25
Messen und Z ¨ ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout: Der Autor [email protected]

Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Messen und Zahlen

Eine einfache Konstruktion

der reellen Zahlen

Wolfgang Rautenberg

Satz und Layout: Der Autor

[email protected]

Page 2: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:
Page 3: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Vorwort

Messen und Zahlen betreffen Alltagsanwendungen der Mathematik, mit denennicht nur Mathematiker zu tun haben. Meistens misst man mit reellen Zahlenund zahlt mit naturlichen Zahlen. Von Newton stammt die heute nicht mehrakzeptable Definition einer rellen Zahl als

”das womit man misst“. Der moderne

Zahlbegriff hat sich von seinen praxisbezogenen Ursprungen gelost, so wie sichdie Mathematik insgesamt von ihren ursprunglichen Wurzeln gelost hat und zueiner axiomatisch gepragten Disziplin des reinen Denkens geworden hat.

In diesem Buch geht es einerseits um den Aufbau des Zahlensystems, andererseitsum eine Darstellung des Wechselspiels der Zahlen mit dem Messen und Zahlen. Inabstrakter Fassung reprasentieren Messen und Zahlen zwei Hauptaspekte der ma-thematischen Betrachtungsweise, den analytischen und den diskreten. Das WortMaßzahl hat seinem Ursprung nach den Sinn einer reellen Maßzahl. Komplizier-tere physikalische Objekte beschreibt und

”misst“ man auch mit komplexen Zah-

len, gegebenenfalls auch mit Vektoren oder Matrizen. Komplexe Zahlen werdenzwar konstruiert, um aber den elementaren Charakter des Buches zu wahren, be-schranken wir auf das Messen mit reellen Maßzahlen, mit denen man vornehmlichdie Elemente von Großenbereichen und Großengruppen misst.

Wir empfehlen dieses Buch allen Studierenden der Facher Mathematik und In-formatik, insbesondere allen Lehramtskandidaten, als Erganzungstext zu einerVorlesung uber Analysis, Numerische Mathematik, oder Computer-Mathematik,oder als Literaturgrundlage fur ein Seminar oder Proseminar uber den Aufbaudes Zahlensystems oder ahnliche Themen. Die Lekture erfordert kein speziel-les Vorwissen, aber gewisse Fertigkeiten im logischen Schließen und im Umgangmit der vollstandigen Induktion, die man nach einem einsemestrigen Studium derMathematik in der Regel erworben hat. Auch der Begriff des Isomorphismus solltekein Fremdwort fur den Leser sein. Um das Selbststudium zu erleichtern, wurdendie Losungen der Ubungen, von denen einige integraler Bestandteil des Textessind, am Ende des Buches meist vollstandig angegeben. Fur Verbesserungen desLosungsweges oder Losungstextes ware der Autor dem Leser dankbar.

Es geht uns nicht nur um die Definition oder Konstruktion der reellen Zahlennach akademischem Muster. Vielmehr wollen wir diese sogleich in ihrer leben-digen Wirksamkeit vor Augen fuhren, schon um die sonst ziemlich blutleerenVeranstaltungen uber den Aufbau des Zahlensystems zu beleben. Der Grenz-wertbegriff offenbart kraftvoll seine Wirksamkeit schon unterhalb der Ebene derInfinitesimalrechnung. Großer Wert wird auf Eindeutigkeitsfragen gelegt, d.h.bei wichtigen Definitionen und Konstruktionen wird stets die Frage diskutiert,warum diese so und nicht anders zum Erfolg fuhren. Es kommen hier Dinge zur

Page 4: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

VI Vorwort

Sprache, die in den Analysiskursen oft zu kurz kommen – u.a. wichtige, auch inden Computerchips implementierte Algorithmen. Ein erheblicher Teil des Textesist elementar-analytischen Anwendungen gewidmet und hat einen bescheidenenHauch von Numerik. Empfehlenswert fur eine einpragsame Behandlung der ite-rativen Algorithmen und numerischer Beispiele ist ihre Programmierung. Einprogrammierbarer Taschenrechner reicht dafur vollkommen aus.

Fur den Aufbau des Systems der reellen Zahlen gibt es Standardverfahren, etwadie Methode der Dedekindschen Schnitte. Eine vom Autor entwickelte, inzwi-schen ausgereifte Methode wird in den Abschnitten 3 – 5 dieses Buches aus-gefuhrt. Man geht aus von Dezimalzahlen als Schreibfiguren und benutzt zurDefinition der Rechenoperationen die Kommaverschiebung (shifting). Darauf be-ruhen auch wesentlich die internen Prozesse in den elektronischen Rechnern. DerGewinn ist, dass man von den naturlichen Zahlen ausgehend die nichtnegativenreellen Zahlen sichtbar vor Augen hat und mit diesen sogleich rechnen kann. DieseMethode ist einfach, anschaulich und okonomisch, und in ihrem Kern auch fur einefruhzeitige schulische Behandlung geeignet. Sie ersetzt den akademischen Ballast,der den klassischen Konstruktionen anhaftet, weitestgehend durch elementaresRechnen. Neu ist hier im Grunde nur die Formalisierung der im mathemati-schen Elementarunterricht erlernten Kommaverschiebungs-Regeln zum Nachweisder Rechengesetze fur abbrechende Dezimalzahlen.

Dem Ganzen ist in Abschnitt 1 eine kurz gefasste Kulturgeschichte der Zahlenvorangestellt, die vor allem die Genesis der reellen Zahlen beleuchtet. Die Lektureder Abschnitte ist nicht an die gegebene Reihenfolge gebunden. So konnen 9 und10 vor 7 gelesen werden, und der Abschnitt 11 uber naturliche Zahlen ist ganzlicheigenstandig. Negative Zahlen werden erst eingefuhrt, wenn sie wirklich gebrauchtwerden. Das erweist sich aus vielen Grunden als vorteilhaft. Aber man muss dieserVorgehensweise, etwa in einem Kurs, nicht strikt folgen.

Eine Eigenheit der durch Cauchy und Weierstraß geformten und durch De-dekind vollendeten klassischen oder

”Reinen“ Analysis ist die bewusste Elimi-

nation aller geometrischen oder physikalischen Begriffe aus ihrem Begriffsgefuge.Den Bezug der Analysis zur Geometrie, Physik oder sonstigen Disziplinen herzu-stellen wird meist den Anwendern uberlassen. Der Anwendungsbezug und seineSystematik sollten nicht vernachlassigt werden. Deswegen wird in Abschnitt 10

ein Teil hiervon, namlich die Verbindung von Zahl und Große, dem ursprunglichenGrundbegriff der Analysis, systematisch entwickelt. Dass man daraus viel Nutzenziehen kann, unterstreicht der Isomorphiesatz fur luckenlose Großengruppen, derin seiner Anwendung auf Zahlenbereiche die denkbar einfachste Erklarung derExponential- und Logarithmus-Funktion liefert. Hier handelt es sich um eine derbedeutsamsten Anwendungen des abstrakten Isomorphiebegriffs.

Page 5: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Vorwort VII

Wir wollen nun erklaren, warum die naturlichen Zahlen und das Zahlen endlicherMengen erst in Kapitel 11 ausfuhrlich behandelt werden. Wir halten es hier mitSchiller (aus einem Brief an Goethe von 1796):

”Denn wo es die Sache leidet,

halte ich es immer fur besser, nicht mit dem Anfang anzufangen, der immer dasschwerste . . . ist.“ In der Analysis und anderswo werden nebst logischen und kom-binatorischen ganz unbefangen auch mengentheoretische Hilfsmittel verwendet.Auch wenn man uber die Grundlagen der Analysis spricht, besteht kein Grundso zu tun, als wusste man was Mengen, nicht hingegen was naturliche Zahlensind. Grundlagentheoretisch gesehen sind die letzteren jedenfalls die einfacherenObjekte. Daher ist es legitim, auch bei der Konstruktion der reeller Zahlen einnaives Verstandnis der naturlichen Zahlen vorauszusetzen.

