12
Christian Lübke Östliches Europa (Kolonisationen) 1 Einleitung Die mittelalterliche Kolonisation, die im östlichen Europa ein reiches Erbe hinterlas- sen hat, wurde in der Forschung lange Zeit kontrovers diskutiert. Dies hing in erster Linie mit dem nationalen Stolz in Bezug auf die kulturellen Fortschritte zusammen, die das soziale Leben und die wirtschaftlichen Bedingungen seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts tiefgreifend veränderten. Der Hauptgrund für die nationalen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts liegt in der scheinbaren Domi- nanz der Deutschen in diesen Prozessen, die auf die Zuwanderung von Siedlern aus dem Westen und auf die Anwendung des ‚Deutschen Rechts‘ (ius Teutonicum) zurückgeführt wurden. Dieses historische Phänomen wurde häufig gebraucht – und missbraucht – als Argument der Deutschen in ihrem Bemühen, die politische Ober- herrschaft über Länder historisch zu begründen, die seit dem frühen Mittelalter von Slawen besiedelt sowie in der Neuzeit hauptsächlich von Polen bewohnt waren. Die Diskussionen begannen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ergriffen rasch die Öffentlichkeit (Hackmann / Lübke 2002). Im Großen und Ganzen reklamierten die Deutschen für ihre Vorväter die Rolle von ‚Kulturträgern‘, während es den Slawen (und anderen ethnische Gemeinschaften) oblag, die wohltätigen Wirkungen ihrer Ankunft zu akzeptieren. Aber die Nachbarn der Deutschen, wie die Polen und Tsche- chen, wiesen diese Anmaßungen zurück und schätzten die angeblichen Verdienste der Deutschen viel geringer ein oder negierten sie sogar gänzlich. Aus ihrer Sicht bil- deten autochthone Entwicklungen die Basis für die Binnenkolonisation in den Regi- onen. Auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen standen sich die deutsche Ost- forschung und der polnische Westgedanke (polska mysl zachodnia) diametral gegen- über, und die slawischen Völker geißelten die deutsche Kolonisation als Element eines aggressiven ‚Drangs nach Osten‘, der schließlich durch Hitlers Angriff auf Osteuropa nachgewiesen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es ausgerech- net die Aufräumarbeiten in den zerstörten Städten, die neue archäologische Funde von Bedeutung hervorbrachten: Protourbane Strukturen und durch sie angestoßene Entwicklungen in ihren Umgebungen hatte es auch schon vor der Ankunft der Deut- schen gegeben. Die von der Archäologie zutage geförderten Sachfunde trugen zu einer stärkeren Professionalisierung und Entnationalisierung der historischen For- schung bei, und die nationalen Prämissen wurden schrittweise zurückgedrängt. In diesem Zusammenhang distanzierten sich deutsche Historiker auch von dem zuvor gebrauchten Begriff ‚Ostkolonisation‘, weil er eine Art von kultureller Überlegenheit Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

  • Upload
    michael

  • View
    222

  • Download
    5

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Christian LübkeÖstliches Europa (Kolonisationen)

1 EinleitungDie mittelalterliche Kolonisation, die im östlichen Europa ein reiches Erbe hinterlas-sen hat, wurde in der Forschung lange Zeit kontrovers diskutiert. Dies hing in erster Linie mit dem nationalen Stolz in Bezug auf die kulturellen Fortschritte zusammen, die das soziale Leben und die wirtschaftlichen Bedingungen seit der zweiten Hälfte des 12.  Jahrhunderts tiefgreifend veränderten. Der Hauptgrund für die nationalen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts liegt in der scheinbaren Domi-nanz der Deutschen in diesen Prozessen, die auf die Zuwanderung von Siedlern aus dem Westen und auf die Anwendung des ‚Deutschen Rechts‘ (ius Teutonicum) zurückgeführt wurden. Dieses historische Phänomen wurde häufig gebraucht – und missbraucht – als Argument der Deutschen in ihrem Bemühen, die politische Ober-herrschaft über Länder historisch zu begründen, die seit dem frühen Mittelalter von Slawen besiedelt sowie in der Neuzeit hauptsächlich von Polen bewohnt waren. Die Diskussionen begannen in der Mitte des 19.  Jahrhunderts und ergriffen rasch die Öffentlichkeit (Hackmann / Lübke 2002). Im Großen und Ganzen reklamierten die Deutschen für ihre Vorväter die Rolle von ‚Kulturträgern‘, während es den Slawen (und anderen ethnische Gemeinschaften) oblag, die wohltätigen Wirkungen ihrer Ankunft zu akzeptieren. Aber die Nachbarn der Deutschen, wie die Polen und Tsche-chen, wiesen diese Anmaßungen zurück und schätzten die angeblichen Verdienste der Deutschen viel geringer ein oder negierten sie sogar gänzlich. Aus ihrer Sicht bil-deten autochthone Entwicklungen die Basis für die Binnenkolonisation in den Regi-onen.

Auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen standen sich die deutsche Ost-forschung und der polnische Westgedanke (polska mysl zachodnia) diametral gegen-über, und die slawischen Völker geißelten die deutsche Kolonisation als Element eines aggressiven ‚Drangs nach Osten‘, der schließlich durch Hitlers Angriff auf Osteuropa nachgewiesen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es ausgerech-net die Aufräum arbeiten in den zerstörten Städten, die neue archäologische Funde von Bedeutung hervorbrachten: Protourbane Strukturen und durch sie angestoßene Entwicklungen in ihren Umgebungen hatte es auch schon vor der Ankunft der Deut-schen gegeben. Die von der Archäologie zutage geförderten Sachfunde trugen zu einer stärkeren Professionalisierung und Entnationalisierung der historischen For-schung bei, und die nationalen Prämissen wurden schrittweise zurückgedrängt. In diesem Zusammenhang distanzierten sich deutsche Historiker auch von dem zuvor gebrauchten Begriff ‚Ostkolonisation‘, weil er eine Art von kultureller Überlegenheit

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 2: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

182   Christian Lübke

der Kolonisten im Vergleich zu der einheimischen Bevölkerung impliziere. Deshalb gebrauchten sie die Bezeichnungen ‚Ostsiedlung‘ und schließlich ‚Landesausbau‘, wobei letztere sich auf die Begrifflichkeit der mittelalterlichen Quellen in Form der Termini aedificatio terrae und melioratio terrae bezieht. Jedoch meint der Landesau-bau nicht einfach die ländliche Kolonisation, sondern er umfasst den ganzen Prozess mit all seinen sozialen und ökonomischen Folgen.

Diese Terminologie bleibt aber eine Besonderheit der deutschen Historiker, denn ihre östlichen Nachbarn benutzen sehr wohl den Begriff ‚Kolonisation‘, worunter sie sowohl die Binnenkolonisation verstehen, deren Beginn sie in der Phase vor der Ankunft der Deutschen erkennen, als auch die neue Form von Kolonisation auf der Grundlage des ‚Deutschen Rechts‘. Wenn heute Historiker die mittelalterliche Kolo-nisation als ein Phänomen interpretieren, das Europa als Ganzes in einem von West nach Ost fortschreitenden Prozess erfasste und die Ausbildung ähnlicher Strukturen anstieß (Zernack 1994), dann ist doch darauf zu achten, dass im Osten verschiedene ethnische Gemeinschaften daran beteiligt waren (Lübke 2007). Die Begegnungen zwischen den einheimischen Bevölkerungen und den Einwanderern verursachten Probleme für die Koexistenz, deren Formen sich von Ort zu Ort und Landschaft zu Landschaft unterschieden. Kleinräumige, regionale Untersuchungen bleiben daher ein Desiderat der historischen Forschung. Als ein Ergebnis dieser spezifischen Situ-ation kann man den neuen Terminus ‚Germania Slavica‘ ansehen, der zusehends an Akzeptanz gewinnt. Er meint jene Regionen, die bis zum Beginn der Kolonisations-phase von Slawen besiedelt waren und die dann im sprachlichen Sinn germanisiert wurden. Germania Slavica setzt also die Mitwirkung sowohl Deutsch als auch Sla-wisch sprechender Menschen an der Kolonisation voraus.

2 Die Verbreitung der Slawen über Osteuropa und der Beginn der Kolonisation in der deutsch-slawi-schen Kontaktzone

Im größeren Maßstab allerdings hat es im frühmittelalterlichen Osteuropa weder Kolonisation noch planmäßige Ansiedlungsmaßnahmen gegeben, vielmehr die Ver-breitung von Siedlungen Schritt für Schritt in einem Naturraum, der von Wäldern und Sümpfen sowie wenigen Gebirgszügen dominiert wurde, zwischen denen sich besiedelte Landschaften befanden. Wenn man die Frage nach dem genauen Verlauf der Ausbreitung der Slawen über Osteuropa einmal beiseite lässt, scheint es ziem-lich eindeutig, dass die Bildung von slawischen politischen Einheiten – der Stämme – mit der Inbesitznahme von Land einherging, gefolgt von Phasen der Konsolidie-rung. Dieser Prozess war fließend und formte unterschiedliche Muster abhängig von den natürlichen Gegebenheiten und den Begegnungen mit anderen Gesellschaften,

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 3: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Östliches Europa (Kolonisationen)   183

Kulturen und Mächten. Unglücklicherweise stehen der Forschung Nachrichten über die frühen Slawen mit Ausnahme der Notizen einiger arabischer Geographen nur von byzantinischen und fränkischen Autoren in Bezug auf die Ereignisse an den Grenzen zur Verfügung, kaum aber auf das Hinterland, wo jedoch eine große Zahl von bis heute sichtbaren Befestigungen (Burgwällen) eine soziopolitische Segmentierung der Gemeinschaften bezeugt. Diese Anlagen dienten der Verteidigung und – vermutlich – der Speicherung der Ernte, die wohl auch dank der Anwendung kolonisatorischer Maßnahmen innerhalb des Siedlungsgebietes eingebracht werden konnte, ohne dass man Genaueres darüber weiß. In diesem Zusammenhang ist damit zu rechnen, dass Individuen und kleinere Gruppen, wo immer dies möglich war, weiter in unbewohnte Gebiete vordrangen und die Stammesgrenzen ausweiteten – oder den Kontakt zu den anderen verloren. Diese Form der Wanderung scheint charakteristisch gewesen zu sein für die Ostslawen, was den führenden russischen Historiker an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Vasily Ključevskij zu der Feststellung veranlasste, die Geschichte Russlands sei die Geschichte von Kolonisation. Tatsächlich war es eine Form von Sickerwanderung, wodurch die wachsende Kiewer Rus neues Land gewann (Goehrke 2010), nicht in Form planmäßiger Kolonisation, sondern als Ergebnis der Versuche von einander folgenden Generationen, sich Existenzgrundlagen anzueig-nen. Die Wertschätzung der Waldrodung findet möglicherweise in dem Gegensatz zweier ostslawischer Stämme in der altrussischen Chronik ihren Ausdruck: die zivili-sierten Feldbesteller (die Poljanen in der Gegend um Kiew) einerseits, und die barba-rischen Bewohner der Wälder (die Derevljanen) andererseits.

