März2016,W. M. G. ./. Kana-da, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2060/2011, pa-ra.6.3.

20 Entscheidungvom29.März2016,Ramazan Eser-gepov ./. Kasachstan,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2129/2012,para.10.4.

21 Ibid.,para.10.5.

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122 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

5. Missbrauch des Beschwerderechts

Die Beschwerde kann als unzulässig zu-rückgewiesenwerden,wennderAusschusszu der Feststellung kommt, dass der Be-schwerdeführerseinBeschwerderechtmiss-braucht.DieskanndannderFallsein,wennein besonders langerZeitraumverstrichenist zwischen der letzten innerstaatlichenEntscheidungundderEinreichungderBe-schwerde. Mangels einer vertraglich vor-gesehenen Beschwerdefrist kann der Aus-schussdieshieruntersubsumieren.

Im Fall M. A. B. ./. Argentinien erhielt der Ausschuss die Beschwerde am 10.August2010,mehralsneunbzw.siebenJahrenachdem letzten innerstaatlichen Rechtsakt.Während des Verfahrens in Argentinienhatte der Beschwerdeführer Polizeischutz,deranschließendjedochwiderrufenwurde,wasdazuführte,dasserbis2009Drohun-generhielt.DerAusschusssahdemnachdieverstricheneZeitalsgerechtfertigtan.22

In einem anderen Fall betreffend den To-desfall von A.F.D. – einem der GründerderM-19Bewegung23 inKolumbien–ent-schiedderAusschussanders.ZumTodvonA.F.D.,der1986ermordetwordensei,gibtes bis heute keine strafrechtlichen Ermitt-lungen und keine Verurteilung der Ver-antwortlichen. Die Familie, welche immerwiederOpfervonVerfolgungwarundzeit-weise im Ausland internationalen Schutzsuchte,befasstedenAusschussmitderThe-matik.DieserstelltezunächstmangelsFristkeineVerletzungrationetemporisfest,abereinenMissbrauchdesBeschwerderechts.Erkonkretisierte,dassdieÜbermittlungeinerBeschwerde fünf Jahre nach Erschöpfungdes innerstaatlichen Instanzenzuges oderggf.dreiJahrenachBehandlungdurcheineinternationale Stelle, unzulässig sei, soferndie außergewöhnliche Verspätung in An-

22 Entscheidungvom30.März2016,M. A. B. ./. Ar-gentinien,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2122/2011,para.8.6.

23 DieM-19Bewegung (Movimiento 19 deAbril)war eine linksgerichtete, kolumbianische Gue-rilla-Organisation, die sich 1990 in eine Parteiumwandelte. Sie wurde als Reaktion auf dieWahlenam19.April1970gegründet,beidereszugrobenUnregelmäßigkeitenkam,dieniege-klärtwurden.

betrachtallerUmständenichtgerechtfertigtwerdenkann.ImkonkretenSachverhaltlagder Todesfall bereits dreisig Jahre zurück.Die Kläger konnten erläutern, dass es bis2003schwierigwar,weilsiebiszudiesemZeitpunkt immer wieder gezwungen wa-ren als FlüchtlingedasLand zuverlassen.Ab2003hattendieKlägeraberverabsäumtzuerklären,warumsienichtanschließendKlage erhoben haben, weshalb der Aus-schuss die Beschwerde als unzulässig zu-rückwies.24

6. Rechtswegerschöpfung

EinerechtmäßigeErhebungderBeschwer-de vor dem Ausschuss ist nur zulässig,wenn der Beschwerdeführer gemäß Art.5Abs.2 lit. b FP I im Vorfeld alle zur Ver-fügung stehenden innerstaatlichen Rechts-behelfe ausgeschöpft hat. Dazu muss derBeschwerdeführerjedesMittelinAnspruchnehmen, das de facto verfügbar ist undwirksamerscheint.SoferndieUnwirksam-keitdesRechtsmittelsbekannt ist,verzich-tetderAusschussaufdasErfordernis.BloßeZweifel an der Effektivität heben die Ver-pflichtungnichtauf.25

Turkmenistan hat mehrmals vorgebracht,dass der innerstaatliche Rechtsweg nichtausgeschöpft wurde, da nach geltendemRechtdieMöglichkeitbestehtsichimRah-meneiner“supervisoryreviewprocedure”gegen die Entscheidung desOberstenGe-richtshofes zu wenden. Dieser Antrag anden Staatsanwalt zu einer aufsichtsrecht-lichen Überprüfung von Gerichtsentschei-dungen,diebereits inRechtskraft erwach-sensind,istnachständigerRechtsprechungdesAusschussesjedochnichterforderlich.26

24 Entscheidung vom 30. März 2016, C. L. C. D., V. F. C. und A. F. C. ./. Kolumbien,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2399/2014,paras.6.4.–6.6.

25 Beispielsweise:W. M. G. ./. Kanada (Fn. 19); Ent-scheidungvom4.Juli2016,J. I. ./. Frankreich,UN-Dok. CCPR/C/117/D/2154/2012, para. 6.5.;Entscheidungvom3.November2016,X und Y ./. Kanada,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2771/2016.

26 Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan(Fn.16),para.6.3.;Ramazan Esergepov ./. Kasachstan (Fn.20),para.10.3.

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Auch imFallF. J. et al. ./. Australien betref-fendunbegrenzterHaftvonMigrantenhat-teAustralienvorgebracht,dasskeine rich-terliche Überprüfung der Haft angestrebtwurde. Die Informationen aber legtennahe,dasseinesolcheÜberprüfungwenigaussichtsreich wäre. Einerseits wurde zu-vorbereitsinderSacheAl-Kateb v. Godwin voneinemaustralischenGerichtdieRecht-mäßigkeit der Haft geprüft und entschie-den, dass siemit demNationalMigrationActimEinklangstehtundeineweiterever-fassungsrechtlicheÜberprüfunginderFol-ge eingestellt. EineAufhebungdiesesPrä-zedenzfalles ist national nicht angezeigt.Außerdem haben Richter nicht die Mög-lichkeit jeden einzelnenKläger individuellzubeurteilen.DaherstellteinerichterlicheÜberprüfung kein geeignetes Mittel dar.DarüberhinauswurdeinderEntscheidungM47 vom5.Oktober2002dieHaftdesKlä-gers nicht unterbrochen. Eine richterlicheUntersuchung führt demnach auch nicht zur Aufhebung von willkürlicher Haft,kannalsonichtAbhilfegegenüberderVer-letzung schaffen.27 In einem anderen Fallgegen Australien wurde in Bezug auf dieDauer der Untersuchungshaft festgestellt,dasseskeine innerstaatlichenRechtsmittelgibt,dieaufWillkürabzielen,sondernnurdieÜberprüfungderRechtmäßigkeitdurchRichter.28

7. Keine Befassung anderer inter­nationaler Instanzen

Art.5Abs.2 lit. a FP I sieht vor, dass derAusschusseineBeschwerdenurdannüber-prüfen darf, wenn dieselbe Rechtssachenicht bereits in einem anderen internatio-nalenUntersuchungs-oderStreitregelungs-verfahrenuntersuchtwird.

IndemVerfahren J. I. ./. Frankreich hat sich zuvor der EGMR mit der Sache beschäf-tigt,dieseaberwegenverfahrensrechtlicherHindernissezurückgewiesen.Esmussalso

27 Auffassungvom22.März2016,F. J. ./. Australien, UN-Dok.CCPR/C/116/D/2233/2013,para.9.3.

28 Auffassung vom 29. März 2016, Nasir ./. Aus-tralien, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2229/2012,para.6.4.

geklärtwerden,obder„selbeFall“tatsäch-lich „untersucht“ wurde. Es handelt sichumdenselbenBeschwerdeführer,dieselbenFaktenunddieselbenmateriellenRechte.InseinerständigenRechtsprechungbetontderAusschussjedoch,dassuntersuchenbedeu-tet, wenn zumindest indirekt die Haupt-sache berücksichtigt wurde.Wird ein Fallaberausschließlichwegenverfahrensrecht-licherHindernissewiehierzurückgewiesen,fälltdiesnichtunterdieSubsumtion„unter-sucht“undderFallwirdzugelassen.29

IneinemanderenFallstelltesichdieFrage,ob die Behandlung durch die Inter-Parlia-mentaryUnion der Beschwerde entgegen-steht.NachdemsichderAutorandiesege-wandthatte,führtedasIPUCommitteeontheHumanRights ofParliamentariansEr-kundungsmissionendurch.DerAusschussaberstelltefest,dassessichtatsächlichumeine interparlamentarische Einrichtunghandelt, die durch Dialog Fälle löst unddessenEntscheidungenbestenfalls konsul-tativ wirken. Eine Behandlung durch denAusschusskanndemnacherfolgen.30

V. Materiellrechtliche Fragen

ImJahr2016hatderAusschusszufolgen-den materiellrechtlichen Fragen Stellunggenommen:

1. Recht auf Leben (Art. 6)

ImFallW. M. G. ./. KanadaverwiesderAus-schuss abermals auf die Allgemeine Be-merkung Nr. 3131 zur Verpflichtung derStaaten. Imbetreffenden FallwardasOp-fer aus Simbabwe HIV-positiv und beein-spruchtedieAbschiebungausKanada,weilerseineGesundheitbzw.seinLebenwegenmangelnder Versorgung im Heimatlandalsgefährdetbetrachtete.DerBeschwerde-führer konnte seinenAnspruchnicht halt-bar machen, da der Ausweisestaat die Si-

29 J. I. ./. Frankreich(Fn.25),paras.6.1–6.3.

30 Auffassung vom 3. November 2016, Eugène Diomi Ndongala Nzo Mambu ./. DRC, UN-Dok.CCPR/C/118/D/2465/2014,para.8.2.

31 GeneralCommentNr.31(Fn.11).

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tuation inSimbabweuntersuchthatteundfestgestelltwurde,dassdortsowohlimpri-vaten als auch im öffentlichen SektorMe-dikamente vorhanden sind. Bis zu seinemAusweisebescheid hatte der Beschwerde-führer außerdemeigens entschiedenkeineMedikamenteeinzunehmen.ErhatFamilieinSimbabwe,aufdieerzurückgreifenkannundeineguteAusbildung,dieihmbessereChancen ermöglicht als der Mehrheit derBevölkerunginSimbabwe.SeinVorbringenwar inhaltlich ausschließlich bezogen aufdieallgemeineSituationinSimbabwe,wes-halbernichtnachweisenkonnte,dassseinLebenoderphysischeundmentaleGesund-heitalsFolgeseinerAuslieferunginunmit-telbarerunddirekterGefahrwäre.32

Artikel6wurdeaußerdemhäufiginKom-binationmitArtikel7geltendgemacht,wieauch imFallRafik Belamrania ./. Algerien, in dem es umFolter undMassenhinrichtungging.33

2. Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 7)34

DerAusschussbetonteinderEntscheidungAnnakurban Amanklychev ./. Turkmenistan35,dass der Vertragsstaat die Pflicht habe je-den Vorwurf einer Misshandlung iSd Ar-tikel7umgehendundunparteiischzuun-tersuchen.36DerStaat ist fürdieSicherheitvonalleninhaftiertenPersonenverantwort-lich.BeieinemsolchenVorwurftragtdem-nach der Vertragsstaat die Beweislast un-verzüglich zu widerlegen, dass staatliche

32 W. M. G. ./. Kanada(Fn.19),paras.7.2.–7.4.

33 Auffassungvom27.Oktober2016,Rafik Belamra-nia ./. Algerien, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2157/2012.

34 Weitere Fälle im Zusammenhang mit Folter:Auffassungvom28.Oktober2016,Roy Manojku-mar Samathanam ./. Sri Lanka, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2412/2014;Auffassungvom26.Okto-ber 2016,Kayum Ortikov ./. Usbekistan,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2317/2013.

35 Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan(Fn.16),para.7.2.

36 General Comment Nr. 20 vom 10. März 1992,para.14.

Akteure in die Verletzung involviert wa-renundmussgleichzeitignachweisen,dassHaftwärterallesgetanhaben,umdieHäft-linge zu schützen.37 DerAusschuss betontinmehreren Entscheidungen, dass die Be-weislast nicht ausschließlich auf dem Be-schwerdeführer lasten darf, insbesondere,weilkeingleichwertigerZugangzuBewei-senbesteht.WennalsoeineglaubhafteAus-sagevorliegtundweitereKlarstellungaus-schließlich durch den Staat erfolgen kannund dieser der Aufforderung nicht nach-kommt, kannderAusschussdenVorwurfalsbewiesenannehmen.38

Im Fall Vladimir Vasilievich Neporozhnev ./. Russische Föderation brachte der Beschwer-deführervor,dasserverhaftetwurdeundimKellerderPolizeidieganzeNachtgefol-tertwurde.DerVertragsstaatleugnete,dassessichumPolizistengehandelthatte,trotzerdrückender Beweislage. Die ursprüng-lichenErmittlungenwurdeneingestelltundesgibtkeineInformationenzuneuerlichenErmittlungen. Unter Bezugnahme auf dieAllgemeine BemerkungNr. 3139 weist derAusschuss darauf hin, dass eine mangel-hafteodernichterfolgteUntersuchungvonbehauptetenMisshandlungenaussichher-auseinenseparatenVerstoßgegendenPaktgem. Art.7 i.V.m. Art.2 Abs.3 darstellenkann.40

Eine Verletzung von Artikel 7 kann auchfestgestellt werden, wenn gesundheitlicheund psychologische Dienste in der Haftzwar verfügbarwaren, aberdieKombina-tiondeswillkürlichenCharakters undder

37 Auffassung vom 11.März 2016, Filip Maksimo-vich Polkikh ./. Russische Föderation,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2099/2011, para 9.4.; außerdem:Auffassung vom 27. Oktober 2016, Urmatbek Akunov ./. Kirgistan,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2127/2011; Auffassung vom 21. Oktober 2016,Zhakhangir Bazarov ./. Kirgistan,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2187/2012.

38 Auffassungvom11.März2016,Mejdoub Chani ./. Algerien,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2297/2013,para.7.2.

39 GeneralCommentNr.31(Fn.11).

40 Auffassungvom11.März2016,Vladimir Vasilie-vich Neporozhnev ./. Russische Föderation, UN-Dok. CCPR/C/116/D/1941/2010, paras. 8.2.–8.4.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 125

unbefristetenArt derHaft solcheAuswir-kungenaufdiepsychischeGesundheitdesBeschwerdeführers hatten, dass medizi-nischeBerichteeineVerletzungbestätigen.41

Auch imHinblick aufAbschiebeverfahrenhattederAusschussdenArtikel7mehrmalszuprüfen.Erbetonte,dassesdiePflichtdesVertragsstaatessei,nichtauszuliefern,wenndieGefahrbesteht,dassimHeimatlandAr-tikel6oderArtikel7verletztwird.DieGe-fahr muss den Beschwerdeführer persön-lich betreffen, eswird eine hohe SchwelleerwartetundeineechteGefahrvonirrepa-rablenSchädenmussbestehen.ZurBeurtei-lungmüssenalle relevantenFaktorenmit-einbezogenwerden,persönlicheUmständewie auch die allgemeine Menschenrechts-lageimbetreffendemStaat.42DerAusschusserinnertanseineEntscheidungspraxis,dassderBeurteilungdurchdenVertragsstaateinsignifikantesGewichtbeigemessenwerdenmuss.EsseigeradedieAufgabederStaats-organe, die erworbenen Erkenntnisse undFaktenzubewertenundzubeurteilen,umfestzustellen, ob dem Abzuschiebendenin seinem Herkunftsland Folter oder un-menschlicheBehandlungdroht.

ImFallA. H. A. ./. Dänemark schloss sich der Ausschuss der Beurteilung des Ausweise-staatesan.DieArgumentedesBeschwerde-führers seien sehr vage und unplausibel,dieallgemeineSicherheitslageimbetreffen-denTeilvonSomalianichtdrastisch.Erent-schieddaher,dasskeineVerletzungvonAr-tikel7vorliegt.43

Der Ausschuss kann aber auch zu einemanderen Ergebnis kommen und eine Ver-letzungfeststellen,wenndieEntscheidungdes Vertragsstaates offenkundig unange-messen oderwillkürlich ist oder dieser esverabsäumt hat, entscheidungserheblicheTatsachenangemessenzuberücksichtigen.

41 F. J. ./. Australien (Fn.27),para.10.6.

42 GeneralCommentNr.31(Fn.11),para.12.

43 Auffassung vom 8. Juli 2006, A. H. A. ./. Däne-mark, UN-Dok. CCPR/C/117/d/2493/2014,paras. 8.2–8.6.; auch: Auffassung vom 14. Juli2016,A. M. M. ./. Dänemark,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2415/2014,para.7.4.;Entscheidungvom14. Juli 2016, V. R. und N. R. ./. Dänemark, UN-Dok.CCPR/C/117/2745/2016,paras.4.4.–4.6.