Bei einer”Konstruktion“ der naturlichen Zahlen geht es nach klassischem Ver-

standnis darum, diese mengentheoretisch zu definieren. Es ist bemerkenswert undbedeutsam, dass dies auf einfache Weise gelingt und selbst hochkomplizierte re-kursive Definitionen in der Mengenlehre in explizite verwandelt werden konnen.Dies ist das immerhin erfolgreiche Fazit des gegen Ende des 19. Jahrhundertsgestarteten Versuchs, die Mathematik rein logisch zu begrunden.

In jedem Falle hat eine wie immer geartete Konstruktion naturlicher Zahlen einenanderen Charakter als diejenige reeller oder komplexer Zahlen. Die erstere setzt inihrer Durchfuhrung als auch in einer Diskussion uber diese Thematik als Ganzeseine gewisse mathematische Reife voraus, gerade weil es hier teils um subtile Be-weise scheinbar offensichtlicher Sachverhalte geht. In Abschnitt 11 wird zugleichdie Theorie des Zahlens endlicher Mengen entwickelt, von der standig und meistunbewusst Gebrauch gemacht wird. Mit den reellen Zahlen war man bis zumEnde des 19. Jahrhunderts umgegangen

”wie im Traum“ ([18, Teil II, S. 694]).

Mit den Abzahlungen endlicher Mengen – wir nennen etwa den Zahlsatz in 11.4 –geht man heute noch oft wie im Traume um.

Mein Dank gilt Prof. R. Gorenflo (Berlin) fur zahlreiche Hinweise. BesondererDank gilt Herrn P. Agricola, ohne dessen Hilfe das Projekt kaum zu realisierengewesen ware. Ebenso danke ich dem Rechenzentrum am Fachbereich Mathema-tik und Informatik der Freien Universitat Berlin fur technische Unterstutzung.Prof. N. Heldermann vom gleichnamigen Verlag danke ich fur die gute Zusam-menarbeit und viele Hinweise. Auf den Websiten www.math.fu-berlin.de/~raut

und www.heldermann.de sind weitere Informationen zu dem Buch zu finden.

Berlin, im Juni 2007

Wolfgang Rautenberg

Page 6: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:
Page 7: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Inhaltsverzeichnis

Notation XII

1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs 1

1.1 Die altere Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1.2 Die Entwicklung des Dezimalsystems . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.3 Die neuere Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2 Naturliche Zahlen und Rechenregeln 15

2.1 Rechnen mit nichtnegativen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.2 Folgerungen aus den Grundrechenregeln . . . . . . . . . . . . . . 17

2.3 Potenzen mit naturlichen Exponenten . . . . . . . . . . . . . . . . 20

2.4 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3 Reelle Zahlen und ihre Anordnung 23

3.1 Reelle Zahlen als Dezimalfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

3.2 Die Anordnung der Dezimalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

3.3 Der Satz von der oberen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3.4 Luckenlosigkeit der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

3.5 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

4 Arithmetik der abbrechenden Dezimalzahlen 33

4.1 Rechnen mit endlichen Dezimalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . 34

4.2 Nachweis der Grundrechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Page 8: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

X Inhaltsverzeichnis

4.3 Division endlicher Dezimalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

4.4 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

5 Arithmetik der reellen Zahlen 41

5.1 Schlichte Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

5.2 Erweiterung der Rechenoperationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

5.3 Nachweis der Grundrechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

5.4 Rechnen mit Naherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

5.5 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

6 Division und rationale Zahlen 49

6.1 Division und Bruchrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

6.2 Periodische Dezimalzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

6.3 Stammbruchapproximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

6.4 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

7 Beginnende Analysis 57

7.1 Unendliche Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

7.2 Der Zwischenwertsatz und Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . 63

7.3 Potenzrechnung und Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . 66

7.4 Logarithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

7.5 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

8 Elementare Rechenverfahren 79

8.1 Der Divisionsalgorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

8.2 Der g-adische Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

8.3 Der Cantorsche Algorithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

8.4 Berechenbarkeit und Iteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

8.5 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

9 Negative und komplexe Zahlen 99

Page 9: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Inhaltsverzeichnis XI

9.1 Ringerweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

9.2 Konstruktion der Ringerweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

9.3 Der Korper der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

9.4 Der Korper der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

9.5 Rechnerinterne Implementierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

9.6 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

10 Maßzahlen und Operatoren 119

10.1 Großenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

10.2 Endliche Dezimalzahlen als Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . 126

10.3 Reelle Maßzahlen und der Isomorphiesatz . . . . . . . . . . . . . . 128

10.4 Großengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

10.5 Axiomatisierungen des reellen Zahlkorpers . . . . . . . . . . . . . 136

10.6 Logarithmus als Isomorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

10.7 Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

10.8 Großenprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

10.9 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

11 Die naturlichen Zahlen 147

11.1 Zahlreihen und Rekursion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

11.2 Eindeutigkeit und Existenz der Zahlreihe . . . . . . . . . . . . . . 153

11.3 Die Anordnung der Zahlreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

11.4 Abzahlungen endlicher Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

11.5 Der kardinale und der ordinale Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . 161

11.6 Arithmetik der naturlichen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

11.7 Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Losungen der Ubungen 167

Literatur 181

Page 10: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

XII Inhaltsverzeichnis

Namens- und Sachverzeichnis 183

Symbolverzeichnis 187

Page 11: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Notation

Wie ublich steht A ⇔ B haufig fur A genau dann wenn B, und A ⇒ B fur wenn

A so B, insbesondere dann, wenn A,B Gleichungen oder Ungleichungen sind.Wir benutzen zwar die in der mathematischen Umgangssprache gebrauchlichemengentheoretische Symbolik, aber die Mengentheorie in ihren Inhalten nur insehr bescheidenem Maße. Wie allgemein ublich bezeichnen M ∪ N , M ∩ N undM\N = {x ∈ M | x /∈ N} die Vereinigung, den Durchschnitt, bzw. die Differenz

der Mengen M,N , und ⊆ die Inklusion, sowie ⊂ die sehr selten benutzte echte

Inklusion, d.h. M ⊂ N , wenn M ⊆ N und M 6= N . ∅ bezeichnet die leere Menge.

M × N bezeichnet wie uberall in der Mathematik die Menge aller geordnetenPaare (a, b) mit a ∈ M , b ∈ N . Eine Teilmenge von M × M heißt eine (binare)Relation auf M . Die Definition von Funktionen oder Abbildungen von M nachN als spezielle Teilmengen von M × N setzen wir als bekannt voraus. Meistenssteht f : M → N fur

”Sei f eine Funktion (Abbildung) von M nach N“. Falls

aber von der Funktion f : M → N gesprochen wird, ist naturlich f gemeint.Statt f(x) schreiben wir auch fx, wenn die Deutlichkeit darunter nicht leidet.Ist der Funktionswert fx durch einen Term gegeben, z.B. fx = x2, so bezeichnetman f zuweilen auch mit x 7→ x2 oder mit f : x 7→ x2.

f : M → N ist injektiv, wenn fx = fy ⇒ x = y, fur alle x, y ∈ M , und surjektiv,wenn das Bild fM := {fx | x ∈ M} von f ganz N ausfullt. f ist bijektiv

oder eine Bijektion, wenn f injektiv und surjektiv ist. Im bijektiven Falle hat feine Umkehrfunktion f−1 : N → M , definiert durch f−1y ⇔ fx = y. TrivialesBeispiel einer Bijektion ist die identische Abbildung idM : x 7→ x von M aufsich. Ist f : M → N und g : N → K, so bezeichnet g ·f das Produkt (oder dieVerkettung) von g und f , erklart durch g·f (x) = g(fx) fur alle x ∈ M .

Eine n-stellige Operation auf einer Menge A sei eine Abbildung f : An 7→ A. Dabeisei A1 = A und An+1 = An × A. Ist f nur auf einer Teilmenge von An erklart,spricht man von einer partiellen Operation. Prominentes Beispiel ist die auf einemZahlenbereich nur partiell erklarte Division.