Zu derselben Zeit, als die Ostslawen bis in den Norden Russlands gelangten, wan-derten Slawen auch nach Westen, gelegentlich sogar über die Gebiete geschlossener slawischer Besiedlung hinaus. So erschienen Slawen bereits seit dem 8.  Jahrhun-dert in Bayern, und seit dem Ende dieses Jahrhunderts wurden sie in das System der Grundherrschaft einbezogen. Das lässt sich am Beispiel einer Urkunde Herzog Tassi-los von Bayern für das Kloster Kremsmünster aus dem Jahr 777 verfolgen, in der ein slawischer Župan namens Physso erwähnt wird, der Anführer einer Gruppe von 30 Familien, die sich ein Stück Land ohne Erlaubnis angeeignet hatten und ein anderes Stück besiedelten, das ihnen vom Herzog zugewiesen worden war. Wie in diesem Fall wurden Slawen wohl auch systematisch in das Siedlungsgeschehen am oberen Main einbezogen, wo Karl der Große persönlich den Befehl gab, für sie in ihrer terra Sla-vorum Kirchen zu bauen. Kolonisierungsmaßnahmen wurden hier im Rahmen der karolingischen Administration durchgeführt, und das offenbar friedliche Zusammen-leben der beteiligten Ethnien wird durch deutsch-slawische Mischnamen für die Sied-lungen dokumentiert.

Ähnliche Bedingungen werden für die Mitte des 10. Jahrhunderts in den Gebieten westlich der Flüsse Elbe und Saale bezeugt, wo slawische Familien in enger Nach-barschaft zu ihren deutschen Nachbarn angesiedelt wurden, zu denen auch „die anderen Familien von Kolonen“ gehörten. In der Zeit der Ottonen wurden aber auch die ethnischen Parameter der Kolonisation umgekehrt, denn die Könige begannen,

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 4: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

184   Christian Lübke

das Land der Elbslawen östlich der genannten Flüsse, das sie zuvor durch Kriege erobert hatten, an ihre Gefolgsleute und an kirchliche Institutionen zu übereignen, und in den Urkunden erscheinen seit dieser Zeit deutsch-slawische Toponyme und „Hufen“ als Ergebnis von Landvermessung. Das Auftauchen dieser beiden Elemente zeigt die Ankunft der Deutschen und die Anwendung ihrer Formen der Landwirt-schaft an; die Elbmarken schienen auf dem Weg, integrale Bestandteile der ottoni-schen Königsherrschaft zu werden und als Etappe für die weitere Kolonisation unter deutscher Verwaltung zu fungieren. Diese wurde zum Teil durch die neu gegründeten kirchlichen Institutionen repräsentiert, die das Christentum unter den Anhängern der traditionellen slawischen Gottheiten verbreiten sollten. Aber im Jahr 983 bereitete der große Slawenaufstand solchen Plänen ein abruptes Ende. Christliche Bischöfe und ottonische Markgrafen waren gezwungen, den paganen Slawen Platz zu machen, so den Lutizen, die an der Spitze der gentilreligiösen Reaktion im Norden des Elbsla-wenlandes standen, in den Landschaften zwischen den Flüssen Elbe und Oder. Neue Kolonisierungspläne nahmen erst wieder an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert Gestalt an.

3 Ansätze der Kolonisation in Osteuropa unter der Herrschaft der neuen Dynastien

Mit Ausnahme Großmährens im 9.  Jahrhundert entstanden die Herrschaftsgebilde unter der Regierung dauerhafter Dynastien im östlichen Europa im 10. Jahrhundert – die Reiche der böhmischen Přemysliden, der ungarischen Árpáden, der altrussischen Rjurikiden, und der polnischen Piasten. Diese Fürstenfamilien brachten nach und nach benachbarte Sippen und Stämme unter ihre Kontrolle und sicherten sich und ihren militärischen Gefolgschaften ökonomisches Wohlergehen durch Kriegsbeute und erzwungene Tribute sowie durch die Teilhabe an Handel und Marktgeschehen. Die Entlohnung der Gefolgschaften erfolgte durch Wertgegenstände, Waffen und Pferde, und die Verfügbarkeit von Lebensmitteln wurde durch die Abgaben der unter-worfenen Bevölkerung garantiert. Obwohl der Ernteertrag verhältnismäßig gering ausfiel, reichte er gewöhnlich aus, und es bestand keine Notwendigkeit, die Fläche unter dem Pflug auszuweiten. Nichtsdestotrotz gab es einige Vorformen von Kolonisa-tion, die vielleicht auf dem Modell des Byzantinischen Reiches basierten, wo der Wert des menschlichen Kapitals für den Ausgleich von Bevölkerungsverlusten und für den Landesausbau wohl bekannt war.

Für Polen zeigen die archäologischen Funde die erzwungene Umsiedlung von Gemeinschaften in das Hauptland der Piasten (Großpolen) in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts an, als die Basis für ihre Macht gelegt wurde. Gut ein Jahrhundert später (1039) eroberte Fürst Břetislav von Böhmen die Burg Giecz in Großpolen und führte die Besatzung samt der ländlichen Bevölkerung, die dort Schutz gesucht hatte,

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 5: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Östliches Europa (Kolonisationen)   185