IneinemweiterenFallbetreffenddieAus-lieferung nach Somalia wurde festgestellt,dassdaskumulativeVorliegenzahlreicherGründe dazu führt, dass der Beschwerde-führerdurcheineAuslieferungnachSoma-liavoneinerGefahrvonirreparablenSchä-denbetroffenwäre.DieserhattedasLandbereits imAltervonfünf Jahrenverlassen,keineFamiliemehrvorOrt, eingeschränk-te Sprachkenntnisse in Somali, gehört ei-nemMinderheitsclanan,hattekürzlichTu-berkuloseundseinBruderhattegeradeerstSchutzstatusinDänemarkerhalten.44

In der Rechtssache K. G. ./. Dänemarkbetref-fenddiebeabsichtigteAbschiebungdesBe-schwerdeführers nach Sri Lanka sah derAusschusskeinenVerstoßgegenArt.7.DerBeschwerdeführer trug vor, dass er Tami-leseiundbefürchtegetötetzuwerden,dadieFreundin seines ehemaligenAngestell-tenseinGeschäftnutzte,umTreffenderLi-berationTigersofTamilEelam(LTTE)45zuorganisieren.AllerdingssahderAusschusseinesolcheGefahralsnichtgegebenan.DerBeschwerdeführer habe keinerlei Anhalts-punktevorgetragen,dieihnineinekonkre-te Verbindung zu politischen AktivitätenderLTTEbringenkönnten.DerAusschussbetonte,dassreindieTatsachederZugehö-rigkeit zur Minderheit der Tamilen nichtausreicht und keine ernsthafte Gefahr fürdenBeschwerdeführerfestzustellenwar.46

Eine Vielzahl weiterer Fälle gegen Däne-markwarenzubeurteilen.47Darunterauch

44 Auffassung vom 4. Juli 2016, A. A. S. ./. Däne-mark,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2464/2014,pa-ras.7.2.–7.7.

45 Hintergrund ist der Bürgerkrieg in Sri Lanka,dervon1983bis2009andauerte.TamilischeSe-paratisten (v.a. die Liberation Tigers of TamilEelam (LTTE)) kämpften um die Unabhängig-keit vom Inselstaat Sri Lanka. Sie forderte, ausden tamilischen Siedlungsgebieten im Nordenund Osten einen unabhängigen Staat TamilEelam zu bilden. Der Bürgerkrieg endete mitdem vollständigen Sieg der sri-lankischen Re-gierungstruppenüberdieRebellenimJahr2009.

46 Auffassung vom 22. März 2016, K. G. ./. Däne-mark,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2347/2014,pa-ras.7.2.–7.4.

47 ZahlreicheweitereFällegegenDänemark.Aus-weisungnachPakistan:Auffassungvom13.Juli2016,A und B ./. Dänemark,UN-Dok.CCPR/C/

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einige, die sich mit der Anwendung derDublinII-Regelungauseinandersetzten.

Die BeschwerdeführerA. S. M. und R. A. H. solltennachItalienausgewiesenwerden,dadiesderOrtihrerErstankunftaufdemTer-ritoriumderEUwar.Siebrachtenvor,dasssie damals bereits Unterstützung von Ita-lienerhaltenhattenunddemnachbeiWie-derkehrkeinenAnspruchmehrhätten.Diesozioökonomischen Umstände in Italienseienbeschwerlich,esherrscheeinMangelanZugangzusozialerUnterstützung,Un-terkünftenundArbeit,weshalbdieWahr-scheinlichkeit einer Obdachlosigkeit mitzweikleinenKindernsehrhochwäre.UnterBerufung auf die Allgemeine BemerkungNr.31 teilt der Ausschuss diese Meinungnicht.TrotzderschwierigenLageinItaliensei nicht erkennbar, dass die Beschwerde-führer auf eine außergewöhnliche Weisemehrgefährdetwärenalsandere.Diesehat-teninderVergangenheiteineGesundheits-karte erhalten, die eine InanspruchnahmevonLeistungen ermöglicht hatte, darunterauch dieGeburt der beidenKinder. AuchwarderVaterinItalienzeitweisesogarbe-rufstätig.Esistdahernichterkennbar,dasseine Ausweisung offensichtlich unzumut-barist.48IneinemanderenFallwurdeeineVerletzungfestgestellt.DieBeschwerdefüh-rerin lebte zunächst in Italien,wurde abernach Erhalt des subsidiären SchutzstatusohneAlternativeausihrerUnterkunftver-wiesenundlebtefortanaufderStraße.Mitt-lerweileistdieBeschwerdeführerinmitih-

117/D/2291/2013.AusweisungnachRussland:Auffassungvom13.Juli2016,S. Z. ./. Dänemark, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2443/2014. Aus-weisung nach Armenien: Auffassung vom11.März2016,Z. ./. Dänemark,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2422/2014.AusweisungnachAfgha-nistan: Auffassung vom 1. Juli 2016, E. U. R. ./. Dänemark, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2469/2014;Entscheidungvom30.März2016,A. ./. Dä-nemark, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2357/2014.Ausweisung nach China: Auffassung vom26. Oktober 2016, J. D. ./. Dänemark, UN-Dok.CCPR/C/118/D/2204/2012.AusweisungnachBangladesch: Auffassung vom 12. Juli 2016,M. K. H. ./. Dänemark, CCPR/C/117/D/2462/2014.

48 Auffassung vom 7. Juli 2016, A. S. M. und R. A. H. ./. Dänemark, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2378/2014,para.8.6.

renvierTöchterninDänemark.DerEGMRhatte festgestellt, dass in Italien Problemeherrschen,aberkeine systemischenFehler.Dennoch müssen dem Ausschuss zufolgediepersönlichenUmstände inBetrachtge-zogenwerden.IndiesemFallwarendieEr-lebnisse daher als so drastisch zu werten,dassderAusschusseineVerletzungvonAr-tikel7feststellte.49

Ähnliche Fragen stellten sich hinsichtlichder Ausweisung nach Bulgarien. Die Be-schwerdeführerhatteninBulgarienkeinenZugang zu einer Unterkunft, keine aus-reichende medizinische Versorgung undmusstenmitBabyaufderStraßeleben.Siewurden bei ihrerAnkunft von der Polizeieingesperrt undmisshandelt.Mit VerweisaufdasUrteildesEGMR,indemdieserfest-stellt,dasseinedeutlicheBeeinträchtigungdermateriellenundsozialenLebensbedin-gungenbei einerAusweisungkein ausrei-chenderGrundist,umArtikel3EMRKzuverletzen,betontderAusschuss,dassessichimgegenständlichemFalljedochumintole-rableLebensbedingungenhandelt,weshalbeineVerletzungvorliegt.50 Anders entschie-denwurdeeinFall,indemdieBetroffeneneineUnterkunfthatten,bissie freiwillig ineineeigeneWohnunggezogensind.Siehat-ten keine Problememit Behörden und le-diglichdiesozioökonomischeSituationvor-gebracht. Daher sah der Ausschuss keineVerletzung.51

ZahlreicheweitereFällebetreffenddieAus-lieferung von Asylwerbern wurden demAusschussvorgelegt.52

49 Auffassungvom7. Juli 2016,Ms. Obah Hussein Ahmed ./. Dänemark, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2379/2014,paras.13.2.–13.9.;ähnlich:Auffas-sungvom29.März2016,Abdilafir Abubakar Ali und Mayul Ali Mohamad ./. Dänemark, UN-Dok.CCPR/C/116/D/2409/2014.

50 Auffassung vom 28.Oktober 2016,R. A. A. und Z. M. ./. Dänemark, UN-Dok. CCPR/C/118/2608/2015,paras.7.2.–7.8.

51 Auffassung vom 28. Oktober 2016, B. M. I. und N. A. K. ./. Dänemark, CCPR/C/118/D/2569/2015.

52 Auslieferung nach Kirgistan: Auffassung vom2.März2016,K. B. ./. Russland,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2193/2012.AuslieferungnachWeiß-russland: Entscheidung vom 30. März 2016,V. D. ./. Russland, UN-Dok. CCPR/C/116/D/

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 127

3. Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person; Verfahrensgarantien bei Freiheitsentziehung (Art. 9)

Artikel9schütztdasRechtaufpersönlicheFreiheitundSicherheit.Niemanddarfwill-kürlich festgenommenoder inHaft gehal-tenwerden.Weralso inhaftiertwirdohneüberdenGrundderVerhaftunginformiertzuwerden,ohneKontakt zurFamilieundohneRechtsbehelf,wurde inseinemRechtausArtikel9verletzt.53

DerAusschussbetonteerneut,dassderBe-griff„willkürlich“nichtmit„rechtswidrig“gleichzusetzen sei, sondern weiter inter-pretiertwerdenmuss.Abzustellenseidar-auf,obunangemessen,ungerechtundohneVorhersehbarkeit auf ein ordentliches Ge-richtsverfahren vorgegangen wurde.54 DieInhaftierung zumZwecke eines laufendenZuwanderungsverfahrens ist nicht per sewillkürlich.Siemussallerdingsgerechtfer-tigtwerdenalsbegründet,notwendigundverhältnismäßig in Anbetracht aller Um-ständeundnachZeitablauf immerwiederneu evaluiert werden. Zunächst könnenMigrantenzurÜberprüfungihrerIdentitätfestgehalten werden, anschließend jedochhandelt es sich um Willkür, sofern nichtGründe vorliegen, die sich auf die Einzel-personbeziehen,z.B.weildiekonkreteGe-fahr besteht, dass die betreffende PersonStraftaten gegen andere begehen könnte.Eine generelle Regel ist nicht zulässig; esmüssen immerweniger invasiveMittel inBetrachtgezogenwerden.AußerdemmussdiementaleGesundheitderMigrantenbe-rücksichtigtwerden.EineunbefristeteHaftaufgrundUnmöglichkeit derAbschiebungistjedenfallsnichtrechtens.Imgegenständ-lichen Fall wurden die Beschwerdeführerauf Grundlage des “Migration Act” Aus-traliens rechtmäßig inhaftiert. AllerdingskonntevomStaatnichtnachgewiesenwer-

2198/2012.AuslieferungnachSriLanka:Auffas-sungvom22.März2016,Y ./. Kanada,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2314/2013.

53 Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan(Fn.16),para.7.3.;ähnlich:Auffassungvom28.Oktober2016,Vyacheslav Berezhnoy ./. Russland,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2107/2011.

54 General Comment Nr. 35 (2014), UN-Dok.CCPR/C/GC/35.

den,dassjederEinzelnebeurteiltwurde.EswurdenauchkeineRechtsmittelinAussichtgestellt oder anderweitig angezeigt, dassderStaatbemühtsei,Lösungenzufinden,umeineFreilassungzuermöglichen.Daherstellte derAusschuss eine Verletzung vonArtikel9Abs.1fest.55

DerAusschuss betont abermals, dass eineVerletzung von Artikel 9 Abs.4 vorliegt,wenn keinRechtsmittel existiert, das auchdieMöglichkeitderFreilassungbeinhaltet,wenndieHaft alsnichtvereinbarmitdenKonventionsrechtenist.56

Eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung,wieinArtikel9Abs.5,bedeutetnachAus-legung durch die Allgemeine BemerkungNr. 3557, dass sich die Unrechtmäßigkeitaus einer Verletzung des innerstaatlichenRechtsodereinerVerletzungeinerBestim-mung aus der Konvention ergeben kann.DieTatsache,dasseinVerurteilterimNach-gang freigesprochenwird–erstinstanzlichoderinBerufung–machtperseeinevoran-gegangeneHaftnichtunrechtmäßig.58EineFestnahme ohne Haftbefehl ist aber nichtzulässig. Der Beschwerdeführer Paul EricKingue, Bürgermeister inKamerun, konn-te im vorliegenden Fall nachweisen, dasserwegenseinerHandlungenimAmtvomStaat mutwillig zur Zielscheibe gemachtwurdeundwegendreiverschiedenenVer-brechenhintereinanderangeklagtundver-urteiltwurde,dieallesamtinderBerufungaufgehobenbzw.vomHöchstgerichtannul-liertwurden.ErwurdeaußerdemzwanzigTageineinerEinzelzelleinUntersuchungs-haft gehalten; dies ohne Haftbefehl undohneAußenkontakt.DerAusschuss stelltedeshalbeineVerletzungvonArtikel9Abs.1undAbs.3 fest.59AuchdieverspäteteEnt-lassungnachEndederHaftstrafeistabTageinseineVerletzunggem.Artikel9Abs.5.60

55 F. J. ./. Australien(Fn.27),paras.10.2.–10.4.

56 Ibid.,para.10.5.

57 GeneralCommentNr.35(Fn.54).

58 Ebd.,para.51.

59 Auffassung vom 3. November 2016, Paul Eric Kingue ./. Kamerun, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2388/2014,para.7.6.

60 Ramazan Esergepov ./. Kasachstan(Fn.20).

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128 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

In einem weiteren Fall gegen AustralienwurdederBeschwerdeführerwegennicht-vorhandenem Visum zunächst in Unter-suchungshaft genommen, bevor es in derFolge zu strafrechtlichen Ermittlungenkam.InderZwischenzeitgabeskeinefor-maleAnklage.Eskonntenichtausreichendbegründetwerden,warumes fünfMonatedauerte,bisderKlägerstrafrechtlichange-klagtwurde. DerAusschuss betonte, dasseinGefangenerbei strafrechtlichenErmitt-lungen auch vor einer formalen Anklageunverzüglich vor einen Richter gebrachtwerden muss.61 Im gegenständlichen Fallbeantragte der Staatsanwalt auf Basis desEinwanderungsgesetzeseinstrafjustizlichesBleiberecht.SpätestensabdiesemZeitpunkthättederBeschwerdeführervoreinenRich-tergebrachtwerdenmüssen.62DieHaftwardemnachalswillkürlichzuwerten.63

Im selben Fall wurde auch die Dauer derHaft wegen des strafrechtlichen Verbre-chensuntersucht,daderBeschwerdeführerdie Mindesthaft für Menschenschmuggel als nicht gerechtfertigt sah.UnterVerweisaufdieAllgemeineBemerkungNr.3564 stell-tederAusschussklar,dassdieMindesthaftfürMenschenschmuggelinVerbindungmitderSchwerederTat,vorallem,weilzahlrei-cheMenschenlebengefährdetwurden,not-wendigist.WillkürbedeutedieVerhängungdrakonischerStrafenfürminderschwereTa-tenohneangemesseneErklärungundohneunabhängigeprozessrechtlicheSchutzmaß-nahmen. Im gegenständlichen Fall wurdederBeschwerdeführerfürschuldigerklärt,die Maximalstrafe wurde nicht ausgereiztunderwurdenachAblaufderHaftentlas-sen.EsergabensichdaherkeinerleiHinwei-seaufWillkür.65

Artikel9kannauchverletztwerden,wennesumdieZwangseinweisungvonPersoneninmedizinischeEinrichtungengeht.Imge-genständlichenFallhattesichderPräsident

61 GeneralCommentNr.35(Fn.54),para.32.

62 Nasir ./. Australien (Fn.28),para.7.5.

63 Ibid.,paras.7.2.–7.5.

64 GeneralCommentNr.35(Fn.54),paras.14und20.

65 Nasir ./. Australien (Fn.28),para.7.7.

des Quarter’s Committee in seiner ArbeitzahlreicheMaledurchdieBeschwerdefüh-rergestörtgefühltundsahsichgezwungeneinepsychiatrischeUntersuchungeinzulei-ten,umandereBewohnerzuschützen.DieBetroffenenwurdendaraufhinzwangswei-seeingewiesen.DerAusschussbetont,dassFreiheitsentzug nicht willkürlich erfolgendarfundnurunterBeachtungderRechts-staatlichkeit. Auch die Zwangseinweisungdarfnurals letztesMittelundfürdiekür-zestmöglicheDauer,begleitetvonangemes-senenverfahrens-undmateriellrechtlichenGarantien erfolgen. In diesem Fall warendieBeschwerdeführerneunTageimKran-kenhausohnerichterlicheAnordnungundgegendasGesetz.EinemedizinischeUnter-suchungwurde zunächstnicht vorgenom-men,auchwurdekeinBeistandbestellt.DieFeststellung einer psychiatrischen Krank-heit berechtigt als solche nicht zum Frei-heitsentzug.Diesermussimmernotwendigundgerechtfertigtsein,umdiebetreffendenPersonenvorsichselbstoderanderevorih-nenzuschützen.AuchwennFreiheitkeinabsolutesRechtdarstellt,kannaufgrundderSchwereeinesEntzugsdiesernurgerecht-fertigtwerden,wennanderewenigerinva-siveMaßnahmeninErwägunggezogenundalsnichtausreichendbewertetwurden.EshandeltsichdaherumwillkürlicheHaft.66

