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Mir geht nichts über Mich! - Ich hab’ Mein’ Sach’ auf Nichts gestellt! DER EINZIGE Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig Nr. 4 (24) 3. November 2003 (159 n. St. E.) 3.06 Euro Stirner Heidegger Existentialismus

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Mir geht nichts über Mich! - Ich hab’ Mein’ Sach’ auf Nichts gestellt!

DER EINZIGEVierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig

Nr. 4 (24) 3. November 2003 (159 n. St. E.) 3.06 Euro

StirnerHeidegger

Existentialismus

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Inhalt

S T I R N E R I A N A

Jörg Ulrich, Über das unbestimmte Ungeheuerliche 03Harald Pamminger, Max Stirner und der Existentialismus 09Lars Kung, Unterwegs mit Max Heidegger und Martin Stirner 17

M A X - S T I R N E R - A R C H I V

Kurt Adolf Mautz, Stirner in der Ursprungsgeschichte Lebensphilosophie 23Wilhelm Emrich, „Geschichte“ und „Existenz“ 25Ludwig Binswanger, Existenz und Pseudoexistenz. Stirners Konstruktion des Einzigen 26Rudolf Schröder, Max Stirner und Existenz 31

A N D E R E B E I T R Ä G E ZU M A X S T I R N E R

Antonio Cho, Wie das Katzerl im Teer, II 33

Stirner? - Ja! Heidegger? - Nein! Das wären meine Antworten auf die Frage, wen ich kenne. Mit„Kennen“ meine ich, die Werke des jeweiligen Philosophen gelesen zu haben. Also, was soll ich jetzt hier schreiben, um in die abgedruckten Artikel einzuführen, den Vorgeschmackanzustacheln. Tut mir leid. Das geht diesmal nicht. Schön ist es aber, daß ein während des Stirner-Treffens 2002 in Hummeltal angedachtes Projekt, nämlich dieses, zustande gekommen ist. Ich habeaußerdem in die „Trickkiste“ des Stirner-Archivs gegriffen, d.h. vier Beiträge herausgesucht, die sichebenfalls mit dieser Thematik befassen. Ich gehe davon aus, daß einige LeserInnen diese Arbeiten nochnicht kennen. Ich hoffe, daß die hier gemachten Äußerungen auf ein geteiltes Echo stoßen, will sagen,daß in Folgeheften auch zu diesen diskutiert wird/werden kann.

Zu dem durchgeführten Stirner-Treffen vom 2.-4. Oktober 2003 in Leipzig sei noch gesagt, daß ich diewichtigsten Informationen dazu auf meiner Homepage (www.max-stirner-archiv-leipzig.de) vorge-stellt habe. Die wesentlichsten Projekte, die wir angehen wollen, sind zum einen die historisch-kriti-sche Gesamtausgabe der Werke Max Stirners (bis 2006) und die sukzessive Vorbereitung eines grö-ßer angelegten Stirner-Treffens im Jahre 2006.Das nächste informelle Treffen wollen wir im Jahre 2004 in Berlin durchführen. Schon jetzt sind alleStirner-Interessierten recht herzlich dazu eingeladen. Den genauen Termin gebe ich rechtzeitig aufmeiner Homepage bekannt.

Thema des nächsten Heftes ist „Max Stirner und die Literatur“ mit Beiträgen von Jörg Ulrich, BerndKast, Christian Berners und Sabine Scholz.

*

Der Protokoll-Band des Stirner-Treffens 2002 ist fertig und erscheint noch in diesem Jahr! Den Proto-koll-Band des Stirner-Treffens 2003 versuche ich noch in diesem Jahr fertigzustellen.Im Dezember erscheint auch das Buch „Stirners Recensenten“ (Szeliga, Heß, Feuerbach, Bauer; Stir-ners Antwort); versehen mit einer historisch-kritischen Einleitung von Bernd Kast.

Leipzig, 3. November 2003 Kurt W. Fleming

E D I T O R I A L

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S T I R N E R I A N A

Über das unbestimmte UngeheuerlicheStirner, Heidegger und das Problem der Metaphysik

Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts.G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik

Liest man Stirners Gesellschaftskritik als philoso-phische Herrschaftskritik, dann entschlüsselt siesich ganz zwanglos als eine Form der Kritik ander Herrschaft der Ober- oder Allgemeinbegriffeund damit als Metaphysikkritik. Denn Metaphysikist zunächst und vor allem dies: Herrschaft derAbstraktion oder des Allgemeinen über das je Be-sondere bzw. Herrschaft des Übersinnlichen überdas sinnlich Konkrete.1Stirner zeigt, daß das aus dem theologischen Uni-versum des Mittelalters heraus- und in den Mittel-punkt der Welt hineintretende neuzeitliche Sub-jekt keineswegs bereits dieser Herrschaft ledig ist,sondern in der allgemeinen Subsumtion unter dieGattung als der Mensch, der freie Mensch, dieMenschheit usw. zum Sklaven seines Begriffswird, so wie es lange Zeit zuvor Sklave eines trans-zendenten Gottes gewesen war. „Wieder ist dasSubjekt dem Prädikate unterworfen, der Einzelneeinem Allgemeinen, wieder ist einer Idee die Herr-schaft gesichert und zu einer neuen Religion derGrund gelegt.“2 Mit anderen Worten: Die aufge-klärte Gesellschaft hat dem metaphysischenGrundprinzip des von ihr überwundenen Mittelal-ters nur vermeintlich den Garaus gemacht, tat-sächlich aber dieses Prinzip als ein nunmehr vonMenschen gemachtes recht eigentlich erst zurHerrschaft gebracht. „Die neue Welt ist (...) derTriumph der alten.“3 Wenn dem so ist, dann ergibtsich an dieser Stelle nicht nur eine VerbindungStirners zur Philosophie Adornos4 sowie zu Hork-heimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“,sondern auch eine Verbindung zu Heidegger unddessen in dem bei ihm zentralen Begriff des Seinssich kristallisierenden Hauptthema, nämlich der„abendländischen Metaphysik“. Diese ist nachHeidegger mit dem Siegeszug der „wissenschaft-lich-technischen Zivilisation“ keineswegs aus derWelt verschwunden, sondern als das nun ureigenePrinzip dieser Zivilisation selbst überhaupt erstrichtig in die Welt hineingekommen. Vehementwiderspricht Heidegger der populären Auffas-sung, die moderne Welt habe die Metaphysik über-

wunden, so daß sie nun der Vergangenheit ange-höre und weiterhin kein Problem mehr darstelle.Gerade die Tatsache, daß diese Überwindungstattgefunden hat, und das solchermaßen zu kon-statierende Vergangensein der Metaphysik sindnach Heidegger Grund und Ursache für ihr Fort-dauern. Oder stirnerisch gewendet: Die Überwin-dung der Religion setzt durch die Art und Weise,in der diese Überwindung stattfindet, eine neueReligion. Das Überwundene lebt im Überwinden-den in neuer Gestalt weiter. Das ist der Dreh- undAngelpunkt, um den es bei Stirner und, wie zuzeigen ist, auch bei Heidegger geht. In seinemhierfür einschlägigen Aufsatz „Überwindung derMetaphysik“ schreibt Heidegger: „Indem die Me-taphysik vergeht ist sie vergangen. Die Vergan-genheit schließt nicht aus, sondern ein, daß erstjetzt die Metaphysik ihre unbedingte Herrschaftim Seienden selbst und als dieses in der wahr-heitslosen Gestalt des Wirklichen und der Gegen-stände antritt. Aus der Frühe des Anfangs erfah-ren, ist aber zugleich die Metaphysik vergangenin dem Sinne, daß sie in ihre Verendung eingegan-gen ist. Die Verendung dauert länger als die bis-herige Geschichte der Metaphysik.“5

In der Verendung triumphiert für Heidegger die„Seinsvergessenheit“. Sie ist die Agonie desSeins, das sich ins Nichts vernichtet. Diese Ago-nie, und genau das ist mit dem Wort Verendunggemeint, ist nicht schon das Ende der Metaphysik,sondern deren sich gleichsam überschlagende,sich überwältigende, im Prozeß der selbstdestruk-tiven menschlichen Praxis ins Nichts auflösendeBehauptung. Und das ist das Skandalon, darin be-steht die Ungeheuerlichkeit jenes finsterenStücks, das mit der in ihrer Überwindung unddurch diese hindurch sich erhaltenden Metaphysikauf der ontologischen Weltbühne zur Aufführunggebracht wird: „Dem Menschentum der Metaphy-sik ist die noch verborgene Wahrheit des Seinsverweigert. Das arbeitende Tier ist dem Taumelseiner Gemächte überlassen, damit es sich selbstzerreiße und in das nichtige Nichts vernichte.“6

Über das unbestimmte Ungeheuerliche 3

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Jörg Ulrich4

In diesem Wortstakkato findet der Schmerz Aus-druck, den Heidegger, der „Hörige des Seins“7,empfinden muß angesichts der Tatsache, daß sichhier das Nichts als „anderer Name des Seins ent-puppt.“8 Und natürlich ist die damit von Heideg-ger beklagte „Seinsvergessenheit“ auch nur einanderer Name für den Umstand, daß Gott in derModerne in Vergessenheit geraten ist. Die Agoniedes Seins, das ist der auf ein katastrophales Endehinauslaufende Todeskampf Gottes höchstselbst.9Heidegger reflektiert in dem zuletzt angeführtenZitat die bereits von Hegel diskutierte Einheit vonIdentität und Nichtidentität zwischen dem Seinund dem Nichts. Für Hegel ist das Sein das allge-meinste Allgemeine, die Abstraktion von allerkonkreten Bestimmtheit - und damit das schlecht-hin Unbestimmte, also nichts. Das Sein irgendei-nes beliebigen Gegenstandes, sagen wir einesBaumes, ist nicht seine konkrete Gegenständ-lichkeit, das wesentlich Baumhafte am Baum so-zusagen, sondern einzig die Aussage, daß er ist,genauso wie ein Haus ist oder eine Blume oder ir-gendein anderes Bestimmtes. Ergo ist die Bestim-mung des Seins seine Unbestimmtheit. Und damithinwiederum ist das Sein identisch mit demNichts, dessen Bestimmung eben auch darin be-steht, ein Unbestimmtes zu sein. Das Ungeheuer-liche an diesem Hegelschen Gedanken ist da-durch gegeben, daß in dieser Unbestimmtheit desSeins und des Nichts beide in den Status eines jeBestimmten eintreten, dessen Bestimmung eseben ist, das Unbestimmte zu sein. Damit aberfallen sie dem Seienden, also der erscheinendenWelt zu: Das Abstrakte gewinnt konkrete Realitätin der nunmehr zum Prozeß verflüssigten Meta-physik, die sich in der Dynamik des auf Unend-lichkeit angelegten Werdens10 oder Fortschreitensin destruktiver Weise am Seienden austobt unddieses aufzehrt. An der damit in der Tat gesetztenUngeheuerlichkeit arbeitet Heidegger sich ab.Nicht zufällig gerät ihm dabei die Fixierung desmodernen Daseins auf Arbeit und Technik in denBlick. Die „Schaffensobsession“ (Lütkehaus) dertechnisch mobilisierten Arbeitsgesellschaft resul-tiert aus der Seinsfixiertheit des im Vollzug desHerstellens immer schon und zugleich auch um-fassend „nichtenden“ Willens zum Willen und da-mit des Willens zur Macht. „Daß der Mensch als animal rationale, d.h. jetztals das arbeitende Lebewesen die Wüste der Ver-

wüstung der Erde durchirren muß, könnte ein Zei-chen dafür sein, daß die Metaphysik aus dem Seinselbst und die Überwindung der Metaphysik alsVerwindung des Seins sich ereignet. Denn die Ar-beit gelangt jetzt in den metaphysischen Rang derunbedingten Vergegenständlichung alles Anwe-senden, das im Willen zum Willen west. Steht es so, dann dürfen wir nicht wähnen, auf-grund einer Ahnung des Verendens der Metaphy-sik außerhalb ihrer zu stehen. Denn die überwun-dene Metaphysik verschwindet nicht. Sie kehrtgewandelt zurück und bleibt als der fortwaltendeUnterschied des Seins zum Seienden in der Herr-schaft.“11

Die Überwindung der klassischen Metaphysikdurch die das Seiende in die „Verwüstung“12 trei-bende Arbeitsgesellschaft ist deswegen ein „Ver-hängnis“ (Heidegger), weil die aus dieser Über-windung heraus sich fortschreibende Metaphysiknicht als solche erkannt wird, sondern dem Be-wußtsein der sie aktiv fortschreibenden Men-schen wie das pure Gegenteil von Metaphysik er-scheint. Deshalb steht „die Entfaltung der unbe-dingten Herrschaft der Metaphysik (...) erst an ih-rem Beginn.“13

Heideggers Versuche, das ineinander Übergegan-gensein des Seins und des Nichts zu bewältigen,landen immer wieder bei der Beschwörung desSeins der alten Metaphysik, ergo bei Gott, oderbei düsteren Untergangsvisionen an den Stellen,an denen sich zeigt, daß die Entnichtung desSeins und die Verseinung des Nichts14 zu denje-nigen philosophischen Operationen gehören, diezum Scheitern verurteilt sind. Stirner nun scheint mir derjenige Denker zu sein,der sich dem mit diesen wahrhaft ungeheuerlichenKonsequenzen gestellten Problem auf eine Art undWeise annimmt, die nichts weniger als faszinie-rend zu nennen ist, weil er das Nichts von Anfangan gar nicht entnichtsen will, sondern es zur Vor-aussetzung seines Denkens macht und damit „un-verhohlen die schöpferischen Geheimnisse desNichts ausplaudert.“15 Stirner arbeitet sich ebensowie Heidegger am Problem der Metaphysik ab unddamit eben auch am Problem des Nihilismus, der,wie wir seit Nietzsche wissen, ja gerade nicht ausdem Nichts erwächst, sondern im genauen Gegen-teil aus dem Glauben an hohe und höchste Werteund Ideale, die mit penetranter Regelmäßigkeit im-mer wieder abstürzen ins Nichts ihrer immer schon

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Über das unbestimmte Ungeheuerliche 5

gegebenen, sich damit aber erst enthüllendenNichtigkeit. Stirners Einziger ist vor diesem Hin-tergrund zunächst einmal zu begreifen als eine kla-re Absage an die existenzialistische Wesenssuche-rei bzw. die gerade gegenwärtig wieder grassieren-de Jagd nach dem eigentlichen, dem wahren Ich,also jener immanenten Transzendenz, die das em-pirische Ich auf die Summe seiner erst zu realisie-renden Möglichkeiten reduziert.„‚Was Ich bin, ist Schaum und Schatten; was Ichsein werde, ist mein wahres Ich.‘ Diesem Ich nach-zujagen, es herzustellen, es zu realisieren, machtdie schwere Aufgabe der Sterblichen aus, die nursterben, um aufzuerstehen, nur leben, um zu ster-ben, nur leben, um das wahre Leben zu finden.Erst dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und michnicht mehr suche, bin Ich wahrhaft mein Eigen-tum: Ich habe Mich, darum brauche und genießeIch Mich. Dagegen kann Ich Meiner nimmermehrfroh werden, solange Ich denke, mein wahres Ichhätte Ich erst noch zu finden, und es müsse dahinkommen, daß nicht Ich, sondern Christus in Mirlebe oder irgend ein anderes geistiges, d.h. ge-spenstisches Ich, z.B. der wahre Mensch, das We-sen des Menschen u, dgl.“16

Es kann also keine Rede davon sein, in StirnersDenken walte so etwas wie ein „Existenzialismusavant la lettre“.17 Vielmehr ist die Gespensterhaf-tigkeit jenes Transzendentalismus eines sich aufseine Möglichkeiten hin entwerfenden Subjektsder zentrale Kritikpunkt Stirners. Ihn dem Exi-stentialismus zuzuschlagen bringt einmal mehrdas Kunststück fertig, als seine „Lehre“ (wobeiman berücksichtigen muß, daß es niemals StirnersAbsicht war, eine „Lehre“ zu verbreiten) auszu-geben, was Gegenstand seiner Kritik ist. „DerMensch“ und sei es auch das „geworfene“, sichsuchende Individuum der Existentialisten, ist fürStirner „der letzte böse Geist oder Spuk, der täu-schendste oder vertrauteste, der schlaueste Lüg-ner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügen.“18

Womit wir wieder bei der eingangs erwähntenKritik der Allgemeinbegriffe, also bei der Meta-physikkritik wären. Stirners Einziger ist dasKonzept des entschiedenen Widerstandes gegendie Subsumtion unter das Allgemeine, die auf dieje eigene Endlichkeit rekurrierende und eben da-rum „auf Nichts gestellte“ Rebellion gegen dieHerrschaft der Abstraktion. Heidegger, der an dasder Nichtigkeit preisgegebene Sein gefesselte, er-

denschwere Wanderer auf den Holzwegen zurRettung des Seins19, konstatiert sozusagen auf derSchicksalsebene der Philosophie genau das, wasStirner mit dem Konzept der Einzigkeit praktischangreift.„Die Philosophie im Zeitalter der vollendetenMetaphysik ist die Anthropologie. (...). Inzwi-schen ist die Philosophie zur Anthropologie ge-worden und auf diesem Wege zu einer Beute derAbkömmlinge der Metaphysik, d.h. der Physik imweitesten Sinne, der die Physik des Lebens unddes Menschen, die Biologie und Psychologie ein-schließt. Zur Anthropologie geworden, geht diePhilosophie selbst an der Metaphysik zugrun-de.“20

Der Mensch, wie er heute unter Abstraktion vonallen je wirklichen Einzelnen zur Beute der Psy-chokratie, der psychologisierten Sozialwissen-schaften und der Biowissenschaften bzw. „Le-benswissenschaften“ geworden ist, ist das meta-physische Konstrukt, an dem die konkretenMenschen ebenso zugrunde gehen, wie die nachHeidegger die zur Anthropologie mutierte Philo-sophie. „Der Konstruktionsfehler“, so bemerkt Luhmannmit Recht, „liegt in der Gleichsetzung von Indivi-dualität und Allgemeinheit und in der Zurechnungdieser Gleichsetzung auf das sich selbst gegebeneBewußtsein. Individualität wird nicht individuell,sondern als das Allgemeinste schlechthin gedacht,indem man auch in dieser Hinsicht Subjekt undObjekt, nämlich den Begriff des Individuellen(der selbstverständlich ein allgemeiner, alle Indi-viduen bezeichnender Begriff ist) und die Indivi-duen selber in eins setzt. Das macht jedoch imPrinzip jede Kommunikation überflüssig.“21

Wo der Einzelne hinter dem Kollektivsingularverschwindet, beginnt also nicht nur die von Stir-ner so genannte „Menschenfurcht“, welche dieehemalige „Gottesfurcht“ ablöst22, sondern auchdas kommunikationstheoretisch geheiligte leereGeschwätz. Auch das hat Stirner bereits klar gese-hen, indem er der Sprache der Herrschaft desAllgemeinen zutiefst mißtraute.„Die Sprache oder ‚das Wort‘ tyrannisiert uns amärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideengegen uns aufführt. Beobachte Dich einmal jetzteben bei Deinem Nachdenken, und Du wirst fin-den, wie Du nur dadurch weiter kommst, daß Dujeden Augenblick gedanken- und sprachlos wirst.