„mit dem Vieh und ihrer sonstigen Habe“ mit sich fort. Der Fürst übergab der Gruppe in Böhmen ein Stück Waldland zur Rodung, wo sie von nun an gemäß ihren eigenen Traditionen lebte. Einige Jahre zuvor (1031) hatte auch Großfürst Jaroslav von Kiew Kriegsgefangene aus Polen fortgeführt, und da sie noch Jahrzehnte später in einigen Burgen nahe Kiew erkennbar waren, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie, ähnlich wie die Polen aus Giecz in Böhmen, ihr eigenes Leben in ihrer Gruppe führten. Ein Son-derfall war die Existenz von Einwanderergruppen in Ungarn, wo König Stephan I. die „Gäste“ (hospites) aus dem Ausland ausdrücklich würdigte. Möglicherweise hatte schon sein Vater Geysa nach dem Abschluss eines Friedensvertrages mit dem baye-rischen Herzog Heinrich II. (996) die Einwanderung von Siedlern eben aus Bayern angestoßen. Solche Leute (de Bauuaria missis incolis) waren bereits im Jahr 979 durch den Abt von St. Emmeram in Regensburg in die bayerische Ostmark geschickt worden, die in den Jahrzehnten zuvor als Grenzland gegenüber den Ungarn wüst geworden war. Allerdings war der ungarische König generell kaum an der Kolonisierung von wüstem Land interessiert, sondern vielmehr an der Produktivität seiner königlichen Güter. Deshalb rief er Spezialisten aus anderen Ländern herbei, die über spezifische Kenntnisse in der Landwirtschaft verfügten. Sie lebten dann in Dörfern, deren Namen nach ihren Ethnonymen gebildet wurden wie Németi („Deutsche“), Tóti („Slawen“) usw. (Györffy 1983).

Ein charakteristisches Element kennzeichnet die Landkarte der Dynastien im öst-lichen Mitteleuropa, aber offenbar nicht in der Kiewer Rus: die Existenz eines speziel-len Typs von hunderten von Toponymen, die nach den Bezeichnungen menschlicher Tätigkeiten gebildet wurden. Unter Historikern überwiegt die Meinung, dass diese Ortsnamen die Existenz einer flächendeckenden Organisierung der Dienste wider-spiegelt, die von den fürstlichen Burgen und Höfen verwaltet wurden, in deren Umge-bung die Dörfer lagen. Diese Organisationsform mag eine Antwort auf die große Her-ausforderung gewesen sein, vor der die Fürsten standen, als die erfolgreiche Periode der Expansion ihrer Macht in der Zeit um die Jahrtausendwende zu Ende ging. Das Fehlen von Kriegsbeute und der Rückgang der Bedeutung der transkontinentalen Handelsrouten erzwangen die stärkere Ausnutzung der heimischen lebendigen Res-sourcen – der Bevölkerung auf dem Lande. In diesem Zusammenhang eigneten sich auch die Mitglieder der fürstlichen Gefolgschaften – zugleich eine Keimzelle des ent-stehenden Adels – Land an und gründeten ihre eigenen Wirtschaftshöfe. Dies war die Ausgangssituation, als adlige Grundbesitzer und kirchliche Institutionen gelegent-lich begannen, ihren Besitz auszuweiten und durch die Anwerbung von Bauern zu bevölkern.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 6: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

186   Christian Lübke

4 Die Gestaltung der Kolonisationsepoche in den Elbmarken

Es ist charakteristisch, dass sich die ersten Grundzüge künftiger planmäßiger Koloni-sierungsmaßnahmen im Bereich der deutsch-slawischen Kontaktzone formten. Wenn man von den schriftlichen Quellen ausgeht, war der Markgraf Wiprecht von Groitzsch einer ihrer ersten Förderer. Seine Vorfahren stammten aus der elbslawischen Elite und hatten sich an den sächsischen Adel adaptiert. Ihm selbst gelang es, sich Land in den Gebieten zwischen den Flüssen Saale und Elbe anzueignen, wo der Slawen-aufstand von 983 keinen Erfolg gehabt hatte. Aber diese Landschaften hatten unter ständigen Kriegsereignissen gelitten, und die Lage in ihnen war durch die gewaltsa-men Auseinandersetzungen zwischen sächsischen Adelsfamilien zusätzlich kompli-ziert. Damals, mit den letzten Jahrzehnten des 11.  Jahrhunderts, änderten sich die wirtschaftlichen Bedingungen in Mitteleuropa grundlegend, denn das Wachstum der Städte und die damit verbundene Arbeitsteilung sorgten dafür, dass die Land-wirtschaft und insbesondere der Anbau von Getreide profitabel wurden, indem die Stadtbürger Münzgeld für Getreide bezahlten. Wiprechts Aktivitäten passten in dieses Umfeld. Dank der Unterstützung König Heinrichs IV. und des böhmischen Königs Vratislav gelang es ihm im Kampf mit seinen Rivalen, seinen Besitz weiter zu festigen. Durch seine Beziehungen zu den Königen, aber auch zu kirchlichen Herren, erlangte er neue Lehen und Besitzungen, die für Kolonisationsmaßnahmen geeignet waren, nämlich für die Ansiedlung von Kolonisten aus Franken und für die Entwicklung präurbaner Strukturen. Als Buße für seine blutigen Taten gründete er zudem das erste Kloster östlich der Saale in Pegau (1096), das für die Umsetzung seiner wirtschaftli-chen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielte. Als die profitablen Aussichten der Kolo-nisation, wie sie Wiprecht angestoßen hatte, insgesamt offenbar wurden, begannen auch andere weltliche Herren und Bischöfe in ähnliche Maßnahmen zu investieren. Die Landgewinnung in den Marschen der Flüsse Weser und Elbe kann als ein wei-teres frühes Beispiel der ganzen Entwicklung gelten. Sie begann um 1106 oder 1113 auf Initiative einer landsuchenden Gemeinschaft von Holländern, die sich mit der Anwendung wassertechnischer Maßnahmen zur Trockenlegung von Sumpfgebieten auskannten. Bald riefen die Erzbischöfe von Bremen mehr von diesen Leuten für die weitere ‚Hollerkolonisation‘ herbei.