4. Menschenwürdige Freiheitsentziehung (Art. 10)

ImfolgendenFallbrachtederBeschwerde-führer vor, dass dieHaftbedingungen un-menschlich und in Verletzung von Arti-kel10waren, insbesonderederMangelanausreichendem Zugang zu medizinischerVersorgung.DerBeschwerdeführerwurdegefoltertundhattezahlreicheVerletzungen,die sich durch die Haftbedingungen ver-schlechterten.Erwurde imLaufederHaftzwei Mal von einer amerikanischen Ärz-tinuntersucht,diefeststellte,dassersofor-tige Hilfe benötige, unter anderemwegenfortschreitendemSehverlustund traumati-scherKopfverletzungen.Bisheutewurden

66 Auffassungvom11.März2016,T. V. und A. G. ./. Usbekistan, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2044/2011,paras.7.3.–7.9.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 129

keinerlei Tests oder Behandlungen durch-geführt. Der Ausschuss betont in diesemZusammenhang nochmals die Einhaltungder Mindestregeln für Häftlinge.67 In die-semFallwurdeeineklareVerletzung,auchvon zahlreichen unabhängigen Experten,bestätigt.68

5. Beschränkung der Ausweisung (Art. 13)

DerBeschwerdeführerwurdevonKanadanach Thailand wegen strafrechtlicher Er-mittlungen ausgewiesen, ohne dass ihmim Vorfeld die Möglichkeit zur Stellung-nahmegegebenwurde.DasHauptproblemwardieFrage,obdieZustimmungKanadaszurAuslieferungeineVerletzungderRech-te des Opfers darstellte, nachdem der Be-schwerdeführer anschließend in Thailandwegen zusätzlicher Verbrechen verfolgtwurde,die imOriginalantragnichtenthal-tenwaren.ErstnachderAuslieferungundInhaftierung wurde ein Spezialitätsgesuchgestellt. Der Ausschuss betont, dass eineAuslieferungunterdenSchutzderKonven-tion fällt, auchwenn bilaterale Regeln be-stehen.AußerdemliegtdieKompetenzderEntscheidungzurAuslieferungbeiGericht,imvorliegendenFallwurdesieaberdurchdas Justizministerium gewährt ohne rich-terlicheÜberprüfungundandererechtlicheGarantien. Da der Beschwerdeführer sichim Vorfeld nicht äußern durfte und auchkein Richter das Auslieferungsgesuch ge-prüfthatte,lageineVerletzungvor.69

InzahlreichenFällenwurdeArtikel13vor-gebrachtinBezugaufdieAusweisungille-galerMigranten.DerAusschussstellteklar,dassdieserhiernichtanzuwendenist.70

67 MindestgrundsätzederVereintenNationen fürdieBehandlungvonGefangenen(Nelson-Man-dela-Regeln)vom17.Dezember2015,UN-Dok.A/Res/70/175.

68 Auffassung vom 31.März 2016,Azimjan Aska-rov ./. Kirgistan, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2231/2012,para.2.15.

69 Auffassungvom3.November2016,Rakesh Saxe-na ./. Kanada, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2118/2011,paras.11.2.–12.

70 Unter anderem erwähnt in: Entscheidung vom

6. Recht auf ein faires Verfahren (Art. 14)

ImFallAnnakurban Amanklychev ./. Turkme-nistanstelltederAusschussfest,dasszahl-reicheverfahrensrechtlicheGarantienmiss-achtet wurden. Obwohl die Anhörungformal als öffentlich gekennzeichnet war,wurden Freunde, Familie und Nichtregie-rungsorganisationen nicht zugelassen.DerAusschuss betont unter Verweis auf dieAllgemeine Bemerkung Nr. 3271, dass alleStrafrechtsverhandlungen öffentlich undmündlichstattfindenmüssen,umimSinnedes Transparenzgedankens den Einzelnenund die Gesellschaft als Ganzes zu schüt-zen.72

Auch im Fall Ramazan hat der Ausschuss betont, dass eine Ausnahme vom Prinzipnurmöglichsei,wenndasGerichtaufgrundmoralischerGründe,Ordrepublicoderna-tionaler Sicherheit beschließt einen Teiloder die ganze Öffentlichkeit auszuschlie-ßen. Die wesentlichen Feststellungen unddas Urteil müssen dennoch öffentlich ge-machtwerden.73

Die Kennzeichnung des Falles als „strenggeheim“ führte hier auch dazu, dass demBeschwerdeführer Dokumente vorenthal-tenwurden,diefürseineausreichendeVor-bereitung aufdieVerteidigungnotwendigwaren,obwohldiesebereitsöffentlichwa-ren.DerAngeklagtemussZugangzuallenDokumenten haben, die der StaatsanwaltplantvorGerichtzuverwenden.74

DasRecht derVerteidigung ist ein funda-mentales Recht, das beinhaltet, dass manpersönlichanwesendistundvoneinemAn-walt der eigenenWahl vertretenwird. ImInteressederJustizkannesmöglichwerden

3.November2016,I. A. K. ./. Dänemark,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2115/2011.

71 General Comment Nr. 32 (2007), UN-Dok. CCPR/C/GC/32,para.14.

72 Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan(Fn.16),7.4.

73 GeneralCommentNr.32(Fn.71),para.29.;auch:Vasilievich ./. Russische Föderation (Fn. 40), para.8.5.; ähnlich: Auffassung vom 31. März 2016,Y. M. ./. Russland,UN-Dok.CCPR/C/116/D/2059/2011.

74 GeneralCommentNr.32(Fn.71),para.33.

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auchgegendenWillendesAngeklagtenei-nenAnwaltzubestellen,diesallerdingsnurbeiobjektivschwerwiegendemGrund.An-dernfalls liegt eineVerletzungvonArtikel14Abs.3lit.dvor.75

UnterVerweis auf dieAllgemeine Bemer-kung Nr. 3276 wiederholt der Ausschussseine Entscheidungspraxis, dass niemandwegen desselben Verbrechens noch ein-malangeklagtoderverurteiltwerdendarf,wenndieserdafürschoneinMalabschlie-ßend verurteilt wurde. Im vorliegendenFall wurde der Beschwerdeführer zweiMalzulangenHaftstrafenverurteilt,nach-demerbeideMalemitVerweisaufseinenGlaubenalsZeuge Jehovasdenobligatori-schen Militärdienst verweigert hatte. DiesstellteineVerletzungvonArtikel14Abs.7dar.77

BetreffenddasVorbringen,dass eineMin-deststrafedieUnabhängigkeitdesRichtersverletzt,weildiesernicht frei istunabhän-gigeinUrteilzufällen,stelltderAusschussklar,dassdasErfordernisderUnabhängig-keit sich auf tatsächliche Unabhängigkeitvon politischer Einmischung bezieht. Dader Beschwerdeführer nicht nachgewiesenhat, dass der Richter beeinflusst oder ein-geschüchtert wurde, war die Beschwerdeunzulässig.78

EinGeständnis,welchesunterphysischemoder psychischem Druck erlangt wurde,mussgem.Artikel14Abs.3lit.gvomVer-fahrenausgeschlossenwerden.79

75 Ramazan Esergepov ./. Kasachstan (Fn. 20), pa-ra.11.5.

76 GeneralCommentNr.32(Fn.71).

77 Auffassungvom14. Juli 2016,Dovran Bahramo-vich Matyakubov ./. Turkmenistan, UN-Dok.CCPR/C/117/D/2224/2012,para.7.5.

78 Nasir ./. Australien (Fn.28),para.6.6.

79 Auffassung vom 11.März 2016, Filip Maksimo-vich Polkikh ./. Russische Föderation, UN-Dok.CCPR/C/116/D/2099/2011,para.9.6.

7. Anerkennung der Rechtsfähigkeit (Art. 16)

DerEhemannderBeschwerdeführerinwur-de 1999 von Polizisten abgeholt und inSundhara, Kathmandu, eingesperrt. Siekonnte ihn kurz darauf von Weitem aufdemPolizeigeländesehen,aberseitdemgilter als vermisst. Erzwungenes Verschwin-denlassenistzwarnachdemPaktkeineige-nerTatbestand,aberbestehtauszahlreichenTatbeständen, die mehrere Konventions-rechte verletzen. Das bewusste EntferneneinerPersonausdemSchutzdesRechtsistdie Verleugnung der Rechtsfähigkeit, alsoeineVerletzungvonArtikel16.80

8. Recht auf Privatleben (Art. 17)

Artikel 17 schützt das Privatleben, wozuauch das Familienleben gehört. Eine Ver-letzungkannvorliegen,wennPersonenauseinem Familienverband abgeschoben wer-den.Esistjedochnichtso,dassdieAuswei-sungeinesodermehrererFamilienmitglie-derperseeineVerletzungdarstellt.

BeiVorliegen einer Einmischungmuss imnächsten Schritt geprüft werden, ob diesewillkürlich oder rechtswidrig ist. Gerecht-fertigtseinkanndieEinmischungalsonurdann,wennobjektivfeststellbarist,dassdieGründedesStaateshöherwiegenalsdieLastderFamilie.ImVerfahrenW. M. G. ./. Kana-dakonntezweifellosbejahtwerden,dassdieAusweisung zum Schutz des Staates not-wendig war. Der Beschwerdeführer wur-de während seiner Zeit in Kanada wegenzumindest elf Straftaten verurteilt, wovoneinigegegenseineEhefraugerichtetwaren.Erhattezuvor28JahreinSimbabwegelebt,dort studiertundgeheiratet.Währendderzehn Jahre in Kanada hatte er sichwederandieEinreisebestimmungennochandererechtlicheVorschriftengehalten.AußerdemwardieFürsorgedergemeinsamenKinderhauptsächlich seiner Frau überlassen, wo-durchauchnichtfestgestelltwerdenkonn-te,dassdieAbschiebungdasFamilienlebendrastischbeeinträchtigenwürde.Esbesteht

80 Auffassung vom 12. Juli 2016, Sabita Basnet ./. Nepal, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2164/2012,para.10.9.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 131

auch keinHindernis, dass die Familie ihnin Simbabwe besucht. Die Einmischungwar daher nicht als unverhältnismäßig zuwerten.81

EinandererFallbestätigt,dassesaufdiein-dividuellen Umstände ankommt, die eineVerletzung begründen können, wenn esum die Ausweisung von Familienmitglie-derngeht. ImFallD. T. ./. Kanada sollte die Mutter eines siebenjährigen Sohnes, derdie kanadische Staatsbürgerschaft besitzt,nach Nigeria ausgewiesen werden. Man-gelsweitererFamilienmitgliederinKanadazwingt dies die Beschwerdeführerin dazuihren Sohn gegebenenfalls mitzunehmen.DieswürdeihrenSohninvielerleiHinsichtbenachteiligen, da er an mehreren Krank-heiten leidet und in Kanada bereits Ope-rationenhatte,dieweiterenachsichziehenkönnen.DerAusschussbetontdasPrinzip,dassinallenEntscheidungen,dieeinKindbetreffen,dessenbestesInteresseimMittel-punkt stehenmuss. Dies ist in der vorlie-gendenKonstellationjedenfallsnichtgege-ben.InZusammenschauallerUmständehatderAusschussdahereineklareVerletzungfestgestellt.82

Artikel17kannaußerdemimHaftzustandbetroffensein.GemäßderNelson-Mandela-Mindestregeln83 sollenHäftlinge diese un-ternotwendigerÜberwachungdieErlaub-nis haben mit ihren Familien und engenFreunden regelmäßig ungehindert Korre-spondenz zu halten.84 Eine gewisse Ein-schränkung des Telefonkontaktes ist derHaft allerdings innewohnend.EineVerlet-zungliegtauchnichtvor,wennGründeaufSeitendesHäftlingsvorliegen,wieimvor-liegendenFall,wodieFamilieineinemab-gelegenen Dorf mit beschränkter Telefon-möglichkeitlebt.85

81 W. M. G. ./. Kanada (Fn.19),paras.7.5.–7.6.

82 Auffassung vom 15. Juli 2016, D. T. ./. Kana-da, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2081/2011, pa-ras.7.2.–7.11.

83 Nelson-Mandela-Regeln(Fn.67).

84 Annakurban Amanklychev ./. Turkmenistan(Fn.16),para.7.5.

85 Nasir ./. Australien (Fn.28),para.6.5.

Der Begriff Familie wurde im VerfahrenI. M. Y. ./. Dänemark konkretisiert. Mit Ver-weisaufParagraph5derAllgemeinenBe-merkungNr. 1686 hält der Ausschuss fest,dass der Begriff Familie weit interpretiertwerden muss. Der Beschwerdeführer sahseinRechtaufPrivatlebengefährdetnach-demerausDänemarkausgewiesenwerdensollte.Erbrachtevor,dassseinegesamteFa-milie inDänemark lebt, hatte aber keiner-leigenaueAngabengemachtoderInforma-tionen vorgelegt, die eine enge BeziehungzuseinenElternundGeschwisternbestäti-gen.AufgrunddiesesMangelskonntenichtfestgestellt werden, warum eine Ausliefe-runginseinHeimatlandSomaliaeineEin-mischung in das Familienleben darstellenwürde.87

Artikel17schütztaußerdemjedenvorun-rechtmäßigenAngriffenaufEhreundRuf.88

IneinemFallgegenIrlandgingesumdenSchwangerschaftsabbruchderBeschwerde-führerin Amanda Jane Mellet, die in der21.Schwangerschaftswocheerfuhr,dassihrFötusGeburtsfehlerhabe,diedazuführen,dass dieser entweder noch im MutterleiboderkurznachderGeburtversterbenwür-de.Aufgrunddes innerstaatlichenVerbotsvon Schwangerschaftsabbrüchen hatte dieBeschwerdeführerin nur die MöglichkeitentwederbiszumEndeauszutragen,indemWissen,dassdasungeboreneKindimLeibsterbenkann,odereineAbtreibungimAus-landvornehmenzulassen.Siebrachtevor,dasssiekeinemedizinischeUnterstützunginIrlanderhielt,unmenschlichundernied-rigendbehandeltwurdeund einer großenStigmatisierung ausgesetzt war. Der Ver-tragsstaat brachte vor, dass die betreffen-deBestimmungeineBalancederRechtedesFötus undderRechte derMutter gewähr-leisten soll. Nach ihrer Entscheidung imAuslandabzutreibenerhieltdieBeschwer-deführerinkeineUnterstützungmehrvom

86 GeneralCommentNr.16(1988),para.5.

87 Entscheidungvom14.Juli2016,I. M. Y. ./. Däne-mark,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2559/2015,pa-ra.7.8.

88 Auffassungvom3.November2016,Kouider Ker-rouche ./. Algerien,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2128/2012,para.8.6.

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irischenGesundheitssystem,mussteihrefi-nanziellen Reserven aufbrauchen, war ge-trenntvonderUnterstützungihrerFamilieund musste vor ausreichender BesserungihrerGesundheitinihrHeimatlandzurück-kehren. Das innerstaatliche Verbot stelltzudem auch jede Befürwortung und För-derung von SchwangerschaftsabbrüchenunterStrafe,wasdazuführt,dassauchderZugangzuInformationenüberausländischeEinrichtungendeutlich erschwertwird. Eswurden daher zahlreiche Konventionsver-letzungenfestgestellt.AuchdiePrivatsphä-reeinerFrauwirddurchdieEntscheidungüber einen freiwilligen Schwangerschafts-abbruch berührt. Entscheidend ist aber,ob die vorliegende Einmischung willkür-lich oder unrechtmäßig erfolgte. Die All-gemeineBemerkungNr.1689konkretisiert,dass Willkür auch vorliegen kann, wenndie Einmischung durch Gesetz erfolgt. Injedem Fall müssen Bestimmungen stetsmitdenZielenundZweckenderKonven-tionimEinklangstehenundimLichtederUmständeeinerjeweiligenSituationalsan-gemessen bewertet werden. Im konkretenFallwardielangerhoffteSchwangerschaftder Beschwerdeführerin nicht lebensfähig,beide ihr zu Verfügung stehenden Optio-nen brachten starkes Leid und die ReiseinsAusland hatte zusätzliche schwere ne-gative Konsequenzen, die hätten vermie-denwerdenkönnen,wennimVertragsstaatein Schwangerschaftsabbruch möglich ge-wesenwäre.DaherhandeltessichumeineVerletzung vonArtikel 17.DerAusschusshat zudemeineVerletzungvonArtikel 26festgestellt,dadieBeschwerdeführerinvorallem als Frau auch dadurch benachteiligtwurde,dassihremedizinischenBedürfnis-seundsozioökonomischenUmständenichtberücksichtigt und in Erwägung gezogenwurden.90

89 GeneralCommentNr.16(1988).

90 Auffassung vom 31. März 2016, Amanda Jane Mellet ./. Irland, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2324/2013,paras.7.2.–7.11.