Terme sind Zeichenfolgen, die aus Variablen, Konstanten und Operationszeichensinnvoll aufgebaut sind.

”Sinnvoll“ kann induktiv prazisiert werden. Dies hat so

zu geschehen, dass ein Term t ein wohlbestimmtes Element eines Bereichs A alsWert erhalt, wenn die in t vorkommenden Variablen mit Elementen aus A belegtwurden. Fur Terme s, t meint s ≤ t stets

”s < t oder s = t“. t > s sei grundsatzlich

nur eine andere Schreibweise fur s < t, genauso wie t ≥ s stets nur eine andereSchreibweise ist fur s ≤ t. Es bedeute s := t (außerhalb von Flussdiagrammenwie z.B. in Figur 4), dass der Term s durch den Term t definiert wird.

Page 12: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

Abschnitt 1

Zur Geschichte des Zahlbegriffs

’αει ’o ′’ανϑρωπoς ’αριϑµητ ιζει 1)

(R. Dedekind)

Die Geschichte des Zahlbegriffs ist ein faszinierender Teil der Kulturgeschichte.Der Begriff wurde im Verlaufe der Zeit mehrfach erweitert. In der griechischenMathematik hatte das Wort Zahl seit Pythagoras (ca. 580 – 500 v.Chr.) einefeste Bedeutung, namlich die einer Vielheit von Einheiten, wie definiert in denElementen von Euklid (ca. 300 v.Chr.); dabei sei die Sonderrolle der Einheit, dieunserer heutigen Eins entspricht, aber nicht als Zahl verstanden wurde, hier nichtnaher erlautert. Die Bezeichnungen rationale, irrationale, negative, imaginare undreelle Zahlen kamen erst im Mittelalter auf.

Der Erweiterungsprozess verlief uber mehrere Etappen, siehe auch [12, 15]. Seitder durch C. F. Gauss (1777 – 1855) vollzogenen Ausraumung der Bedenkengegenuber den von ihm so benannten komplexen Zahlen hat sich der Zahlbegriffin der algebraisch-analytischen Richtung kaum noch verandert.

Naturlich hat man sich uber den Zahlbegriff haufig geaußert; aber die Frage”Was

sind und was sollen die Zahlen?“ vermochte erst gegen Ende des 19. Jahrhun-derts, im Zusammenhang mit der Loslosung der Analysis von ihren geometrisch-physikalischen Wurzeln, die Gemuter durchgreifend zu bewegen. Vorher hatteman sich auf den Begriff der messbaren Große in der geometrisch-physikalischenWelt berufen; eine reelle Zahl wurde als das definiert, womit man misst, wie beiNewton (1643 – 1727) und anderen nachzulesen ist.

G. Cantor verallgemeinerte den ursprunglichen Zahlbegriff in einer anderenRichtung, namlich zu den transfiniten Kardinal- und Ordinalzahlen, siehe 11.5.In gewissem Sinne stehen diese der altgriechischen Auffassung von Zahlen alseiner Kollektion von Einheiten sogar naher. Jedenfalls sind die reellen Zahlendeswegen nicht reeller, weil sie so genannt werden. Sie sind auch nicht reeller als

1)Der Mensch treibt ewig Arithmetik – Anspielung auf Platons Wort”Gott treibt ewig Geo-

metrie“.

Page 13: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

2 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

die komplexen Zahlen. Denn deren Distanz zu den reellen Zahlen ist aus heutigerSicht um ein Vielfaches kleiner als die der reellen zu den naturlichen. KomplexeZahlen lassen sich einfach als Paare reeller Zahlen verstehen, siehe 9.4. Nicht soeinfach ist gewiss der Ubergang von der reellen zur komplexen Analysis. Hier gibtes aber hochstens sachliche, aber keine logischen Schwierigkeiten. Diese wohnendem Begriff der Irrationalzahl genau betrachtet grundsatzlich inne, auch wenndie Definition in 3.1 sehr einfach aussieht.

1.1 Die altere Geschichte

Die Vorstellungen uber Zahlen in den großen Kulturkreisen des Altertums, beiden Agyptern, den Sumerern, Babyloniern und den Griechen, den Indern undChinesen sowie bei den Mayas und Azteken in Amerika, sind uns durch Doku-mente aus Stein, Knochen, Ton und Papyrus hinlanglich klar uberliefert worden.Was sich außerhalb dieser Kulturkreise oder vor deren Entstehung abgespielt hat,daruber konnen wir nur Mutmaßungen anstellen. Eine dieser ziemlich verbrei-teten und durch Observationen noch lebender sogenannter primitiver Kulturengestutzten Mutmaßungen ist, dass der in unserem Sinne noch nicht kultivierteMensch nur uber Worte fur

”Eins“,

”Zwei“ und davon oft nur abgeleitete Worte

fur”Drei“ und

”Vier“ verfugte, alles andere war

”mehr“ oder

”viel mehr“, ahn-

lich wie ja auch einige Saugetiere und Vogel uber einen anscheinend angeborenenSinn fur die Erfassung von einem oder zwei bis zu vier Gegenstanden verfugen.Ein Indiz dafur ist, dass fur die Zahlen 1 und 2 in fast allen Sprachen beson-dere Namen existieren, unterschiedlich zugleich nach ihrer Funktion als Anzahloder als Ordnungszahl, und dass sich erst bei großeren Zahlen eine zunehmendeRegelmaßigkeit sprachlicher Konstruktion auspragt.

Auch die Geschichte der symbolischen Zahlbezeichnungen in den verschiedenenKulturkreisen ist aufschlussreich. Das Bezeichnungsprinzip ist in den antiken Kul-turen fast uberall dasselbe. Man kann es vielleicht am treffendsten mit dem WortKollektionsprinzip umschreiben, um den Gegensatz zum heutigen Positionsprin-zip zu betonen. Kleine Zahlen wurden meistens durch Striche oder Punkte be-zeichnet. Sodann wurde fur eine etwas großere Anzahl, z.B. fur 5 oder 10 oder furbeide, ein neues Symbol fur die entsprechende Kollektions- oder Gruppierungs-einheit eingefuhrt. Mehrere dieser Gruppierungseinheiten wurden wieder zusam-mengefasst und abermals mit einem neuen Symbol bezeichnet, usw. Typisch isthier das uber Jahrtausende verwendete Bezeichnungssystem im alten Agypten,welches Symbole (Hieroglyphen) fur 10n von n = 1 bis n = 6 (eine Million)besaß. Ebenso das der Griechen und schließlich auch der Romer, das in seinerspatmittelalterlichen Form auch heute noch verwendet wird.

Page 14: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.1 Die altere Geschichte 3

Vorteil der auf dem Kollektionsprinzip beruhenden Systeme ist eine unmittelbareVeranschaulichung der dargestellten Anzahl. Dem aber steht der entscheidendeNachteil gegenuber, dass das Rechnen in diesen Systemen recht kompliziert ist.Die Addition kleinerer Anzahlen ist einfach. Man muss die

”Zahlhaufen“ nur zu-

sammenfugen, unter eventueller Verwendung eines neuen Symbols fur eine neuentstandene Gruppierungseinheit. Das Multiplizieren hingegen wird schon zu ei-nem Problem, und das Dividieren schließlich ist nur noch eine den Eingeweihtenvorbehaltene Kunst. Mit Sicherheit standen den Rechenexperten der damaligenZeit gewisse technische Hilfsmittel zur Verfugung, z.B. Tafeln und einfache

”digi-

tale“ Rechengerate, ahnlich dem heute mancherorts noch gebrauchlichen Abakus,und wahrscheinlich neigen wir wegen mangelnder Vertrautheit mit den dama-ligen Rechentechniken dazu, die Schwierigkeiten zu uberschatzen. Der praziseKalender, aufgebaut auf astronomischen Beobachtungen und Berechnungen, dieSteuereintreibung, und die Landvermessung bei einem komplizierten Bewasse-rungssystem machen deutlich, dass umfangreiche Rechnungen standig ausgefuhrtwurden. In der Regel geschah dies in besonderen Institutionen an den Hofen undTempeln der Konige, Fursten und Priester.