Zu derselben Zeit wurde ein weiteres Element sichtbar: die Verbindung des christ-lichen Missionsgedankens mit der Idee der Kolonisation. Im Jahr 1108 forderten der Erzbischof von Magdeburg und weitere Große in einem Aufruf die Sachsen, Flamen, Franken und Lothringer auf, Krieg gegen die benachbarten paganen Elbslawen zu führen, und luden diese zugleich dazu ein, das von den Slawen zu erobernde Land in Besitz zu nehmen. Und zur gleichen Zeit führte der polnische Fürst Bolesław III. Krieg gegen die Pomoranen und plante, seine Herrschaft nach Westen hin über die Oder auszudehnen. Zu diesem Zweck förderte er die Mission des Bamberger Bischofs Otto

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 7: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Östliches Europa (Kolonisationen)   187

im Odermündungsgebiet, wodurch er aber in Konflikt mit dem dänischen König und den deutschen Herren geriet. Schließlich musste Bolesław im Jahr 1135 Länder, die er noch gar nicht erobert hatte, nämlich Pommern und die Insel Rügen, als Lehen von Kaiser Lothar entgegen nehmen. Das Engagement der sächsischen Herren, der Polen und Dänen, der deutschen Könige und auch der geistlichen Würdenträger bezeugt den Druck auf die letzten heidnischen Gebiete im Herzen Europas. Der Aufruf von 1108 enthielt bereits die Idee eines Kreuzzuges gegen die paganen Nachbarn, der schließlich 1147 in Form des sogenannten Wendenkreuzzuges verwirklicht wurde; an diesem nahmen die christlichen Herren aber zuallererst mit dem Ziel teil, ihre Kon-kurrenten davon abzuhalten, sich das Land anzueignen.

Auf andere Weise, nämlich durch einen Erbvertrag mit dem letzten slawischen Fürsten dieser Region, gewann Markgraf Albrecht der Bär das Land an der Havel. Dagegen unterwarf Herzog Heinrich der Löwe die slawischen Abodriten seit 1155 durch ständige Kriege, und die Dänen eroberten 1168 die Insel Rügen. Bald ergriffen die neuen deutschen, dänischen und – weiter im Osten – slawischen Herrscher und ihre Lehensträger geeignete Maßnahmen zur Transformierung und Kolonisierung der eroberten Länder mit Hilfe neu gegründeter Klöster (hauptsächlich des Zisterzi-enserordens) und zuwandernder Siedler aus dem Westen. Helmold von Bosau, der Augenzeuge dieser Vorgänge, zog das Fazit, dass dank der Gnade Gottes das ganze slawische Land zwischen der Ostsee und der Elbe „zu einem Siedlungsgebiet der Sachsen“ geworden sei. Das war die Folge der Anwerbung von Menschen aus dem Westen, darunter die in der Trockenlegung von Feuchtgebieten erfahrenen Flamen und Holländer, zum Landesausbau weiter im Osten; man schätzt etwa 200.000 Per-sonen, die sich bis zum Ende des 12.  Jahrhunderts auf ungefähr 50.000 Höfen bis zu einer Linie Schwerin-Spandau-Dresden ansiedelten (Kuhn 1973: 173–210). Diese Kampagne bildete die demographische Basis für jene Siedler und ihre Familien, die bereit waren, noch weiter in den Osten Europas zu ziehen und an der dortigen Grün-dung neuer Dörfer in noch unbesiedelten Gebieten mitzuwirken. Hauptmotiv für ihre Entscheidung war das ihnen zugestandene emphyteutische Recht, das ihnen vererb-bare Nutzungsrechte an Land gegen eine festgeschriebene Pacht sicherte. Auf dieser Grundlage genossen sie persönliche Freiheit, waren wirtschaftlich unabhängig und in der Lage, profitorientiert Ackerbau zu betreiben.

Unter diesen Bedingungen wuchs im Laufe der Kolonisation eine neue soziale Schicht heran – eine selbstbewusste Bauernschaft. Es gab noch eine weitere neue soziale Gruppe, die sich aus den Anführern der Siedlergemeinschaften und aus jenen Ministerialen bildete, die von den Landesherren mit der Rekrutierung der Neusiedler beauftragt waren – die Lokatoren. Diese Personen bildeten eine Schicht von Unter-nehmern, die das ökonomische Risiko der Gründung eines neuen Dorfes trugen (Zien-tara 1981). Sie waren für die Vermessung und Binnenaufteilung verantwortlich und schlossen im Namen der Siedlergemeinschaften die Verträge mit den Landesherren. Ihr Engagement wurde gewöhnlich durch die Verfügungsrechte über Monopole (als Betreiber von Tavernen und Mühlen) und das Amt des Schulzen (scultetus) entlohnt.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 8: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