9. Recht auf Gedanken­, Gewissens­ und Religionsfreiheit (Art. 18)

In zahlreichen Fällen gegen Turkmenistanwurden Zeugen Jehovas auf Grund ihresGlaubens diskriminiert.91 Shadurdy Uche-tov verweigerte mit Hinweis auf seinenGlaubendenMilitärdienst,wasseineInhaf-tierungzurFolgehatte.Ersahsichdaherinseinem Recht auf Gedanken-, Gewissens-und Religionsfreiheit verletzt. Die Freiheitberechtigt jeden zu einer Befreiung vomMilitärdienst,wenndiesermitderReligionoderdemGlaubennichtvereinbartwerdenkann. Das Recht darf durch Zwang nichtbeeinträchtigtwerden.DerAusschussführ-temitHinweisaufdieAllgemeineBemer-kungNr. 2292 aus, dass dieses Recht auchinKrisenzeitennichtverletztwerdendarf.Esmuss eineAlternative zumWehrdienstgeben,welchekeinenStrafcharakterhabendarf,eineDienstleistunganderGesellschaftdarstellt und die Menschenrechte respek-tiert.DieVerhaftungalsFolgederVerwei-gerung desWehrdienstes stellt also einenunzulässigenVerstoßgegendasRecht aufGedanken-, Gewissens- und Religionsfrei-heit dar. Bereits im ersten StaatenberichtundvorangegangenenBeschwerdenwurdedieseRegelungkritisiert,weshalbderAus-schussTurkmenistanabermalsaufriefseineGesetzeslageinEinklangzubringen.93

AuchineinemanderenFallgehtesumei-nenZeugenJehovas,derdenMilitärdienstinKoreaverweigerthatundaufBasisvonArtikel18dieAusweisungausKanadabe-anstandet.Dieseistjedochunzulässigratio-ne lociund rationemateriae,denndieBe-

91 Auffassung vom 14. Juli 2016, Matkarim Ami-nov ./. Turkmenistan, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2220/2012; Auffassung vom 14. Juli 2016,Akmurat Halbayewich Yegendurdyyew ./. Turkme-nistan, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2227/2012;Auffassungvom15.Juli2016,Navruz Tahirovich Nasyrlayev ./. Turkmenistand, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2219/2012; Auffassung vom 15. Juli2016, Akmurad Nurjanov ./. Turkmenistan, UN-Dok.CCPR/C/117/D/2225/2012.

92 General Comment Nr. 22 (1993), UN-Dok. CCPR/C/21/Rev.1/Add.4.

93 Auffassung vom 15. Juli 2016, Shadurdy Uche-tov ./. Turkmenistan,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2226/2012,para.7.6.

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Weber:BerichtüberdieTätigkeitdesMenschenrechtsausschusses 133

schränkungderNicht-Ausweisungbeziehtsichnurdarauf,wenneinbegründetesRi-sikobesteht,dassArtikel 6oder7verletztwird.Dieskonntenichtbelegtwerden,da-herwardieBeschwerdenichtzulässig.94

10. Recht auf Meinungs­ und Meinungs­äußerungsfreiheit (Art. 19)

DasRechtauffreieMeinungsäußerungbe-inhaltetdieGewährleistung InformationenundIdeenallerArtzusuchen,zuerhaltenundzuvermitteln,unabhängigvonmünd-lichen, schriftlichen oder gedruckten Be-schränkungen.DieAllgemeineBemerkungNr.3495führtdazuweiteraus,dassdiesdieBasis jeder Gesellschaft darstellt und eineBeschränkung der strikten Prüfung vonNotwendigkeit und Verhältnismäßigkeitentsprechen muss. Beschränkungen dür-fenausschließlichfürdenvorgeschriebenenZweck angewendet werden und müssendirekt inBezugzurNotwendigkeitstehen.Artikel 19 Abs.3 zählt Möglichkeiten derBeschränkung auf. Diese müssen im Ein-zelfallvomStaatalsnotwendiggerechtfer-tigtwerdenundesmusssichergestelltwer-den,dassdiesenichtunvereinbarmitdemZielundZweckderKonventionsind.96 Im Fall Ramazan ./. Kasachstan wurde der Be-schwerdeführer zu einemVerbot derVer-öffentlichung über einen Zeitraum vonzweiJahrenverurteilt.DerAusschussaberstelltefest,dassdiegegenständlichenInfor-mationen weder als Staatsgeheimnisse zubetrachtenwaren,nochgabendieseMitteloderMethodenzuStrafermittlungenpreis,dieSicherheitsinteressendesStaatesbetra-fenoder eineGefahr fürdie IntegritätdesStaatsterritoriums oder die politische Un-abhängigkeit darstellten. Die Einschrän-kungerfolgtedemnachnichtaufBasisdergenannten Gründe in Artikel 19 Abs.3.DerKlägeristJournalist,dessenberuflicheHauptaufgabeesistdieÖffentlichkeitüberBelange zu informieren, die für diese von

94 Entscheidungvom3.November2016,Ch. H. O. ./. Kanada,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2195/2012.

95 General Comment Nr. 34 (2011), UN-Dok. CCPR/C/GC/34.

96 Ibid.,para.22.

Relevanzsind.ImvorliegendenFallgingesum Korruption und Amtsmissbrauch vonStaatsbediensteten. Eswurde nicht ausrei-chend gerechtfertigt, weshalb eine Verlet-zungdesOrdrepublicvorliegtunddieBe-schränkungrechtfertigt.97

Das Versagen des Mitgliedstaates – trotznationaler Verpflichtung – regelmäßigeVergabeverfahrendurchzuführenundver-fügbareRundfunkfrequenzenzuveröffent-lichen,hatdenBeschwerdeführerdavonab-gehalten eineRadiolizenz zu erhalten.DieAllgemeine Bemerkung Nr. 3598 konkreti-siert:

„freie,unzensierteundungehindertarbeitendeMediensindnotwendig,umdasRechtaufMei-nungsfreiheitund freieMeinungsäußerung so-wiedieUmsetzbarkeitweitererMenschenrechteabzusichern.EsstelltaucheinenderGrundpfei-ler einer demokratischen Gesellschaft dar. AlsMaßnahmeumdieRechtederMediennutzerzuschützenistesnotwendigeinegroßeBandbrei-te an Informationen und Ideen zu gewährleis-ten, Mitgliedstaaten sollten besonders bemühtseineineunabhängigeunddiverseMedienland-schaftzufördern.“99

Der Staat muss vor allem beschwerlicheLizenzbedingungen und Gebühren ver-meiden. Die Kriterien für deren Auferle-gung müssen angemessen und objektiv,klar, transparent sowie nichtdiskriminie-rend sein und im Einklang mit der Kon-ventionstehen.100EineBestrafungreinauf-grund der kritischen Haltung gegenüberderRegierungoderdempolitischenSystemkann nie als gerechtfertigte Beschränkungder Meinungsfreiheit gesehen werden.101 Die Nichtveröffentlichung der Liste vonFrequenzen, mangelnde VergabeverfahrenundZuweisungvonFrequenzenohneVer-fahrenanbereitsbestehendeEinrichtungen,dieengeVerbindungenzurRegierungauf-weisen, erfüllen nicht das Ziel der Siche-

97 Ramazan Esergepov ./. Kasachstan (Fn. 20), pa-ras.11.6.–11.9.

98 GeneralCommentNr.35(Fn.54).

99 Ibid.,paras.13–14.

100 Ibid.,para.39.

101 Ibid.,para.42.

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rung der Pluralität, sondern sind willkür-licheMaßnahmen.102

11. Recht auf friedliche Versammlung (Art. 21)

Das Recht auf friedliche Versammlung isteinfundamentalesMenschenrecht,welchesessentiellfürdenöffentlichenAusdruckei-nerindividuellenMeinungundunerlässlichfürdiedemokratischeGesellschaft ist.DasRechtbeinhaltetdasOrganisierenundTeil-nehmenaneinerVersammlung,einschließ-licheinesfestenMahnpostensaneinemöf-fentlichen Ort. Die Organisatoren dürfendabei einenOrtwählen, der sich in Sicht-undHörweitederZielgruppebefindet.Be-schränkungensindnurimEinklangmitdergesetzlichenLageerlaubtundwennsichdieNotwendigkeitausdemInteressedernatio-nalenSicherheitoderöffentlichenOrdnung,öffentlichenSicherheit,demSchutzderGe-sundheit, derMoral oder dem Schutz derRechte und Freiheiten anderer ergibt. Beieiner Beschränkung muss der Zweck imVordergrundstehen. ImFallMargarita Ko-rol ./. Weißrussland 103 wurde die Beschrän-kunggarnichtgerechtfertigt,weshalbauto-matischeineVerletzungfestgestelltwurde.Zahlreiche ähnlich gelagerte Fälle gegenWeißrussland erreichten den Ausschuss,dieallesamteineVerletzungdarstellten.104

102 Auffassungvom27.Oktober2016,Yashar Agaza-de und Rasul Jafarov ./. Aserbaidschan, UN-Dok.CCPR/C/118/D/2205/2012.

103 Auffassungvom14.Juli2016,Margarita Korol ./. Weißrussland,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2089/2011.

104 Auffassungvom30.März2016,Sergei Androsen-ko ./. Weißrussland, UN-Dok. CCPR/C/116/D/2092/2011;Auffassungvom14.Juli2016,Valen-tin Evzrezov ./. Weißrussland,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2101/2011;Auffassungvom14.Juli2016,Evgeny Basarevsky und Valery Rybchenko ./. Weiß-russland, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2108/2011und CCPR/C/117/D/2109/2011; Auffassungvom14. Juli2016,Pavel Levinov ./. Weißrussland, UN-Dok. CCPR/C/117/D/2082/2011; auch:Auffassung vom 14. Juli 2016, Valery Misni-kov ./. Weißrussland,UN-Dok.CCPR/C/117/D/2093/2011.

12. Schutz, Registrierung und Staats­angehörigkeit von Kindern (Art. 24)

Im Zusammenhang mit der Behandlunganderer Konventionsrechte kann auchAr-tikel 24 eine große Rolle spielen, nämlichdann,wennessichumeineminderjährigePerson handelt. Im gegenständlichen Fallwurde der damals 16-jährige VyacheslavBerezhnoy1995vonderPolizeifestgenom-menundverhaftet.Artikel24siehtvor,dassJugendliche besonderen Schutz brauchen,insbesondere bei Strafverhandlungen, ein-schließlichdurchdieUnterstützungderEl-tern oder der gesetzlichen Vertreter. Auf-grund der besonders vulnerablen Positionmüssen zusätzliche Vorkehrungen getrof-fenwerden, darunter die freieWahl einesAnwalts,einbesondersschnellesVerfahrenundausreichendeVorbereitungszeitfürdieVerteidigung.DaderVertragsstaatkeiner-lei spezielle Maßnahmen vorgesehen hat-te,hatderAusschusseineVerletzungfest-gestellt.105

105 Auffassungvom28.Oktober2016,Vyacheslav Be-rezhnoy ./. Russland,UN-Dok.CCPR/C/118/D/2107/2011, para. 9.7. Auch: Auffassung vom28.Oktober2016,Valentina Kashtanova und Gul-nara Slukina ./. Usbekistan, UN-Dok. CCPR/C/118/D/2106/2011.

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Patt:EGMR:WolterundSarfert./.Deutschland 135

EGMR: Wolter und Sarfert ./. Deutschland – Ungleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder im Erbrecht

Urteil der Fünften Sektion vom 23. März 20171

Jascha Patt

I. Sachverhalt12

DieBeschwerdeführerder beidenvomEGMRverbundenenBeschwerden rügten, dass siedurchdieAnwendungdesdeutschenErbrechtsdurchdieinnerstaatlichenGerichteaufgrundihrerGeburtdiskriminiertwordenseien.BeideBeschwerdeführersindvordemJahr1949alsnichtehelicheKindergeborenwordenundhabendiedeutscheStaatsangehörigkeitinne.

Der leiblicheVaterdeserstenBeschwerdeführershattedieVaterschafteinigeMonatenachderGeburtanerkanntundbeschäftigtedieseninseinemBetrieb.NachdemToddesVaterswurdedemerstenBeschwerdeführeraufdessenAntragvomAmtsgerichtKölneinErbschein

1 EGMR,WolterundSarfert ./.Deutschland,UrteilderFünftenSektionvom23.März2017, 59752/11und66277/13.DieUrteiledesEGMRsindabrufbarunter:www.echr.coe.int.

2 ZweitesGesetzzurerbrechtlichenGleichstellungnichtehelicherKinder,zurÄnderungderZivilprozessord-nungundderAbgabenordnungvom12.April2011,BGBl.2011I,S.615.

Zusammenfassung – nichtamtliche Leitsätze:

• AuchnachEinführungdesZweitenGesetzeszurerbrechtlichenGleichstellungnicht-ehelicherKindervom12.April20112 sieht die deutsche Rechtslage für ein nichtehe-lichesKind,dasvordem1.Juli1949geborenwurde,keinenErbersatzanspruchvor,sofernseinVatervordem28.Mai2009verstorbenist.

• Die erbrechtliche Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichenKindernstellteineungerechtfertigteDiskriminierungvermögensrechtlicherArtundsomit eineVerletzungdesArt.14EMRK i.V.m.Art.1des1.Zusatzprotokolls zurKonventiondar.

• EineunterschiedlicheBehandlungwegenderGeburtistnurbeigewichtigensachli-chenGründenmitArt.14EMRKvereinbar.

• DieMitgliedstaatenhabengrundsätzlichdasRecht,ÜbergangsvorschriftenmitStich-tagsregelungenzuerlassen,umeinerseitsderRechtssicherheitRechnungzutragenundandererseitsbestehendeDiskriminierungenaufzuheben.

• DerSchutzdesTestamentsundderVertrauensschutzderErbenmüsseninderRegelhinterdemhöherrangigenGebotderGleichbehandlungehelicherundnichtehelicherKinderzurückstehen.

• DieKenntnisderErbenvonanderenAbkömmlingendesErblassers,dieAnfechtbar-keitdererbrechtlichenAnsprücheunddiebiszurGeltendmachungverstricheneZeitentscheidenmaßgeblich darüber, ob die starreAnwendung der Stichtagsregelungverhältnismäßigist.

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136 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

ausgestellt,derjedochimFolgemonatmangelsgesetzlicherErbenstellungwiedereingezogenwurde.DieBeschwerdegegendieEinziehunghattevordemLandgerichtKölnkeinenErfolg.SeinAntragauferneuteAusstellungeinesErbscheinswurdevomAmtsgerichtKölnabgewie-sen.DieBeschwerdevordemLandgerichtKölnunddieweitereBeschwerdevordemOber-landesgerichtKölnbliebenerfolglos.

DerVaterdeszweitenBeschwerdeführersist1949dazuverurteiltworden,UnterhaltfürdenSohnzuzahlen.Diebeidentrafensichnurviermal,weilderVaterkeinenKontaktwünsch-te.AlsAlleinerbinhatteerseineehelicheTochterimTestamenteingesetzt.DerBeschwerde-führerklagteaufAuszahlungseinesPflichtteils.DasLandgerichtHamburgwiesdieKlageebensoabwiedasOberlandesgerichtHamburgdieBerufungundderBundesgerichtshofdieRevision.

Beide Beschwerdeführer legten in der Folge Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfas-sungsgerichtein.DieverbundenenVerfassungsbeschwerdenverwarfdasBundesverfassungs-gerichtmit Beschluss vom 18.März 20133, indem es feststellte, dass die Fachgerichte dasnationaleRechtverfassungskonformausgelegthätten.InsbesonderehabederersteBeschwer-deführerzuspätundderzweiteBeschwerdeführerüberhauptnichtnachgewiesen,ineinerengenpersönlichenBeziehungzuihremleiblichenVatergestandenzuhaben.DieBeschwer-deführerberiefensichinallenInstanzenaufdieneuerlicheRechtsprechungdesEGMRzurUngleichbehandlungnichtehelicherKinder.