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Du bist nicht etwa bloß im Schlafe, sondern selbstim tiefsten Nachdenken gedanken- und sprachlos,ja dann gerade am meisten. Und nur durch dieseGedankenlosigkeit, diese verkannte ‚Gedanken-freiheit‘ oder Freiheit vom Gedanken bist Du deineigen. Erst von ihr aus gelangst Du dazu, dieSprache als Dein Eigentum zu verbrauchen.“23

Die von der Herrschaft der Metaphysik besetztenGedanken los zu werden, ist also das Ziel. Mögli-cherweise hat auch Heidegger eine Ahnung davongehabt und deswegen zu seiner eigentümlichen,eben ihm ganz eigenen Sprache gefunden, die oftquer steht zu der das herrschende Allgemeinetransportierenden Sprache der Wissenschaften.24

Stirners Einziger ist derjenige, der sich, wie Hei-degger sagen würde, seiner Feststellung25 durchden Begriff des Menschen entzieht, welche auchund gerade im gegenwärtigen Individualisie-rungsdenken fröhliche Urständ feiert als „Ich-AG“ oder im „jeder ein Unternehmer seinerselbst“ usw., also in dem „arbeitenden Tier“ (Hei-degger), das es nicht zulassen kann und will, daßirgendein Einziger mehr sein zu wollen sich er-dreistet. Schon am heute allgemein gebräuchlichen Begriffvon Individualität sollte man sich stoßen und sichseine von Stirner bereits früh erkannte geschicht-liche Herkunft deutlich machen. Der Begriff In-dividuum, ursprünglich und dem Wortsinne nach„das Unteilbare“, was sich auf alle möglichen un-teilbaren Gegenstände beziehen kann, das unbe-fragbar und unableitbar Erstgegebene, erfährt seitdem 17. und 18. Jahrhundert einen grundlegendenBedeutungswandel, wird zunehmend auf die Be-zeichnung für den je einzelnen Menschen einge-schränkt und soll diesen in seiner von allen ande-ren Menschen verschiedenen Einzigartigkeit,eben seiner Individualität, charakterisieren. Indi-vidualität in diesem Sinne von Einzigartigkeitund Unverwechselbarkeit wird zum cantus firmusder Moderne.Gerade diese Einzigartigkeit aber, also das prinzi-pielle Verschiedensein der Individuen, bildet be-reits in den klassischen Texten der bürgerlichenStaats- und Gesellschaftstheorie die Grundlage fürdas allgemeine Gleichheitspostulat. „Von Naturaus“, so heißt es hier, seien alle Menschen gleichund frei. Daß sie dies damals wie heute mit einergeradezu brutalen Evidenz trotzdem nicht sind,erscheint aus dieser Perspektive dann wieder als

Ergebnis ihrer Individualität: „Jeder ist seinesGlückes Schmied“. Die Unfreiheit und Ungleich-heit produzierenden gesellschaftlichen Verhält-nisse geraten auf diese Weise aus dem Schußfeldder Kritik, weil sie die als „natürlich“ gedachteFreiheit und Gleichheit gar nicht zu berühren inder Lage sind. Der mit der sich stetig beschleuni-genden Modernisierungsdynamik zunehmendeZwang zu Originalität, Einzigartigkeit und Au-thentizität, kurz: der Zwang, anders sein zu müs-sen als alle anderen, sich selbst zu entfalten undzu „verwirklichen“, wird paradoxerweise zu dem-jenigen Aspekt, unter dem alle Individuen gleichsind. Der moderne Mensch soll seine Identität ge-rade dadurch finden, daß er seine Differenz sucht.Aber gerade diese Suche nach der Differenz stelltihn fest, fixiert ihn gleichsam am allgemeinen Be-griff des Menschen. Das Medium der Differenz-suche findet sich in der Arbeit und im Geld. „VomGelde hängt Glück und Unglück ab.“26 Dem „ar-beitenden Tier“ Heideggers schwindet das Glückgenau in dem Maße, in dem es sich ganz und garnach dem vorgeprägten Bild dieses Glückes ent-wirft, dem sich der Einzige Stirners entzieht, in-dem er sich einzig und alleine auf sich stellt - unddamit auf Nichts. Als scharfsichtiger Kritiker derArbeitsgesellschaft zeichnet Stirner die Logikdieser Vereinnahmung nach: „Darum sagt der hu-mane Liberalismus: Ihr wollt Arbeit; wohlan, Wirwollen sie gleichfalls, aber wir wollen sie in voll-stem Maße. Wir wollen sie nicht, um Muße zugewinnen, sondern um in ihr selber Genugtuungzu finden. Wir wollen die Arbeit, weil sie unsereSelbstentwicklung ist. (...): laboro, ergo sum, Icharbeite, d.h. Ich bin ein Mensch. Der Humane willdie alle Materie verarbeitende Arbeit des Geistes,den Geist, der kein Ding in Ruhe oder in seinemBestande läßt, der sich bei nichts beruhigt, allesauflöst, jedes gewonnene Resultat von neuem kri-tisiert. Dieser ruhelose Geist ist der wahre Arbei-ter, er vertilgt Vorurteile, zerschmettert dieSchranken und Beschränktheit, und erhebt denMenschen über Alles, was ihn beherrschen möch-te.“27

Das hier erwähnte Verarbeiten, ja das buchstäbli-che Wegarbeiten der materiellen Realität, die vonHeidegger beklagte „Verwüstung der Erde“ durchdie rasend gewordenen Metaphysik, darin bestehtdas ganze Elend nicht nur der Philosophie, son-dern der gesellschaftlichen Wirklichkeit insge-

Jörg Ulrich6

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samt. Man bedenke nur, was einen heute erwarte-te, würde man den immer lauter nach mehrWachstum und Arbeitsplätzen schreienden Prie-stern der Marktgesellschaft, welche uns aus Dut-zenden von Fernsehkanälen tagtäglich die Heilig-sprechung der Arbeit entgegenschleudern, mitStirner zurufen, was sie da eigentlich tun ... Indemsie wollen, daß alle „tüchtig arbeiten“ (...) berei-ten sie (sich) selbst die unausbleibliche - Arbeits-losigkeit.“28 Daß dieser sich als Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahme gerierende Humanismus ineinsfällt mit Technokraie, können wir spätestens seitFoucault wissen, seit Stirner und Heidegger indeswissen wir bereits, wohin solcher Humanismusführt: In die Verwüstung!Und daß die Humanisten der Arbeitsgesellschaftes ja im Grunde gut meinen, weil sie es nicht bes-ser wissen, macht die Sache nicht erträglicher,sondern schlimmer. „Die Verwüstung der Erdebeginnt als gewollter, aber in seinem Wesen nichtgewußter (...) Prozeß.“29 Auch den Reformern derArbeitsgesellschaft wäre demgemäß mit Stirnerdie Loyalität zu kündigen, denn „die Sozialrefor-mer predigen Uns ein ‚Gesellschaftsrecht‘. Dawird der Einzelne der Sklave der Gesellschaft,und hat nur Recht, wenn ihm die GesellschaftRecht gibt, d.h., wenn er nach den Gesetzen derGesellschaft lebt, also - loyal ist.“30

Die Einsicht in diesen Zusammenhang auf derHöhe der Entwicklung einer im wahrsten Sinnedes Wortes totalitär gewordenen Marktgesell-schaft findet sich mittlerweile auch bei einigenSozialwissenschaftlern. Für sie wird die aufNichts gebaute Einzigkeit Stirners zum zentralenThema innerhalb einer sinnlos in sich zirkulieren-den Gesellschaft, welche die Individuen umfas-send ihrer Logik subsumiert, indem sie sie an dieHerrschaft des Allgemeinen effektiver rückbindetals dies herkömmliche Religion jemals vermochthat. André Gorz zum Beispiel führt aus, daß heuteder Einzelne zum einzigen Kristallisationspunkteiner möglichen Rebellion gegen die Übermachtdes herrschenden Allgemeinen geworden ist. „In den postmodernen Gesellschaften ist es (dasNichtidentische bzw. das Individuum oder derEinzige - J.U.) eine Dimension individueller Er-fahrung, der ein zentraler Stellenwert zukommenkann und die die Grundlage zu einer Gesell-schaftskritik und zugleich einer Opposition gegendie instrumentelle Vernunft abgeben kann.“31

Marianne Gronemeyer plädiert noch pointierterfür eine Entdeckung oder Wiederentdeckung der„Leidenschaft für das Besondere“.32 Und werkönnte besser für diese Leidenschaft ins Feld ge-führt werden als Stirner? Gronemeyer faßt zusam-men, womit es das Bestehen auf Einzigkeit aufder Höhe unserer Zeit zu tun hat, und welcheHoffnung darauf zu setzen ist: „Tatsächlich (...)hat die Uniformierung ein solches Übergewichtgewonnen, dass sie im 20. Jahrhundert in eineOrdnungs- und Gleichschaltungsbarbarei umge-schlagen ist. Tatsächlich hat die unheilige Allianzaus Ökonomie, Technik und Wissenschaft, wennman den Bürokratismus noch hinzugesellt, dasWeltregelungs-, das Weltgestaltungs- und dasWeltdeutungsmonopol an sich gerissen und ihrengleichmacherischen Ordnungsinteressen so aus-schließlich Geltung verschafft, dass das Besonde-re pathologisiert wurde. Die unermüdliche Neu-gier auf die unendliche Vielfalt der Erscheinun-gen und das Beharren auf der Einzigkeit undNichtwiederholbarkeit eines jeden Weltstückskönnte heute die einzig mögliche Form der Rebel-lion sein.“33

Heidegger scheint mir in diesem Zusammenhangwichtig zu sein als der Diagnostiker jener „meta-physischen Wahnvorstellung“ (Nietzsche), die mitdem Sieg der „wissenschaftlich-technischen Zivi-lisation“ über uns oder besser in uns hinein kamund deren immer rasender und hysterischer wer-denden solipsistischen Tanz wir mitzutanzen ge-zwungen werden sollen, Stirner als der frühe Re-bell, der bereits in „seiner Zeit“ als vehementerKritiker der damaligen Opposition, des Liberalis-mus mithin, vor Augen geführt hat, was zu erwar-ten war und was uns heute nachhaltiger denn jebetrifft. Gewiß, Stirner gibt wenig Antworten undschon gar keine Patentrezepte, aber er wirft Fra-gen auf, deren aktuelle Dringlichkeit mir unbe-streitbar erscheint. Was diese Wichtigkeit desrichtigen Fragens angeht, ist er durchaus mit Hei-degger vergleichbar, auch wenn er das Fragenniemals als „Frömmigkeit des Denkens“ bezeich-net hätte, sondern eher mit Kant als einen „großenund nötigen Beweis der Klugheit oder Einsicht,zu wissen, was man vernünftigerweise fragensollte“, widrigenfalls man in die Gefahr gerät,„den belachenswerten Eindruck zu geben, daß ei-ner (wie die Alten sagten) den Bock melkt, derandere ein Sieb unterhält.“34

Über das unbestimmte Ungeheuerliche 7

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Eine wesentliche Aufgabe des Denkens heute istes, den Bockmelkereien jeglicher Art und Her-kunft entschieden zu widersprechen und die Fra-gen, wie Heidegger sagen würde, erst in die rich-tige Fragestellung zu bringen. Denn jeder Gedan-ken, der nicht, Stirner folgend, in permanenter

Blasphemie am herrschenden Heiligen sich ver-sündigt, blamiert sich und ist es nicht wert, ge-dacht zu werden.

Jörg Ulrich

1 Stirner hat dabei keineswegs eine Neuauflage des mittelalterlichen Universalienstreits im Blick, bei dem es um dieFrage ging, ob den Universalien, den Allgemeinbegriffen mithin, Realität zukomme (Realismus) oder ob diese nur bloßeNamen seien (Nominalismus). Wäre Stirner lediglich Nominalist, setzte er die Nomina nur in einfacher Negation gegendie Realia, so wäre der ideologiekritische Nutzwert seines Denkens in der Tat gleich Null, sein Verständnis des Ich („Mirgeht nichts über Mich“) wirklich nichts weiter als ein solipsistisches Konstrukt, das man zu den historischen Akten legenkönnte. Beide Vorwürfe, der des Nominalismus wie auch der des Solipsismus, sind Stirner häufig gemacht worden. Dochdas Stirnersche Ich verleugnet weder das Allgemeine noch wähnt es sich als Nabel und Schöpfer der Welt. Es ist sichdurchgehend bewußt, daß sowohl seine konkrete Existenz alsauch sein Denken gleichsam durchseucht sind von der Herr-schaft des Allgemeinen, unter der es zwangsläufig leben und denken muß. Die intellektuelle Blasphemie Stirners, die ihnbis heute immer noch weitgehend zur persona non grata unter „seriösen“ Sozialwissenschaftlern und/oder Philosophenmacht, besteht gerade darin, daß er, wie Adorno sagen würde, unter der Herrschaft des Begriffs über den Begriff hinauswill, daß er als selber Gefangener und im Bewußtsein der Gefangenschaft gegen eben diese rebelliert. „Ich bin wirklichder Mensch und Unmensch in einem; denn ich bin Mensch und zugleich mehr als Mensch, d.h. Ich bin das Ich diesermeiner bloßen Eigenschaft.“ (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, S. 195) Schon seine eigenwil-lige, zu den herrschenden Bedeutungen oft quer stehende Sprache bezeugt, wie sehr es ihm klar ist, daß das Individuumnicht unabhängig existiert von den Verhältnissen, unter denen es lebt, daß „dem Individuum keine Erfahrung, auch keinsogenanntes Erfahrungsmaterial zufällt, das nicht vom Allgemeinen vorverdaut und geliefert.“ (Theodor W. Adorno, Ne-gative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975, S. 307) 2 Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 2013 Emanuele Severino, Vom Wesen des Nihilismus, Stuttgart 1983, S. 204 Vgl. Jörg Ulrich, Individualität als politische Religion. Theologische Mucken und metaphysische Abgründe (post)-

moderner Subjektivität, Albeck bei Ulm 2002, S. 234 ff5 Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 716 Ebd., S. 737 Ludger Lütkehaus, Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Zürich 1999, S. 6668 Ebd.9 Heidegger ist der Überzeugung, daß nur Gott selbst, irgendein Gott, in der Lage ist, dieses katastrophale Ende abzu-

wenden, so z.B. artikuliert in dem 1966 mit Rudolf Augstein geführten „Spiegel-Gespräch“, das auf Heideggers Wunscherst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte: „Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigenWeltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnenund Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine Be-reitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir imAngesicht des abwesenden Gottes untergehen.“ (Martin Heidegger, Nur ein Gott kann uns noch retten. Gespräch mitRudolf Augstein am 23 September 1966, in: Der Spiegel, 30. Jhrg., Nr. 23 vom 31. Mai 197610 „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein, noch das Nichts, son-dern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein - nicht übergeht - sondern übergegangen ist. Aber eben sosehr ist dieWahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sonden daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso unge-trennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewe-gung des unmittelbaren Verschwindens des Einen in dem Anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschie-den sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“ (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Lo-gik, Band I, Hamburg 1975, S. 67)Der weiter oben bereits zitierte Emanuele Severino identifiziert diese in der Form des Werdens neuzeitlich ihren Sieges-zug antretende, real wirkende Metaphysik als die „Urform des Willens zur Macht“ (Severino, Vom Wesen..., a.a.O., S.26). Im Werden waltet „der Wille, daß die Dinge Zeit sind“ (Ebd., S. 12), aber dieser Wille ist „mit Notwendigkeit derWille, daß die Dinge nichts sind bzw. daß das Nicht-Nichts nichts ist. Dieser Wille ist der Nihilismus.“ (Ebd.) Für die„Bewohner der Zeit“ (Severino) sind Erlösung und Vernichtung, Herrschaft und Befreiung, Produktion und Destruktionimmer schon zwei Seiten ein- und derselben Sache, nämlich der Bewegung des universellen Herstellens und Zerstörensder in die Welt eingewanderten, im menschlichen Schaffenszwang rasend und hysterisch gewordenen Metaphysik. 11 Heidegger, Überwindung, a.a.O., S. 7212 „Der Untergang vollzieht sich zumal durch den Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt und die aus der Me-taphysik stammende Verwüstung der Erde.“ (Ebd.)13 Ebd., S. 7714 Vgl. Lütkehaus, Nichts, a.a.O., S. 666 ff15 Ebd., S. 66116 Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 35917 Lütkehaus, Nichts, a.a.O., S. 66318 Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 20219 In diesem Zusammenhang ließe sich u.a. auch die Heidegger belastende und ihn diskreditierende zeitweise Affinitätzum Nationalsozialismus erklären.