188   Christian Lübke

Der Terminus locator zeigt zugleich einen bemerkenswerten semantischen Wandel in der deutschen Sprache an, der die Kolonisation begleitete; er fand seine Entsprechung nämlich in der Bezeichnung für einen neuen Typus von urbanen Sied-lungen in Anlehnung an ihren Platz (lateinisch locus, deutsch Stätte), und zwar im Unterschied zu dem alten Typ, der zur Burg gehört hatte (lateinisch urbs) (Ludat 1973). Die rechtlichen Bedingungen der neuen Städte wurden bald in speziellen Grün-dungsurkunden niedergelegt, zugleich die Grundlage für die Entwicklung eines städ-tischen Bürgerrechts und der kommunalen Selbstverwaltung. Mit der Zeit entstanden kodifizierte Stadtrechte, von denen das Magdeburger Recht das wichtigste war und nach Osten hin die weiteste Verbreitung fand. Es war mit dem „Sachsenspiegel“ ver-wandt, einem Kompendium von Gewohnheitsrechten, das nicht nur das Phänomen des Landesausbaus berücksichtigte, sondern auch die Probleme des Zusammenle-bens von Deutschen und Slawen. In der Praxis wies dieses ein breites Spektrum von je nach Region unterschiedlichen Möglichkeiten auf – von der gewaltsamen Vertrei-bung bis zur Adaption und Integration der Slawen in die neuen Verhältnisse. Insge-samt gesehen waren die einheimischen Slawen in einem nach Osten hin steigendem Umfang in den Landesausbau einbezogen. Schon Helmold von Bosau wusste, dass der Abodritenfürst Pribislav den Befehl gegeben hatte, Burgen zu erneuern und ihre Umgebung mit slawischen Siedlern zu bevölkern, und auf der Insel Rügen gab es gar keine Zuwanderung deutscher Bauern. Sogar in einer Landschaft viel weiter im Westen, im Hannoverschen Wendland, lebte eine geschlossene slawische Gemein-schaft in ihren typischen kreisförmigen Dörfern, den Rundlingen. Überhaupt entstan-den völlig neue Formen von Dörfern, wie die Reihendörfer mit ihren an einer Straße aneinandergereihten Gehöften; in Wäldern oder gebirgigen Gegenden lagen sie auch entlang von Bächen. Die Neusiedler erhielten Streifen von Land zur Bewirtschaftung, die sich direkt hinter den Gebäuden in Form einer Hufe erstreckten, das heißt im Umfang eines Stück Landes, das an die Arbeitskraft einer Familie angepasst war und bei Anwendung moderner Methoden (Gebrauch des Wendepflugs in Dreifelderwirt-schaft) durch einen Pflug bearbeitet werden konnte. Solche Ackerstücke waren häufig von einer Hecke (auch: Hag) umgeben, sodass man die Siedlungen als Hagenhufen-dörfer bezeichnete, die besonders in Vorpommern, in Ostsachsen, im Erzgebirge, in den Sudeten und Beskiden anzutreffen sind.

Die Elbmarken bildeten die erste Etappe, wo die Regeln des Landesausbaus erprobt wurden, und da die Transformation hauptsächlich durch Deutsch spre-chende Menschen angestoßen und durchgeführt wurde, fasste man das ganze Phä-nomen unter dem Begriff „Deutsches Recht“ (ius Theutonicum) zusammen, als es an die östlich benachbarten Regionen weitergegeben wurde. Die von außerhalb gekom-menen Siedler wurden als „Gäste“ (hospites) willkommen geheißen und mit Privile-gien ausgestattet, die in Urkundenform nicht nur für die ländlichen Siedler und ihre Dörfer, sondern bald auch für die neuartigen Städte bekräftigt wurden.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 9: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Östliches Europa (Kolonisationen)   189

5 Die Ausweitung der Kolonisation nach Ostmittel- und Osteuropa

Die östlichen Nachbarn der Deutschen jenseits der Elbmarken, dabei vor allem die Eliten und kirchlichen Institutionen Polens, Böhmens (und Mährens) und Ungarns, standen in engem Kontakt zueinander und ebenso mit ihren Nachbarn im Westen, und in wachsendem Maße traten in der ganzen Region unternehmerisch tätige Per-sonen auf, die als Fernhändler oder Lokatoren aktiv waren. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verbreitete sich das Bewusstsein, dass man mit dem Ackerbau Geschäfte machen konnte. Die Fürsten und in einigen Fällen weitere Grundherren begannen, die ländliche Besiedlung zu fördern, indem sie die ältere Form der Orga-nisierung der Dienste der ländlichen Bevölkerung modifizierten. Dieser Prozess wird durch neue Ortsnamen wie Lhota / Lgota bezeugt, hinter denen sich die Sus-pendierung der Dienstpflichten der Bewohner für einige Jahre verbirgt. In anderen Regionen, wie im Königreich Ungarn, förderten die Grundherren die Ansiedlung von „Gästen“. Schließlich wurden die Muster der Kolonisation, die in der deutsch-slawischen Kontaktzone erprobt worden waren, nach und nach übertragen. Ent-scheidend für den Erfolg dieses Prozesses waren die Begleitumstände, nämlich ein kontinuierlicher Bevölkerungszuwachs im Westen bei einer gleichzeitigen geringen Bevölkerungsdichte im Osten, die generelle Weiterentwicklung der Städte und ihrer Bürgerschaften, und die Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbaumethoden. Da die Anwendung des Deutschen Rechts mit seinen individuellen Privilegierungen nur unter der Vorbedingung praktikabel war, dass die Neusiedler frei waren von jenen Pflichten, die traditionell zugunsten der Fürsten zu verrichten waren, und weil die Fürsten die größten Landbesitzer waren und zudem auch den Besitz unbewohnten Landes generell für sich reklamierten, waren die Dynastien die wichtigsten Initiato-ren der Kolonisationsvorgänge im östlichen Mitteleuropa. Das ist der Grund dafür, dass die Siedlungsprozesse häufig zu breit angelegten infrastrukturellen Planungen gehörten, die auch Aspekte der Landesverteidigung einschlossen. Schlesien kann in dieser Hinsicht als eine Art Modellregion betrachtet werden. Es war vor allem Fürst Heinrich I. von Schlesien (1201–1238), der deutsche Bauern und Stadtbürger anwarb und in einem komplexen System von Städten und Dörfern in ihrer Umgebung (Weich-bild) ansiedelte. Wenn man die Einbeziehung bisher unbesiedelter Gebiete berück-sichtigt, zeigt sich hier, wie generell in den vom Landesausbau betroffenen Regionen, ein Gleichklang von „Verdichtung und Ausweitung“ (Conze 1992). In diesen Prozess bezog Heinrich neben den Unternehmern, die professionell das Siedlungsgeschäft betrieben, auch Klöster und Ritterorden mit ein.