InseinemUrteilvom28.Mai2009inderSacheBrauer ./. Deutschland 4entschiedderEGMR,dassdieAnwendungdesArt.12§10Abs.2Satz1desNichtehelichengesetzes(NEhelG)ausdemJahr1970denArt.14 i.V.m.Art.8EMRKverletze.Dennnachdieser innerstaatlichenVorschriftstandnursolchennichtehelichenKindern,dievordem1.Juli1949geborenwur-den,einErbersatzanspruchinHöhedesWertesdesErbteilszu.DerEGMRbefand,dassderSchutzdesVertrauensdesErblassersundseinerFamiliedemGebotderGleichbehandlungnichtehelicherundehelicherKinderunterzuordnensei.DurchdasZweiteErbrechtgleichstel-lungsgesetzvom12.April2011(ZwErbGleichG)wurdediegerügteVorschriftrückwirkenddahingehendgeändert,dassauchsolchennichtehelichenKindern,dievordem1.Juli1949ge-borenwordensind,einentsprechenderErbersatzansprucheingeräumtwurde.AllerdingsgaltdieseRegelungausschließlichfürsolcheErbfälle,beidenenderErblasseramodernachdem28.Mai2009,alsodemTagderUrteilsverkündunginderRechtssacheBrauer ./. Deutschland, verstorbenwar.

DiejeweiligenVäterderBeschwerdeführersindjedochschonimJahre2006bzw.2007ver-storben.DaherwarenihreFällenochnichtvondererbrechtlichenGleichstellungerfasst.DerEGMRmusstesichalsomitderFragebefassen,obdieUntersagungeinesErbersatzanspru-chesfürsolchenichtehelichenKinder,dievordem1. Juli1945geborenwurdenundderenVätervordem28.Mai2009verstarben,durchdieAnwendungderbestehendennationalenRegelungendieseinihremRechtausArt.14EMRKi.V.m.Art.1des1.ZusatzprotokollszurKonventionverletzte.

II. Entscheidung der Fünften Sektion

DieKammerderFünftenSektiondesEGMRerließdasvorliegendeUrteil.Aufgrund ihresähnlichen tatsächlichenund rechtlichenHintergrundeshatdieKammerdiebeiden Indivi-dualbeschwerdennachArt.42Abs.1derVerfahrensordnungdesGerichtsverbunden.

3 BVerfG,Beschlussvom18.März2013–1BvR,2436/11und1BvR3155/11.

4 EGMR,Brauer ./. Deutschland,UrteilderFünftenSektionvom28.Mai2009,3545/04.

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Patt:EGMR:WolterundSarfert./.Deutschland 137

1. Einwand Deutschlands gegen die Zulässigkeit

DieBundesregierungbestrittzunächstdieZulässigkeitdererstenIndividualbeschwerde,in-demsievorbrachte,derinnerstaatlicheRechtswegseinichtausgeschöpftworden.DerersteBeschwerdeführerhabedieIntaktheitderBeziehungzuseinemVatererstvordemOberlan-desgerichtvorgebracht.EshandlesichdabeiumeinverspätetesVorbringen,weilderdiesbe-züglicheSachvortragimHinblickaufdiePrüfung,obseineRechteausArt.14EMRKi.V.m.Art.1des1.ZusatzprotokollszurKonventionbetroffenwaren,relevantgewesenwäre.

DerEGMRstelltefest,dassArt.35Abs.1EMRKhinsichtlichderErschöpfungdesRechtswegsnureineBefassunginnerstaatlicherGerichtederSachenacherfordere.Daherseiesunschäd-lich, dassder ersteBeschwerdeführer nicht aufArt.14EMRK i.V.m.Art.1 des 1.Zusatz-protokollszurKonventionBezuggenommenhat.DerausdrücklicheVortragderDiskrimi-nierungunddieBerufungaufeinenihmzustehendenErbersatzanspruchseienausreichend.AuchhabedasBundesverfassungsgerichteineinhaltlicheEntscheidungüberdieVerfassungs-beschwerdedeserstenBeschwerdeführersgetroffenundseisomithinreichendmitderSachebetrautgewesen.DieEinwendungderBundesregierungwurdedaherzurückgewiesen.DieverbundenenBeschwerdenwarenzulässig.

2. Rügen einer Verletzung von Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls

a) VorbringenderParteien

Der erste Beschwerdeführer brachte vor, das Zweite Erbrechtgleichstellungsgesetz vom12.April2011habedieungerechtfertigteDiskriminierunggegenihnnichtverhindernkön-nen,daesdieUngleichbehandlungzwischenvorundnachdem1.Juli1949geborenennicht-ehelichenKindernlediglichindenjenigenFällenaufgehobenhabe,indenenderVaternachdem28.Mai2009verstorbensei.InFällen,indenenderErbfallvordem28.Mai2009eintrat,habedieUnterscheidungweiterbestanden.AngesichtsderRechtsprechungdesEGMRseiderSchutzdesTestamentessowiedasmöglicherweisebestehendeVertrauenderalsErbenein-gesetztenFamilienmitgliederdemGebotderGleichbehandlungnichtehelicherundehelicherKinderunterzuordnen.

NachAnsichtdes zweitenBeschwerdeführershatdieAnwendungdesZweitenErbrechts-gleichstellungsgesetzesihndiskriminiert,daeskeinangemessenesVerhältniszwischendeneingesetztenMittelnunddemverfolgtenZiel hergestellt habe.HättederdeutscheGesetz-geberinFällen,indenenderVatervordem28.Mai2009verstorbenwar,amAusschlussvordemStichtag1. Juli 1949geborenernichtehelicherKindervongesetzlichenErbansprüchenfesthaltenwollen,hättenEntschädigungsansprüchegegenüberdenErbenvorgesehenwerdensollen,umdasGesetzmitderKonventioninEinklangzubringen.

DieRegierungtrughingegenvor,dassfürdiefortbestehendeUngleichbehandlungeineob-jektiveundvernünftigeRechtfertigungvorgelegenhabe.DerSchutzdesVertrauensderjeni-genPersonen,diebereitsvonArtikel1des1.ZusatzprotokollszurKonventiongeschützteRechteauseinemErbfallerlangthätten,alsoderErben,überwiegedenInteressendernicht-ehelichenKinder.DurchdieRückwirkungderGesetzesänderungaufdenTagdesUrteilsdesEGMRinderRechtssacheBrauer ./. DeutschlandseieinverhältnismäßigerAusgleichzwischenden InteressendervondieserGesetzesänderungbetroffenenAbkömmlingeundden Inter-essennichtehelicherKinderhergestelltworden.DieTatsache,dassErbendenNachlassnachinnerstaatlichemRechtmitAblebendesErblasserserlangen,ohnedassesdazuweitererrecht-licherSchrittebedürfte,verhindereeineweiterreichendeReformdieserGesetzesbestimmung.DarüberhinausseieninErbfällen,indenenderNachlassbereitszwischendenErbenverteiltwordensei,rechtlicheundpraktischeProblemeunausweichlich.EineweitereRückwirkungdesGesetzesausGründenderVerhältnismäßigkeitseidahernichterforderlichgewesen,ins-besondereangesichtsdesGrundsatzesderRechtssicherheit,welchenderGerichtshofinsei-

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nem Urteil in der Rechtssache Marckx ./. Belgien5derart festgelegthabe,dasseinStaatnachdemKonventionsrechtdavonentbundensei,RechtshandlungenoderRechtslagen,dievorderVerkündungeinesUrteilsdesEGMRgelegenhaben,inFragezustellen.

b) EntscheidungderKammer

DieKammerstelltezunächstdieEinschlägigkeitvonArt.14EMRKi.V.m.Art.1des1.Zu-satzprotokollszurKonventionfest.VoraussetzungfüreineVerletzungdieserRechtesei,dassder Beschwerdeführer bei Nichtvorliegen des von ihm gerügten diskriminierendenGrun-deseinennachinnerstaatlichemRechtdurchsetzbarenAnspruchaufdenbetreffendenVer-mögensgegenstandgehabthätte.DiestreffeaufbeideBeschwerdeführerzu,daihnendasErb-rechtaufdenNachlassihresjeweiligenVaterseinzigaufgrundihrerStellungalsnichtehelicheKinderverwehrtwordensei.

Eine Ungleichbehandlung sei nach der Rechtsprechung des EGMR6 im Sinne von Art.14EMRKdiskriminierend,wenn es für sie „keine objektiveundvernünftigeRechtfertigung“gebe,d.h.wennmit ihrkein„legitimesZiel“verfolgtwerdeoder„dieeingesetztenMittelzumangestrebtenZielnichtineinemangemessenenVerhältnis“stünden.DabeiverwiesdieKammer auf die hohe Bedeutung, die die Mitgliedstaaten der zivilrechtlichen Gleichstel-lungehelicherundnichtehelicherKinderbeimäßen.DarausfolgeeinebeachtlicheHürdefürdieKonventionskonformitätdahingehenderUngleichbehandlungen.AusdiesenRahmenbe-dingungenergebesich,dassderGesichtspunktdesVertrauensschutzesderErblasserundih-rerFamiliendemGebotderGleichbehandlungunterzuordnensei.Prüfungsmaßstabseige-wesen,obdieAnwendungderimZweitenErbrechtsgleichstellungsgesetzenthaltenenstarrenStichtagsregelungeinangemessenesVerhältniszwischendemeingesetztenMittelunddemangestrebtenZielhergestellthabeoderobessichdabeiumeineungerechtfertigteDiskrimi-nierungvonnichtehelichenKindernhandele.

DassdieAnwendungdergeändertenFassungvonArtikel12§10Abs.2Satz1NEhelGzueinerUngleichbehandlungeinesvordemStichtagdes1.Juli1949geborenennichtehelichenKindes,dessenVatervordem28.Mai2009verstorbenist,gegenüberanderenKinderngeführthat,habedieRegierungnichtbestritten.Zuprüfenwardahernur,obdieseUngleichbehand-lunggerechtfertigtwar.

Dabei stelltedieKammerzunächst fest,dassdieBundesrepublik imAnschlussandasUr-teil Brauer ./. DeutschlandzurmaßgeblichenZeitseineerbrechtlichenVorschriftenreformierthabe.DieBeibehaltungderUngleichbehandlungdienedemlegitimenZiel,RechtssicherheitzugewährleistenunddasTestamentdesErblasserssowiedieRechteseinerFamiliezuschüt-zen.DieEinführungeinesStichtagesseigeeignetdieErreichungdiesesZieleszufördernundansichnichtdiskriminierend.DieBegründungdesBundesverfassungsgerichts7 hinsichtlich derVerfassungskonformitätdesgeändertenArtikel12§10Abs.2Satz1NEhelGnahmdieKammerdahingehendzurKenntnis,dasseineweiterreichendeRückwirkungdesGesetzesüber denVerkündungstermin in derRechtssacheBrauer ./. Deutschland hinaus denGrund-satzderRechtssicherheitverletzthätte,dersowohldemKonventions-alsauchdemGemein-schaftsrechtnotwendigerweiseinnewohne.FolglichhabedasBundesverfassungsgerichtdieRechtederBeschwerdeführergegenübereinemderKonventionzugrundeliegendenWertab-gewogen.

5 EGMR,Marckx ./. Belgien, Urteilvom13.Juni1979,6833/74.

6 InsbesondereEGMR,Fabris ./. Frankreich,Urteilvom7.Februar2013,16574/08;EGMR,Mazurek ./. Frankreich, Urteilvom1.Februar2000,34404/97.

7 BVerfG,Beschlussvom18.März2013(Fn.3).

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Patt: EGMR: Wolter und Sarfert ./. Deutschland 139

Ob unter den besonderen Umständen der zu entscheidenden Fälle ein gerechter Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen hergestellt worden sei, hänge nach der Kammerentscheidung von folgenden Faktoren ab:

(1) „der Kenntnisstand der betroffenen Personen“8,

(2) „der Status der betroffenen erbrechtlichen Ansprüche“9 und

(3) „die bis zur Geltendmachung der Rügen vergangene Zeit.“10

Zu (1): Der erste Beschwerdeführer sei kein den Erben unbekannter Abkömmling. Vielmehr sei den späteren Erben wegen der ursprünglichen Ausstellung eines Erbscheines an den Be­schwerdeführer bekannt gewesen, dass ihre Ansprüche auf den Nachlass des Erblassers strei­tig waren. Hinsichtlich des zweiten Beschwerdeführers hielt die Kammer für möglich, dass seine Halbschwester als Erbin nicht über dessen Existenz informiert war, da der Erblasser den Beschwerdeführer unstreitig darum gebeten habe, sich von der Familie fernzuhalten und er diesem Wunsch wohl nachgekommen sei.

Zu (2): In beiden Fällen war die Frist zur Geltendmachung erbrechtlicher Ansprüche nach dem innerstaatlichen Recht noch nicht abgelaufen. Daher hätten die Erben wissen müssen, dass trotz Übergangs des Nachlasses noch Ansprüche auf den gesetzlichen Erbteil oder einen Pflichtteil durch einen Dritten geltend gemacht und dadurch ihre Rechte am Nachlass be­einträchtigt werden konnten. Darin sah der EGMR eine erhebliche Einschränkung des Ver­trauensschutzes, der daher „bestenfalls relativ“ bestanden habe.

Zu (3): Auch hätten beide Beschwerdeführer unmittelbar nach Verkündung des Urteils in der Rechtssache Brauer ./. Deutschland Klage erhoben und somit nicht schuldhaft gezögert. Nach der bis dahin bestehenden Rechtslage habe ihnen schließlich kein Erbersatzanspruch zu­gestanden.

Alle erheblichen Faktoren dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung sprächen mithin für das Über­wiegen der Interessen der Beschwerdeführer. Gegen sie sprächen ausschließlich ihre vor dem 1. Juli 1949 datierten Geburtsdaten sowie das Versterben ihrer Väter vor dem 28. Mai 2009. Wegen der „enormen Bedeutung“11 der Beseitigung aller Ungleichbehandlungen ehelicher und nichtehelicher Kinder sei die auf die Rechtssicherheit abstellende Begründung der inner­staatlichen Gerichte nicht ausreichend, um die Ansprüche der Beschwerdeführer auf einen Anteil am Nachlass ihrer Väter unter den konkreten Umständen zu überwiegen.

Da der Grund für den Ausschluss der Erbansprüche der Beschwerdeführer gerade in der Un­gleichbehandlung aufgrund ihrer Stellung als nichteheliche Kinder zu sehen sei und den Be­schwerdeführern durch das nationale Recht auch keine anderweitige Entschädigungsmög­lichkeit gewährt werde12, liege ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention vor.

III. Anmerkung und nationale Umsetzung

1. Methodisch erscheint das Urteil des EGMR nicht vollumfänglich stringent. Nach Auflis­tung der drei maßgeblichen Kriterien für die Interessenabwägung, stellt die Kammer plausi­bel dar, dass das Kriterium „Kenntnisstand der betroffenen Personen“ nur im Falle des ers­ten Beschwerdeführers hinreichend erfüllt ist. Sie legt der Entscheidung zugrunde, dass die

8 EGMR, Wolter und Sarfert ./. Deutschland (Fn. 1), Rn. 72.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Ibid., Rn. 77.

12 Ibid., Rn. 79.

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140 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

AngehörigendesErblassersimFalledeszweitenBeschwerdeführersnichtvondessenExis-tenzwussten.TrotzdieserunterschiedlichenErgebnissedifferenziertdieKammerinihrerab-schließendenWürdigungderKriteriennichtzwischendeneinzelnenBeschwerdeführern.ImErgebnisscheintdieWürdigungdennochauchimFalldeszweitenBeschwerdeführerszutref-fendzusein.DieübrigenbeidenKriteriensprecheneindeutigfüreinÜberwiegenderInter-essendesBeschwerdeführersgegenüberdemVertrauensschutzdergesetzlichenErben.Den-nochwäreeinesauberegetrennteDarstellungderErgebnissederSubsumtionunterdievomEGMRerstmalsaufgestelltenKriterienwünschenswertgewesen.

2.Rechtsdogmatischbemerkenswert ist insbesondere,dassderEGMRhiereineVerletzungdesArt.1des1.ZusatzprotokollszurKonventioni.V.m.Art.14EMRKgegebensah.InderRechtssache Brauer ./. Deutschland hatte er ausschließlich eineVerletzung vonArt.8Abs.1i.V.m.Art.14EMRKfestgestellt13unddafürkonsequenterweiseeinbestehendes„Familien-verhältnis“fürerforderlichgehalten.DurchdasAbstellenaufArt.1des1.ZusatzprotokollszurKonventionwirddieseVoraussetzungumgangen,sodassauchderzweiteBeschwerde-führereinenErbersatzanspruchgeltendmachenkann.EinbestehendesfamiliäresVerhältniszwischendemErblasserunddemnichtehelichenKindistdemnachalsokeineVoraussetzungmehr für denErbersatzanspruch.Dies verdient unterGleichbehandlungsaspektenZustim-mung,dafürdieSchlechterstellungeinesnichtehelichenKindes,welchesdenBezugzusei-nemleiblichenVaterverlorenodernieerlangthat,keinsachlichesArgumentbesteht.