Jörg Ulrich8

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20 Heidegger, Überwindung, a.a.O., S. 86 f21 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, S. 102822 Vgl. Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 20323 Ebd., S. 38924 „Die Wissenschaft vom Menschen tritt an die Stelle von grundierendem Wissen, die vordem religiös besetzt gewesenwar. Um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, muß die Forschung, und darin liegt die gesell-schaftsstrukturelle Vorgabe, vom Individuum ausgehen, zugleich aber dessen konkrete Einzigartigkeit unberücksichtigtlassen und sich für statistische Häufigkeiten, Durchschnittswerte oder auch für die Spannweite von Extremausprägungeninteressieren. Anders gesagt: das Individuum muß vorausgesetzt - und zugleich neutralisiert werden; wenn nicht über einetranszendentaltheoretische Reduktion dann eben statistisch.“ (Luhman, Die Gesellschaft, a.a.O., S. 103625 „Einsturz und Verwüstung finden den gemäßen Vollzug darin, daß der Mensch der Metaphysik, das animal-rationa-le, zum arbeitenden Tier festgestellt wird.“ (Heidegger, Überwindung, a.a.O., S. 72)26 Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 30527 Ebd., S. 144 f28 Ebd., S. 30529 Heidegger, Überwindung, a.a.O., S. 9930 Stirner, Der Einzige, a.a.O., S. 20631 André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a.M. 2000, S. 18932 Marianne Gronemeyer, Immer wieder neu oder ewig das Gleiche. Innovationsfieber und Wiederholungswahn, Darm-stadt 2000, S. 10033 Ebd.34 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 100 (A 58/B 82-83)

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Dieses Epitaph findet sich auf dem Grabstein desgriechischen, genauer gesagt, des kretischenSchriftstellers Nikos Kazantzakis in Iraklion. Die-se Worte wurden zu einer Art Leitspruch der Kre-ter, wenngleich sie in jüngster Zeit eher die T-Shirts von Touristen zieren und protzig in der Ge-gend herumgetragen werden. An Bedeutung ha-ben sie dennoch nichts verloren, auch wenn ichihre Verwendung als körperlichen Aufputz etwasdeplaziert und aus dem Zusammenhang gerissenfinde.Ich will hier nicht die Geschichte von „Alexis Sor-bas“ erzählen, noch gebe ich den Roman „Frei-heit oder Tod“, der den Unabhängigkeitskampfder Kreter gegen die Türken beschreibt, oder ei-nes der anderen Werke Kazantzakis’ wieder.Vielmehr dienen mir der Autor und sein Leben alsEinleitung zu meinem eigentlichen Thema. Erstudierte an der Universität von Athen und schloßdort sein Studium der Rechtswissenschaften imJahre 1906 mit dem Doktorgrad ab. Von 1907 biszu 1909 studierte er Philosophie in Paris, wo erdurch die Werke von Friedrich Nietzsche undHenri Bergson, seines Lehrers, und durch die Phi-losophien des Christentums, des Marxismus unddes Buddhismus stark beeinflußt wurde. In sei-nem Werk hat er versucht, eine Synthese dieserverschiedenen Geistesrichtungen zu verwirkli-chen. Die Bekanntschaft mit der Philosophie Nietz-sches „war einer der entscheidendsten Augen-

blicke“ seines Lebens. „Hier in der Bibliothekvon Saint Geneviève, durch die Vermittlung einerunbekannten Studentin, lauerte mir mein Schick-sal auf, hier erwartete mich feurig, blutig der gro-ße Kämpfer, der Antichrist! Zu Anfang erschreck-te er mich sehr; es fehlte ihm an nichts; Frechheitund Anmaßung, Geist, der keine Verehrung kennt,Verwüstungsmanie, Sarkasmus, Zynismus, fre-velhaftes Lachen, alle Krallen und spitzen Zähneund Flügel Luzifers, doch sein Ungestüm undsein Stolz rissen mich mit. Die Gefahr berauschtemich, und ich vertiefte mich in sein Werk mitAngst und Beben, als dringe ich in einen lärmen-den Dschungel voller hungriger Ungeheuer undberauschender Orchideen.“1

Diese Auseinandersetzung mit dem PhilosophenNietzsche zeigte jedoch gänzlich andere Früchte,als bei manchen seiner Zeitgenossen. Kazantzakisholte für sich das Positive (!) aus seiner Philoso-phie und wandte sie auf seine Theaterstücke, Ro-mane und anderen Werke an. Aus dieser Beschäf-tigung mit Nietzsche resultiert auch sein ihm ei-genes Gottesverständis, welches ihn beinahe inWiderspruch zu seinem anerzogenen griechisch-orthodoxen Glauben rückte und eine Bestattungauf einem ordentlichen Friedhof unmöglichmachte.

Hoffen, als Kategorie des Glaubens, ist so eineSache. Fürchten, in der Dimension von Angst, istein existentialphilosophischer Begriff, wenn auch

Max Stirner und der ExistentialismusGedanken über zwei philosophische Versuche, die Welt zu erklären

„Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“"

Max Stirner und der Existentialismus 9

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nicht ausschließlich. Freiheit, nun ja, dieses Ka-pitel steht wiederum auf einem ganz anderenBlatt, wenngleich sehr viele dieser Blätter mitGedanken darüber beschrieben worden sind undunsere Bibliotheken füllen.Nietzsche wiederum sollte mir den Weg ebnen zueinem anderen seiner intellektuellen Kollegen,Søren A. Kierkegaard. Gemeinsam mit ArthurSchopenhauer gelten vielerorts alle drei als die,Einzelgänger‘ der nachhegelschen Philosophie -zumindest philosophiehistorisch betrachtet.Und Paris schließlich bringt mich zu jenen Den-kern, die den französischen Zweig der Existenz-philosophie bestimmten - Jean Paul Sartre, AlbertCamus, Simone de Beauvoir. (Um nur die wich-tigsten Vertreter zu nennen.)Dieser Zweig wiederum hat seine Wurzeln imDeutschland nach dem Ersten Weltkrieg, wo dieExistenzphilosophie unter anderem mit Namenwie Edmund Husserl, Martin Heidegger, Karl Lö-with und Karl Jaspers verknüpft ist. (Um auchhier nur einige Namen zu nennen.)Hier schließt sich für mich der Kreis, der mit Hegelseinen Anfang hat. Er war der Ausgangspunkt ei-ner lange Jahre andauernden Auseinandersetzungmit seiner Philosophie, die bis zum heutigen Tagewohl nicht zur Ruhe gekommen ist. Ihn zu umge-hen bedeutet, einen, wenn nicht den wichtigstenFaktor, zumindest personalen Faktor, der Philoso-phie zu ignorieren. Ihm ist es eigentlich zu verdan-ken, daß viele Denker, unter ihnen auch Max Stir-ner, ihre Gedanken zu Papier brachten.

Im „Fischer-Lexikon zur Philosophie“ findet sichunter der Rubrik ,Existenzphilosophie‘ folgendesZitat: „Wenn Hegels Wort gilt, daß die ,Philoso-phie ihre Zeit in Gedanken erfaßt‘ sei, so kanndies in einem besonderen Maße von der Existenz-philosophie gelten: sie ist einmal der spezifischeAusdruck einer bestimmten geschichtlichen gei-stigen Lage, darüber hinaus kann sie aber auch alstypische Ausdrucksform bestimmt gelagerter ges-chichtlicher Situationen überhaupt verstandenwerden. So gesehen wäre die heutige Existenz-philosophie nur die besondere Prägung einer gei-stigen Erscheinungsform, die in der Geschichteder Menschen immer wieder auftritt, wenn natür-lich auch unsere heutige Situation eine ganz be-sondere Gestaltung bedingt“.2Existenzphilosophie gilt hiernach als „Ausdruckeiner Umbruchsituation“. Sie erweist sich dabei„als der Ausdruck des Zusammenbruches der bis-herigen Sicherungen, der gültigen Formen derGesetzlichkeiten, die eine Geborgenheit und Si-

cherheit gewährleisteten, die aber in dieser Beru-higung zu Veräußerlichung, zu ,Entfremdung‘ undSinnentleerung des Wesentlichen geführt hatten.Der Mensch wird als Wesen verstanden, das ausder Sicherheit in die Unsicherheit und heimatloseUngeborgenheit, in die dunkle Nacht des Elendsund seiner endlichen Beschränktheit hinausge-schleudert ist. Dadurch geht ihm zwar die ,Welt‘mit allen ihren Äußerlichkeiten verloren, er selbstwird aber auf sich selbst ,zurückgeworfen‘ undzur Besinnung, Selbsterweckung und zu seinemeigentlichen Sein geführt und gezwungen“.3Sie stellt freilich etwas „radikal Neues“(?) dar:„Der Mensch steht und erfährt sich jetzt ganz al-lein im brodelnden, dumpfen, sinnlosen Stromdes Geschehens. Elementar brechen wieder diealten Fragen des Menschseins über ihn herein:Woher? Warum? Wohin? Wozu?“4

So wurde „die Einsamkeit des Menschen vorGott, die Kierkegaard erkannte ... in der Exi-stenzphilosophie zur Einsamkeit des Menschenvor dem Nichts, aus der sich die Grundbefindlich-keit der Angst ergibt, die jedoch allein zum Offen-barwerden des Seins, zum Selbstsein und zurFreiheit des Menschen führt. Deshalb muß dieseAngst bewußt übernommen und ertragen wer-den“.5Historisch gesehen ist die Existenzphilosophie„der Anfang einer Philosophie, die mit letzter Un-bedingtheit den Menschen mit seinen wirklichenAufgaben und Schwierigkeiten in den Mittel-punkt des Philosophierens stellt. Die Existenzphi-losophie ist, systematisch gesehen, ein bleibendesGlied in einer solchen Philosophie, das im span-nungshaften Bezug zum Ganzen die dauerndeUnruhe in Gang hält. Aber: die Existenzphiloso-phie kann niemals selber das Ganze der Philoso-phie werden. Es gibt keine reine Existenzphiloso-phie. Wo sie als Ganzes dauernd festgehalten wer-den soll, entartet sie zu einer Haltung trotzigerVersteifung, die weltlos in sich selbst kreist, unfä-hig, die Realität außer dem Menschen in ihremeigenen Wesen zu begreifen und seine Aufgabe inihr zu erfüllen“ (aus O.Fr. Bollnow, DeutscheExistenzphilosophie und französischer Existen-tialismus, in ZphF, II, 587, 1948)6

Als eigentlicher Vater der Existenzphilosophiegilt der dänische Theologe Søren Kierkegaard(1813-1855), auch wenn es für ihn, als Christ,noch gewisse Sicherheiten im ewigen Gott gibt,auch wenn dieser Gott nicht mehr der dogmati-sche Gott der offiziellen dänischen Amtskircheist. Entscheidend jedoch ist Kierkegaards geistige

Harald Pamminger10

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Verwandtschaft mit der philosophischen Bewe-gung der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts.Dieser Bewegung ist die „radikale Ablehnung desbislang Verbindlichen“ gemein. „... alle Wertewerden entwertet, so der Glaube an den Geist, dieVernunft, den Menschen und die Menschheit, dieWahrheit. All dies sind allgemeine, objektive, d.h.aber gerade unmenschliche Bestimmt- und Gege-benheiten. Dagegen geht es jetzt um den wirkli-chen Menschen, um das, was er wirklich ist, wirk-lich in seiner eigentlichen und nackten Existenz:nicht auf Beruf und Stand, nicht auf Reichtumund gelehrte Bildung, nicht auf Ehre und Tugendkommt es an, sondern alles Denken muß alsmenschliches Denken angesehen und als solchesgenommen werden: ,Während das objektive Den-ken gegen das denkende Subjekt und dessen Exi-stenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker alsexistierender an seinem Denken wesentlich inte-ressiert; er existiert ja darin‘.“7

Kierkegaard begegnet als solcher „existierenderDenker“ anderen Denkern seiner Zeit - Max Stir-ner, Ludwig Feuerbach, Heinrich Heine und KarlMarx, dessen Frühschriften zur gleichen Zeit, wieseine eigene erscheinen. (Anmerkung: Kierke-gaards „Entweder - Oder“ erscheint im Jahre1843; Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“1844)G.F.W. Hegel ist dabei ihr gemeinsamer - theore-tischer - Feind: Hegel, der „objektive Denker“.„Aber wie Liebe und Haß immer gepaart sind, soerweisen sich alle diese Kontrahenten gegen He-gel zugleich als Hegelianer, wenn sie von ihm dieArt und Methode seines Denkens übernehmen.Wenn auch sein metaphysischer Glaube abge-lehnt wird, so denkt man doch in Hegelscher Dia-lektik.“8

Kierkegaards Wirken bleibt unmittelbar ohne Er-folg, wogegen der dialektische Materialismus zueiner Massendoktrin wird. Es wurde ihm auch zusehr sein Platz als Vorläufer der Existenzphiloso-phie in der Philosophiegeschichte zugewiesenund festgesetzt.Er versucht sich mit seiner Philosophie an denEinzelnen zu wenden (Anmerkung: Auf SørenKierkegaards Grabstein sollte stehen: „JenerEinzelne“), während Marx sich an die Massen desProletariats richtet. Er dachte nicht „das Systemund nicht das Ganze, sondern den Einzelnen inseiner Existenz“9), was ihn in die Nähe von MaxStirner rückt. Bei Kierkegaard geht es jedoch um„die Kritik einer theoretisch-ästhetischen Lebens-form durch die Ansprüche einer durch die Ethikbestimmten Praxis“.10

Für ihn mußte jedoch die Vernunft der Philoso-phie scheitern, denn „es kann niemals, wie Hegelmeinte, zu einer Aussöhnung zwischen Denkenund Glauben kommen“.11

Als weiteren Urheber der Existenzphilosophiekönnte man Friedrich Nietzsche betrachten, wel-cher jedoch „nicht so sehr in der Entwicklung ei-ner neuen philosophischen Theorie, neuer Ver-bindlichkeiten und Werte als vielmehr in der Fülleneuer Sichten und der Kritik“12 seine Wirkunghat. Er will eine „Umwertung aller bisherigenWerte“13, und bringt das „Hintergründige und Ab-gründige, das Dämonische und Teuflische, dashinter den Erscheinungen lauert“14 ins Spiel. Fürihn ist Gott, jener Gott welcher Kierkegaard nocheine gewisse Sicherheit gab, tot.

Bertrand Russell hält es für eine Tatsache, „daßdie Existentialisten als eine Art Reaktion gegenden Rationalismus auf das existentielle DenkenKierkegaards zurückgreifen. Der Rationalismusreicht durch seine formalistische Behandlung derProbleme nicht aus, der Unmittelbarkeit des le-bendigen Erlebnisses gerecht zu werden, es muß -so die Existentialisten - von innen her, d.h. exi-stentiell begriffen werden.“15 Dabei ist „Existenzan sich allein ... eine lästerliche Abstraktion.Nicht einmal bei Hegel blieb dies unbemerkt.“16

Somit liegen die Wurzeln der Existenzphiloso-phie offen. Bedeutung erlangte sie aber erst nachdem Ersten Weltkrieg, als man sich wieder nähermit dem Thema „Existenz“ auseinander zu setzenversuchte. Sie richtete ihr Interesse auf die Le-benswelt und tat dies zunächst in zwei Grundfor-men: unter der Voraussetzung Gottes (GabrielMarcel) und als Existenzphilosophie, die nichtvon Gott ausgeht - die Existential-OnotologieHeideggers, die Existenzerhellung Jaspers’ undder Existentialismus Sartres, der zudem eine Un-terscheidung nach christlicher und atheistischerExistenzphilosophie vorschlägt, was meines Er-achtens jedoch nur eine weitere Klassifizierungdarstellt.

Ihre größte Wirkung hatte sie vor allem inDeutschland und Frankreich, obwohl sie durchausihren Weg um den Globus machte. Trotz ihrer Viel-schichtigkeit bleiben die Grundfragen immer diegleichen, nur die Antworten, die Lösungsansätzeund Lösungsmöglichkeiten sind verschieden.An dieser Stelle gelangen wir zu jenem Philoso-phen, dessen Name und Wirkung am intensivsten

Max Stirner und der Existentialismus 11

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mit der Existenzphilosophie, dem Existentialis-mus verbunden ist - J.P. Sartre.Seine Philosophie selbst kann nicht als „Entar-tungserscheinung“ angesehen werden, „vielmehrstellt sie eine spezifische Radikalisierung derHusserl-Heideggerschen Fragen dar“.17) Er versucht dabei einen „,neuen Humanismus“ zuentwickeln, was im Sinne Stirners gleichbedeu-tend wäre, mit der Schaffung eines neuen Gottes.

In einer „Klarstellung zum Existentialismus“,notwendig geworden durch zahlreiche in den Me-dien ausgetragene Untergriffe auf seine Philoso-phie, verteidigte sich J.P. Sartre wie folgt: „Siehaben sich den Existentialismus ausgesucht, weiles sich um eine abstrakte Lehre handelt, die weni-ge kennen, und weil Sie wissen, daß niemand IhreBehauptungen nachprüfen wird.“18

Um die Unkenntnis seiner Kritiker noch weiter zuentlarven, setzt er unvermittelt fort: „Heideggerwar Philosoph, lange bevor er Nazi war. SeineZustimmung zum Hitlerismus erklärt sich durchAngst, vielleicht durch Karrierismus, sicher durchKonformismus: das ist nicht schön, ich gebe eszu. Doch es genügt, Ihr schönes Argument zu ent-kräften: ,Heidegger‘, sagen Sie, ,ist Mitglied dernationalsozialistischen Partei, also muß seine Phi-losophie eine Nazi-Philosophie sein.‘ Das stimmtnicht: Heidegger hat keinen Charakter, das ist dieWahrheit; können Sie daraus schließen, daß seinePhilosophie eine Apologie der Feigheit ist? Wis-sen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmalnicht auf der Höhe ihrer Werke sind? Und könnenSie den Gesellschaftsvertrag verurteilen, weilRousseau seine Kinder ausgesetzt hat? Und au-ßerdem, was zählt schon Heidegger? Wenn wirunser eigenes Denken durch das eines anderenPhilosophen entdecken, wenn wir bei diesemTechnik und Methoden suchen, die uns zu neuenProblemen Zugang verschaffen können, heißt dasdann, daß wir alle seine Theorien teilen? Marx hatseine Dialektik von Hegel übernommen. SagenSie deshalb, Das Kapital sei ein preußischesWerk? Wir haben die beklagenswerten Ergebnisseder ökonomischen Autarkie erlebt: hüten wir uns,in die geistige Autarkie zu fallen.“19

Um seiner Entrüstung noch mehr Bedeutung bei-zumessen, zieht Sartre an dieser Stelle auchgleich einen Trennstrich zwischen den Existentia-listen und der „Philosophie des Absurden“ seinesZeitgenossen Albert Camus, mit dessen Philoso-phie er sich in einen Topf geworfen fühlt, obwohldiese Philosophie „kohärent und begründet [ist].Albert Camus hat gezeigt, daß er das Zeug hat,

sich allein zu verteidigen“20, weshalb er im Wei-teren nur mehr vom Existentialismus spricht undsprechen will. Er tut dies mit einfachen Worten.„In philosophischen Begriffen gesprochen, hatjeder Gegenstand ein Wesen und eine Existenz.Ein Wesen, das heißt eine konstante Gesamtheitvon Eigenschaften; eine Existenz, das heißt einegewisse effektive Anwesenheit in der Welt. Vieleglauben, erst komme das Wesen und dann dieExistenz ... Diese Idee entspringt dem religiösenDenken ... für alle, die glauben, daß Gott dieMenschen schuf, muß er es entsprechend der Ideegetan haben, die er von ihnen hatte. Aber selbstjene, die nicht glauben, haben diese traditionelleAuffassung behalten, daß ein Gegenstand immernur in Übereinstimmung mit seinem Wesen exi-stiere, und das ganze 18. Jahrhundert hat gedacht,daß es ein allen Menschen gemeinsames Wesengäbe, das man Menschennatur nannte. Der Exi-stentialismus dagegen hält fest, daß beim Men-schen - und nur beim Menschen - die Existenzdem Wesen vorausgeht. Das bedeutet ganz ein-fach, daß der Mensch zunächst ist und erst danachdies oder das ist. Mit einem Wort, der Menschmuß sich sein eigenes Wesen schaffen; indem ersich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft,definiert er sich allmählich; und die Definitionbleibt immer offen ...“21

Auf keinen Fall ist der Existentialismus ideolo-gisch gefärbt. Allein diese Frage hält Sartre fürabsurd, denn „auf dieser Allgemeinheitsstufe istder Existentialismus überhaupt nichts, außer einebestimmten Betrachtungsweise der menschlichenFragen, die es ablehnt, dem Menschen eine fürimmer festgelegte Natur zuzuschreiben. Früher,bei Kierkegaard, ging er mit dem religiösen Glau-ben einher. Heute ist der französische Existentia-lismus eher von einem erklärten Atheismus be-gleitet, aber das ist absolut nicht notwendig.“22