Man mag sich fragen, wie zum Beispiel die Romer die komplizierten Verwal-tungsaufgaben ihres gewaltigen Imperiums angesichts ihres damals bereits rechtantiquierten Zahlensystems meisterten. Nun, es gab die hohe Kunst des Rech-nens, die sicher auch Unterrichtsfach in den romischen Gymnasien war. Dazugehorten insbesondere raffinierte Techniken des Fingerrechnens. Betrachten wirhier nur folgendes Multiplikationsverfahren, das den Romern zugeschrieben wirdund deshalb (um es beim Namen zu nennen) das Romische Einmaleins genanntwerde. Dieses in entlegenen Gegenden der Welt angeblich heute noch verwendeteVerfahren setzt voraus, dass die Produkte n × m im wesentlichen nur fur Zahlenn ≤ 4 und m ≤ 9 auswendig gelernt werden mussen. Fur 5 ≤ n,m ≤ 9 wird n×mmit Hilfe der Finger berechnet. Dabei werde n der linken Hand, m der rechtenHand zugeordnet. Wir erklaren dies am Beispiel der Multiplikationsaufgabe 7×8,siehe dazu auch die Figur auf der nachsten Seite.

Es ist 7 = VII = 5+2, also 2 = 7−5. Zwei Finger der linken Hand werden erhoben,also gerade soviel, wie der Uberschuss uber 5 betragt. Entsprechend werden dreiFinger der rechten Hand erhoben. Jeder erhobene Finger gilt als Zehner; dasergibt zusammen 5 Zehner. Die Anzahlen der unten belassen (geknickten) Fingerwerden miteinander multipliziert, im vorliegenden Falle ergibt dies 3 × 2 = 6.Dies wird zur Zehnersumme 50 addiert. Das Resultat ist 56, also tatsachlich dasProdukt 7 × 8. Ein weiteres Beispiel ist die Berechnung von 6 × 9. Hier werdenein Finger der linken, und vier Finger der rechten Hand erhoben, insgesamt funf.Die unten verbliebenen Finger ergeben das Produkt 4 × 1 = 4, was zusammenmit der Zehnersumme 50 den korrekten Wert 54 ergibt.

Page 15: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

4 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

Dieses phantastische Verfahren liefert in allen Fallen das richtige Ergebnis. Hierder Korrektheitsbeweis. Leser, die nur an der amusanten Seite dieses Verfahrensinteressiert sind, durfen seine Rechtfertigung naturlich uberlesen.

Seien also n,m mit 5 ≤ n,m ≤ 9 gegeben. Die Anzahl der erhobenen Finger derlinken Hand betragt hl = n − 5, die der rechten Hand hr = m − 5. Insgesamtwerden also hl + hr = n + m − 10 Finger erhoben. Die Anzahl der geknicktenFinger der linken Hand ist kl = 5−hl = 5−(n−5) = 10−n, die der rechten Handentsprechend kr = 10 − m. Das Resultat R = 10(hl + hr) + klkr des Verfahrenergibt wegen hl + hr = n + m − 10 und klkr = (10 − n)(10 − m) damit

R = 10(n + m − 10) + (10 − n)(10 − m) = n × m,

also das Produkt von n und m. Das beweist die behauptete Korrektheit.

Die am haufigsten benutzte Kollektionseinheit war 10. Aber es gab auch andereEinheiten, von denen einige fast schon den Charakter einer Grundzahl hatten. Sowurde bei den Babyloniern sowohl fur naturliche als auch fur gebrochene Zah-len das Sexagesimalsystem verwendet, in welchem die Zahl 60 die heutige Rolleder 10 spielte. In anderen Kulturen, z.B. bei den Mayas, war 20 eine Grundzahl.Beide Bezeichnungssysteme hatten in der Tat gewisse, aber nicht alle Merkmaleeines modernen Positionssystem. So kannte die babylonische Keilschrift im Prin-zip nur zwei Ziffern, den aufrechten

”Nagel“ fur Eins, und den

”Winkel“ fur 10.

Es fehlte ein wesentliches Merkmal des g-adischen Positionssystems, namlich dasVorhandensein einer eigenen Ziffer fur jede der ersten g naturlichen Zahlen. Dafurist das Sexagesimalsystem allerdings auch denkbar ungeeignet.

Die Babylonische war nach gegenwartigem Wissensstand die erste der großen Kul-turen, die ein Nullsymbol (ab dem 4. Jahrhundert vor Chr.) einfuhrte. Dennoch

Page 16: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.1 Die altere Geschichte 5

gelangte man nicht zu einem modernen Positionssystem. Ubrigens ist das Vorhan-densein eines Nullsymbols im Gegensatz zu oft geaußerten Meinungen keineswegsentscheidend fur ein echtes Positionssystem. Am Ende von Abschnitt 11 wird einPositionssystem mit einer beliebigen Grundzahl g vorgestellt, welches statt einerZiffer fur die Null eine solche fur die Zahl g verwendet, das also Ziffernsymbole fur1, . . . , g besitzt. Auch mit diesen Ziffern ist die Darstellung einer jeden positivennaturlichen Zahl eindeutig und sogar okonomischer.

Bemerkung 1. Der mathematische Wissensstand der Babylonier ist beeindruckend,obwohl nur bruchstuckweise bekannt. Moglicherweise wussten sie bereits, dass

√2 irra-

tional ist, weil sie mit unterschiedlichen Naherungen fur√

2 rechneten. Die Alltagsnahe-rung als Sexagesimalbruch war 1 + 25

60 . Sie ist doppelt so genau wie 1,41. Auch kanntendie Babylonier folgendes Verfahren zur Verbesserung einer rationalen Naherung r > 0fur die Quadratwurzel aus einer gegebenen rationalen Zahl a > 0 (siehe auch [13] oder8.4). Falls r2 < a und ε = a−r2, ist r′ = r+ ε

2rfur nicht zu große ε eine bessere Naherung

fur√

a als r, wie man leicht nachrechnet. Analoges gilt fur r′ = r − ε2r

im Falle r2 > a

mit ε = r2 −a. In beiden Fallen ist r′ >√

a. Fur die sexagesimale Naherung r = 1+ 2560

von√

2 erhalt man so nach Abrunden die den Babyloniern ebenfalls bekannte Naherungr′ = 1+ 24

60+ 51602 + 10

603 . Dies ist die beste sexagesimale Naherung der Ordnung 3; ihr Fehler

ist < 10−6. Eine leichte Umformung des Babylonischen Verfahrens und seine Iterationliefert die nach Heron (ca. 50 n. Chr.) benannte Folge ri+1 = 1

2(ri + ari

), die zufalligmit der Iterationsfolge ri+1 = ri − f(ri)

f ′(ri)des Newton-Verfahrens zur Berechnung der

positiven Nullstelle von f : x 7→ x2 − a zusammenfallt.

Es sollte nicht unerwahnt bleiben, dass in derselben Sprache immer auch un-terschiedliche Kollektionseinheiten benutzt wurden und werden, je nach Art derGegenstande, auf die sich die Zahlung bezieht. Wir beobachten das noch heutean dem Wort Dutzend, das nur in bestimmten Zusammenhangen benutzt wird.Die 12-Stundenteilung des Ziffernblattes der Uhr und andere Dinge lassen auf dieKollektionseinheit 12 schließen. Sprachreste in den germanischen Sprachen deu-ten aber nur dem ersten Anschein nach darauf hin. So bedeuteten die gotischenNamen ainlif fur 11 und twalif fur 12 – verwandt mit dem deutschen elf und zwolf

und dem englischen eleven und twelve – ursprunglich etwa”eins gelassen“ bzw.

”zwei gelassen“ (nachdem alle Finger zum Zahlen verbraucht sind).