3.NachdiesemrichtungsweisendenUrteildesEGMRstelltesichdieFrage,wiedienationaleRechtsordnungdaraufreagierenwürde.InBetrachtkameinerseitseineklarstellendeGeset-zesänderung,andererseitseineÄnderungderRechtsprechungspraxisdeutscherGerichte.IneinemBeschlussvom12.07.201714führtederBGHaus,dasseineteleologischeErweiterungdesArt.5Satz2ZwErbGleichGdurchdieGerichteeineausreichendeReaktionaufdieneueRechtsprechungdesEGMRsei.DieseteleologischeErweiterungunddieFragederNotwen-digkeiteinergesetzlichenÄnderungsollnunabschließendbeleuchtetwerden.

DerBGHnenntbezugnehmendaufdasUrteildesEGMRnebendengenanntenHauptkriteriennochdenUmstand,obdurchdasnationaleRechteinefinanzielleEntschädigungfürdenVer-lustdesErbrechtsgewährtwird,alsmaßgeblichfüreinengerechtenInteressenausgleich.Die-seshatderEGMRzwarnuralsabschließendenGesichtspunktinseinenEntscheidungsgrün-denangeführt,esdannaberdochalszusätzlichesKriteriumeingeordnet.InseinemBeschlussstelltderBGHzurechtfest,dassunterZugrundelegungdieserKriteriendieAntragstellerindeszuentscheidendenähnlichgelagertenFallesbeieinerwortlautgetreuenAnwendungvonArt.5Satz2ZwErbGleichGinihrenRechtenausArt.14EMRKi.V.m.Art.1des1.Zusatz-protokollszurKonventionverletztwürde.DerAntragstellerinstehefürdenAusschlussdesErbrechts insbesondere auchkeinAnspruchaufZahlung einerfinanziellenEntschädigungzu,weildieVoraussetzungvonArt.12§10Abs.2Satz1NEhelG indergem.Art.1Nr.2ZwErbGleichGgeändertenFassung–dasBestehendesFiskuserbrechtsgem.§1936BGB–imStreitfallnichterfülltsei.

DaherseiArt.5Satz2ZwErbGleichGdahingehendteleologischzuerweitern,dassdieErset-zungvonArt.12§10Abs.2Satz1NEhelGaFgem.Art.1Nr.2ZwErbGleichGbereitsfürdeninRedestehendenErbfallGeltungbeanspruchtund§1598Abs.2BGBaFdamitnichtmehranzuwenden sei. DieMöglichkeit dieser teleologischen Erweiterung habe das Bundesver-fassungsgerichtinseinerEntscheidungvom18.03.201315ausdrücklichoffengelassen.SieseinachdengeltendenMethodenstandardsangezeigt.DerBGHwendetimRahmendieser„te-leologischenErweiterung“dieMethodikderanalogenAnwendungan.EineRegelungslücke

13 EGMR,Brauer ./. Deutschland,UrteilderFünftenSektionvom28.Mai2009,3545/04,Rn.45.

14 BGH,Beschlussvom12.Juli2017–IV ZB 6/15,ZEV2017,S.510.

15 BVerfG,Beschlussvom18.März2013(Fn.3).

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Patt:EGMR:WolterundSarfert./.Deutschland 141

bestehe,daArt.5Satz2ZwErbGleichGgemessenanseinemgesetzesimmanentenZweckhin-sichtlichErbfällen,diesichvordem29.05.2009ereignetenundintatsächlicherHinsichtmitder Rechtssache Brauer ./. Deutschland vergleichbarseien,ergänzungsbedürftigsei.DasZweiteErbrechtsgleichstellungsgesetz bezwecke nämlich eine möglichst weitgehende BeseitigungderUngleichbehandlungehelicherundnichtehelicherKinder.DabeihabederGesetzgeberdieseBeseitigungauchfürErbfälle,diesichvordem29.05.2009ereigneten,ausweislichderBeratungsprotokolle16,fürwünschenswertgehaltenundsichnurwegendesentgegenstehen-denVertrauensschutzesundderzubefürchtendenpraktischenSchwierigkeitengegeneinesolcheRückwirkungentschieden.Ergingdavonaus,dasseineerneuteVerurteilungdurchdenEGMRunwahrscheinlich sei,dadieRechtssacheBrauer ./. Deutschland vonbesonderenUmständengekennzeichnetgewesensei.17DiesmachenachAnsichtdesBGHdeutlich,dassderGesetzgeber solche aus seiner Sicht „atypischen Fälle“ nicht dahingehendhabe regelnwollen,dasseszueinerweiterenVerurteilungkomme.VielmehrseiesdemGesetzgeberjageradeumdieAufhebungderKonventionswidrigkeitgegangen.Indemvonihmzuentschei-dendenFallhatderBGHeineVergleichbarkeitmitderRechtssacheBrauer ./. Deutschland an-genommen,daalleBesonderheitengegebengewesenseien,dieausSichtderGesetzgeberseinen„atypischenFall“begründeten:dieAntragstellerinlebteinderDDR,derErblasserinderBRD;einetatsächlicheNähebeziehungzwischenbeiden;keinschutzwürdigesVertrauendergesetzlichenErbenmangelsihrerseitigenNähebeziehungzumErblasser.

DieteleologischeErweiterungdesArt.5Satz2ZwErbGleichGseiverfassungskonform,dasiewederdenErblassernochdieErbeninihrenGrundrechtenverletze.InsbesondereüberwiegedasbiszurÄnderungdesNichtehelichengesetzesdurchdasZweiteErbrechtsgleichstellungs-gesetzbestehendeErbrechtderAngehörigennichtdasinArt.6Abs.5GGebenfallsverfas-sungsrechtlichverbürgteRechtderAntragstellerinaufgrundsätzlicheGleichbehandlungmitehelichenKindern.Maßgebendsei insoweitderGesichtspunkt,dass seitderEntscheidungin der Rechtssache Brauer ./. DeutschlandkeingefestigtesVertrauenderVäternichtehelicherKinderundderenerbberechtigterFamilienangehörigeraufdenFortbestandderbisherigenRechtslagemehrhabeentstehenkönnen.

NichterforderlichisteineteleologischeErweiterungauchnachderRechtsprechungdesEGMRfürdieFälle, indenenüberdieerbrechtlichenAnsprüchebereits rechtskräftigentschiedenwordenist.DenndannkannnachnationalemRechtkeineanderweitigeEntscheidungmehrergehen.MangelsmateriellerRechtskraft gegenüber demnichtehelichenKind genügt eineEntscheidungimErbscheinsverfahren,wieimFalledeserstenBeschwerdeführers,hingegennicht.18AuchdieFälledesStaatserbrechtsbedürfenkeinerneuenBewertung,dadennichtehe-lichenKinderneinangemessenerAnspruchaufGeldersatzausArt.12§10Abs.2Satz1NE-helGnFzusteht.ZuletztmussauchdannkeinErbersatzanspruchgewährtwerden,wenndieVerhältnismäßigkeitsprüfunganhanddervomEGMRaufgestelltenKriterienzudemErgeb-nisführt,dassderVertrauensschutzderErbendenAnspruchaufGleichbehandlungdesnicht-ehelichenKindesimEinzelfallüberwiegt.AnhanddesUrteilsWolter und Sarfert ./. Deutschland wirdjedochdeutlich,dassdiesnichtzwangsläufigbeiNichterfüllungeinesKriteriumsgege-benist.NichtehelichenKindern,dieindenAnwendungsbereichderneuenRechtsprechungfallen,sollteallerdingsgeratenwerden,ihrenErbersatzanspruchumgehendgeltendzuma-chenumdemdrittenKriteriumderVerhältnismäßigkeitsprüfungRechnungzutragen.Ins-besonderewennzudemleiblichenVaterkeinfamiliäresVerhältnisbestand,isterstdurchdasUrteil Wolter und Sarfert ./. Deutschland dieAussichtaufeinenAnspruchentstanden,sodassdiesemKriteriumindiesenFällennochnachgekommenwerdenkann.

16 BT-Drs.17/4776,7.

17 Ibid.

18 D. Leipold,NeueErbchancenfür„alte“nichtehelicheKinder:derEuropäischeGerichtshoffürMenschenrechteundderBGHbeseitigendieDiskriminierung,in:ZEV2017,S.489–496(S.494).

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142 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

EinegesetzlicheNeuregelungzurKlarstellungderRechtslagehatderEGMRinseinemUr-teilnichtausdrücklichgefordert.Stattdessenverlangter,dasseineiminnerstaatlichenRechtbestehendeStichtagsregelungeineflexibleHandhabungzulässt.Diesekanndurcheinege-richtlicheAnwendungderVerhältnismäßigkeitsprüfunganhanddervomEGMRaufgestell-tenKriterienhinreichendgewährleistetwerden.EineGesetzesänderungerscheintmithinent-behrlich.

DiebesprocheneEntscheidungveranschaulichteinmalmehr,dass sichmenschenrechtlicheFragestellungennichtnuraufSachverhaltebeziehen,diesichimAuslandzutragen,sondernaucheinfürdendeutschenRechtsanwenderpraxisrelevantesRechtsgebietwiedasnationaleErbrechtbetreffenkönnen.

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Buchbesprechungen 143

Buchbesprechungen

Tania Fabricius, Die Aufarbeitung von in Kolonialkriegen begangenem Unrecht: Anwend-barkeit und Anwendung internationaler Regeln des bewaffneten Konflikts und nationalen Militärrechts auf Geschehnisse in europäischen Kolonialgebieten in Afrika. Schriften zum Völkerrecht 223, Berlin: Duncker & Humblot, 2017, 405 Seiten, ISBN 978-3-428-15011-3.

DieNotwendigkeiteinerAufarbeitungko-lonialen Unrechts wird von vielen Politi-kern, die indenNachfolgestaatenderKo-lonialmächte Einfluss haben, inzwischennichtmehrbestritten.Sohabensich,umeinBeispielzunennen,deutscheEntwicklungs-undAußenpolitikerinNamibiawiederholtfür Massaker entschuldigt, die deutscheTruppen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr-hundertsunterdenHererosangerichtetha-ben.DamaligeMilitäraktionen,diefaktischAusrottungsfeldzüge waren, endeten, wasnichtmehrbestrittenwird,mitdemVölker-mordaneinerVolksgruppe,derenBezeich-nung als „Hottentotten“ noch Jahrzehntespäter sprichwörtlich wurde. Deshalb giltder Begriff des „Völkermord“ als ange-messen.

SchuldbekenntnissevonPolitikernsindin-zwischen, so scheint es, sogarwohlfeilge-worden. Umstritten bleiben allerdingsweiterhin politische und völkerrechtlicheKonsequenzen, soweit sie eine Verpflich-tungzuWiedergutmachungberühren.DieVerpflichtung zur Begleichung hängt na-türlichvonPrämissen ab, dieden Juristenberühren.Dennfürihnistnichtdiegegen-wärtige politisch-moralische Bewertungentscheidend,sonderndieFragederStraf-barkeitzumZeitpunktderspäterals„Ver-brechen“eingestuftenHandlungen.

WieerstjüngsteBemühungenderNachfah-renderHererosbelegen,istdieBereitschaftderdeutschenRegierung,FolgerungenausgewaltsamerUnterdrückungder„Kolonial-völker“ und einer inhumanen Kriegsfüh-rungzuziehen,mehralsschwachausgebil-det. Beschwerden werden abgelehnt, dieAnnahme von Beschwerdeschreiben wirdsogarverweigert.

Hier setzt die vorliegende, sehr gründlicherarbeiteteundkeineswegsdeklamatorisch

sich erschöpfende juristische Berliner Dis-sertationvonTaniaFabriciusan.Derkom-plizierte Titel, bei juristischenDissertationnichtunüblichunddeshalbfürdenNicht-Juristenhäufiggeeignet,dieBedeutungei-nerArbeitnichtangemesseneinschätzenzukönnen, verbirgt die politische BedeutungdieserStudieebensowieihreRelevanzfürNachbardisziplinen, insbesondere die his-torischeFriedens-undMenschenrechtsfor-schung. Dies auszugleichen ist u.a. auchdasZieldieserBesprechung.

Offensichtlich ist, dass Fabricius sich vonden aktuellenAuseinandersetzungen überdie „Kolonialvergangenheit“ inspirierenundmotivierenließ.Der inhaltlicheErtragihrerArbeitliegtvoralleminderAufarbei-tungvonzunächstfaktischweitgehender-folglosen Bemühungen, die Kolonialkrie-gezuzivilisierenundzuhumanisieren.ImKernabernimmtdieVerfasserindiePraxisder„Kolonialkriege“zumAnlass,dieeben-sopolitischgravierendewieauchjuristischherausforderndeundüberdiesdiebisheu-tenichtumfassendgelösteProblematikei-ner„AufarbeitungkolonialenUnrechts“indenBlickzunehmen.DabeibeschränktsiesichnichtaufeineengedeutschePerspek-tive, sondern erschließt europäische Zu-sammenhänge der Kolonialgeschichte. Sieberührt in Fallstudien über Deutsch-Süd-westafrika,Belgisch-Kongo,KeniaundAl-gerien,dieetwadieHälftederArbeitum-fassen, wesentliche Aspekte europäischerImperial- undKolonialgeschichte seit demspäten19.Jahrhundertundbisweitindas20.Jahrhunderthinein.

Angesichts heutiger Sensibilisierung gro-ßer Teile der Weltöffentlichkeit und derMöglichkeiten der UNO gegenüber demUnrecht, das mit der Unterdrückung undAusrottung indigenerVölker imZugedereuropäischen Expansion einherging, ist es

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144 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

mehr als erstaunlich, dass nach 1945 dieVerletzungen der Menschenrechte in denKolonialkriegen nur allmählich zum The-mawurden.Eigentlichsindsieerstmitder„Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassen-diskriminierungundFremdenfeindlichkeitundderdamit zusammenhängenden Into-leranz“seit2001 indasZentrumeinesall-gemeinen Interesses gerückt. Die Durban-Konferenz knüpfte unmittelbar nach derJahrtausendwende programmatisch an dieEmpfehlungderUnterkommissionderVer-einten Nationen aus dem Vorjahr an, mitdereinZusammenhangzwischenKolonial-verbrechen und der aktuellen Menschen-rechtspolitikhergestelltwurde(vgl.S.24).

Um die Bedeutung dieser Dissertation zuverdeutlichen, sei betont, dass die Verfas-serin nicht nur substantiell, sondern auchmethodischundsomitprinzipielleineFor-schungslücke füllt, weil sie die allgemei-ne Formulierung, der Kolonialismus hätteLeid verursacht, im erstenHauptteil ihrerArbeitzunächstdurcheinedenerwähntenFallstudienvorausgehendeDarstellungvonEntwicklungen des Völkerrechts auf einetheoretischreflektierteGrundlagestellt.Da-durchgewinntdieStudieexemplarischeBe-deutung, nicht zuletzt durch methodischeReflexionen.

DerVerfasserinistzuzustimmen,wennsiebetont, die „gewaltsamenAuseinanderset-zungenzwischendenKolonialmächtenundderautochthonenBevölkerung“ließensichnichtnurhistorischbeschreibenoderpoli-tisch-theoretisch verallgemeinern.Weil siegrundsätzlicheFragendesVölkerstrafrechtsberührt,werden grundsätzliche Fragen ei-ner Wiedergutmachung dieses UnrechtsaufgeworfenundschließlichauchdieZivi-lisierungderKolonialkriegeindenBlickge-rückt,dievielzähervonstattengingalsdie,wenn es dies überhaupt geben kann, Hu-manisierung der kriegerischen Auseinan-dersetzungen zwischen den europäischenNationalstaaten,dieim19.Jahrhundertver-suchten,inAfrikaihreEinflusssphärenaus-zuweiten und ihre eigenen Rechtsvorstel-lungen durchzusetzen. Mit leichthin undanlässlichvonStaatsbesuchendeklamierten„Schuldeingeständnissen“(S.27)derRegie-rungen,denNachfolgernehemaligerKolo-

nialmächte, ist es also nicht getan; ebensowichtigistes,sichdemanzunähern,wasge-meinhinvergangeneWirklichkeitund„his-torischeWahrheit“genanntwird.

Bemerkenswert ist, dass die VerfasserindenErtragder indenvergangenen zwan-zig Jahren kräftig vermehrten kolonialenZeitgeschichte erfasst. Er hat sich, wie Li-teraturverzeichnis und Anmerkungen be-legen,ineinerkaummehrüberschaubarenForschungsliteratur niedergeschlagen. EswäreangesichtsdieserFülleanzeithistori-scherLiteraturbeckmesserisch,einejuristi-scheDissertation ander Frage zumessen,ob die Ergebnisse kolonialgeschichtlicherForschungmitfiligranerDelikatesseerfasstoder reproduziert wurden. Denn darumgehtesderVerfasserinnicht.