Dabei stellt er eine gewisse Verwandtschaft mitKarl Marx fest, welcher einer Devise zustimmte,die dem Existentialismus eigen ist: „schaffen undschaffend sich schaffen und nichts anderes sein alsdas, zu dem man sich geschaffen hat“.23 Somit de-finiert der Existentialismus den Menschen durchdas Handeln, denn „in Wirklichkeit kann derMensch nur handeln; seine Gedanken sind Entwür-fe und Verpflichtungen, seine Gefühle Unterneh-mungen; er ist nichts anderes als sein Leben, undsein Leben ist die Einheit seiner Verhaltenswei-sen.“24

Die mit dem Handeln mitunter verbundene Angstist dabei „keineswegs ein Hindernis ..., sondernvielmehr dessen Voraussetzung, und sie ist eins

Harald Pamminger12

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mit dem Sinn jener erdrückenden Verantwortlich-keit aller gegenüber allen, die unsere Pein undunsere Größe ausmacht.“25

Vielmehr ist für Sartre die Hoffnung „dasschlimmste Hemmnis für das Handeln“. „Es istwahr, daß der Mensch unrecht hätte zu hoffen“, ...denn dann bräuchten wir „nur die Hände in denSchoß legen. Der Mensch kann nichts wollen,wenn er nicht zunächst begriffen hat, daß er aufnichts anderes als auf sich selber zählen kann, daßer allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seinerunendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfenoch Beistand, ohne ein anderes Ziel als das, daser sich selbst geben wird, ohne ein anderesSchicksal als das, das er sich auf dieser Erdeschmieden wird. Diese Gewißheit, diese intuitiveErkenntnis seiner Situation, das ist es, was wirHoffnungslosigkeit nennen: es ist keine schöneromantische Verstörtheit, wie man sieht, sonderndas nüchterne und klare Bewußtsein von der Lagedes Menschen. So wie die Angst sich nicht vomSinn für die Verantwortlichkeit unterscheidet, istdie Hoffnungslosigkeit eins mit dem Willen; mitder Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Opti-mismus: der Optimismus dessen, der nichts er-wartet, der weiß, daß er keinerlei Recht hat undihm nichts zukommt, der sich freut, auf sich alleinzu zählen und allein zum Wohl aller zu han-deln.“26

Dies alles spielt sich auf der Ebene der Freiheitab, denn der Mensch, egal in welcher Situationund Lebenslage er sich befindet, ist frei. „Er istfrei, weil er immer wählen kann, ob er sein Los inResignation hinnimmt oder sich dagegen auf-lehnt.“27

Mit anderen Worten, der Mensch ist seines Glük-kes Schmied, Herr seines Schicksals. „Der Menschist nichts anderes als wozu er sich macht“, er„erwählt sich fortwährend ... weil [er] ganz und garWählen und Handeln [ist]“28, dabei ist „die ersteBedingung der Tätigkeit ... die Freiheit“29, welchejedoch nicht nur Voraussetzung des Handelns, son-dern des eigenen Seins selbst ist. Dennoch können wir nicht tun und lassen, waswir wollen, sondern treffen überall auf Umständeund Hindernisse, was Sartre als „Situation“ be-zeichnet. Jede Situation ist ein Konflikt zwischenmir und einem Hindernis. Für ihn gibt es „Freiheitnur in Situation, und es gibt Situation nur durchFreiheit“. Sobald ich mir meiner Freiheit bewußtbin, übernehme ich Verantwortung.Freiheit, Entwurf, Situation, Verantwortung -Grundbegriffe des Sartreschen Existentialismus.„Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein“ - lautet

eine der Thesen seines philosophischen Haupt-werks Das Sein und das Nichts, erschienen 1943.„Es ist das Grundbuch der spezifischen französi-schen Form des Existentialismus. Es ist stark vonHeideggers Sein und Zeit beeinflußt, aber auch,dialektisiert‘ von Hegel her (es gab während der30er Jahre in Frankreich eine intensive undfruchtbare Beschäftigung mit der HegelschenPhänomenologie des Geistes, die ja auch - erst-mals - typische Bewußtseinsgestalten untersuch-te.“30

Kritik an Sartres Philosophie wird bei BertrandRussell laut, der meint, „bei Sartre wird die exi-stentialistische Sicht menschlicher Freiheit biszum äußersten getrieben. Man wählt ständig seineigenes Schicksal. Es gibt im Leben des einzelnenkein Band mit der Überlieferung, keines mit frü-herem Geschehen. Jede neue Entscheidung bringttotale Verpflichtung mit sich. Wer vor dieser häß-lichen Wahrheit zurückschreckt, versucht Schutzvor der Durchrationalisierung der Welt zu finden.Darin ist sich der Mann der Wissenschaft einigmit dem Gläubigen. Beide wollen sie der Wirk-lichkeit entfliehen. Für Sartre sind beide in einembedauerlichen Irrtum befangen. Die Welt ist nicht,wie die Wissenschaft sie sieht; und was Gott be-trifft, scheint er seit Nietzsche tot. Der Mensch,der gewillt ist, der Welt so ins Auge zu sehen, wiesie ist, erinnert stark an den Helden Nietzsches.Aus dieser Quelle leitet Sartre auch seinen Atheis-mus ab.“31

Und weiter: „Für den Rationalisten heißt Freiheit:Einsicht in die Natur, für den Existentialisten:Hingabe an seine Stimmungen. Das geht in seinerLogik auf Schellings Kritik an Hegel zurück. DieExistenz kann nicht aus allgemein logischen Prin-zipien abgeleitet werden.“32

Sartres Existentialismus hat innere Verbindungenzur Literatur, er läßt seine Philosophie in die Cha-raktere seiner Romane und Theaterstücke einflie-ßen. Seine Wirkung auf das intellektuelle und po-litische Frankreich ist unbestritten. Allerdings istdies auch auf seine Rolle während der Resistancezurückzuführen. Gleiches gilt für seine Zeitge-nossen Albert Camus und Simone de Beauvoir.Mit Stirner setzten sich die Existentialisten mei-nes Erachtens nur peripher und nicht dezidiertauseinander. Er schien für ihre Philosophie nichtvon Bedeutung. Simone de Beauvoir - SartresLebensgefährtin - hingegen findet Stirner zumin-dest erwähnenswert - in einem Zusammenhangmit Marquis de Sade.

Max Stirner und der Existentialismus 13

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„Angesichts dieses skandalösen Schweigenskann man verstehen, daß die eifrigen AnhängerSades ins andere Extrem verfielen und denMarquis als genialen Propheten feierten: man be-hauptete, in seinen Schriften kündeten sichgleichzeitig Nietzsche, Stirner, Freud und dieSurrealisten an. Aber dieser Kult, der wie jederKult auf einem Mißverständnis beruhte, übte wie-derum Verrat an ihm, indem der ,göttliche Mar-quis‘ zum Gott erhoben wurde; wir möchten ger-ne verstehen, und man verlangt von uns, anzube-ten. Jene Kritiker und Historiker, die in Sade we-der einen Schurken noch einen Abgott, sonderneinen Menschen, einen Schriftsteller sehen, las-sen sich an den Fingern einer Hand abzählen.Ihnen ist es zu verdanken, daß Sade endlich wie-der zu uns auf die Erde zurückgekehrt ist.“33

Für J.P. Sartre hat seine Lebensgefährtin Simonede Beauvoir bewiesen, daß „der Marquis de Sade... den Niedergang des Feudalismus, dem man einPrivileg nach dem anderen streitig machte, erlebt[hat]; sein berüchtigter ,Sadismus‘ ist der blindeVersuch, das Recht des Stärkeren mit Gewaltabermals zu behaupten, indem er es auf die sub-jektive Legitimation seiner Person gründete. Aberdieser Versuch ist schon vom bürgerlichen Sub-jektivismus durchdrungen, die objektiven An-rechte des Adels sind durch eine unkontrollierba-re Überlegenheit des Ich ersetzt worden.“34

Uns so „verdammen ihn seine Widersprüche, sei-ne vormaligen Privilegien und sein Scheitern zurEinsamkeit. Er sieht sich seiner Erfahrung dessen,was Stirner später den „Einzigen“ getauft hat, be-raubt und durch das Universale, die Vernunftge-mäßheit, die Gleichheit und die Begriffswerkzeu-ge seiner Epoche, an Hand deren er sich mühsamzu begreifen sucht, vom Weg abgebracht. Darausergibt sich die irrige Ideologie: die einzige Be-ziehung von Mensch zu Mensch ist die, die denHenker mit seinem Opfer verbindet, diese Auffas-sung ist zugleich Wille zur Kommunikation durchalle Konflikte hindurch und entstellte Bestätigungder absoluten Nicht-Kommunikation. Hieraufbaut sich das gewaltige Werk auf, das man zu Un-recht kurzerhand zu den Ausläufern des aristokra-tischen Denkens zählt, das jedoch viel eher imFlug ergriffene und von der universalistischenIdeologie der Revolutionäre umgeformte Forde-rung eines Vereinsamten darstellt.“35

Bei Albert Camus hat Max Stirner bloß Relevanzbezüglich seiner Auseinandersetzung über die Re-volte. Er beschäftigt sich in seinem Buch „DerMensch in der Revolte“ kurz mit Stirners Einzi-

gem. Dabei strebt Max Stirner - seiner Meinungnach -, nachdem Gott selbst ausgetrieben wurde,„jede Vorstellung von Gott“ auszutreiben. Dabei„[lacht] Stirner in der Sackgasse“,36 während„Nietzsche gegen Mauern [rennt]“.37

Stirner beginnt „reinen Tisch zu machen“ und„hatte nicht nur mit Gott abzurechnen, sondernauch mit dem ,Menschen‘ Feuerbachs, dem,Geist‘ Hegels und seiner historischen Verkörpe-rung, dem ,Staat‘. Alle diese Ideen sind hervorge-gangen aus „dem Glauben an ewige Ideen“.38

Hierbei ist Gott aber „nur eine der Entfremdungendes Ich oder genauer dessen, was ich bin. Sokra-tes, Jesus, Decartes, Hegel, alle Philosophen undPropheten haben nie etwas anderes getan, alsneue Entfremdungsweisen zu erfinden für das,was ich bin.“39

Mit seiner Verneinung, „die jede Revolte speist ...überschwemmt Stirner ... unwiderstehlich die Be-jahung ... Er fegt auch jeden Gottesersatz weg“,denn „um Revolutionär zu sein, muß man an et-was glauben, wo es nichts zu glauben gibt.“40

Bei Max Stirner gelangt so „der Individualismus... auf einen Gipfel. Er verneint alles was dasIndividuum verneint, und verherrlicht alles, wases rühmt und ihm dient.“41

Und er „weicht vor keiner Zerstörung zurück. DerGeist der Revolte findet schließlich eine seinerbittersten Befriedigungen im Chaos ... So kündetauf den Ruinen der Welt das trostlose Lachen desköniglichen Individuums den letzten Sieg desGeistes der Revolte. Doch an diesem äußerstenPunkt ist nichts anderes mehr möglich als der Tododer die Auferstehung. Stirner und mit ihm allenihilistischen Rebellen eilen, im Rausch der Zer-störung, auf diesen Grenzpunkt zu. Danach, istdie Wüste einmal entdeckt, gilt es zu lernen, in ihrsein Leben zu fristen.“42

Wie dieses Leben aussehen könnte, beschreibtMax Stirner in seinem Werk „Der Einzige undsein Eigentum“ausführlich, nicht ohne vorher tat-sächlich „reinen Tisch“ mit den philosophischenStrömungen seiner Zeit gemacht zu haben. Er un-ternimmt den Versuch sich aller belastenden Din-ge und Gedanken zu entledigen. Dabei wendetder sich radikal gegen Gott, den Staat, das Recht,die Gemeinschaft in all ihren Ausprägungen, ge-gen „Pöbelbeglückungsversuche und Schwanen-verbrüderungen“43, usw.Seine Radikalität äußert er bereits zu Beginn sei-ner Schrift: „Hat Gott, hat die Menschheit, wie Ihrversichert, Gehalt genug in sich, um sich Alles inAllem zu sein: so spüre Ich, daß es Mir noch weit

Harald Pamminger14

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weniger daran fehlen wird, und daß Ich über mei-ne ,Leerheit‘ keine Klage zu führen haben werde.Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leer-heit, son-dern das schöpferische Nichts, das Nichts, auswelchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.Fort denn mit der Sache, die nicht ganz und garMeine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müssewenigstens die ,gute Sache‘ sein? Was gut, was bö-se! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin we-der gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.Das Göttliche ist Gottes Sache, das MenschlicheSache ,des Menschen‘. Meine Sache ist weder dasGöttliche noch das Menschliche, ist nicht dasWahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern alleindas Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondernist - einzig, wie Ich einzig bin.Mir geht nichts über Mich!“44

Von diesem Punkt aus spinnt er das Netz seinerGedanken, von hier aus konkretisiert er seinenStandpunkt. Sein Standpunkt jedoch ist ein sub-jektiver. Von diesem Subjektivismus leitet er allesab, was ihm, seinem Ich, dienlich sein könnte.Dabei will er sich „die Eigenheit ... nicht entzie-hen lassen. Und gerade auf die Eigenheit sieht esjede Gesellschaft ab, gerade sie soll ihrer Machtunterliegen.“45

Was bedeutet dies jedoch im Zusammenhang mitdem Existentialismus, mit der Existenzphiloso-phie? So wie Kierkegaard richtet auch Stirner sichan den Einzelnen, mit dem Unterschied, daß erdiesen Einzelnen noch mehr radikalisiert, nochmehr überspitzt, ihn auf sich selbst, als den Einzi-gen, reduziert.Er, d.h. Ich, ist das Allumfassende, das Gottähnli-che. „Man sagt von Gott: ,Namen nennen Dichnicht‘. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Michaus, nichts, was man als mein Wesen angibt, er-schöpft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagtman von Gott, er sei vollkommen und habe kei-nen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben.Auch das gilt allein von Mir.Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin esdann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Ein-zigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferi-sches Nichts zurück, aus welchem er geborenwird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott,sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meinerEinzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne diesesBewußtseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen,meine Sache, dann steht sie auf dem Vergängli-chen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sichselbst verzehrt, und ich darf sagen: Ich hab’ mein’Sach’ auf Nichts gestellt.“46

Er erschafft sich selbst. Sein Wesen, nicht seineExistenz. Von dieser Existenz geht er aus, sie istvorhanden, was er daraus macht ist das Entschei-dende. Er handelt, um zu dem zu kommen, was erwill, was er ergreifen will, wozu er die Macht hat,etwas zu ergreifen.

Stirner wendet sich radikal gegen jegliche Einmi-schung von außen. Er schreckt nicht zurück vorder Tat, wenn auch nur theoretisch, er setzt sichgegen alle und alles zu Wehr, er empört sich, errevoltiert, er befreit sich, er befreit sich sogar vonder Freiheit, die ihm immer nur von anderen ge-geben scheint, die nicht seine Freiheit, seine ihmeigene Freiheit ist.Stirner ist Solipsist. Er reduziert sogar Kierke-gaards Individuum auf ein Einzelwesen, auf sich,auf sein Ich. Nur ich und sonst niemand. Er läßtnichts anderes zu.Der absolute Geist hat für ihn keinerlei Relevanz.Er setzt sich über all das hinweg. Kategorien der„Sicherheit“ haben für ihn keine Geltung. Er wirftsich in die Endlichkeit, ist jeder Heilslehre ab-hold, jeder Philosophie der Gemeinschaft, jederPhilosophie der Religion, des Rechtes. Stirneragiert diesem Sinne nach „unmoralisch“ und „un-sittlich“. Moral und Sittlichkeit, wie etwa im He-gelschen Sinn, sind nicht seine Sache. Er hältauch nichts von ästhetischen, religiösen und ethi-schen Lebensform, wie Kierkegaard es tut. Diesist ebenfalls nicht seine Sache.Stirner bleibt der Verweigerer und Rebell der Phi-losophiegeschichte (zumindest meinem Verständ-nis nach). Er ist auch nicht bürgerlich, denn dieGemeinschaft und Gesellschaft der Bürger ist ihmein Gräuel, so wie jede Gemeinschaft und Gesell-schaft, die er nicht von ihm selbst aus eingegan-gen ist. Stirner betont immer wieder seine Einzig- undEinzigartigkeit. Er betrachtet die Welt mit seinensubjektiven Augen. Mit den Augen eines alleinExistierenden, neben anderen Existenzen. SeinWesen bestimmt sich nur durch sich selbst, ist au-tonom (nicht autark), ist glücklich in dieser Ein-samkeit. Wenn bei Sartre die Gemeinschaft, dieSolidarität, die Toleranz wieder in einen Stand derDiskussion gehoben werden, so würde Stirnersich dagegen zur Wehr setzen. Er benötigt die An-deren nicht, er benutzt sie nur, um seinen Zielennäher zu kommen. Stirner erreicht sein Ziel, fürsich, nicht aber für andere. Er will dies auch nicht,da er nicht vorhat, ein Lehrmeister für andere zusein. Er bleibt in dieser Entrücktheit stehen.

Max Stirner und der Existentialismus 15

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Es wäre wesentlich leichter zu sagen, was Stirnernicht ist, als den Versuch einer Erklärung zu un-ternehmen, was er ist, in welches philosophischeund philosophiegeschichtliche Denkschema ersich einordnen ließe. Grundsätzlich ließen sich ei-nige Parallelen zur Existenzphilosophie, zum Exi-stentialismus feststellen, ebenso aber auch grund-verschiedene Sichtweisen und Anschauungen bei-der Denkrichtungen.Einerseits die Geworfenheit in eine endliche,diesseitige Welt ohne Aussicht auf jenseitige Un-terstützung, jenseitigen Rückhalt, in ein Nichts,aus dem man sich nur schaffend erheben kann.Andererseits die Art des Umgangs mit der „Situa-tion“, die Kommunikation unter Existierenden,das „Empören“, Emporheben über Existierendes,der theoretische und praktische Weg zur Erlan-gung des eigenen Ziels, der eigenen Vorstellun-gen.Die am Beginn dieser Darstellung zitierte Grabin-schrift trifft im Wesentlichen auf Max Stirner zu.Er fürchtet nichts, denn er ist mächtig, er hat dasZepter in der Hand und keiner kann ihm, demEinzigen, etwas anhaben. Angst ist für ihn keineKategorie.

Er hofft nichts, denn mit der Hoffnung wäre wohlverbunden, daß seine Philosophie in der Tat kon-kret werden könnte. Er bleibt in seinem subjekti-ven Individualismus, der sich nur auf sich bezieht,der andere zwar theoretisch erreichen will, siepraktisch aber nicht dazu zwingt, sich seinen Ge-danken anzuschließen, da dies etwas hervorbrin-gen würde, was man wieder umstoßen müßte.Er ist frei, er existiert frei und in diesem Freisein,bestimmt er sich selbst. Er schafft sich diese Frei-heit. Er läßt sich diese Freiheit von niemandemgeben, er nimmt sie sich einfach. Er macht sie zudem Seinigen, zu seinem Wesen und seiner Exi-stenz.