Wir wissen wenig daruber, ob in den vorgriechischen Kulturen bereits eine Philo-sophie des Zahlbegriffs existierte, wie sie uns von den Pythagoreern, von Platon(ca. 429 – 348 v.Chr.) und anderen uberliefert worden ist. Die Griechen un-terschieden klar zwischen (naturlichen) Zahlen und Großen. Großenbeziehungenwurden durch vier-stellige Relationen, sogenannte Proportionen beschrieben. Diein [10, Buch V] dargestellte, Eudoxos (ca. 408 – 355 v.Chr.) zugeschriebeneProportionenlehre ist jedoch keine Lehre von den rationalen Zahlen. Großen wa-ren anschauliche, in der Regel geometrische Objekte wie Strecken- Winkel- oder

Page 17: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

6 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

Flachengroßen (siehe 10.1). Es war den Griechen bekannt, dass mit ganzzahligenGroßenproportionen die Geometrie nicht adaquat zu beschreiben ist. Ausdruckdieser Unzulanglichkeit ist, dass die Lange der Diagonalen eines Quadrats sich zurSeitenlange verhalt wie

√2 zu 1. Euklid liefert einen korrekten Beweis dafur,

dass Diagonale und Seite des Quadrats inkommensurabel sind, oder in heuti-ger Terminologie, dass

√2 irrational ist. Wann dies erstmals schlussig bewiesen

wurde, wissen wir nicht.

Das kommensurable Großen behandelnde Buch X der Elemente [10] beginnt mitder folgenden Definition, die in 10.1 ubernommen wird: Kommensurabel heißen

Großen, die von demselben Maß gemessen werden, und inkommensurabel solche,

fur die es kein gemeinsames Maß gibt.

Das Phanomen inkommensurabler Streckenverhaltnisse in der Geometrie war denGriechen lange vor Euklid wohlbekannt und die Vermutung, dass dies eine ernsteGrundlagenkrise der griechischen Mathematik verursachte, kann nicht wirklichnachgewiesen werden. Die These der Pythagoreer

”Alles ist Zahl“ war schnell

uber Bord geworfen worden. Statt von inkommensurablen Zahlen sprach manvon inkommensurablen Großen, was durchaus sinnvoll ist. Mit den erwahntenProportionen konnten auch inkommensurable Großenverhaltnisse naherungsweisebestimmt werden. Man darf daher die Großen- und Proportionenlehre mit Rechtals die Urform der Analysis bezeichnen.

Zwar unterschied auch Archimedes (ca. 287 – 212 v.Chr.) deutlich zwischen Zahlim herkommlichen Sinne und Messgroße als Verhaltnis der gemessenen Große zurEinheit, aber er hatte anscheinend eine Vorstellung hieruber, die etwa derjenigenuber reelle Zahlen (als Maßzahlen fur geometrisch-physikalische Großen) in derbeginnenden Neuzeit entspricht. Er berechnete auf mathematische Weise nichtnur die Kreiszahl π (= 3,141 · · · ) approximativ zu 22

7, sondern auch krummlinig

begrenzte Flachenstucke der verschiedensten Art. Die griechische Mathematikwar auf der Hohe ihrer Zeit; in ihr waren auch Erkenntnisse fruherer Kulturendes Mittelmeerraumes aufgehoben. Andererseits hat sich die griechische Zahlkon-zeption, eingeordnet in ausgeklugelte philosophische Kategorien, spater teilweiseals Hemmschuh erwiesen und den Fortschritt der Mathematik im mittelalterlichenEuropa moglicherweise behindert. Das betrifft zum Gluck nicht den Fortschrittim praktischen Gebrauch der Zahlen, der durch die Erfindung des dezimalen Po-sitionssystems erreicht wurde. Daruber wird weiter unten berichtet.

Allmahlich gelangten neben gebrochenen Zahlen bei der Gleichungslosung auchnegative Zahlen in Gebrauch. Obwohl diese das Losen von Gleichungen wesentlichvereinfachten, opponierte noch Vieta (1540 – 1603), der

”Vater der Buchstaben-

rechnung“ gegen ihren Gebrauch. Diesbezugliche Bedenken verschwanden erstvollstandig mit der Erfindung der Logarithmen.

Page 18: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.2 Die Entwicklung des Dezimalsystems 7

1.2 Die Entwicklung des Dezimalsystems

Die Erklarung der reellen Arithmetik in den Abschnitten 4 und 5 beruht wesent-lich auf dem dezimalen Positionssystem. Dieses System stammt nachweislich ausIndien, wurde spater von den Arabern und anderen Kulturkreisen ubernommenund gelangte um das Jahr 1000 herum uber den damals arabisch beherrschtensudlichen und westlichen Mittelmeerraum in die italienischen Handelszentren.Das Dezimalsystem wurde mit anderen Bezeichnungen auch in China verwendetund gelangte von dort z.B. nach Japan.

Dieser Prozess vollzog sich unter wechselvollen Umstanden. Die Gestalten der Zif-fern wurden mehrfach abgewandelt, so dass die im europaischen Raum etwa seitder Erfindung der Buchdruckerkunst standardisierten Ziffern kaum noch Ahn-lichkeit haben mit den ursprunglichen, oder den heutigen im arabischen Raumverwendeten Ziffern. Diese außerlichen Anderungen sind jedoch nicht wesentlich.Vielmehr ist dies die uns heute fast banal erscheinende Erkenntnis, dass naturli-che Zahlen mit nur endlich vielen Ziffern bezeichnet werden konnen, wenn manAnzahlen konsequent durch eine Anordnung von Ziffern kodiert. Dies bedeutetnaturlich eine Abkehr von Bezeichnungsweisen nach dem Kollektionsprinzip.

Trotz klarer Vorteile gegenuber der in Europa fast uberall benutzten romischenZahlenbezeichnung traf das indisch-arabische Positionssystems selbst in den auf-geklarten italienischen Handelszentren auf Widerstand. Dennoch begann sich im13. Jahrhundert dieses System in Europa zu verbreiten, wobei das 1202 erschie-nene Liber abbaci [23] des Leonardo von Pisa (auch Fibonacci genannt, etwa1170 – 1250) eine erhebliche Rolle gespielt hat. Leonardo beginnt sein Werk miteiner musterhaften Erklarung der Rechenverfahren im dezimalen Positionssystem,wie sie noch heute in allen Schulen der Welt gelehrt werden.

Das Prinzip des Dezimalsystems, namlich jede positive naturliche Zahl k als Fol-ge z0z1 · · · zn aus den Dezimalziffern oder kurz Zffern 0 bis 9 darzustellen, istallgemein bekannt: z0, . . . , zn diejenigen eindeutig bestimmten Ziffern mit z0 6= 0,so dass k = z0 · gn + z1 · gn−1 + . . . + zn−1 · g + zn . Dabei ist g = 10.

Nun hatte man anstatt g = 10 hier jede beliebige andere naturliche Zahl g ≥ 2 alsdie sogenannte Grundzahl wahlen konnen, wie in 11.6 allgemein bewiesen wird.Man spricht dann vom g-adischen System. Fur g > 10 benotigt man entsprechendmehr, fur g < 10 weniger Ziffern 2). Das Binarsystem (g = 2) hat G. W. Leibniz

2)Diese heißen dann auch g-adische Ziffern. Die Lange `gk der Zifferfolge von k in g-adischerDarstellung nimmt entsprechend zu. Nach (17) in 7.4 ist `gk fur großere k ungefahr gleich`10klog g

. Das ist fur g = 8 nur das etwa 1,1-fache der dezimalen Lange. Fur kleine naturlicheZahlen ist der Langenzuwachs besonders klein. Fur die ersten 500 naturlichen Zahlen ergibtsich ein mittlerer Zuwachs der Ziffernlange von weniger als 3%.

Page 19: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

8 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

(1646 – 1716) sehr geschatzt; es diente ihm als Beispiel fur seine These, dass dasinnere Wesen der Dinge von gottlicher Harmonie gepragt ist. Dieses System hatnur die Ziffern 0, 1 (die Binarziffern) und besitzt große praktische Bedeutung,denn die meisten Computer rechnen binar.