Vertreter benachbarter Disziplinen, nichtzuletztderPolitikwissenschaft,solltennut-zen,dassdieseArbeitsicheinemvielzen-traleren Problem historisch-zeitgeschicht-licher und juristischer Forschung widmet,nämlich der rechtshistorisch bedeutsamenFrage, welche Bedeutung bei der Beurtei-lung der völker- undmenschenrechtswid-rigen Unterdrückungs- und Ausbeutungs-praxis der Kolonialmächte des 19. und20. Jahrhunderts der Frage zukommt, wiesich„rechtlicheMaßstäbe“derVergangen-heit auf gegenwärtige Beurteilungen aus-wirken.GeradediesesProblemwirdbeire-trospektivenDiskussionenüberSchuldundVerantwortung und damit sicherlich auchderWiedergutmachung ausgeblendet. DieVerfasserin deutet an, dass „die rechtlicheBewertungvonGeschehnissenunterschied-licherEpochenverschiedenausfallen“kön-ne(S.31).

Dies kann mit dem Blick auf Diskussio-nen über Schuld und Verantwortung unddamit zusammenhängende Wiedergutma-chungsforderungennicht bedeuten, esmitzeitbedingten Relativierungen genug seinzulassen.UndgeradedeshalbsinddieVor-arbeitenfüreinesubstantielleAuseinander-setzungmit Ereignissen, Voraussetzungenund Folgen der Kolonialkriege, die nichteinmalmitdemAlgerienkriegihrEndefan-den,sondernimirischenBürgerkrieg,indenAuseinandersetzungenimBaskenlandoderindenspanischenKolonienfortwirkten.

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Buchbesprechungen 145

DieVerfasserinlässtkeinenZweifeldaran,dassbereitsseitderMittedes19.Jahrhun-dertsmultilateraleVersucheaufeineKodi-fizierungbewaffneterKonflikteunddamitaufeineModifizierungdesjeweilsnational-spezifischen Militärrechts zielten. Proble-matischwar, dass die auf die europäischeKriegsführungorientiertenBestimmungen,dieeinerEinhegungderKriegsführungunddemSchutzderihrerTruppendienten,nichtauchfürdieKriegsführungindenKolonienund insbesondere beidenKämpfengegendie Einheimischen gelten sollten. Die be-waffnetenAuseinandersetzungenrichtetensichvorallemgegendiedortlebendeBevöl-kerungundkannten,wiedieFallstudienimzweitenTeilderArbeitzeigen,inderRegelwederMaßnochZiel.DieDarstellungderEinzelheitenüberschreitetdenRahmen,derdieserRezensionzurVerfügungsteht;des-halbmüssendieseallgemeinenBemerkun-gengenügen.

InderDissertationgehtesmithinnichtumden historischen Kolonialismus in seinerVielschichtigkeit und Breite, sondern umdie Frage nach der „Anwendbarkeit undAnwendunginternationalerRegelndesbe-waffneten Konflikts sowie des nationalenMilitärrechts auf gewaltsame Geschehnis-se zwischenKolonialmächtenund autoch-thon-arabischen Afrikanern“ in den voneuropäischen Mächten beherrschten Kolo-nienAfrikas(S.30).DiesesProblemwirdinderüberausdifferenziertgegliederten,Lite-raturbezügeerschließendeundhistorische,politikwissenschaftliche, rechtsphilosophi-scheundjuristischeArgumentezusammen-führenden Studie hervorragend verfolgt.Die differenzierte Gliederung dieser Stu-die,dieauchdurcheinRegistererschlossenwird,istgeeignet,endgültigalleKontrover-sen über dieReichweite unddieMöglich-keit interdisziplinärer Sekundäranalyse adabsurdumzuführen.

Herausfordernd und im Ergebnis bedeut-sam bleibt, dass die Verfasserin zunächstdieMaßstäbe einermöglichenBeurteilungdervon ihrnicht inFragegestelltenKolo-nialverbrechen ergründet. Sie kann bele-gen,dassdieführendenVölkerrechtlerdes19. Jahrhunderts zutiefst befangen bliebenineinerethnischbegründetenÜberheblich-

keit, die Angehörige der Kolonialverwal-tungenundKolonialmächte,wievieleKolo-nialanekdotenbelegen,auszeichnete.AuchdieswirdindenFallstudiendurchgerade-zuunüberschaubareDetailsundZitatebe-legt. IndiesemZusammenhangisteinwe-nigbedauerlich,dassdieVerfasserinnichtnachjenenfragt,die,wieetwader1920vonFreischärlernermordeteHansPaasche,frühdafürwarben,inden„Eingeborenen“Men-schenzusehen,dieeinenAnspruchaufeineeigeneLebensgestaltungundAnerkennungbesäßen, eigentlich sogar den „Weißen“überlegenwaren.

DieVersuche, dieKriegsführung zu regu-lierenunddamitzuhumanisieren,betrafennurdieAngehörigenderalsangeblichhö-herstehendbezeichneten „Rasse“derWei-ßen. Die Verfasserin verwahrt sich davor,mit dem “White bias” (S.36) belastet zuwerden;sierechtfertigtnichts,imGegenteil:zuweilen verspürtman ebenso ihre Ratlo-sigkeitangesichtsdesmenschenrechtswid-rigen Verhaltens wie auch ihr Entsetzen.„Unzweifelhaft“ stellen die in den Kolo-nialkriegenverübtenGräuelBeispieleeinerVernichtungspraxis dar, die als „Verbre-chengegendieMenschlichkeit“bezeichnetwerdenmüssen(S.37).

WeshalbabergaltendieGewaltaktenichtalsVerstoßgegenbestehendeGesetze?Rechts-ethischlauteteineErklärung,dassdieVor-stellungvonRechtundUnrechteineFragederZeitistunddie„internationaleRechts-ordnung“dasErgebniseinesProzesseswar,beidemsicherst„imLaufderZeit“dieVer-änderungen von Rechtsauffassungen nie-derschlugen. Wenn schließlich sogar dasRückwirkungsverbotangeführtwird,konn-te man zu dem Ergebnis kommen, „nichtdieheutigeVölkerrechtslage“ sei bei einer„BewertungvonGeschehnissen“,dieinderVergangenheit liegen, entscheidend. Maß-gebendseihingegen„ausschließlich,wiediedamaligenGeschehnissenachdemdamalsgeltendenRechtbewertetwurden.“(S.39)

Die„GeburtderinternationalenRechtsord-nung“standunterdemEindruckeinerÜber-heblichkeit, denn der Zivilisationsbegriffwar an die Existenz der christlich-europä-ischen Staatenwelt gekoppelt. Selbst JohnStuartMill plädierte gegendieuniverselle

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146 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

WirkungdesVölkerrechtsund fandReso-nanzbeiJuristenwieTheodorD.Woolsey,FriedrichF.Martens,JohannCasparBlunt-schliu.a.Gemeinsamwar ihnendieÜber-zeugung, dass internationales Recht dannnichtzugrundegelegtwerdenmüsse,wenn„christliche StaatenmitWilden oder halb-zivilisierten Stämmen in Kontakt“ träten.DenndiezivilisiertenNationenseienperseProdukte christlich-abendländischer Kul-turunddeshalbberechtigt,sichübernichtzu ihremKulturkreis gehörendeKulturen,Stämme und Gesellschaften zu erheben,faktisch mithin zu beherrschen, zu unter-drücken und schließlich zu unterjochen.Bluntschli leitete daraus schließlich dieÜberlegungab,esseidiePflichtsogenann-terzivilisierterStaaten,durchdasvonihnenentwickelteunddurchgesetzteVölkerrechtnichtzuletztihreZivilisationzuverbreiten.

Die Vorstellung von einer höherwertigenzivilisatorischenOrdnungEuropasbegrün-deteoffenbarbeiGelehrten,alsobeiklugenMenschen, die „Vermutung“, das interna-tionale Recht könne zu einem Instrumentder Machtdurchsetzung gestaltet und da-mit zur Durchsetzung eigener Interessengenutztwerden.ImZugedereuropäischenExpansionseideshalbWillkürimUmgangmitindigenenVölkernalsrechtmäßig„qua-lifiziert“ worden. Die Verfasserin lehnt indiesemZusammenhangdasvondemBer-liner Völkerrechtler Christian Tomuschatangeführte Entlastungsargument ab, diemeisten Gelehrten hätten „einfach keineKenntnis von denGeschehnissen in ande-renTeilenderWeltgehabt.“

AufdiesesEntlastungsargumentkommtesderVerfasserinhingegengarnichtan.Dennsie will keine Befindlichkeiten, Weltwahr-nehmungen undWeltdeutungen erklären,sondernplausibelmachen,welcheVorstel-lungenvonRechtmäßigkeitdiemenschen-rechtswidrigenÜbergriffe–unddamitdasin den Kolonialkriegen praktizierte Un-recht–erklärenkönnen.DieVorstellungei-ner zivilisatorischen Höherwertigkeit ver-bandsichmitrassistischerÜberheblichkeit,diegeradezueineGefühllosigkeitundGe-wissenlosigkeit evozierte, nicht zuletzt imZusammenhangmit einem kulturell über-höhten und religiös-aggressivenMissions-

gedanken, der eine Folge der als legitimgeltenden realpolitischen Interessendurch-setzungvordemHintergrundwirtschaftli-cherExpansionsabsichtengalt.

Der argumentative Kick dieser Arbeit re-sultiert aus der gründlichen Darstellungder–schleichenden–Entwicklungzivilisa-torisch-humanitärerNormenseitderMittedes 19. Jahrhunderts.WenngleichAlterna-tivenzurunmenschlichenBehandlungvonKombattantenseitdemGenferAbkommenvon 1864 entwickelt wurden, so wandtekeine Kolonialmacht diese Bestimmungenauf innerstaatlicheKonfliktean,vorallem,weildieKolonienalsTeildesMutterlandesgalten (S.62) und Kolonialkriege folglichnicht als internationale Konflikte, sondernals innergesellschaftliche Auseinanderset-zungen,eigentlichalsBürgerkriegeklassifi-ziertwurden.

MehrereKapitelderDissertationschilderndie Konkretisierung der Umsetzung desGenfer Abkommens, vor allem, um zuverdeutlichen, dass Maßstäbe einerseitsentwickelt worden waren, um eine völ-kerrechtswidrigeKriegsführungeinzudäm-men. Aber diese Maßstäbe wurden nichtuniversalisiert,sondernbliebenaufdieAus-einandersetzungendereuropäischenNatio-nalstaatenbeschränktundwurdenzugleichpolitisch-taktischenFinessenundInteressenuntergeordnet.DeutscheDiplomatenemp-fahlenetwa1899,„sovieleSicherheitsventi-leindengekünsteltenApparatzubringen,daßdasGanzenurSandwird,denwirderöffentlichenMeinungindieAugenwerfenkönnen.“(S.97).

DeneuropäischenKolonialmächtengelangesnichtnurvordemAusbruchdes1.Welt-kriegs,sondernauchinderZwischenkriegs-zeit undweit über das Ende des 2.Welt-kriegshinaus,ihregemeinsamenInteressenals imperialistische Mächte zu verfolgenund ihre sie handlungsleitendbestimmen-den „Kolonialerwägungen“ (S.112) nichtzu irritieren. Gemeinsam war ihnen auchdie Überzeugung, dass Aufständischen indenKoloniennichtderStatuseiner„krieg-führenden Konfliktpartei“ (S.118) zuer-kannt werden sollte. Diese EinschätzungverändertesichtrotzderRekrutierungvonKolonialvölkern für den Einsatz auf den

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Buchbesprechungen 147

europäischen Schlachtfeldern im 1. Welt-kriegnicht.

Sowird erstder 2.Weltkrieg zu einerZä-surderhumanitärenEntwicklungdesVöl-kerrechts(S.128),nichtzuletztauchwegender neuen Entwicklungen in der interna-tionalenMenschenrechtsdiskussion.DieserZusammenhang wird in den Kommenta-renetwazuminzwischenentscheidendver-änderten Art.16 GG vernachlässigt, weilunbeirrtbehauptetwird,darindrückesicheine Art Erfahrungs- und Lerngeschichteaus.Entscheidendwar fürdieBereitschaftetwadesParlamentarischenRates,Grund-undMenschenrechteauchindieBewertungder internationalen Beziehungen einzube-ziehen,dieErklärungderVereintenNatio-nenvom10.12.1948,alsoeinigeMonatevorderVerabschiedung der beiden deutschenVerfassungen.

DieDiskussionenüberdiePraxisderKolo-nialkriegeseitden50erJahrenscheinendieDurchsetzung derMenschenrechte zu for-cieren. Hier gewinnen die DarstellungenderKriegeinKeniaundinAlgerienihrebe-drückendeKraft.Zugleich abermahntdieDissertation zurZurückhaltung in der Be-wertungvonzivilisatorischenFortschritten,dennnatürlichbeharrtendieeuropäischenKolonialmächte im Übergang zur Deko-lonisierung auf ihren Vorrechten gegen-überder ihnenausgeliefertenBevölkerunginihrenKolonien,etwawennderbritischeKampfgegendiekenianischeUnabhängig-keitsbestrebungderMau-Mauoderdiebru-tale Unterdrückung Algeriens durch diefranzösische bewaffnete Macht analysiertwird.

DieGenferRegierungskonferenz von 1949lässtdieAufweichungderbisherigenPosi-tionenderKolonialmächteerahnen,diedenDekolonisierungsprozess begleitet. Vor al-lem durch die endgültige DiskreditierungdesRasse-GedankensalsFolgedesVölker-mordsandenJudenwächstdieBereitschaftzur „Revision des humanitären Völker-rechts“(S.141)

Im Ergebnis ihrer ebenso historischenwieauchsystematischenÜberlegungenkommtdieVerfasserinallerdingszueinemzurück-haltenden Gesamturteil und wird durch

gegenwärtigeDiskussionen angesichts derFlüchtlingsfragen und deren Bewältigungdurch Auffanglager und menschenrechts-widrigeTraktierungderFlüchtlingebestä-tigt. Mögen die dokumentierten und ana-lysiertenFallbeispielezeithistorischüberausinteressantsein,sowirdetwasganzanderessichtbar.BonhoefferschriebAnfang1943indem selbstkritischenundbewegendenRe-chenschaftsberichtan seineFreunde„nachzehn Jahren“, nichts von dem, was manimanderenverachte,seieinemselbstganzfremd.

Gerade weil die Verfasserin sich aufDeutsch-Südwestafrika (heute Namibia),den sogenannten Kongo-Freistaat, auf dieEntwicklunginBritisch-Keniaseit1952undFranzösisch-Algerien konzentriert, wirddeutlich, wie Ausgrenzungen und Unter-drückungen der indigenen Bevölkerungdurch kolonialeHerrenvölker funktionier-ten. Ihre historischen Exkurse zielen des-halbletztlichvielstärker,alsesderVerfas-serin bei derAbfassung ihrerDissertationbewusstzuseinschien,aufdieGegenwartunddiedortverbreitetenWahrnehmungs-muster.SoistdieArbeitvongroßerAktua-lität.BerichteausdenFlüchtlingslagern inSüdosteuropahabendenPapst veranlasst,Vergleiche zu bemühen und über die La-gerwirklichkeit zu sprechen, die ihn anKonzentrationslager erinnerte. Er lenktedenBlick auf die Bereitschaft, in kulturel-lenKonfliktendieNormenzurelativieren,zudenenmansichamTagderMenschen-rechtebekennt.

Fabricius erinnert daran, wie lang undschwerderWegzurZivilisierungdesUm-gangsmitBevölkerungenwar,dievonKo-lonialmächten unterdrückt wurden, langeZeit ohne Bedenken und ohne schlechtesGewissen.InzwischenabersindMenschen-rechteauchzunehmendimVölkerstrafrechtverankert worden. Nachdem dies erreichtist,kommtesaufdieBereitschaftunddasBewusstsein an,dieseNormen inderPra-xisanzuwendenundebennichtmehrVer-haltensweisenundjuristischeKriterienzurAhndung von Menschenrechtsverletzun-geneinemangeblichennationalenInteresseunterzuordnen.

Peter Steinbach

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148 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

Berenike Schriewer, Zur Theorie der internationalen Offenheit und der Völkerrechtsfreund-lichkeit einer Rechtsordnung und ihrer Erprobung am Beispiel der EU-Rechtsordnung, Duncker & Humblot, Berlin 2017, 300 Seiten, ISBN 978-3-428-14904-9.