Eine besondere Rolle spielte der Deutsche Ritterorden, dessen Tätigkeit ganz auf die Kontrolle einer zu kolonisierenden Region ausgerichtet war. Dieses Bestreben bewog den ungarischen König Andreas II. im Jahr 1225, die Ordensritter wieder aus dem Burzenland zu vertreiben, das er ihnen einige Jahre zuvor noch zur Verfügung

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 10: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

190   Christian Lübke

gestellt hatte. Der Orden konzentrierte sich seitdem auf baltische Gebiete, besonders seit der polnische Fürst Konrad von Masowien Hilfe gegen die baltischen Pruzzen suchte, die sein Land durch häufige Einfälle gefährdeten. Im Jahr 1230 übergab Konrad den Ordensrittern das Kulmer Land, das sich bald zum Kern des neuen Ordensstaa-tes entwickelte, der allgemein als der am besten organisierte und profitabelste Staat jener Zeit angesehen wird. Kolonisationsmaßnahmen mit Hilfe von Siedlern aus dem Westen und die Gründungen von Städten waren entscheidende Faktoren dieser erfolgreichen Entwicklung.

In anderen Regionen, wie in Westungarn, überließen die Könige den Magnaten große Territorien für die Kolonisation gemäß dem Deutschen Recht durch Siedler aus Österreich, und südliche Teile Kleinpolens wie auch die benachbarten Teile Rotru-theniens wurden unter König Kasimir III. von Polen (1333–1370) durch Siedler aus Schlesien und Polen kolonisiert. Nach 1370 waren es polnische und ruthenische Kolo-nisten, die im nördlichen Teil Rotrutheniens Wälder gemäß dem Deutschen Recht rodeten, und in den höheren Regionen der Karpaten wurde die Besiedlung durch Walachen und Ruthenen gemäß dem Recht der Walachen durchgeführt, das auf dem Deutschen Recht beruhte und dieses an ihre teils agrarische, teils hirtengesellschaft-liche Lebensweise anglich.

In Bezug auf all diese spezifischen Fälle waren die Herrscher anfänglich stets darauf bedacht, die autochthone Bevölkerung in ihren traditionellen Lebensbe-dingungen mit ihren Dienstverpflichtungen zu bewahren, doch mussten sie diese Absicht nach einigen Jahrzehnten aufgeben. Diese Feststellung ist auch gültig für die neuen Städte, die häufig in unmittelbarer Nähe zu den alten Burgen gegründet wurden (Mühle 2011). So wurde beispielsweise in der Gründungsurkunde für Krakau, die den neuen Stadtbürgern das Magdeburger Recht zusicherte, vertraglich bestimmt, dass es den künftigen Vögten der Stadt nicht erlaubt sein sollte, irgendeinen Polen zum Mitbürger zu machen. Die Kolonisationsstädte waren aber nicht nur rechtlich völlig neu konzipiert, sondern auch in ihrer äußeren Erscheinungsweise durch ihre planmäßige, schachbrettartige Anlage der Straßen und einen großen Marktplatz (der „Ring“, davon abgeleitet polnisch rynok) samt einer auf ihn zulaufenden Breiten (oder Langen) Straße. Es ist auch bemerkenswert, dass parallel zum Deutschen ein seman-tischer Wechsel in den slawischen Sprachen wirksam wurde, denn die neuen Städte wurden als (polnisch) miasto (tschechisch město, ursprüngliche Bedeutung: „Platz, Stätte“) bezeichnet und damit von den älteren stadtähnlichen Siedlungsagglomerati-onen bei einer Burg unterschieden, deren Bezeichnung (polnisch) gród (tschechisch hrad) sich von nun an auf die eigentliche Burg verengte. Dieser Bedeutungswandel griff aber nicht in Russland, wo mesto noch immer lediglich einen Platz bezeichnet und gorod die Stadt. Durch die spezifischen Eigenheiten in Stadtstruktur und -ter-minologie lässt sich somit die Reichweite des Deutschen Rechts bis heute erkennen.

In Russland selbst wurde die Kolonisation im Ergebnis der aus den südlichen Steppengebieten erwachsenen Bedrohung beispielsweise durch die Kumanen (auch: Polovcer) intensiviert. Viele Bauern flohen in das „Land hinter den Wäldern“ (zales’e),

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 11: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

Östliches Europa (Kolonisationen)   191

also in die Region um die Städte Suzdal, Vladimir und Rostov, wo sich in der Zukunft Moskau zur neuen Metropole entwickeln sollte. Als die kolonisierenden Bauern die Landwirtschaft dorthin ausdehnten, wurde das Land auch für die grundbesitzenden Bojaren und Händler attraktiv, und schließlich verlegten die Großfürsten ihren Sitz von Kiew in den Nordosten der Rus. Die ganze Entwicklung wurde dann durch den Einfall der Mongolen (1237–41) beschleunigt; seit dem Ende des 13. Jahrhunderts wan-derte eine beträchtliche Zahl von Bojarenfamilien aus anderen Gegenden der Rus in die Moskauer Region ein, darunter beispielsweise Rodion, ein Bojar aus Kiew, der seinen ganzen Hof in einer Größenordnung von 1.700 Personen mit brachte. Eine anschauliche Beschreibung der ganzen Entwicklung gibt die Lebensbeschreibung des hl. Sergej von Radonež, der anfänglich ganz alleine als asketischer Eremit in den Wäldern nördlich von Radonež lebte, dem aber bald weitere Mönche folgten, die ihre eigenen Zellen hatten und für ihren Lebensunterhalt arbeiteten. Schließlich kamen immer mehr Mönche dorthin, sodass eine Klostersiedlung mit weiteren Dörfern in der Umgebung entstand. Von überall her kamen auch Bauern, siedelten in der Nähe des Klosters, rodeten die Wälder und kultivierten das Land. Außerdem begannen Sergejs Schüler sich über Zentral- und Nordrussland zu verteilen, wobei sie schwierige, mit Herausforderungen verbundene Plätze bevorzugten und an ihnen zahlreiche weitere Klöster gründeten. Auf diese Weise verbreiteten sie nicht nur Ansehen und Autorität ihres Lehrers, sondern trugen auch ganz erheblich zur Kolonisation Nordrusslands bei, deren Muster sich allerdings in vielerlei Hinsicht grundlegend von der Kolonisa-tion Ostmitteleuropas unterschied. Allerdings gab es einen gemeinsamen Charakter-zug, der mit den Anfängen der mittelalterlichen Kolonisation in der Germania Slavica übereinstimmt: die Beteiligung unterschiedlicher ethnischer Gemeinschaften bei der Besiedlung einer Region, und zwar in Nordrussland sowohl von Russen als auch von ostseefinnischen und finno-ugrischen Gruppen, sodass eine Rossia Fennica entstand (Zernack 1994).