Aber, und das behauptet E.M. Cioran in einemseiner Aphorismen: „Existieren - ein Zustand, derso wenig faßbar ist, wie sein Gegenteil, was sageich? Noch unfaßbarer.“47

Harald Pamminger

1 Nikos Kazantzakis: Rechenschaft vor El Greco, Seite 2772 Fischer Lexikon - Philosophie: Seite 64 ff3 ebd. Seite 65 - (4) ebd. S. 65 ff5 G. Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. S. 178ff6 ebd. S. 181 - 7 ebd. S. 66 - 8 ebd. S. 66 9 K.P. Liesssmann: Sören Kierkegaard zur Einführung. S. 9

10 ebd. S. 811 Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie. S. 34512 Fischer Lexikon - Philosophie: S. 7413 ebd. S. 74 - 14 ebd. S. 74 15 B. Russell: Denker des Abendlandes - Eine Geschichte der Philosophie. S.43416 ebd. S. 43417 Fischer Lexikon - Philosophie: S. 7518 J.P. Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus. S. 11419 ebd. Seite 114 ff - 20 ebd. Seite 115 - 21 ebd. Seite 115 ff - 22 ebd. Seite 116 - 23 ebd. Seite 116 - 24 ebd. Seite 116ff - 25 ebd. Seite 117 - 26 ebd. Seite 117 ff - 27 ebd. Seite 11928 Christoph Helferich: Geschichte der Philosophie. S. 405ff29 ebd. S. 405ff - 30 ebd. S. 40531 B. Russell: Denker des Abendlandes - Eine Geschichte der Philosophie. S.44032 ebd. S.44133 Simone de Beauvoir: Sollen wir de Sade verbrennen? S. 9ff34 J.P. Sartre: Marxismus und Existentialismus. S.9335 ebd. S. 93ff36 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. S. 5337 ebd. S.53 - 38 ebd. S.53 - 39 ebd. S.53 - 40 ebd. S.54 - 41 ebd. S.54 - 42 ebd. S.5543 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. S. 28744 ebd. S. 5 - 45 ebd. S. 343 - 46 ebd. S. 41247 E.M. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein. S. 84

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IEs gibt verschiedene Weisen mit dem umzugehen,was unter dem Leben verstanden wird. Die eineoder andere Weise wird auch zwangsläufig ergrif-fen und vollzogen, diesem Verständnis also Aus-druck verliehen. „Leben“ soll hier nicht unwei-gerlich im Sinne von „Lebensphilosophie“ ver-standen werden, wobei überhaupt unklar ist, obdie Philosophie dem Leben mächtig sei. An dieserStelle soll ganz einfach der leibliche Aufenthaltzwischen Geburt und Tod angesprochen sein. Diemeisten werden sich wohl nicht all zu sehr denKopf darüber zerbrechen, denn schließlich mußman ohnehin die Dinge nehmen wie sie kommen,heißt es. Einige nehmen allerdings die Sache, auswelchem Grund auch immer, nicht ganz so leicht.Vielleicht weil das ihrige Leben ihnen keine Ruheläßt, oder aber sie in ihrem Leben nicht in Ruhegelassen werden; vielleicht aber auch beides -oder das eine wegen des anderem.Heidegger und Stirner bilden da keine Ausnahme,wobei sie wahrscheinlich eher zu denen gehören,die sich ’nen Kopf gemacht haben; und zwar inzweifacher Hinsicht: zum einen, weil sie eben-falls eine Weise zu Leben ergriffen oder übernom-men, und zum zweiten durch die Texte, die sie inihrem Leben verfaßt haben. Es wird kaum mög-lich sein, ihre Lebensform von der Entstehung ih-rer Texte zu trennen, womit jedoch nicht auf eineInterpretation des Werkes durch das Leben desAutors angespielt sein soll. Gesagt sei damit, daßwir nicht diese Texte vor uns hätten, wenn sie sichfür einen anderen Umgang mit ihrem Lebensver-ständnis entschieden hätten. Wie aber wir im End-effekt mit ihren Texten umgehen, bleibt allein Un-sere Sache. Wenn nun von den beiden in irgend-einer Weise die Rede ist, scheint die Gleichheitderer Textarten angenommen zu sein, d.h. als wasdie Texte zu sehen oder zu lesen sind. Falls diesder Autor nicht explizit dem Leser mit auf denWeg gibt, greift man gewöhnlich zur hermeneuti-schen Verfahrensweise und deutet die Intentiondes Verfassers und damit den Sinn des Textes auseben dem Text selbst, um sich so im Umgang mitihm leiten zu lassen. Schließlich hat man irgend-wann Erfahrung mit verschiedensten Texten ge-macht und meint schon mitbekommen zu können,was der Text da von einem will. Dabei steht manbekanntermaßen vor einigen hermeneutischen

Problemen: man deutet aus seiner eigenen Erfah-rung, gerät in den hermeneutischen Zirkel, usw.Einige Texte, besonders aus anderen Kulturkrei-sen oder solche von hohem Alter entziehen sichuns gar hartnäckig der Feststellung des Sinns ih-rer ursprünglichen Verfassung - gesetzt den Fall,das ihnen überhaupt das gleiche Textverhalten zuGrunde liegt. Aber wie auch immer das Geschrie-bene aufgefaßt wird, mit dem Text1 wird immerauf irgendeine Weise von uns umgegangen, obwir dabei Anspruch auf Authentizität erhebenoder nicht. Das Gesagte gilt aber nicht nur für alteSchriften, auch Texte der Gegenwart können denLeser im unklaren über ihre Natur lassen. Wenndies der Fall ist, tritt eine Eigenart des Textes zumVorschein: nämlich das er etwas Fremdes ist.Nicht nur solchen Texten, sondern Texten über-haupt eignet die Fremdheit, so wie der Andere(„Du“) als Er selbst immer auch fremd für Michbleiben muß, egal wie lange Ich ihn schon kenne.Das heißt nicht, daß sie (der Text oder der Ande-re) mir völlig unbekannt sind, denn sie könntennicht als fremd erscheinen, wenn dies der Fall wä-re. In der Fremdheit bricht vielmehr ein Unter-schied zwischen Mir und dem Fremden auf, derwohl nicht das Was, so doch aber das Wie beideroffenlegt. Da Naheliegendes oft am meisten über-gangen wird, wäre es deshalb angebracht sichnicht so gleich im Vertrauten wissen zu glauben,sondern das Fremde als solches zunächst beste-hen zu lassen. So liefere Ich mich dem Text imUmgang mit ihm nicht aus und der Text bekommteinen eigentlichen Bezug zu Mir. Er mißt sichdadurch nicht an einer (ohnehin unprüfbaren) her-meneutischen Richtigkeit, sondern erhält seineRolle durch die gestalterischen Möglichkeiten,die er Meinem Wie zuführt. Was macht solch ei-nen Bezug eigentlich aus? Er besteht darin, denText im Rahmen eines Vollzugs zu lesen, der einzweifacher ist. Ich lasse Mich von dem, was derText Mir sagt, mitziehen und trage ihm dadurchseine Präsenz zu, die immer im Hinblick auf et-was liegt. Dies ist ein Ansatz mit Texten umzuge-hen. Wie fruchtbar er ist, hängt von der Lesewei-se und dem Verhalten zum Text ab. Wie sieht es nun mit Heidegger und Stirner alsText aus? Liegen sie unzweideutig vor uns, oderstoßen sie nicht deshalb oft auf Kritik, weil sieden Leser unfähig machen, im herkömmlichen

Unterwegs mit Max Heidegger und Martin Stirner 17

Unterwegs mit Max Heidegger und Martin Stirner

„Denn noch ist nicht entschieden, auf welche Weise dasjenige, was keines Beweises bedarf, um für das Denken zugänglich zu werden, erfahren werden soll.“

- Martin Heidegger -

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Sinne mit ihnen umzugehen? In meinen Augenliegt das Kontroverse ihrer Texte darin, daß siesich nicht in den gängigen Kategorien des Text-marktes bewegen wollen - dem sogar verschlos-sen bleiben, weil der Text selbst den Leser erstvor die Frage seines Umgangs mit ihm stellt odergar herausfordert.

IIStirner vollzieht dies in seiner Weise an sich selbstund regt ebenfalls den Leser dazu an: „... Ichschreibe, weil Ich meinen Gedanken ein Dasein inder Welt verschaffen will, und sähe Ich auch vor-aus, daß diese Gedanken Euch um eure Ruhe undeuren Frieden brächten, sähe Ich auch die blutig-sten Kriege und den Untergang vieler Generatio-nen aus dieser Gedankensaat aufkeimen: - Ichstreue sie dennoch aus. Macht damit, was Ihrwollt und könnt, das ist eure Sache und kümmertMich nicht.“2 Gewöhnlich nimmt man das Stirne-rische Werk als philosophischen Text, da JohannCaspar Schmidt Philosophie studierte und auchauf Probleme philosophischer Art zu sprechenkommt. Nichts liegt aber ferner als zu glauben,daß er Sich selbst als Philosoph zu Gehör bringenwollte. Schaut man sich die Rezeption des Werkesan, fällt gerade die Ablehnung in (akademischen)Philosophiekreisen auf, welche die längste ZeitStirner den Eingang in ihre Philosophiegeschich-ten verwehren wollten und wenn, dann nur als lä-cherlichen Antipoden zu Marx, extremster Hegel-kritiker von links, o.ä.. Stirner setzt sich jedoch ingroßen Teilen seiner Werkes auch auf recht unphi-losophische Weise mit den Geschehnissen undder Situation seiner Umwelt auseinander, in der er„herumgewürfelt“ wird. Dabei ist er stets bemüht,eine Leseweise von ihr zu gewinnen, die den Be-dürfnissen seines Lebens in ihr gerecht wird. Sol-che Leseweisen sind „Verzehr“, „Genuß“ oderauch „Einverleibung“ und gibt Seiner Welt ihreAnwesenheit als auch Ihm seine Weise des Au-fenthalts in ihr. Wenn, dann bringt er zunächstweniger eine „Philosophie“ zur Sprache, als viel-mehr Sich, denn er hat keine Probleme, jederzeitden Rahmen der Philosophie zu verlassen, wennseine Leseweise dies nötig macht. Man muß sichnicht zwangsläufig an ihm als „Werk der Philoso-phie“ die Zähne ausbeißen.Heidegger war ebenfalls jemand, für den sich dasWerkhafte der Philosophie als ungenügend her-ausstellte, und zwar als er versuchte, seine Weltdurch sie zu lesen. Seine Leseweise ist zumeistdie des „Denkens“, „Ent-sprechens“, usw.. Dasich das Denken nie im Werk selbst entfalten

kann, hat er nicht umsonst seiner Gesamtausgabedem Leitspruch vorangestellt: „Wege - nicht Wer-ke!“. Unter „Weg“ versteht Heidegger das, „...was uns gelangen läßt, und zwar in das, was nachuns langt, indem es uns be-langt.“3 Das Denkenist damit schon näher bestimmt, nämlich durchdas Sein, was Uns alle unmittelbar betrifft, inso-fern wir selbst seiend in unserem Sein zu diesemSein ein Seinsverhältnis haben.4 So gibt es un-zählbare Wege (d.h. Weisen), wie es uns um Unsselbst gehen kann. Denken erprobt sich auf sol-chen Wegen, die sich entsprechend auch als Irr-oder Holzwege erweisen können. Aus diesemGrund ist es im Vorhinein unklar, welcher Naturdas Denken sein wird, welches uns dorthin gelan-gen läßt; ob etwa ein philosophisches, dichtendesoder vielleicht ein ganz eigentümliches ...?Man kann erzürnt darüber sein, das sowohl Stir-ner als auch Heidegger es einem schwer machen,obwohl sie gewußt haben, daß der normale Leserin dem Text wie in seinem Leben nur die bestäti-gende Richtigkeit seines Standpunktes erblickenkann oder will. Wie wäre es denn hingegen, denbeiden es einfach gleich zu tun und sich in eige-nen Leseweisen zu versuchen ?

IIIHeidegger’s Anlaß seiner Auseinandersetzungmit Sich und der Welt ist die Abarbeitung an einerzunächst philosophischen Frage, nämlich dernach dem Sein. Als solche bleibt sie eine meta-physische, denn sie ist in ihrer historischen Fas-sung der Versuch, das Sein vom Seienden her zudenken, wobei es allerdings selbst als eine ArtSeiendes höchster Instanz vorgestellt wird, ausder sich als letzter Grund alles Seiende erklärenlassen soll. Die Ursache hierfür liegt darin, dasSein und Seiendes ständig verwechselt werdenund das, obwohl sich gerade im Dasein (Wir: Ichund Du) die ontologische Differenz entfaltet, inwelcher sich das Sein als das Nicht des Seiendenzu verstehen gibt. Aber das Nichts wird in derabendländischen Geschichte des Denkens meistnoch stiefmütterlicher als das Sein behandelt, wo-bei beides (Sein und Nichts) eigentlich das Selbemeint. In einer so objektiv verstandenen Welt mußden Menschen als Teil einer ontisch-theologi-schen Hierarchie ihr Platz erst gerechtfertigt wer-den - sie könnte ja auch ganz gut ohne uns aus-kommen. Das Recht, in seinem Namen Herrscherüber alles Seiende zu sein, wurde uns ursprüng-lich von höchster Stelle verliehen. Weil nun Alles,das Ganze der Welt, uns vom Herrn als einSpielplatz für unsere Machenschaften überlassen

Lars Kung18

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wurde, standen wir in seiner Schuld. Wir habenuns auch herzlich bei ihm dafür bedankt, indemwir ihn umgebracht haben (s. Nietzsche), dennwir können auch selbst und ohne Aufsicht denPlaneten herunterwirtschaften. Doch mit seinemVerschwinden hat sich auch das Sein aufgemacht,vom herrschenden Denken sich abzuwenden. DerMensch sollte allein auf sich stehen. In der Wüstewird einem jedoch schnell langweilig, deshalbschiebt man mal eben alle anderen Fragen beiSeite, um einer viel drückenderen den Raum zulassen, nämlich: Wie machen wir’s, daß die mei-sten Menschen den größten Spaß haben (denn al-lein so wäre es human ...)?Was hat all dieser Spuk aber mit Mir zu tun ? BinIch „die meisten Menschen“, bin Ich jedermann?Oder wird hier nicht unter dem Deckmantel derGlobalisierung eine groß angelegte Gleichmache-rei betrieben? Alles Fremde soll getilgt werden,bis Ich so öde und leer geworden bin, wie die Wü-sten, die wir hinterlassen; bis kein Ich dem Dumehr gegenübertreten kann, denn wir alle sind „...gleiche Personen, d.h. Nullen.“5 Wenn wir aberschon von Gott und dem Sein verlassen sein sol-len, dann bleibt Mir eben nichts anderes übrig, alsMeine Sache auf Nichts zu stellen. So bin Ich mirwenigstens selbst mein Sein. Stirner hatte übri-gens darin bereits Erfahrung.Seiendes ist als solches offenbar, weil es immerschon von Mir überstiegen6 ist. Dieser Überstiegist das Aufbrechen der ontologischen Differenz,durch die Ich in Meiner Welt bin, denn das Über-stiegene (Seiendes) wird mir eigen, mit anderenWorten - mein Eigentum. Aber nicht nur das, sobin Ich auch bei Mir selbst, weil damit erst ent-schieden ist, welches Seiende Ich bin. Ich über-steige Alles auf Mich selbst zu, darum bin Ich „...das schöpferische Nichts, das Nichts, aus wel-chem Ich selbst als Schöpfer alles schaffe.“7 „Ichbin Schöpfer und Geschöpf in einem.“8 Dasmacht aber nichts. Weil Ich als Einziger allesüberschreite (inklusive Mich selbst), kann Mirnichts über Mich gehen. „Aber so setztest DuDich doch voraus? Ja, aber nicht Mir, sondernmeinem Denken. Vor meinem Denken bin - Ich.Denn die Vorraussetzung, welche Ich für meinDenken bin ... ist das gesetzte Denken selbst, istder Eigner des Denkens“9 In dieser Meiner Exi-stenz liegt Meine Freiheit, die Freiheit Mein eig-ner Grund zu sein, d.h. frei, um Mich zu binden.Ich bin in-der-Welt immer schon so oder so, aufdiese oder jene Art; mannigfaltig die Weisen, wieIch mich unter Seienden verhalten, wie Ich es ver-zehren, wie Ich mich genießen kann. Keiner dia-

lektischen oder psychologischen Zergliederunggeht dabei auf, wie Ich als schöpferisches Nichtsund Grund Meiner zugleich, in Meinem Daseineigentlich ab-gründig bin. Hierbei ist Bewegungim Spiel. Das Einzige, was nicht in Meiner Machtliegt ist, daß sich Meine endliche Freiheit zeitigt.Damit läßt sich jedoch leben. Ich kann ja auchnichts dafür, daß ich geboren, daß Ich mit An-deren unter Seiendes geworfen bin. Doch Ich binder Gründer einer eignen Welt, in der Ich die Zu-dringlichkeit der Dinge zu Gunsten MeinesSelbstgenusses auflöse ...

IVStirner und Heidegger ist gemeinsam, das sienicht selten als solipsistische Prediger kritisiertwerden, da sie mit Moral nichts am Hut habenwollen. Der Solipsismus ist aus Unverständnisleider viel zu schnell verworfen worden, weil ernicht mit dem ethisch beschränktem Denken desspießbürgerlichen Verstandes erfaßbar ist. Sei erhier auch noch mal beiseite gelassen und wendenwir uns dem Thema Moral/Ethik zu. Ethiken fan-gen da an, wo man glaubt fragen zu müssen, wieman handeln soll. Ganz selbstverständlich stehtman bei dieser Fragestellung in der Theorie, manräsoniert, und hat damit das Problem, wie manzum dem ganz Anderen kommt - der Praxis. Wiealso setzt man das, was man sich ausgedacht hat,verbindlich im Leben um? Oft weiß „man“ abernicht weiter, denn die Konsequenzen eines jedenVollzugs muß hinterher nicht das Man tragen,sondern Ich oder Du. Der Einzelne ist hin und hergerissen. Moralische Forderungen müssen, sofernsie allgemein verbindlich sein sollen, auch allge-meiner, also theoretischer Natur sein. Das Ich da-mit nichts anzufangen weiß, wundert nicht, dennIch - der stets schon so oder so Handelnde - binnichts Theoretisches. Wie kann man denn auf dieIdee kommen, das Ich in irgend einem Momentdes Lebens Meinem Wie verlustigt ginge? Fak-tisch Da zu sein ist immer irgendwie. Es müßtealso schon spuken: Ich könnte nur als eigentlichNicht-existierender wirklich vor so einer Fragestehen - aber da versagt’s ja einem schon dieSprache ...Ehrlich gesagt, liegt der Haken der Sache wiederbeim Umgang mit dem Text. Das ProblemTheorie-Praxis kann nur in der Subjekt-Objekttrennenden Vorstellung einer Welt bestehen. Vonder haben die Texte Stirner und Heidegger abernichts gesagt. Die Schwierigkeit liegt beim Leserselbst, denn was ist denn sein Umgang mit demText, was ist denn Umgang anderes als praxis10?