Fur g = 8 spricht man vom Oktalsystem. Hier entfallen einfach die Ziffern 8 und9. In der folgenden Tabelle sind die naturlichen Zahlen von 1 beginnend in deroberen Reihe im Dezimalsystem, darunter im Binarsystem, und in der unterenReihe im Oktalsystem geschrieben.

g = 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 · · ·g = 2 1 10 11 100 101 110 111 1000 1001 1010 1011 1100 · · ·g = 8 1 2 3 4 5 6 7 10 11 12 13 14 · · ·

Hierbei erhebt sich naturlich die von historischen Betrachtungen ganz unabhangi-ge Frage, ob eine andere Grundzahl als 10 Vorteile im heutigen Alltagsleben hatte.Diese Frage muss klar bejaht werden, und zwar zugunsten des Oktalsystems. We-sentliche Vorteile des Oktalsystems sind folgende:

• Das Einmaleins wurde sich um fast die Halfte (uber 40%) verkurzen.

• Interpolationen bei Messvorgangen oder bei der Benutzung von Tabellenwaren erheblich schneller auszufuhren.

• Die Herstellung von Tastaturen und Messeinrichtungen (Schreib- und Re-chenmaschinen, Waagen, Gewichtssatze und Skalen aller Art) wurde sichverbilligen und ihre Handhabung vereinfacht.

• Die Ziffern 0, . . . , 7 des Oktalsystems werden durch die 8 Tripel 000, . . . , 111aus Binarziffern umkehrbar eindeutig kodiert. Deshalb erfolgt die Umrech-nung einer reellen Zahl vom Oktal- ins Binarsystem ziffernweise in Dreier-blocken, und umgekehrt. So ist 2,4375 = 2,348 = 10,011 1002 (weil 2 = 0102,3 = 0112 und 4 = 1002). Die von kleinen und großen Rechnern standig vor-genommenen Umrechnungen vom Dezimal- ins Dualsystem und umgekehrtwurden praktisch entfallen, und damit entfiele zugleich eine permanenteQuelle von Rundungsfehlern.

• Die Kapazitat der Binarspeicher fur Zahlen in den elektronischen Rechnernware viel besser auslastbar, weil in einer, sagen wir 16-Bit Zelle mit einemBitplatz fur das Vorzeichen (siehe 9.4) jede der 216 − 1 = 65 535 ganzenZahlen ±n mit 0 ≤ n ≤ 215 − 1 = 32 767 = 777778 Platz fande. Das ist fur4-stellige ganzzahlige Dezimalzahlen mit Vorzeichen zu viel, fur 5-stelligezu wenig.

Page 20: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.2 Die Entwicklung des Dezimalsystems 9

Nur am Rande sei ein im Zeitalter der Computer naturlich unerheblicher Vorteilerwahnt: Die 2-te Rundung der Kreiszahl π ist 3,14. Im Oktalsystem ist diese3,118. Sie ist nicht nur fur Handrechnungen bequemer, sondern ihr relativer Feh-ler ist mit rund 0,031% um fast die Halfte kleiner als derjenige der dezimalenRundung (ca. 0,051%).

Nun, es lasst sich auch in einer Welt des Dezimalsystems leben. Hier wie dortkann man namlich die Zifferndarstellung naturlicher Zahlen in der bekannten,anschaulichen Weise auch auf Zifferndarstellungen nichtganzer Zahlen erweitern,was Anlass gibt zu den Dezimalzahlen oder Kommazahlen, auch Dezimalbruchegenannt. Diese sind etwa im 15. Jahrhundert an verschiedenen Orten des damalsschon riesigen Verbreitungsraumes der indisch-arabischen Ziffern aufgetaucht.

Von erheblicher Bedeutung fur die Popularisierung der Dezimalbruche in Europawar wohl das Rechenbuch De Thiende von S. Stevin (1548 – 1620), in welchemz.B. die Zahl 27,847 in der Weise 27(0)8(1)4(2)7(3) notiert wird. In StevinsBuchlein finden sich auch die bekannten, noch heutzutage in allen Schulen ge-lehrten Algorithmen fur Addition und Multiplikation endlicher Dezimalzahlen, diein 4.1 zum Fundament der Dezimalzahlarithmetik gemacht werden. Die Schreib-weise Stevins ist zur Erlauterung dieser Algorithmen anhand von Beispielenbestens geeignet.

Es ist nicht erkennbar, ob Stevin das Rechnen mit Dezimalbruchen unabhangigvon Vorlaufern erfunden hat. Dezimalbruche hat es nachweislich mindestens 100Jahre fruher gegeben. Jedenfalls erkennt und verdeutlicht er klar die Vorteile einesallgemeinen dezimalen Maßsystems. In der Uberzeugung, dass sich dieses fruheroder spater durchsetzen werde, schreibt er in [32] einleitend:

Ob nun hierdurch kostbare, nicht kaufliche Zeit gewonnen werden wird . . .

uberlasse ich gern Ihrem Urteil. Nun konnte mir jemand sagen, dass viele

Dinge sich auf den ersten Blick oft besonders gut anlassen, aber wenn man

sie durchfuhren will, so kann man nichts damit ausrichten, ebenso wie es

bei den Neuerungen der Revolutionare oft zugeht, welche im Kleinen gut

sind, aber im Großen nichts taugen. Denen antworten wir, dass solch ein

Zweifel hier keinesfalls bestehen kann, weil es . . . nun taglich in der Praxis

genug erprobt wird, namlich durch verschiedene erfahrene Landmesser hier

in Holland, denen wir es erklart haben . . .

Vermutlich sind die Dezimalbruche im Prozess des Experimentierens mit Re-chenalgorithmen oder in der Praxis des Messens eher zufallig entstanden, obwohleine dezimale Maßskala noch zu Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend unbe-kannt war. Sie wurde erst nach der Franzosischen Revolution eingefuhrt und denkontinentalen Europaern durch Napoleon sozusagen zwangsverordnet.

Page 21: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

10 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

Die Dezimalbruche wurden und werden noch heute unterschiedlich notiert. Be-zeichnungen wie 2|47 oder 247 oder 2(0)4(1)7(2) fur 2,47 waren im Gebrauch.Heute ist neben dem Dezimalkomma der angelsachsische Dezimalpunkt die amweitesten verbreitete Notation 3).

Fur Addition, Subtraktion und Multiplikation naturlicher Zahlen im Dezimalsys-tem wurden schon im fruhen Mittelalter von verschiedenen Autoren im wesent-lichen dieselben Verfahren empfohlen, die wir heute kennen. Hauptschwierigkeitwar das Dividieren; hier gab es viele phantasievolle Methoden, deren Haupt-probleme insgesamt alle darauf hinaus liefen, mit den

”Resten“ fertig zu wer-

den; denn die Dezimalbruche kamen ja erst viel spater, namlich im 17. Jahr-hundert, allmahlich in Gebrauch. Leonardo von Pisa lost z.B. die Gleichungx3 + 2x2 + 10x = 20 mit dem sehr exakten Naherungswert

1.22I7II42III33IV4V40VI,

einer leicht durchschaubaren Schreibweise fur 1 + 2260

+ 7602 + 42

603 + 33604 + 4

605 + 40606

(bei Leonardo geschrieben als”unum et minuta .XXII. et secunda .VII. et tertia

.XLII. et quarta .XXXIII. et quinta .IIII. et sexta .XL.“).