LiteraturhinweisePaul M. Barford, The Early Slavs. Culture and Society in Early Medieval Eastern Europe. London 2001.Enno Bünz (Hrsg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen. Die Kührener Urkunde von 1154 und

ihr historisches Umfeld. Leipzig 2008.Werner Conze, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. München 1992.Peter Erlen, Europäischer Landesausbau und mittelalterliche deutsche Ostsiedlung. Ein struktureller

Vergleich zwischen Südwestfrankreich, den Niederlanden und dem Ordensland Preußen. Marburg 1992.

Carsten Goehrke, Russland. Eine Strukturgeschichte. Paderborn 2010.Katalin Gönczi / Wieland Carls, Sächsisch-magdeburgisches Recht in Ungarn und Rumänien.

Autonomie und Rechtstransfer im Donau- und Karpatenraum. Berlin 2013.Piotr Górecki, A Local Society in Transition. The Henryków Book and Related Documents. Toronto

2007.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM

Page 12: Migrationen im Mittelalter (Ein Handbuch) || Östliches Europa (Kolonisationen)

192   Christian Lübke

György Györffy, Wirtschaft und Gesellschaft der Ungarn um die Jahrtausendwende. Wien 1983.Jörg Hackmann / Christian Lübke, Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswis-

senschaft, in: Jan M. Piskorski (Hrsg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. New York 2002, 179–217.

Jan Klápště, Proměna Českých zemí ve středověku. Praha 2005.Adrienne Körmendy, Melioratio terrae. Vergleichende Untersuchungen über die Siedlungsbewegung

im östlichen Mitteleuropa im 13.–14. Jahrhundert. Poznań 1995.Walter Kuhn, Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung. Köln 1973.Zofia Kurnatowska, Wielkopolska w X wieku i formowanie się państwa polskiego, in: Henryk

Samsonowicz (Hrsg.), Ziemie polskie w X wieku i ich znaczenie w kształtowaniu się nowej mapy Europy. Kraków 2000.

Christian Lübke, Ethnic Diversity in East Central Europe and the Beginnings of the Economic Change in the High Middle Ages, in: Movimientos migratorios, asentamientos y expansion (siglos VIII–XI): en el centenario del profesor José María Lacarra, 1907–2007: XXXIV Semana de Estudios Medievales, Estella 16 a 20 de julio des 2007. Pamplona 2008, 289–304.

Christian Lübke, Germania Slavica. Die Entstehung eines historiographischen Konzeptes in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Jörn Staecker (Hrsg.), The Reception of Medieval Europe in the Baltic Sea Region. Visby 2009, 381–396.

Christian Lübke, „Germania Slavica“ und „Polonia Ruthenica“. Religiöse Divergenz in ethno-kulturellen Grenz- und Kontaktzonen des mittelalterlichen Osteuropa (8.–16. Jahrhundert), in: Klaus Herbers / Nikolas Jaspert (Hrsg.), Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Berlin 2007, 175–190.

Herbert Ludat, Wik im Slawischen, in: Helmut Beumann (Hrsg.), Festschrift für Walter Schlesinger, Bd. 1. Köln 1973, 63–77.

Nikolaj A. Makarov, Kolonizacija severnych okrain Drevnej Rusi v XI–XIII vekach (po materialam archeologii). Moskva 1997.

Eduard Mühle (Hrsg.), Rechtsstadtgründungen im mittelalterlichen Polen. Köln 2011.Jan M. Piskorski, Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von

Wissenschaft und Politik. Osnabrück 2002.Jan M. Piskorski, Medieval colonization in East Central Europe, in: Charles W. Ingrao, Franz A. J.

Szabo (Hrsg.), The Germans and the East. West Lafayette, Ind. 2008, 27–36.Walter Schlesinger (Hrsg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen

Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970–1972. Sigmaringen 1975.Josef Žemlička, Die Deutschen und die deutschrechtliche Kolonisation Böhmens und Mährens im

Mittelalter, in: Jan M. Piskorski (Hrsg.), Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. New York 2002, 107–143.

Josef Žemlička, K charakteristice štředověké kolonizace v Čechách, in: Československý Časopis Historický 26, 1987, 58–81.

Klaus Zernack, „Ostkolonisation“ in universalgeschichtlicher Perspektive, in: Gangolf Hübinger (Hrsg), Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Festschrift für Ernst Schulin zum 65. Geburtstag. Freiburg 1994, 105–116.

Benedykt Zientara, Melioratio terrae. The thirteenth-century breakthrough in Polish history, in: Jan K. Fedorowicz (Hrsg.), A Republic of Nobles. Studies in Polish History to 1864. Cambridge 1982, 28–48.

Benedykt Zientara, Dzałność lokacyjna jako droga awansu społecznego w Europie środkowej XII–XIV w, in: Sobótka 1, 1981, 43–57.

Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst LibraryAuthenticated

Download Date | 10/22/14 5:38 AM