Unterwegs mit Max Heidegger und Martin Stirner 19

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Es könnte also sein, das der Lesende noch nichtrealisiert hat, das er als Lesender, der mit demText umgeht, längst schon mittendrin ist. Weil ersich das Gesagte des Textes nur rein theoretischvorstellt, sperrt er sich gegen den Text, der ihn mitsich zieht. Das Lesen selbst ist dabei schon voll-gültige Handlung. So wie Wir werden was wirsind, aufgrund von dem womit Wir umgehen undwie Wir dies tun, ist jeder Umgang, also das ganzeLeben, permanente Verwandlung Meiner selbst;das Leben wäre nicht mehr Leben, wenn es auchnur eine Sekunde still stände. Deshalb ist manauch, was (und wie) man liest. Nach Stirner’sVerdauungs-Ontologie könnte man aber auchsagen: Man ißt, wenn man liest, nämlich wenn derUmgang mit dem Text bewußt Verzehr von demist, was Ich lese, d.h. als Möglichkeit meinem Wiezugeführt11 wird. Der Textvollzug bietet bei ent-sprechender Leseweise stets die Möglichkeit alsLesender eigentlich zu sein. Ich finde darin mehrHalt als in gesellschaftlich (� allgemein) ver-pflichteten Moralnormen. Verschiedene Textartenmögen tendenziell mehr oder wenig Anreiz oderHerausforderung dazu bieten, sich mit ihnen alssolche denkend einzulassen. Texte, denen mansich beispielsweise bereit ist auf poetische Weisezu öffnen, sind wohl besser geeignet als Mikro-wellen-Anleitungen oder Ikea-Kataloge. Der poe-tische Umgang ist ein schöpferischer, und sofernein Denken in seiner Natur ein dichtendes ist,kann in ihm Meine Welt zur Sprache kommen.„Ich singe, weil - Ich ein Sänger bin.“12 Dochnicht nur darum, sondern weil Ich was zu sagenhabe. Aber vielleicht bescheidet Stirner sich ja,denn er mag von mehr singen, als er selbst zumeinen gedacht hat :

„Ich singe, wie der Vogel singt,Der in den Zweigen wohnet:Das Lied, das aus der Kehle dringt,Ist Lohn, der reichlich lohnet.“13

Heidegger wäre entzückt von dem, was aus demLied alles spricht, denn „Der Dichter macht dieErfahrung mit einem Walten, mit einer Würde desWortes, wie sie weiter und höher nicht gedachtwerden können.“14 Da sitzt also das Singvögel-chen (Stirner) auf den Zweigen des Baumes derMetaphysik und pfeift sich eins, auch auf uns undden ganzen Baum, wohl weil er nur zu gut um denBoden weiß, auf dem dieser steht. Nichts destotrotz läßt sich dort oben ganz gut wohnen, denndort ist das gemäße Haus für den, der schon in derWahrheit (Unverborgenheit) Seines Seins steht.

Und sprachlich wohnt Er, der durch sein Lied insein Eigenstes gelangt. Welcher Lohn könnteschon größer sein? „Lohn“, !LÎG›ÔªÇI heißt imgriechischen auch „genießen“15. „...indem IchMich vernehmen lasse und so Mich selbst verneh-me, genießen Andere sowohl als Ich selber Mich,und verzehren Mich zugleich.“16 Ich bringe meinSein zur Sprache, so daß nicht nur Ich in MeinemEigensten verweile, sondern jeglichem Seiendenvon Mir lichtend seine Anwesenheit geschenktwird. Das geht natürlich über den Horizont desMenschen, der nur begreift, wovon er Begriffehat. In seinem alltäglichen Meinen und Kommu-nizieren, kurz, seinem Gerede, ist er nur Knechteiner vernutzten Sprache. Das merkt man schondaran, daß er nicht weiß, wann man den Mundhalten sollte, denn „Wovon man nicht sprechenkann, darüber muß man schweigen“17 hat Witt-genstein schon bemerkt. Wie unendlich reicher istdoch da der, für den das Schweigen zu seinemWortschatz gehört. „Um schweigen zu können,muß das Dasein etwas zu sagen haben, das heißtüber eine eigentliche und reiche Erschlossenheitseiner selbst verfügen. Dann macht Verschwie-genheit offenbar und schlägt das ,Gerede‘ nie-der.“18 So ist es denn nur mittels des Schweigensmöglich, der Stille zu entsprechen - und genau dapassiert es (oder vielmehr: Ich)! Das Geläut derStille ist mein Er-eignis. „Beobachte Dich einmaljetzt eben bei deinem Nachdenken, und Du wirstfinden, wie Du nur dadurch weiter kommst, daßDu jeden Augenblick gedanken- und sprachloswirst.“19 Das Ereignis ist jene Macht, durch dieIch Eigner sein kann. Aus diesem Grund ist jedesWort zu arm für Mich, denn nur durch Mein Er-eignis ist alles Zeigen überhaupt erst möglich.„Das Ereignis ist das Unscheinbarste des Un-scheinbaren, das Einfachste des Einfachen, dasNächste des Nahen und das Fernste des Fernen,darin wir Sterblichen uns zeitlebens aufhalten.“20

Schweigen kann aber jeder nur selbst, nämlichdann, wenn Er sich nicht mehr suchen muß, son-dern bei Sich ist und von Sich ausgeht.

VWenn der Text dem Leser verschlossen bleibt,weil er sich gegen diesen sperrt, dann mag diesauch daran liegen, daß er vergeblich auf die Ent-schlüsselung von Heidegger’s oder Stirner’s jeeigenen Leseweisen wartet. Aber nirgends verra-ten sie’s, wie man’s denn nun tatsächlich macht:„sich verzehren, genießen“, „Einziger sein“ oder„besinnlich Denken“, „Gelassenheit zu den Din-gen“, usw. Keine konkreten Beispiele, höchstens

Lars Kung20

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wage Andeutungen, wie man bereit dafür wird,oder barsche Einwürfe, die sagen wie’s nicht geht.Immer noch will der Leser nicht von dem ihmeingebleuten Text-Verhalten ablassen, noch stehter nicht deutlich genug vor der einzigen Frage,vor die ihn der Text wirklich bringen kann: Wie er(der Leser) es denn selbst zu machen hat, odernoch gründlicher: daß am Ende Alles darauf hin-aus läuft, wie man sich anstellt. „... niemals kannder Weg des einen einfach der Weg des anderensein, sind doch die Ausgangsorte verschieden. Istaber die Herkunft eine andere, muß auch die Zu-kunft eine andere sein, da diese die eigens ergrif-fene Herkunft ist.“21 Von hier aus sind auch dieDifferenzen zwischen Heidegger und Stirner zusehen, denn sie sind Leser unterschiedlicher Orteund Zeiten.Stirner schätzt das Denken gering, weil das Den-ken in seiner Zeit als das Vernünftige (ratio) gilt;ein freies Denken (Raserei), was auf dem Weg derModerne ist und sich zu Heidegger’s Lebzeitenzum entfesselten technischen Berechnen gewan-delt hat, welches alles Seiende in seiner Anwesen-heit als Bestand feststellt und verfügbar macht.Stirner denkt gegen das Denken Hegels, für dendas Sein neben dem Nichts nur ein dialektischerPol im Werden ist. So kann auch Stirner nichtsmit dem Sein als Begriff anfangen, denn in Sei-nem Denken kann sich nichts zum Begriff verfe-stigen. Deswegen ist aber nicht jegliches Denkenzu verwerfen. „Von diesem freien Denken totalverschieden ist das eigene Denken, mein Denken,ein Denken, welches nicht Mich leitet, sondernvon Mir geleitet, fortgeführt oder abgebrochenwird ...“22 Das freie Denken will den Menschenherstellen, dessen Modell, weil von dort abstam-mend, der Bürger ist. Es ist damit ein Denken,was durch den Rahmen einer gesellschaftlich-institutionalisierten Hierarchie beschränkt bleibtund nicht den Einzelnen in seiner eigenen Le-bensverfassung angehört. Es wird vom Einzelnengedacht, aber denkt nicht den Einzelnen in seinerEinzigkeit. Auf diese Weise läßt sich nur derMensch denken und zwar nur so, daß er wie allesSeiende als Vorhandenes vorgestellt wird. Ironi-scher Weise bedarf es dann schon eines Humanis-mus, um den Menschen überhaupt von anderemSeienden wesentlich und verbindlich zu unter-scheiden. Dies geschieht, indem der Menschdurch ein „Plus an vernünftigen Fähigkeiten“ de-finiert wird, die ihn vor die Möglichkeit stellt,„freiwillig“ ein Sittlicher zu sein. Dieser Katalogsittlicher Eigenschaften, der auch wissenschaft-lich bereichert sein kann, ist verbindlich für jeden,

der nicht als Un-mensch aus der Gesellschaft aus-geschlossen werden will. Für die EigenheitenEinzelner ist man nicht nur blind, sie können fürein Hierarchie-Denken, das bloß Gleiches be-greift, ja oder nein, nur als unmenschlich (egoi-stisch) erscheinen. „Gleicheres kann es für dieMenschen nicht geben, als den Menschen selbst,und in dieser Gemeinschaft hat der Liebesdrangseine Befriedigung gefunden: er rastet nicht, biser diese letzte Ausgleichung herbeigeführt, alleUngleichheit geebnet, den Menschen dem Men-schen an die Brust gelegt hatte. Gerade unter die-ser Gemeinschaft aber wird der Verfall und dasZerfallen am schreiensten ... Jetzt hingegen stehtder Mensch gegen die Menschen, oder, da die Men-schen nicht der Mensch sind, so steht der Menschgegen den Unmenschen.“23 Das ist der Menschanonymer Massengesellschaften, der unfähig ge-worden ist, mit Sich und Anderen umzugehen,weil er den Bezug zu Seinem Dasein vergessenhat, ja sogar von ihm nichts wissen will, da ersonst unausweichlich mit dem Versagen eigent-lich selbst zu sein konfrontiert wird. Nur wennIch mir aber in meiner Einzigkeit erschlossen bin,geht Mir der Sinn Meiner endlichen Existenz auf.Dazu ist ein besinnliches Denken nötig, das Michvor Meine Möglichkeiten bringt, wie Ich Michund Andere, als die Anderen die Sie sind, gebrau-chen kann. „Nur wenn Ihr einzig seid, könnt Ihrals das, was Ihr seid, miteinander verkehren.“24

Unser Lebensgenuß, das Sich-auflösen in Unse-rem schöpferischen Nichts ist grundverschiedenvon der Preisgabe Unserer Einzigartikeit an denProduktionsprozess rationalisierter Konsumge-sellschaften. In denen soll eine unmöglicheSelbst-Inszenierung über die klaffende Leere desIdentitätsverlustes hinwegtäuschen, „Sei wie wir -aber anders“. Gekonnt wird dabei die Unzuläng-lichkeit des konsumunfähigen Menschen sugge-riert, weil er nicht selbstgefällig die Symbole ei-ner Personen von öffentlichem Interesse an sichtragen kann. Zwanghaft eilt man schließlich aufinfantilste Weise dem rein technischen Funktio-nieren zu gehorchen - bloß nicht die Showschmeißen und den allgemeinen Betrieb stören.Statt dessen: mitmachen, „transparent“ sein, dieneuesten Gadgets kaufen und dämlich grinsen.Ein Schrecken wäre es, würde man aus der Rollefallen, funktionslos in der Wüste geparkt werden.Aber eben das müßte wohl passieren, dann würdesich das Lassen von jenen Machenschaften ganzvon selbst einstellen und die Einsicht ginge viel-leicht auf : „Ein Mensch ist zu nichts ,berufen‘und hat ,keine Aufgabe‘, keine ,Bestimmung‘, so

Unterwegs mit Max Heidegger und Martin Stirner 21

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wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen ,Be-ruf‘ hat.“25 Ich bin nur als wirklicher Mensch, alsEinziger, also wenn Ich kein Ideal bin oder nach-trachte. Hier und jetzt bin Ich anwesend, leibhaf-tig als ganzer Kerl. „Wohl an, die Menschen sind,wie sie sein sollen, sein können ... Man kannnichts, was man nicht tut, wie man nichts tut, wasman nicht kann.“26 Als solcher habe Ich einen an-deren Halt gefunden, der Mich fern davon hält,ein Sklave des technischen Besorgens zu werden.Es heißt, „Das Einfache verwahrt das Rätsel desBleibenden und des Großen“27, so stelle Ich michdenn auf Mich, den Lesenden, der Sich auf dassammelt, was das ein-fachste ist : „Das Göttlicheist Gottes Sache, das Menschliche Sache ,desMenschen‘. Meine Sache ist weder das Göttlichenoch das Menschliche, ... sondern allein das Mei-nige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist -einzig, wie Ich einzig bin.“28

VIUnd was kommt also am Ende heraus? Wiedernichts, an das man sich halten könnte; nur dieEinsicht in die Situation des einzig wirklichenMenschen, dem Einzigen. Wenn es auch trostloserscheinen mag, so ist es doch wenigstens dieGewähr dafür, Sich überhaupt entscheiden zukönnen. Wie auch immer, an dieser Stelle sollte jedenfallsnicht über Richtiges oder Falsches bei Stirneroder Heidegger entschieden, auch nicht ihre Ge-meinsamkeiten oder Unterschiede oder ihre Be-deutung für die Philosophiegeschichte ermessenwerden. Sie sprechen hier ineinander, sind verwo-

ben zu einem Anderen, als sie selbst. Dieses An-dere ist keine Philosophie, sondern eine Lesewei-se, die dem Sinn im Geflecht des Ganzen Wegeabringt; Strategien und Weisen zum weiterkom-men. Texte lassen sich nur im eigenen Vollzugernst nehmen, das bedeutet mit ihnen unterwegszu sein. Wie man dabei mit Gegensätzen klarkommt, hängt vom jeweiligen Umgang ab; jenach dem, auf welche Weise man gewillt ist, siezu lesen. In diesem Sinne hatte z.B. auch Marx ei-nen Bezug zu Stirner, auch wenn dieser aus einerAntipathie entwachsen sein sollte. In seiner Lese-weise war er ihm genug fruchtbarer Anstoß zumeigenen Denken. Sich vernehmbar zu ma-chenbirgt immer die Gefahr auch „falsch“ (anders)oder gar nicht verstanden werden zu können. Mansollte daher aus einem Text nicht mehr machenals er ist - nämlich ein Text. Das Primäre in die-sem Verhältnis ist nicht, das sie in riesigen Biblio-theken bewahrt werden, im Altpapier verschwin-den, im digitalen Papierkorb landen oder sonstwiezerredet werden. Ihren Sinn und Nutzen erhaltensie nur im eigentlichen Lesen, das nur dem Lebendes einzigen Lesers verpflichtet ist.

„Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was oh-ne unser Wissen einst schon unser Wesen in den Anspruchgenommen hat, mögen wir dabei ihm entsprechen oderversagen.“

- Martin Heidegger -

Lars Kung

01 Text : aus lat. textus ‚Gewebe, Geflecht‘, einer Bildung zu lat. textere (textum) ‚weben, flechten, zusammenfügendverfertigen, bauen, errichten‘; ebd. S. 142802 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 33103 Unterwegs zur Sprache, Stuttgart (2001), S. 19704 siehe Sein und Zeit, Tübingen (2001), S. 2105 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 12906 trânscendere (übergehen ?)07 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 508 ebd., S. 167 - 09 ebd., S. 39510 Heidegger’s deutsche Übersetzung der griech. LM@ÌÇÑ lautet ‚Umgang‘11 einverleiben: ‚zu einem Ganzen verbinden, in etw. aufgehen lassen, eingliedern‘; Etymologisches Wörterbuch desDeutschen, München (2000), S. 78312 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 331 - 13 ebd.14 Unterwegs zur Sprache, Stuttgart (2001), S. 16915 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München (2000), S. 8016 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 38817 Tractatus logico-philosophicus [u.a.], Frankfurt a.M. (1999), S. 8518 Sein und Zeit, Tübingen (2001), S. 16519 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 38920 Unterwegs zur Sprache, Stuttgart (2001), S. 25921 Der Denkweg Martin Heideggers, Stuttgart (1994), S. 1122 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 38123 ebd., S. 152 - 24 ebd., S. 148 - 25 ebd., S. 366 - 26 ebd., S. 369

Lars Kung22

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27 Der Feldweg, Frankfurt a.M. (1995), S. 1728 Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart (1981), S. 5

*M A X - S T I R N E R - A R C H I V

Stirner in der Ursprungsgeschichte LebensphilosophieDie philosophische Interpretation von Stirners istendgültig in das Stadium getreten, in dem es nichtals literarische Kuriosität angestaunt oder verlä-stert, sondern in dem geistesgeschichtlicher Not-wendigkeit seine Stelle innerhalb der geistesge-schichtlichen Entwicklung aufgezeigt werdenkann. L. Klages, die Anthroposophie und die Exi-stenzphilosophie haben, ein jeder unter seinemGesichtswinkel, diese Würdigung eingeleitet.Wissenschaftsgeschichtlich bedeutete Stirner einbesonderes Problem. Von jeher war seine Lehreden krassesten Mißverständnissen ausgesetzt, sodaß der Zugang zu ihr über die Geschichte ihrerKritik zu führen scheint. Diese weite Möglichkeitder Deutungen ist aber in Stirners Werk selbst an-gelegt, ja, der Autor leistet ihr bewußt Vorschub.Um sich in dem Labyrinth systemloser Gedan-kengänge zurechtzufinden und zum eigentlichenKern vorzudringen, gilt es vor allem jene Fassadedes subjektivistischen Titanismus zu durchstoßen,an die sich vulgäre Auffassungen zu halten pfle-gen. Ferner darf gerade Stirners Werk nichtgleichsam als Offenbarung eines ewigen Orga-nons der Philosophie hingenommen, sondern mußauf seine bestimmte geschichtliche Leistung be-fragt werden. Immer steht Stirner in einer kämp-ferischen Ausfallstellung gegen zeitgeschichtli-che Kräfte. Sie diktiert ihm die Haltung und dieMittel. Jeder Begriff Stirners ist so in hervorra-gendem Maße historisch geladen. Abgelöst vonseinem geschichtlichen Gegenbegriff muß er zumTrugbild werden.Diese oppositionelle Bezogenheit des Stirner-schen Denkens läßt zunächst das Negative überdas Positive überwiegen, macht die philosophi-sche Tätigkeit zu einer „destruktiven oder verzeh-renden und vernichtenden“ (E 881). Wie fürNietzsche bedeutet jedoch für Stirner ein solcher„Nihilismus“, weit entfernt vom bloßen Zerredender Dinge, die notwendige Durchgangsphase zueiner neuen Wertsetzung.Ist das Verfahren des Autors im „Einzigen undseinem Eigentum“ auch im Ganzen bewußt (E 45)unsystematisch und unmethodisch, so wird dochdurch die eben aufgezeigten Bedingungen einegewisse Grundtendenz sichtbar, die den Blicküber alle Abschweifungen und Einlagen hinaus in

die Richtung einer streng durchgehaltenen Inten-tion zwingt. Ihren unmittelbaren literarischenAusdruck findet diese Tendenz in der Haltung derIronie (E 480). Die Funktion der Ironie bei Stirnerist eine doppelte. Sie hat erstens (negativ unddirekt) bestimmte geistige Wirklichkeiten wider-zuspiegeln und sie in dieser Re-flexion - einerbloßen „Virtuosität des Denkens“ (KS 360) - ihrernichtigen Scheinhaftigkeit, d. h. ihrer Ohnmachtals erstarrter, vom „Leben“ abgelöster Produktezu überführen. Sie hat zweitens (positiv und indi-rekt) auf den überlegenen schöpferischen Ur-sprungsgrund hinzuweisen, der jene geistigen Ge-bilde aus sich hervortreibt und wieder in sich zu-rückzunehmen vermag: auf den eignenden „Ein-zigen“. In ihren Mitteln rational, intendiert sie einIrratioales.Damit rühren wir an das Grundproblem von Stir-ners Philosophie. Es ist in erster Linie ein ethi-sches. Wie der ganze Nachhegelianismus stehtStirner in Opposition zu den metaphysischen Vor-aussetzungen des idealistischen Universalismus,der das Sein des Einzelmenschen in einer ideen-haft statuierten Welttotalität gründen läßt, in derWirklichkeit und Vernunft identisch sind. Stirnerwie der Troß der Junghegelianer, wie Kierkegaardund Nietzsche sodann, gehen insgesamt von derbesonderen, bestimmtesten Situation dieses ein-zelnen Menschen aus, ihre Philosophie drängt zurPraxis, sie rückt die Mächte des „Lebens“, der Po-litik, der Gesellschaft usw. in den Mittelpunkt derphilosophischen Kritik. Diese gibt den idealisti-schen Totalitätsbegriff preis zugunsten der Ein-zelanalyse menschlichen Seins in seiner konkre-ten Befindlichkeit. So tritt auch für Stirner derPrimat des Ethischen, dessen Sphäre ja das Ver-hältnis des Menschen zur Umwelt und zum Mit-menschen zum Gegenstand hat, an die Stelle desPrimats des Theoretischen in der idealistischenSystemphilosophie.Stirners Kampf auf ethischem Gebiet gilt jederWertsetzung, die geistige Normen und menschli-che Verhältnisse in der Weise fixiert, daß demhandelnden menschlichen Individuum die Lastder sittlichen Entscheidung abgenommen undihm die Direktive des Handelns durch eine kano-nisch starre Hierarchie der Werte geliefert wird.