Uns erscheint kurios, dass die naturlichen Zahlen dezimal, Bruchzahlen aber sexa-gesimal dargestellt wurden, auch wenn die Zahl 60 besonders gunstig ist wasdie relative Anzahl ihrer Teiler betrifft. Dazu muss man aber bedenken, dassBruchzahlen seit der Antike als wesentlich verschieden von naturlichen angesehenwurden, und nicht einmal Zahlen genannt wurden. Es ist hier nicht der Platzdarzustellen, welche ausgeklugelten Methoden erforderlich gewesen sind, um indiesem gemischten System Multiplikations- und Divisionsaufgaben zu losen. Einanderer Autor aus dem 16. Jahrhundert berechnet z.B. die Quadratwurzel aus 10wie folgt: Er multipliziert zunachst 10 mit dem Wert 106 und findet, dass 31622

die am nachsten bei 107 = 10 ·106 liegende Quadratzahl ist, also√

107 ≈ 3162 (≈meint ungefahr gleich). Er hatte nun schreiben konnen

√10 ≈ 3,162, denn es ist

√10 =

√107

√106

≈ 3162103 = 3 + 162

1000.

Statt dessen rechnet er 1621000

mit dem g-adischen Algorithmus aus 8.2 fur g = 60

in einen Sexagesimalbruch um, 1621000

= 9I43II12III, und erhalt so√

10 ≈ 3.9I43II12III.Dieses Ergebnis ist ubrigens nicht die beste 3-stellige Sexagesimalbruchnaherungfur

√10. Vielmehr ist dies die Zahl 3.9I44II12III = 3,1622 777 · · · , die sich erst in

der 7. Dezimalen von√

10 = 3,1622 776 · · · unterscheidet. Siehe hierzu auch dieAusfuhrungen in 8.4.

3)Letztere hat einige Vorteile gegenuber der Kommaschreibweise, z.B. in der Niederschrift derMenge {1, 1.4, 1.41, . . . } der dezimalen Naherungen von

√2. Wir notieren diese Menge daher

in der Weise {1; 1,4; 1,41; . . . } und verfahren analog in entsprechenden Fallen.

Page 22: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.3 Die neuere Geschichte 11

Reste des Sexagesimalsystems fur Bruche haben sich bis heute erhalten, z.B. inder Winkelteilung und der Zeitmessung. Dezimale Winkelteilung hat sich nichtdurchgesetzt, denn Gewohnheiten sind nun einmal machtig.

Die Geschichte der dezimalen Arithmetik ist ein Musterbeispiel dafur, wie wichtigscheinbare Außerlichkeiten – im vorliegenden Falle die dezimale Darstellung reel-ler Zahlen – fur den Fortschritt einer Wissenschaft sein konnen. Diese Darstellunghat mit Sicherheit geholfen, Schwierigkeiten mit den Irrationalzahlen als weni-ger gravierend zu empfinden. Schon die dezimale Darstellung naturlicher Zahlenwar ein gewaltiger Fortschritt. Sie waren nun der Offentlichkeit zuganglich undnicht mehr Statussymbol einer geistigen Elite. Die Griechen hatten fraglos daszahlentheoretische Wissen, um eine dezimale oder andere g-adische Darstellungnaturlicher Zahlen einwandfrei zu begrunden. Der Euklidische Algorithmus zurBestimmung des großten gemeinsamen Teilers benutzt namlich dasselbe Hilfsmit-tel, die sogenannte Division mit Rest, siehe dazu 11.6. Aber weder die Griechennoch die Romer haben diesen Weg gesucht und auch nicht zufallig gefunden. AmFehlen der Null lag es nicht, denn die Griechen und vor ihnen schon die Baby-lonier benutzten ein Nullsymbol bei der Kennzeichnung fehlender Glieder in dersexagesimalen Bruchdarstellung.

1.3 Die neuere Geschichte

Eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Zahlbegriffs, also dergestalt

”Was sind die Zahlen“, hangt nicht unerheblich von dem abstrakten Begriffs-

gefuge ab, uber das der Mensch einer jeweiligen Epoche unter Einbeziehung allerErfahrungen der Vergangenheit verfugt. Die Maßstabe wissenschaftlicher Strengesind einem bestandigen Wandel unterworfen, und sie werden fortfahren sich zuwandeln. Man darf sich z.B. nicht daruber wundern, dass Gauss in mehrerender von ihm erstmals gefuhrten Beweise des Fundamentalsatzes der Algebra be-denkenlos Zwischenwertargumente fur stetige Funktionen benutzte, obwohl derStetigkeitsbegriff erst spater prazisiert wurde und noch spater die Notwendigkeitdes Beweises von Zwischenwertargumenten allgemeine Anerkennung fand. Mit ei-nem Wort, seit den Zeiten von Gauss haben sich unsere Ansichten uber das, waseiner Begrundung bedarf, erheblich gewandelt.

Newton und auch Leibniz verstanden unter einer reellen Zahl das Verhaltniszweier Großen gleicher Art, von denen eine als Einheit betrachtet wurde. DiesesVerstandnis geht auf Archimedes zuruck. Noch im 19. Jahrhundert wurdenIrrationalzahlen in der Regel als Großenverhaltnisse von Strecken erklart, alsogeometrisch oder physikalisch. Die Klarung des Begriffs einer reellen Zahl nachmodernen Maßstaben ist wesentlich das Werk R. Dedekinds (1831 – 1916),

Page 23: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

12 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

obwohl auch andere, vor allem G. Cantor (1845 – 1918), sowie B. Bolzano(1781 – 1848), A. Cauchy (1789 – 1857), K. Weierstrass (1815 – 1897), undschliesslich D. Hilbert (1862 – 1943) in diesem Zusammenhang genannt werdenmussen, siehe hierzu auch [9]. Ein weiterer Aufbau des Systems der reellen Zahlennach modernen Maßstaben begrifflicher Strenge ist Gegenstand der Abschnitte3 – 5 und muss daher an dieser Stelle nicht erlautert werden.

Jedem Schritt einer Erweiterung des Zahlbegriffs ging ein erster Schritt voraus,namlich das formale Operieren mit Termen wie z.B. 7− 12, 2 +

√3, 5 +

√−15 4),

verbunden mit ernsten Auseinandersetzungen uber die Frage, ob solchen Rechen-großen nun eine reale Existenz zukommt oder ob sie nur fiktive oder imaginare,in unserer Einbildung existierende Großen darstellen. Die begriffliche Erfassungirrationaler Großen und ihre Einordnung in das Zahlensystem war zweifellos derentscheidende und schwierigste Schritt. Lassen wir zum Problem der irrationalenZahlen einen bekannten Mathematiker des ausgehenden Mittelalters zu Wortekommen, M. Stifel (1486 – 1567). In seinem Hauptwerk [33] schreibt er:

Mit Recht wird bei den irrationalen Zahlen daruber disputiert, ob sie wahreZahlen sind oder nur fiktive. Denn bei Beweisen an geometrischen Figurenhaben die irrationalen Zahlen noch Erfolg, wo uns die rationalen im Stichlassen, und sie beweisen genau das, was die rationalen Zahlen nicht bewei-sen konnten. Wir werden also veranlasst, ja gezwungen zuzugeben, dasssie in Wahrheit existieren, namlich auf Grund ihrer Wirkungen, die wir alswirklich, gewiss, und feststehend empfinden.

Aber andere Grunde veranlassen uns zu der entgegengesetzten Behaup-

tung, dass wir namlich bestreiten mussen, dass die irrationalen Zahlen

Zahlen sind. Namlich wenn wir versuchen, sie der Zahlung zu unterwerfen

und sie mit rationalen Zahlen in ein Verhaltnis zu setzen, dann finden wir,

dass sie uns fortwahrend entweichen, so dass keine von ihnen sich genau

erfassen lasst... Es kann aber nicht etwas eine wahre Zahl genannt werden,

bei dem es keine Genauigkeit gibt und was zu wahren Zahlen kein bekann-

tes Verhaltnis hat. So wie eine unendliche Zahl keine Zahl ist, so ist eine

irrationale Zahl keine wahre Zahl, weil sie sozusagen unter einem Nebel der

Unendlichkeit verborgen ist; doch ist das Verhaltnis einer irrationalen Zahl

zu einer rationalen nicht weniger unbestimmt als das einer unendlichen

Zahl zu einer endlichen . . .