MitihrerKielerDissertation(Betreuer:Tho-masGiegerich)möchtedieAutorin,wiesieimerstenTeilderArbeiterläutert,das,wasinternationaleOffenheit undVölkerrechts-freundlichkeiteinerRechtsordnungwesent-lich ausmacht, herausarbeitenundprüfen,ob–gemessenandiesenCharakteristika–auch eine nicht-staatliche RechtsordnungwiediederEuropäischenUnion(EU)alsin-ternational offen und völkerrechtsfreund-lich bezeichnet werden kann. Dies setztzunächst die Darstellung der maßgebli-chenMerkmale von internationalerOffen-heitundVölkerrechtsfreundlichkeitvoraus(2. Teil), deren Verallgemeinerungsfähig-keit anschließend durch ihre ÜbertragungaufdieEU-Rechtsordnungerprobtwerdensoll(3.Teil).

InternationaleOffenheitheißt,soSchriewer,dass eine Verfassung durchlässig gegen-über äußeren Einflüssen ist, sich nicht alsexklusiv versteht, sondern sich etwa auchvölkerrechtlichen Werten gegenüber offenzeigt. Völkerrechtsfreundlichkeit wird en-ger gefasst: Sie beziehe sich nicht auf dieinternationale Zusammenarbeit als solche,sondernnuraufdie fürdas jeweiligeVöl-kerrechtssubjektmaßgeblichenvölkerrecht-lichenNormen(S.38f.).

Esliegtnahe,dassdieVerfasserin(Verf.)dienähere Untersuchung der internationalenOffenheit und VölkerrechtsfreundlichkeitamdeutschenBeispiel(vorallemPräambel,Art.1und24–26GG)beginnt.AufderBasisderhierausgewonnenenpositivrechtlichenErkenntnisse werden dann die Elementeder hier behandelten Grundbegriffe näherdiskutiert. Der als Oberbegriff verstande-nen internationalenOffenheitwerdendreiAspektezugeordnet:derrezeptiveAspekt,dasheißtdieihrzugrundeliegendeVölker-rechtsfreundlichkeit; der aktive, nach au-ßenwirksameAspekt,derüberbloßeVöl-kerrechtsfreundlichkeit hinausgehend aufpolitische internationaleKooperation zielt;schließlichderamWohldesMenschen,sei-nem Wert und seiner Würde orientierte,

menschenrechtsfreundliche Aspekt. Es istdieserdritteAspekt,dernachAnsichtderVerf.das„abschließendeUrteilüberdieOf-fenheiteinerRechtsordnung“nachdemjet-zigenEntwicklungsstandbegründet(S.76).

DieVölkerrechtsfreundlichkeiteinerRechts-ordnung wird nach zwei Kriterien beur-teilt.Das ersteKriteriumwirdmit „größt-möglicher Wirksamkeit völkerrechtlicherNormenindernationalenRechtsordnung“umschrieben(S.76ff.).WasdiesimEinzel-nenbedeutet,wird imFolgendenansechsPunkten erläutert: (1) Richtige Ermittlungdes Inhalts von Völkerrechtsnormen, wo-beivorallemaufdieAuslegungnachvöl-kerrechtlichen Regeln und die Beachtungder einschlägigenRechtsprechung interna-tionaler Spruchkörper hingewiesen wird.(2) Unmittelbare Anwendung der Völker-rechtsnormen im innerstaatlichen Recht durch die Rechtsanwender. Die Ausblen-dungprozessualerDurchsetzungsmöglich-keitenüberzeugtindiesemKontextfreilichwenig(S.88f.).(3)VermeidungvonNorm-konfliktenzwischenvölkerrechtlichenundinnerstaatlichen Regeln durch Zuweisungeines höheren Rangs für das VölkerrechtoderParallelisierungbeiderRechtsordnun-gen durch die Rezeption völkerrechtlicherStandards. (4) Ein ausführlicher Grund-rechtskatalog,dersichanvölkerrechtlichenStandards orientiert. (5) Eine auf Völker-recht zurückgreifende Konfliktlösung, seiesdurchdieNutzungvomVölkerrechtbe-reitgestellterMethodenderStreitlösung,seiesdurchvölkerrechtskonformeAuslegung.(6) Das Fehlen von völkerrechtsunfreund-lichen Elementen wie VölkerrechtsskepsisundVölkerrechtsunfreundlichkeit.

Die systematisierende Zusammenstellungder genannten Punkte ist durchaus ein-drucksvoll. Auf einige Probleme sei aberschonandieserStellehingewiesen.Voral-lem:KannmanVölkerrechtsfreundlichkeitalsabstraktesPrinzipformulieren,vondemmehrabzuleitenistalsdiebloßeBeachtungvölkerrechtlicher Verpflichtungen? Wenn

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Buchbesprechungen 149

ein Staat Rechtsregeln hat oder schafft,die der Erfüllung seiner völkerrechtlichenPflichten entgegenstehen, mag man diesvölkerrechtsunfreundlich nennen, vor al-lem aber ist es völkerrechtswidrig. Ist esauch völkerrechtsunfreundlich, wenn einStaatvondervölkerrechtlichenMöglichkeitGebrauchmacht,sichauseinemVertragzulösen,dessenVerpflichtungenernichtmehrakzeptierenwill,oderdieAuslegungeinerVölkerrechtsnormdurcheine internationa-leInstanzablehnt,derenRechtsspruchkei-ne rechtliche Bindungswirkung hat, oderwennerimzugrundeliegendenStreitnichtParteiwar?Istesvölkerrechtsunfreundlich,wenn Staaten nicht alle in Verträge auf-genommeneMenschenrechtsausprägungenin den eigenen Grundrechtskatalog über-nehmen wollen? Gewiss, man kann diesundanderesvölkerrechtsunfreundlichnen-nen,aberführtdieserüberobligationsmäßi-ge „Anspruch“ nicht möglicherweise zueinernurschwerzuentkommendenMora-lisierung,diedaswirklichrechtlichGesollteindenHintergrundtretenlässt,obwohlpri-märvon seinerErfüllung soviel abhängt?Ähnlich liegt es, wenn die Entscheidungeines Staates, einen völkerrechtlichen Ver-tragnichtabzuschließen,weildieszueinemvoraussehbarenKonfliktmitseineminner-staatlichen Recht führen würde, als „mitdemKonzeptderoffenenStaatlichkeit[…]nurschwerlichvereinbar“angesehenwird(S.99).DieVerf.erkenntzwardiezugrun-de liegende Problematik durchaus an ver-schiedenenStellen,soetwawennsiemeint,dass„eingroßesVertrauen invölkerrecht-liche Regelungen“ erforderlich ist, wenndiesen Vorschriften überverfassungsrecht-licher Rang eingeräumt wird (S.93) – einVertrauen,dasdanndochnurwenigeStaa-ten haben. Oderwenn sie schon ganz amAnfang vor einer „Idealisierung des Völ-kerrechts“warnt(S.22).Dochingrundsätz-licher Weise wird das Problem nicht auf-gegriffen.

DaszweiteKriteriumzurCharakterisierungder Völkerrechtsfreundlichkeit soll darinbestehen,obdiese„natürlich“istodererst„erarbeitet“ werden muss (S.110ff.). DieWortwahl ist nicht sehr überzeugend, daweder die monistische noch die dualisti-scheGestaltungdesVerhältnissesvomVöl-

ker- zum nationalen Recht vom Himmelfällt.Esüberzeugtauchnicht,dassbeiZu-grundelegung des Monismus („natürlicheVölkerrechtsfreundlichkeit“) die Gesamt-rechtsordnungdurchWiderspruchsfreiheitgekennzeichnetsei(S.112);injederRechts-ordnung können doch Widersprüche auf-treten(sozuRechtS.259).AuchsonstgibtesNachfragen:Es istnicht rechtverständ-lich, wenn die Verf. die Anwendung derLex-posterior-Maximedannfür„besondersvölkerrechtsfreundlich“hält,wenndasspä-terenationaleGesetzgegenübereinerinner-staatlich anwendbaren völkerrechtlichenVerpflichtung nur dann Vorrang habensoll,wenndieVerletzungdieserVerpflich-tungvomGesetzgebereindeutiggewolltist(S.122).DieseWertung steht zwar imZu-sammenhangmit einer ungebremstenAn-wendung der Lex posterior, ist also inso-weit„völkerrechtsfreundlicher“,aberdochschwerlich besonders völkerrechtsfreund-lich,wennman etwa anden “treaty over-ride”denkt(vgl.S.253).

NachdemdieVerf.mitdenbisherigenAus-führungen ein allgemeinesModell von in-ternationaler Offenheit und Verfassungs-freundlichkeitherausgearbeitethat,erprobtsie seine Tauglichkeit an der Rechtsord-nungderEU,diezwarkeinStaat,aberalsGlobal Player anerkannt ist (S.126ff.). SowerdendieArt.2,3und21EUValseindeu-tigerBeleg fürdie internationaleOffenheitangeführtundalsderenbesondererAspektdie Menschenrechtsfreundlichkeit der EU(Grundrechte der Mitgliedstaaten, EMRK,Grundrechte-Charta)betont.DasGutachtendes EuGH zum EMRK-Beitritt der Unionvon2014hatdieseOffenheitallerdingsbe-schädigt. Insgesamt kommt die Verf. aberzudemErgebnis,dassdieGründungsver-trägederEUals„hochmoderne,internatio-naloffeneVerfassung“zubezeichnensind(S.154).

Zur Feststellung und Bewertung der Völ-kerrechtsfreundlichkeit der EU-Rechtsord-nung wird auf die früher entwickeltenKriterien zurückgegriffen, also etwa dieAuslegung der von der Union geschlos-senenvölkerrechtlichenVerträgenachdenimVölkerrechtanerkanntenRegeln,Fragender unmittelbaren Anwendung (GATT/

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150 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

WTO) unddie Einordnung vonVölkerge-wohnheitsrecht in die unionale Normen-hierarchie. Während hier das Votum auf„vergleichsweise völkerrechtsfreundlicheLösung“lautet(S.174),lautetdasUrteilbe-zogen auf den Menschenrechtsschutz un-eingeschränktauf„völkerrechtsfreundlich“(S.180).Dabeidarfmanaberdasschoner-wähnte, sehr selbstbezogene EMRK-Gut-achten des EuGH nicht ausblenden (vgl.auch S.211f.). BeiderPrüfung, obvölker-rechtsunfreundliche Elemente auszuma-chen sind, ist neben demHinweis auf dieGATT/WTO-Rechtsprechung die Diskus-sion der Kadi-Rechtsprechung interessant.Hier zeigt sich, je nach Perspektive, wieschwierigdieEinschätzungübermehroderwenigervölkerrechtsfreundlichseinkann–undzwarjenachdem,obmandervonderUN-Charta dem Sicherheitsrat zugewiese-nen Funktion zur Wahrung des Weltfrie-dens und der internationalen Sicherheitoder demMenschenrechtsschutz (auch imBereichdesnichtzwingendenRechts)aus-geht.InteressantistderAbschnittüberdierechtliche Behandlung der von den Mit-gliedstaaten vor ihrem Beitritt zur EU ab-geschlossenen„Altverträge“,diealsgrund-sätzlich völkerrechtsfreundlich eingestuftwird.Insgesamtmagmanresümieren,dassderEuGHderWarnungvonPescatorevordem Völkerrecht als „trojanisches Pferd“nurbedingtgefolgtist.

AufderGrundlagederdaserarbeiteteMo-dell konstituierenden Kriterien, deren Be-grenztheit die Autorin selbst vermerkt(S.218f.), werden im vierten und letztenTeilderArbeitdie„Entwicklungschancen“derbeidenKonzepteerörtert(S.220ff.).SokönntedasKonzeptderinternationalenOf-fenheitdurchEinbeziehungeinesvonman-cherlei Seite geforderten demokratischenElements ergänztwerden.Was das genaubedeutenkann,bleibtunklar.Entsprechen-des gilt von der „Einbeziehung eines bio-zentrischenElementes“(S.224ff.).AuchdieVerf.bleibtgegenübereinersolchenErwei-terungskeptisch(S.30f.).

WasdieVölkerrechtsfreundlichkeitangehtwirdkurzgeprüft,obsieimSinneinesalleindeskriptivenBegriffs,einerAuslegungshil-fe für nationale Normen, als verfassungs-

rechtliches Leitbild oder als Verfassungs-prinzipzuverstehen ist; inderTatsprichtja das BVerfG von einem Grundsatz oderPrinzip. Die Verf. greift diesen Gedan-kenaufundentwickelt imFolgendeneine„TheoriedesVerfassungsprinzipsderVöl-kerrechtsfreundlichkeit“ (S.237ff.), dabeidem Prinzipienbegriff von Alexy folgend.Nach Überprüfung andererMöglichkeitenentscheidetsichdieVerf.fürdie„induktiveAbleitung“einesPrinzipsderVölkerrechts-freundlichkeit aus dem positiven Verfas-sungsrecht und definiert als entscheiden-de Grundlage das Rechtsstaatsgebot. DieRespektierungdesRechtserfordere,sodieVerf.imAnschlussanKlausVogel,fürdenoffenenRechtsstaatauchdieAnerkennungdeszwischendenStaatengeltendenRechts:das Verfassungsprinzip der Völkerrechts-freundlichkeit als Teil der Rechtsstaatlich-keitundgeschütztvonder„Ewigkeitsgaran-tie“ des Art.79 Abs.3 GG (S.247). DieseBegründungbedeutetvorallemdieRespek-tierung der für einen Staat geltenden völ-kerrechtlichenVerpflichtungen(einschließ-lich der völkerrechtlichen Gründe, welchedie Nichterfüllung zulassen), die notwen-dige Korrektur des Rechtsverstoßes sowiedie Nichtanerkennung eines von andererSeite begangenen völkerrechtlichen Un-rechts,falls–somussmanergänzen–diesvomVölkerrecht geboten ist. Es geht alsoum die Erfüllung völkerrechtlicher Pflich-ten.WeraufdasRechtsstaatsgebotaufbaut,kannnichtdasvomRechtnichttatsächlichGebotene einfordern. Hier macht sich dasmit Prinzipien verbundene Optimierungs-gebot verunklarend bemerkbar. Manches,was die Verf. zunächst als völkerrechts-unfreundlicheElementedeklarierthat,lässtsichnichtmehrdemvomRechtsstaatsgebotabgeleiteten Verfassungsprinzip der Völ-kerrechtsfreundlichkeitzuordnen.Darüberhinaus müsste festgestellt werden, dassdort, wo es keine Rechtsstaatlichkeit gibt(unddieWeltkenntleidervieleBeispiele),dieBegründungeinesVerfassungsprinzipsder Völkerrechtsfreundlichkeit nicht odernuraufanderemWegmöglichist.Dasän-dertnatürlichnichtsdaran,dassauchdieseStaaten ihrevölkerrechtlichenPflichtener-füllenmüssen.

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Buchbesprechungen 151

EshandeltsichinsgesamtumeinedieThe-matik schön aufbereitende, gut dokumen-tierteDissertation,derenLektüre in jedemFall anregend und somit gewinnbringendist.

Eckart Klein

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152 MRM–MenschenRechtsMagazin Heft2/2017

Autorinnen und Autoren in diesem Heft:

Svenja Auerswald

WissenschaftlicheHilfskraftamLehrstuhl fürDeutsches,Europäischesund InternationalesÖffentlichesRechtanderMartin-Luther-UniversitätHalle-Wittenberg.

Katrin Kappler

WissenschaftlicheMitarbeiterinamLehrstuhlfürDeutsches,EuropäischesundInternationa-lesÖffentlichesRechtanderMartin-Luther-UniversitätHalle-Wittenberg.

Eckhart Klein

Prof.Dr.iur.,ehemaligerDirektordesMenschenRechtsZentrumsderUniversitätPotsdam.

Jascha Patt

Ref.iur.amOberlandesgerichtBrandenburg.

Anna Phirtskhalashvili

Prof.Dr.iur.,GrigolRobakidzeUniversität,Tbilisi,Georgien.

Charlotte Steinorth

PhD(LSE),LLM(LSE),FernandBraudelSeniorFellowanderEUIFlorenz.

Peter Steinbach

Prof.Dr.,WissenschaftlicherLeiterderGedenkstätteDeutscherWiderstandinBerlin,früherUniversitätMannheim.

Johanna Weber

Mag.iur.,WissenschaftlicheMitarbeiterinamMenschenRechtsZentrumderUniversitätPots-dam.

Norman Weiß

apl.Prof.Dr. iur.,WissenschaftlicherMitarbeiteramMenschenRechtsZentrumderUniver-sitätPotsdam.

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ISSN 1434-2820