Stirner in der Ursprungsgeschichte Lebensphilosophie 23

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Unter den synonymen Stichworten „Spuk“,„Sparren“, „Gespenst“, „fixe Idee“, „Besessen-heit“, „Stabilität“, „Hierarchie“, „Feudalität“ be-kämpft Stirner jene geistigen Wesenheiten undsittlichen Wertordnungen, die sich als Produktedes menschlichen Willens verselbständigt habenund diesen ihrerseits nun unter ein heteronomesGebot beugen, seine ursprüngliche Produktivitätertöten, den „Fluß“, die „Auflösung“, die „Bewe-gung“ des Lebensprozesses hemmen. Stirner ver-tritt gegenüber der statischen Stufenordnung tra-dierter Bildungswerte einen dynamischen Volun-tarismus. Es geht ihm dabei um die ethische Alter-native: Kollektivwerte - oder Individualwert. DiePointe seiner Beweisführung liegt jedoch nicht ineiner Kritik der Kollektivwerte als solcher, son-dern in der Herausstellung des individuellen Voll-zugs sittlicher Entscheidung. Dieser hat eine selb-ständige personale Welt zur Voraussetzung. Ur-sprungsquell alles Handelns ist der spontane Ent-schluß eines individuellen Willens. Nach allemwill Stirners „Einziger“ nicht als atomistisch iso-lierte Größe, sondern als lebendige Einheit gefaßtsein, die eine dialektische Spannung in sich birgt:die Dialektik von „Schöpfer“ und „Geschöpf“.Sie besteht, in Stirners Sprache ausgedrückt, dar-in, daß der der „Einzige“ zugleich „Eigner“ ist,d.h. daß er als Schöpfer zu seinem jeweiligen Wil-lensausdruck (einer Idee, einer Handlung usw.) ineinem Verhältnis steht, das er kraft absoluten Ve-tos jederzeit aufkündigen oder neu bestätigenkann. Seine „Ausschließlichkeit“ ist nicht Iso-liertheit, Vereinzelung, Vereinsamung, sondernAusschließung dessen, was keine lebendige Be-ziehung zu seinem schöpferischen Willen, kein„Interesse“ hat. Diese personalistische Ethik zieltab auf die unmittelbare Kommunikation einzel-menschlicher Seinsmächtigkeiten (Stirners „Ver-ein“) und stempelt jede Wertvorstellung, die sichals normative Vermittlungsinstanz störend in denfreien „Verkehr“ der Individualitäten zwischen-schaltet zur lebensfeindlichen Ideologie. StirnersIdeologiebegriff ist wie derjenige Nietzsches dieGegenposition zu einem irrationalistischen Wil-lensbegriff.Stirners Irrationalismus in das Ergebnis einer ein-gehenden Auseinandersetzung mit den zeitge-schichtlichen Grundkräften des vormärzlichenDeutschland. Aus dem Lager des Junghegelianis-mus hervorgegangen, gelangt Stirner schließlichzu einer eigentümlichen philosophischen Positi-on, die ihn in scharfen Gegensatz zum rationali-stischen Fortschrittsethos der liberalen Hegelia-ner stellt, die aber zugleich als letztes Auflö-

sungsstadium der idealistischen Philosophie nochdie Kontinuität der Entwicklung wahrt. DiesenSachverhalt vermag eine genaue Problemanalysean Hand von Stirners Werk, wie ich sie in meinerdemnächst erscheinenden Arbeit „Die Philoso-phie Max Stirners im Gegensatz zum HegelschenIdealismus zu geben suche, sicherzustellen. Diegrundsätzliche Taktik, die Stirner in dieser umfas-senden Kontroverse einschlägt, besteht in derReduktion der von ihm bekämpften zeitlichenGegenkräfte auf ein einheitliches Prinzip, das siesämtlich, Idealismus, Liberalismus, Humanismus,Sozialismus, Kommunismus usw. als Derivateeiner supranaturalistischen Metaphysik, als „letz-te Metamorphosen des christlichen Prinzips“kennzeichnet. Damit vollzieht Stirner, mit dersel-ben Entschlossenheit wie Nietzsche, die Wen-dung zur radikalen Immanenz.Inwieweit Stirners Polemik im einzelnen sachlichstichhaltig ist, mag hier dahingestellt bleiben. Vonzentraler Bedeutung aber ist ihr originaler Ansatz,die eigentümliche Intention des StirnerschenDenkens, die es in ihrer elementaren Einfachheithinter allen historisch-oppositionell bedingtenÜberspitzungen und affektiven Übersteigerungenfreizulegen gilt. Daß Stirner in seiner Front gegendie überkommene Metaphysik des Idealismusund seiner Nachfahren (Feuerbach, Br. Bauerusw.) eine eigene, neue Metaphysik verfolgt, stehtaußer Frage. Sie hat im Gegensatz zu dieser nichtdie absolute Idee einer Totalität von Geist undWirklichkeit noch die allgemeine Idee des „Men-schen überhaupt“ oder des reinen „Selbstbewußt-seins“ zur Voraussetzung, vielmehr ein schlecht-hin Bestimmungsloses, das sich nicht rationalexpliziert, sondern realiter auftritt als „Ich -selbst“ in der konkreten personalen Begegnung.„Erst dann, wenn Nichts von Dir ausgesagt undDu nur genannt wirst, wirst Du anerkannt als Du“(KS 348). Dieses „Verstummen“ und Sprachlos-werden macht den eigentümlich institutionalisti-schen Charakter der Stirnerschen Philosophie aus:ihr Umschlagen in „Nichtphilosophie“. Sie be-dient sich der Sprache nicht als begrifflicher„Vermittlung“, als Form systematischer Rationa-lisierung, sondern schränkt sie ein auf die bloßezeigende Leistung des „Namens“. So ist der „Ein-zige“, das letzte metaphysische Residuum dieserPhilosophie, zugleich ein „Nichts“ (E 310, 491u.a.), - „die aufrichtige, unleugbare, offenbare -Phrase“ (KS 347). Stirners „Einziger“ besagt be-grifflich nichts anderes als die Tautologie: „Dubist Du.“ Er läßt jenige Aussage sein, welche indie Meinung umschlägt: eine Aussage, die keine

Kurt Adolf Mautz24

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mehr ist, eine verstummende, stumme Aussage. ...Im Einzigen kann die Wissenschaft als Leben auf-gehen, in dem ihr Das zum Der und Der wird, dersich darin nicht mehr im Worte, im Logos, imPrädikate sucht“ (KS 349 f.). In immer neuen Ab-läufen, Glanzstellen seines Werkes, sucht Stirnerdieses Abdanken des Geistes und der Sprache vorder Macht des „Lebendigen“ zu formulieren,sucht er die Versenkung des „Lebendigen“ in sichselber als positive „Gedankenlosigkeit“ deutlichzu machen: „Beobachte Dich einmal jetzt ebenbei deinem Nachdenken, und Du wirst finden, wieDu nur dadurch weiter kommst, daß Du jedenAugenblick gedanken- und sprachlos wirst. Dubist nicht etwa bloß im Schlafe, sondern selbst imtiefsten Nachdenken gedanken- und sprachlos, jadann gerade am meisten. Und nur durch dieseGedankenlosigkeit, diese verkannte „Gedanken-

freiheit“ oder Freiheit vom Gedanken bist Dudein eigen“ (E 463). Der ursprüngliche actus (vgl.Ausdrücke wie „Schöpfungsact“ E 465 u. a.), derin solchen Formulierungen gemeint ist, bezeich-net mit dem Phänomen der Verstummung undSprachlosigkeit die eigentliche „lebensphiloso-phische“ Ausrichtung des Stirnerschen Denkens,den radikalen Rekurs nämlich auf den Punkt (Ich= Nichts) der „Existenz“. Sie wird beschworen,aber ihr Bild bleibt eine unentzifferbare mythi-sche Hieroglyphe: „Was Stirner sagt, ist ein Wort,ein Gedanke, ein Begriff; was er meint, ist keinWort, kein Gedanke, kein Begriff. Was er sagt, istnicht das Gemeinte, und was er meint, ist unsag-bar. (KS 345).

Kurt Adolf Mautz

Quelle: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt. 3. Jg., Nr. 16. Berlin und Leipzig, 20. August 1936, S. 1/2.

„Geschichte“ und „Existenz“Die Frage, wie steht das „Sein“ zur „Zeit“, selbstvon Heidegger noch nicht bis zur immer dring-licher werdenden Frage, wie steht das „Sein“ inund zur „Geschichte“, vorgetrieben, wird durchdiese Einzeluntersuchung1 in entscheidendenPunkten verschärft und aktualisiert. Über diesachlichen Grundergebnisse hinaus, die Stirnersfrühe und seither viel zu wenig beachtete Rolle inder „Ursprungsgeschichte der modernen Lebens-und Existenzphilosophie“ eindringlich entwickelnund philosophiegeschichtlich sicherstellen2),führt die Arbeit ansatzweise zu dem Begriff einergeschichtlichen Existenzialität, der in manchemüber seither Gewonnenes hinausführen kann:Indem Mautz im einzelnen nachzeichnet, wie sichStirners antiidealistischer, irrationa1er Lebens-und Existenzbegriff gerade als Umschlag höch-ster Rationalität des Hegelschen Denkens konse-quent über Feuerbach, Bruno Bauer und von Stir-ner weiter zu Nietzsche, Kierkegaard usw. vollzo-gen hat, liefert er nicht nur eine „Geschichte“ die-ses Begriffs, sondern stellt auch die Frage, wie-weit hier Geschichte in Sein und Sein in Ge-schichte eingedrungen sind. „Sein“ erscheint ihm

als plötzliche, unableitbare Manifestation des„originären, zeitlichen Ursprungsgrundes desGeschichtlichen“ (S. 21), wodurch sich umge-kehrt das Geschichtliche aus dem bloß „formel-haft“ Überlieferten, aus der bloß ableitbaren Kon-tinuität rettet und sich seiend behauptet im Sturzder Zeit. Geschichte bricht im Sein aus demSchein seiner Relativität heraus (Überwindungdes Historismus durch die Lebensphilosophie),um im „Abbruch der geschichtlichen Entwick-lung“ den „Anbruch eines vorgeschichtlichen“ (S.21) elementaren Seins zu ergreifen. Als Umschlagder Geschichte aber ist das Sein historisch „gela-den“ gerade dort, wo es sich als „natürlich“,„ewig“, „ursprünglich“ gibt. Es entlarvt sichphilosophisch im Ausdruck. Im Ausdruck „zeigt“(S. 62) sich das Sein, obgleich es gerade in ihmsich dem Zugriff des Denkens und der Zeit zu ent-ziehen trachtet: das Stilproblem Stirners, Nietz-sches, Kierkegaards usw. Hier, im Ausdruckspro-blem der Lebens- und Existenzphilosophie, hätteMautz schärfer einsetzen können. Er tat es in eini-gen lapidaren Sätzen und in einem zu kurzenSchlußkapitel. Zudem stand er zunächst vor der

„Geschichte“ und „Existenz“ 25

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Es könnte uns nun immer noch entgegengehaltenwerden, daß es doch Menschen gäbe, die ganzund gar „auf sich selbst“ stünden, die also keines„weiteren Grundes“ bedürften, da sie sich schonselbst Grund genug seien. Abgesehen von derontologischen Unmöglichkeit der Rede von ei-nem rein auf sich selbst gestellten, partikularenoder singularen, Sein1, läßt sich aber auch anthro-pologisch die Unmöglichkeit eines Selbstseins,das nicht Sein-zum-Grunde wäre, nachweisen.Besteht doch Selbstsein gerade darin und in nichtsanderem, daß „der Mensch“ die Einigung seinespartikalaren oder „singularen“ Seins mit demSeinsgrund irgendwie vollzieht oder zum minde-stens anstrebt. Zur Widerlegung obigen Einwan-des wählen wir wieder ein Beispiel, und zwargleich den extremsten in der Literatur niederge-legten „Fall“ systematischer Bestreitung einesSeins zum Grunde und ebenso systematischerVerteidigung einer reinen Selbstbehauptung ausdem rein singularen Sein, den „Fall“ Stirner2.Es ist durchaus kein unbedeutender Gegner, denwir hier wählen: ein sehr gewandter Stilist undDialektiker, ein leidenschaftlicher Revolutionärund Kämpfer, aber im Gewande eines Diktators,ein geistiger Nihilist3, aber mit den Waffen desGeistes, ein Bekämpfer aller ethischen Traditionund Erziehung, aber von starkem erzieherischemPathos, ein Einziger, aber mit einer Stimme, diesich an Alle wendet und von Allen gehört seinwill. Womit er uns aber von vornherein denKampf leicht macht, das ist das primitive ontolo-gische Gerüst, auf dem er steht, der Gegensatznämlich von Exemplar (Einzigem) und Gattung,ein Gegensatz, der schon kaum mehr ontologi-

scher, sondern in erster Linie logischer Proveni-enz ist. Aber immerhin, dieser Gegensatz wird lei-denschaftlich von unserem Autor gelebt, ähnlichwie von Schopenhauer, aber mit umgekehrterFront. Hier überlegene Parteinahme für die Gat-tung, bei Stirner eifernde Inthronisierung des in-dividuellen Exemplars. Hat man sich einmal in je-nen begrifflichen Gegensatz verstrickt, so wird ei-ne Lösung anthropologischer Fragen unmöglich.An ihre Stelle treten dogmatische und begrifflichePrämissen und eristische Verfechtung derselben.„Der Mensch in der letzte böse Geist oder Spuk,der täuschendste oder vertrauteste, der schlauesteLügner mit ehrlicher Miene, der Vater der Lügen“(a.a.O. 215).„... der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht

Uns, sondern - dem Menschen. Wie mögt Ihrglauben, daß der Gottmensch gestorben sei, ehean ihm außer dem Gott auch der Mensch gestor-ben ist?“ (a.a.O. 187).„Allein, was dem Gott genommen wurde, ist demMenschen zugesetzt worden, und die Macht derHumanität vergrößerte sich in eben dem Grade,als die der Frömmigkeit an Gewicht verlor: ,derMensch‘ ist der heutige Gott, und Menschen-furcht an die Stelle der alten Gottesfurcht getreten.Weil aber der Mensch nur ein anderes höchstesWesen vorstellt, ist in der Tat am höchsten Wesennichts als eine Metamorphose vor sich gegangenund die Menschenfurcht bloß eine veränderte Ge-stalt der Gottesfurcht“ (a.a.O. 216).„Man glaubt nicht mehr sein zu können, alsMensch. Vielmehr kann man nicht weniger sein!“(a.a.O. 158).„Der Mensch“ - im Gegensatz gerade zu Feuer-

Existenz und Pseudoexistenz. Stirners Konstruktion des Einzigen

gegensätzlichen Forderung, die „Fassade“ derstirnerschen Sprache durchzustoßen und zum „ei-gentlichen“ Kern seiner Ideen vorzudringen. Die-se Forderung war unabdinglich bei den seitheri-gen Mißverständnissen, denen Stirner gerade aufGrund seines Stils ausgesetzt war. Ihre Erfüllungdurch Mautz bedeutet einen erheblichen Schrittweiter sowohl für die Stirnerforschung wie für dieKenntnis des „Ursprungs“ der heutigen Lebens-und Existenzphilosophie. Eine aktuelle Auseinan-

dersetzung mit dieser Philosophie wird die vorlie-gende Problematik von Sein und Geschichte er-neut aufrollen müssen, wie sich jede kritischeAuseinandersetzung mit ihr an dem m. E. für diegesamte Lebens- und Existenzphilosophie ent-scheidenden Ausdrucksproblem - einschließlichHeideggers, einschließlich auch etwa Klages’ un-mittelbaren, antirationalen graphologischen Aus-drucksanalysen - entzünden wird.

Wilhelm Emrich

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1 Kurt Adolf Mautz. Die Philosophie Max Stirners im Gegensatz zum Hegelschen Idealismus. Neue Deutsche Forschun-gen. Abt. Philosophie, Band 101, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1936.2 S. a. die erschöpfende Zusammenfassung des Verfassers in Geistige Arbeite, 3. Jg. Nr. 16, die den wesentlichen Aufbaudes Buches oft wörtlich wiedergibt.Quelle: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt. 4. Jg., Nr. 2. Berlin/Leipzig, 20. Jan. 1937, S. 11/12.