Die Vorstellung uber Irrationalzahlen beschrankte sich bei Stifel uberdies nurauf Wurzelausdrucke wie z.B. 3

√2 +

√5. Eine Unterscheidung zwischen algebrai-

schen und transzendenten Irrationalzahlen wie√

2 und π existierte selbstredend

4)zuerst aufgetreten in [5] und durch 5 · p · R · m · 15 bezeichnet. Die Notationen p = plus,m = minus, R = Radix waren seinerzeit vor allem in Italien gebrauchlich.

Page 24: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

1.3 Die neuere Geschichte 13

noch nicht. Mit Beginn der Neuzeit, vor allem seit Erfindung der Logarithmenund der Infinitesimalrechnung, hat sich ein allgemeinerer als nur durch Wurzelaus-drucke beschreibbarer Begriff der Irrationalzahl als unentbehrlich erwiesen. Diesespeziellen Zahlen bilden nur ein Tropfchen im riesigen Meer aller Irrationalzahlen.

Bemerkung 2. Erstaunlicherweise wurden die im Geschichtsverlauf erzielten Einzelre-sultate uber Irrationalitat von Wurzelausdrucken erst zu Beginn des 19. Jahrhundertsvon Gauss wie folgt verallgemeinert: Eine reelle Losung der Gleichung

xn + an−1xn−1 + · · · + a1x + a0 = 0 (a0, . . . , an−1 ∈ Z)

liegt entweder selbst schon in Z oder ist irrational. Der Beweis ist kinderleicht undberuht darauf, dass ein Primteiler von mn auch ein solcher von m ist.

Wegen der Dichtheit der rationalen in der Menge R aller reellen Zahlen ist an-schaulich klar, dass eine Irrationalzahl a durch das Paar (Ua, Va) eindeutig be-stimmt ist, wobei Ua die Menge aller rationalen Zahlen < a und Va diejenigealler rationalen Zahlen > a bezeichne. Diesen naturlich schon lange bekanntenUmstand hat Dedekind in [6] benutzt, um a als eben dieses Paar (von ihmSchnitt genannt) zu definieren; etwas genauer, a wird durch diesen Schnitt her-

vorgebracht, wie Dedekind sich ausdruckte 5). Auf der Menge dieser Schnittelassen sich dann Rechenoperationen erklaren, und das Resultat ist der Korperder reellen Zahlen (auch die Bezeichnung Korper stammt von Dedekind). Dieswar aus historischer Sicht die erste, in allen Details begrifflich klare Konstruk-tion des Korpers der reellen Zahlen. Ubrigens konnte man statt von Schnittenrationaler Zahlen z.B. auch von Schnitten abbrechender Dezimalzahlen ausge-hen. Wesentlich an der Konstruktion ist nur die Wahl eines in R dicht liegendenabzahlbaren Zahlenbereichs, in dem man wie gewohnt rechnen kann.

Im Anschluss an Dedekind und teilweise unabhangig von Dedekind wurdenvon anderen Autoren ahnliche mengentheoretische Konstruktionen vorgeschla-gen, insbesondere von Cantor dasjenige mittels Fundamentalfolgen (Cauchy-Folgen) aus rationalen Zahlen, und von P. Bachmann das Verfahren der Inter-vallschachtelungen. Von diesen ist Cantors Verfahren das weittragendste, weil esauf beliebige metrische Raume ubertragbar ist. Spezielle Intervallschachtelungenwurden ubrigens schon von Archimedes betrachtet, der eine solche fur die Zahlπ konstruierte, indem er die einem Kreis einbeschriebenen und zugleich die diesemKreis umschriebenen regularen n-Ecke fur n = 6, 12, 24, . . . betrachtete. Mit dem

5)Dedekind war der Meinung, Zahlen seien eine freie Schopfung des menschlichen Geistes undes bedurfe keiner direkten Identifizierung von a mit dem Schnitt (Ua, Va). Diese Identifizierungbetrafe konsequenterweise dann auch Schnitte mit rationaler Schnittzahl, wodurch die ratio-nalen Zahlen eine neue Qualitat erhielten. Ob nun a mit (Ua, Va) identifiziert wird oder nicht,ist im Prinzip unwesentlich; denn weder aus der einen noch aus der anderen Verfahrensweiselasst sich ein zusatzlicher Gewinn ziehen.

Page 25: Messen und Z¨ahlen - Freie Universitätpage.mi.fu-berlin.de/raut/grana/vorstell.pdfMessen und Z¨ahlen Eine einfache Konstruktion der reellen Zahlen Wolfgang Rautenberg Satz und Layout:

14 1 Zur Geschichte des Zahlbegriffs

einbeschriebenen und dem umschriebenen 96-Eck gewann er so die Ungleichung310

71< π < 31

7, die schon wenig spater erheblich verscharft wurde.

Schließlich wurde – im wesentlichen von Hilbert in [19] – auch eine vollstandigeaxiomatische Charakterisierung des Korpers R der reellen Zahlen angegeben. Diebekannteste ist diese: R ist bis auf Isomorphie der einzige stetig (oder vollstandig)geordnete Korper. Dies wird in 10.5 bewiesen. Es gibt eine große Zahl unter-schiedlicher axiomatischer Kennzeichnungen von R wie zum Beispiel diejenige inUbung 10.7. 6) Fur weitere Charakterisierungen sei auf [8] oder [9] verwiesen.

In [34] wurde erstmals auch auf die bis auf Isomorphie eindeutige Kennzeichnungder reellen Zahlen als Elemente einer stetig geordneten Gruppe hingewiesen. Weildieser Einsicht gemaß die stetig geordnete additive Gruppe aller reellen Zahlen zurebenfalls stetig geordneten multiplikativen Gruppe der positiven reellen Zahlenisomorph ist, ergibt sich ein allseitig befriedigendes Verstandnis des logarithmi-schen Rechnens. Dies wird in 10.6 im Einzelnen dargelegt.

Die Analysis hat in der 2. Halfte des 20. Jahrhunderts noch einmal eine wesent-liche Bereicherung ihrer Grundlegung durch die Entwicklung der sogenanntenNichtstandard-Analysis durch A. Robinson (1918 – 1974) erfahren. Diese hatschon heute nicht allein nur theoretisches Interesse insofern, als durch sie die alteLeibnizsche Idee von den Differentialen als unendlich kleinen Zahlen in uber-raschender Weise Wirklichkeit geworden ist, sondern viele Phanomene aus demBereich der Molekularphysik, der Quantenfeldtheorie und anderen Gebieten derPhysik lassen sich mit ihrer Hilfe hervorragend modellieren.

Grundlage der Nichtstandard-Analysis ist die Existenz von Modellen einer je-den formalisierten oder formalisierbaren Theorie T der ersten Stufe, welche einausgezeichnetes Modell von T , in der Regel das Standardmodell, unter Erhaltaller in T gultigen Aussagen erweitern. Das betrifft insbesondere die Theorie derreellen Zahlen unter Einschluss eines ausreichenden Vorrats reeller Funktionen.Auf diese Weise erhalt man als Nichtstandardmodell der Theorie der reellenZahlen einen von außen gesehen nichtarchimedischen und luckenhaften Erwei-terungskorper R

∗ von R, in welchem dieselben arithmetischen Aussagen geltenwie in R, etwa die Gesetze des logarithmischen und exponentiellen Rechnens.Das liegt daran, dass Lucken von innen gesehen in R

∗ nicht erkennbar sind. In R∗

gibt es unendlich kleine Zahlen (positive Großen, die kleiner sind als jede positivereelle Zahl). Diese reprasentieren annahernd das, was Leibniz einst Infinitesimal-zahlen genannt hatte. Darauf konnen wir in dieses Buches aber nicht eingehen.Siehe etwa [9] fur elementare Einfuhrungen in diese Disziplin.

6)Das bedeutet Ubung 7 in Abschnitt 10 und steht verkurzend fur Ubung 7 in 10.9. Analogwerden Ubungen im gesamten Text zitiert.