Wilhelm Emmrich / Ludwig Binswanger26

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bach, den Stirner zum Ausgangspunkt seiner Po-lemik macht4 -, „der Mensch“, das ist nun aber fürStirner die Gattung, als Gegensatz zum vergäng-lichen, einzelnen Ich“.„Nicht der Einzelne ist der Mensch, sondern einGedanke, ein Ideal ist der Mensch, zu dem derEinzelne sich nicht einmal so verhält, wie dasKind zum Mann; sondern wie ein Kreidepunkt zudem gedachten Punkt; oder wie ein - endlichesGeschöpf zum ewigen Schöpfer, oder nach neue-rer Ansicht, wie das Exemplar zur Gattung“(a.a.O. 387).„Allein die Gattung ist nichts und wenn der Ein-zelne sich über die Schranken seiner Individua-lität erhebt so ist dies vielmehr gerade Er selbstals Einzelner, er ist nur indem er sich erhebt, er istnur, indem er nicht bleibt, was er ist; sonst wäre erfertig, tot. Der Mensch in nur ein Ideal, die Gat-tung nur ein Gedachtes. Ein Mensch sein, heißtnicht das Ideal des Menschen erfüllen sondernsich, den Einzelnen, darstellen. Nicht, wie Ich dasallgemein Menschliche realisiere4, braucht meineAufgabe zu sein, sondern wie Ich Mir selbst ge-nüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, oh-ne Gesetz, ohne Muster und drgl. Möglich, daßIch aus Mir sehr wenig machen kann; dies Wenigeist aber Alles und ist besser, als was Ich aus Mirmachen lasse durch die Gewalt Anderer, durch dieDressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, desStaates usw. Besser - wenn einmal von Besser dieRede sein soll - besser ein ungezogenes, als einaltkluges Kind, besser ein widerwilliger als ein zuAllem williger Mensch. Der Ungezogene und Wi-derwillige befindet sich noch auf dem Wege, nachseinem eigenen Willen sich zu bilden; der Alt-kluge und Willige wird durch die ,Gattung‘, dieallgemeinen Anforderungen usw. bestimmt, sie istihm Gesetz. Er wird dadurch bestimmt: denn, wasist ihm die Gattung anders, als seine ,Bestim-mung‘, sein ,Beruf‘? Ob Ich auf die ‚Menschheit‘,die Gattung, blicke, um diesem Ideal nachzustre-ben, oder auf Gott und Christus mit gleichemStreben: wie wäre darin eine wesentliche Ver-schiedenheit? Höchstens ist jenes verwachsener,als dieses. Wie der Einzelne die ganze Natur, soist er auch die ganze Gattung“ (a.a.O. 213 f.).Hier haben wir bereits den ganzen Stirner vor unsund hören wir auch, wie er am Schlusse sichselbst überschreit. Gattung, soviel sehen wir je-denfalls, bedeutet hier nicht nur, wie bei Scho-penhauer und in der Naturwissenschaft, den bio-logischen Gegensatz zum Einzelnen oder Ich,sondern vor allem den ideologischen im christ-lichen und humanistischen Sinne.

Zu dem Gegensatzpaar: einzelnes Exemplar undGattung tritt nun bei Stirner der Gegensatz: Kon-kretheit (Leibhaftigkeit5) und Abstraktion (Ge-dachtes, Idee, Begriff). Der Mensch, die Gattung,der Geist6, die Bildung, die Religion, der Staatusw., all das sind Abstraktionen oder Ideen. Dazutritt aber auch das Sein:„Feuerbach pocht in den ,Grundsätzen der Philo-sophie der Zukunft‘ immer auf das Sein. Darinbleibt auch er, bei aller Gegnerschaft gegen Hegelund die absolute Philosophie, in der Abstraktionstecken; denn ,das Sein‘ ist Abstraktion, wieselbst ,das Ich‘. Nur Ich bin nicht Abstraktion al-lein, Ich bin Alles in Allem, folglich selbst Ab-straktion oder Nichts. Ich bin Alles und Nichts;Ich bin kein bloßer Gedanke, aber Ich bin zu-gleich voller Gedanken, eine Gedankenwelt. He-gel verurteilt das Eigene, das Meinige, die - ,Mei-nung‘. Das ,absolute Denken‘ ist dasjenige Den-ken, welches vergißt, daß es mein Denken ist, daßIch denke und daß es nur durch Mich ist. Als Ichaber verschlinge Ich das Meinige wieder, bin Herrdesselben, es ist nur meine Meinung, die ich in je-dem Augenblick ändern, d.h. vernichten, in Michzurücknehmen und aufzehren kann. Feuerbachwill Hegels ,absolutes Denken‘ durch das unüber-wundene Sein schlagen. Das Sein ist aber in Mirso gut überwunden als das Denken. Es ist meinSein, wie jenes mein Denken“ (a.a.O. 397f.).Wir wollen mit unserm Autor nicht rechten, wenner - den Wesenszusammenhang von Sein, Wahr-heit und Grund (von Transzendenz) nicht ken-nend - glaubt, dem „Sein“ beikommen zu könnenmit der populär-logischen Alternative abstrakt -konkret. Hingegen erhebt es ihn hoch über dieSchulpsychologie, daß er „das Ich“ - als bloßenBegriff - und Ich bin in schärfsten Gegensatzstellt. Soll nun aber über Ich bin, das hier docheinzige Voraussetzung und einziges Ziel (vgl.178, 410) ist, etwas ausgesagt werden, so müssenwir uns einerseits mit dem Ausdruck „leibhaftig“begnügen, sehen uns anderseits aber zu unsermgrößten Erstaunen an eine Dialektik erinnert, dieunseren Autor in die nächste Nähe der „transra-tionalen“ Dialektik von der coincidentia opposi-torum bringt, nicht zwar im Sinne eines Heraklitoder Hegel, wohl aber im Sinne eines Nicolausvon Cues (und neuerdings eines Simon Frank):ich bin Alles und Nichts, Abstraktion oder Nichts,Alles in Allem7. Hier wird also ganz im Sinne je-ner Lehre über den Gegensatz zwischen dem „So-wohl-als-Auch“ und dem „Entweder-Oder“ kühnhinausgegangen, die Einheit beider Gegensätze inder Totalität gesehen und mit Recht erkannt, daß

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diese Totalität nicht gedacht, sondern nur gelebtwerden kann. Der ontologische und logische„Sprung“, der hier gemacht wird, besteht nun aberdarin, daß anstatt des Ausdrucks Sein, der alleinfür diese transrationale gelebte „Realität“ in Fra-ge kommt, Ich bin gesetzt, also nicht gesehenwird, daß, wo wir ins Transrationale abgleiten,auch von einem einzelnen leibhaftigen Ich-binkeine Rede mehr sein kann, sondern nur von einer„konkreten Allgemeinheit“, die, wenn wir ihr dasIch bin beilegen, nichts anderes sein kann als -Gott. Nur Gott allein kann von sich sagen: Ich bin- der ich bin. Und wie es von dieser transrationa-len oder metalogischen (Simon Frank) AlleinheitGottes mit Recht heißt: „Namen nennen dichnicht“, so sagt Stirner von der Alleinheit seines„göttlichen“ Ich: „An Mir, dem Unnennbaren,zersplittert das Reich der Gedanken, des Denkensund des Geistes“8. So können wir, wie Stirnerüber Feuerbach, auch über Stirner hinausgehen,erklärend, daß er zwar nicht mehr „den Men-schen“, wohl aber „den Einzelnen“ - nicht, wie erselber meint, nur mit Gott verglichen, sondern -zum Gott gemacht hat. Jetzt ist nicht mehr, wie eres Feuerbach vorwirft (71, 170), homo hominiDeus, sondern der Einzelne ist sich selber Deus.Auch da, wo Stirner schließlich über den „letztenund entschiedensten“ Gegensatz, den des Einzi-gen gegen den Einzigen, reflektiert, fällt er wiederin die Dialektik des coincidentia oppositorum:„Der letzte und entschiedenste Gegensatz, der desEinzigen gegen den Einzigen, ist im Grunde überdas, was Gegensatz heißt, hinaus, ohne aber in die,Einheit‘ und Einigkeit zurückgesunken zu sein.Du hast als Einziger nichts Gemeinsames mehrmit dem Andern und darum auch nichts Trennen-des oder Feindliches; Du suchst nicht gegen ihnvor einem Dritten Recht und stehst mit ihm wederauf dem ‚Rechtsboden‘ noch sonst einem gemein-schaftlichen Boden. Der Gegensatz verschwindetin der vollkommenen - Geschiedenheit oder Ein-zigkeit. Diese könnte zwar für das neue Gemein-same oder eine neue Gleichheit angesehen wer-den, allein die Gleichheit besteht hier eben in derUngleichheit und ist selbst nichts als Ungleich-heit; eine gleiche Ungleichheit, und zwar nur fürdenjenigen, der eine ,Vergleichung‘ anstellt“(a.a.O. 243).Auch was Stirner hier vom Einzigen sagt, kann,folgerichtig zu Ende gedacht, nur gelten vom Seinder Totalität oder des Absoluten, von Gott.Wir sehen schon hier, daß Ich-bin zwar forsch zurersten und letzten Voraussetzung des Selbstseinsdekretiert9, aber nicht als solche aufgewiesen wer-

den kann, es sei denn, man mache es zum Gott.Schon dieses Scheitern eines ontologischen Be-weises für die Möglichkeit eines lediglich auf sichselbst gestellten Einzigen zeigt, daß selbst daskühnste Pochen auf die Seinsautonomie des Ein-zelnen die These nicht zu erschüttern vermag, daßSelbstsein nur möglich ist als „Sein zum Grunde“,das heißt immer, als Sein zu einem das Selbstseinerst gründenden und begründenden Sein. Ja, den-ken wir Stirners These zu Ende, so beweist siegerade das Gegenteil von dem, was sie beweisenwill, nämlich gerade das, was wir behaupten.Wenden wir uns nun aber von der ontologischenKritik zur anthropologischen, zur Frage nämlich,wie der Einzelne seiner Ichhinheit, wenn man sosagen darf, inne wird und sie im Leben verwirk-licht.Die Ichbinheit bedeutet bei Stirner nicht, wie beiden „Idealisten“ Freiheit10, auch nicht, wie beiNietzsche, Wille zur Macht, sondern Eigenheit,Eigentum, Eigenmächtigkeit (im populären Wort-sinne), Genuß und Verbrauch (der Andern sowohlals meiner selbst), vor Recht gehende Gewalt11.Ohne uns auf eine Kontroverse über den ethi-schen Gehalt dieses Programms einzulassen, dieuns vom anthropologischen Ziel unserer Untersu-chung entfernen würde, wollen wir lediglich zu-sehen, wie dieses „Ideal“ sich verwirklichen läßt,und ob diese Verwirklichung tatsächlich möglichist aus eigener Machtvollkommenheit, das heißt,ohne sich zu stützen auf einen andern Grund alsjeweilig auf „sichselbst“.Auch Stirner weiß und betont, daß „die Isoliert-heit oder das Alleinsein“ nicht „der ursprünglicheZustand des Menschen ist“; diesen nennt er aber„die Gesellschaft“, der er dann wieder den Ver-kehr oder Verein, als ein unauflösliches Sich-Ver-einigen, gegenüberstellt (a.a.O. 358).„Es ist ein Unterschied, ob durch eine Gesell-schaft meine Freiheit oder meine Eigenheit be-schränkt wird. Ist nur jenes der Fall, so ist sie eineVereinigung, ein Übereinkommen, ein Verein;droht aber der Eigenheit Untergang, so ist sie eineMacht für sich, eine Macht über Mir, ein von MirUnerreichbares, das Ich zwar anstaunen, anbeten,verehren, respektieren, aber nicht bewältigen undverzehren kann, und zwar deshalb nicht kann,weil Ich resigniere“ (a.a.O. 359 f.).Dem gegenüber bin ich also nur = bin ich nur mireigen, insofern ich „bewältigen und verzehrenkann“. Es handelt sich hier also um das, was Hegelin der Phänomenologie des Geistes und schon frü-her die Begierde nennt, um die durchaus bewegli-che unterste Stufe des „Selbstbewußtseins“ also.

Ludwig Binswanger28

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„Ich will an Dir nichts anerkennen oder respektie-ren, weder den Eigentümer, noch den Lump, nochauch nur den Menschen, sondern Dich verbrau-chen“ (a.a.O. 164).Dasselbe wie von Dir gilt aber von Mir: „daß Ichmich verzehre, heißt nur, daß Ich bin“ (178).Stirner erschüttert hier auch wieder folgerichtigdie Voraussetzung, daß er sich voraussetze:„Ich zehre gerade an meiner Voraussetzung alleinund bin nur, indem Ich sie verzehre. Dartun aberist jene Voraussetzung gar keine; denn da Ich derEinzige bin, so weiß ich nichts von der Zweiheiteines voraussetzenden und vorausgesetzten Ich’s(eines ‚unvollkommenen‘ und ‚vollkommenen‘Ich’s oder Menschen), sondern, daß Ich Mich ver-zehre, heißt nur, daß Ich bin. Ich setze Mich nichtvoraus, weil Ich Mich jeden Augenblick über-haupt erst setze oder schaffe, und nur dadurch Ichbin, daß Ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetztbin, und wiederum nur in dem Moment gesetzt,wo Ich Mich setze, d. h. Ich bin Schöpfer und Ge-schöpf in Einem“ (a.a.O. 178).Stirner sieht nicht oder will nicht sehen, daß erhier zwei Ichbegriffe miteinander vermengt, diegar nicht vermengt werden können, nämlich dendes setzenden oder unmittelbaren Ich, und den desgesetzten, des gegenständlichen Ich oder der Ich-oder Eigenwelt, wie wir sagen. Daß Er Schöpferund Geschöpf in Einem ist, ist wieder eine leereBehauptung, insofern der Begriff eines bloßen set-zenden Ich immer schon über den des „subjekti-ven“ oder einzelnen Ich hinausgeht und in den destranszendentalen Ich mündet, in welchem immerauch schon der der Welt mitgesetzt ist! Übrigenshaben wir hier das Ichvorurteil jeglicher „Aufklä-rung“ vor uns. Wir finden es nicht nur in der grie-chischen, sondern auch in der römischen Aufklär-ung, so z. B. wenn Petronius, gegen die Auffas-sung eifernd, daß die Träume von den Göttern kä-men, erklärt: sed sibi quisque facit (Anth. lat. 651R), „sondern ein jeder macht sie (die Träume) sichselber“. (Das Selbst des Selbstmachens, wie desSelbstschöpfens bleibt hier wie sonst in den „Auf-klärungs“-epochen gänzlich ungeklärt).Ferner aber zeigt Stirner hier ja nur den Momentder Ichsetzung. Ich, und so auch Stirner, müßtejeden „Moment“ ein anderer oder neuer Einzigersein und könnte niemals eine Person als Inbegriffder inneren Lebensgeschichte sein, wenn Ich nurjeweils in dem einzigen Moment wäre, wo Ichmich setzte. Daß von einem „Selbst“ bei Stirnergar nicht gesprochen werden kann, geht schon ausdem völligen Mangel einer Zeitigung des Bin her-vor.

Insofern die Seinsform Ich-bin (die ja immer lau-ten müßte: Ich bin in der Welt), ein je momenta-nes vereinzeltes Sich- und die Andern-Verzehrensein soll, müssen Ich und die Andern „mein Ei-gentum“, müssen Ich und sie soweit als möglich,d. h. soweit ich mich „mit freiem Mute“12 dazuberechtige, „in meiner Gewalt sein“13. Uns inter-essiert hier nur die „Gewalt“ über Mich, das Zu-sich(selbst)-kommen.Schon dieser Ausdruck zeigt, daß es bei den mo-mentanen Ichsetzungen nicht sein Bewenden ha-ben kann; denn das Sich, zu dem einer kommensoll und will, muß doch zum mindesten ein selbi-ges und in seiner Selbigkeit verharrendes Zielsein, ansonst Ich nie wirklich zu Mir gelangen,sondern ständig in die Irre gehen müßte. Zu mirkomme ich, nach Stirner, wie wir wissen, aufrein negativem Wege, nämlich dann, wenn wirNichts über oder außer uns anerkennen:„So sah Ich denn mein Ich immer über und außerMir und konnte niemals wirklich zu Mir kom-men.“„Ich glaubte nie an Mich, glaubte nie an meineGegenwart und sah Mich nur in der Zukunft. DerKnabe glaubt, er werde erst ein rechtes Ich, einrechter Kerl sein, wenn er ein Mann geworden;der Mann denkt, erst jenseits werde er etwasRechtes sein“14.Zu-mir-kommen ist identisch mit Mein-Eigen-tum-sein15.„Erst dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und Michnicht mehr suche, bin Ich wahrhaft mein Eigen-tum: Ich habe Mich, darum brauche und genießeIch Mich. Dagegen kann ich Meiner nimmermehrfroh werden, so lange Ich denke, mein wahres Ichhätte Ich erst noch zu finden, und es müsse dahinkommen, daß nicht Ich, sondern Christus in Mirlebe oder irgend ein anderes geistiges, d. h. ge-spenstisches Ich, z. B. der wahre Mensch, das We-sen des Menschen und drgl.“ (a.a.O. 375).Ziel und Zweck des Zusich-kommens ist alsonicht „das Leben“, sondern das Seiner-froh-wer-den, das „Sich-aus-leben“ (428), der „Selbstge-nuß“ oder „Lebensgenuß“.„Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’sverbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, in-dem man’s verbrennt. Man nutzt das Leben undmithin sich, den Lebendigen, indem man es undsich verzehrt. Lebensgenuß ist Verbrauch des Le-bens“ (375).Das Zu-sich(selbst)-kommen im Sinne des genie-ßerischen Selbst- und Fremdbesitzes ist das Zielder Entwicklung Meiner, der Sinn des Einzigen16:„Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen,

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sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Dahersind auch meine Bedürfnisse, meine Taten, kurzAlles an Mir ist einzig. Und nur als dieses einzigeIch nehme Ich Mir Alles zu eigen, wie Ich nur alsdieses Mich betätige und entwickle. Nicht alsMensch und nicht den Menschen entwickle Ich,sondern als Ich entwickle Ich - Mich“ (a.a.O. 423).Als Ziel und Sinn der Entwicklung „spaltet sich“auch sein Ich-bin noch „in zwei Hälften“ (wieStirner selbst einmal vom „Menschen“ sagt), inden momentanen, sich ziellos setzenden Einzel-nen und den „zielstrebig“ sich zu seinem eigenenSelbst, ja Gott „entwickelnden“ Einzigen.Soweit man bei Stirner also überhaupt von einemSelbstsein sprechen kann, ist auch es ein zumGrunde, um nichts weniger zum Grunde, als die-ser Grund bestimmt wird als - schöpferischesNichts. Soll dieser Ausdruck kein bloßes Wort,kein flatus vocis sein, so endigt auch diese Auf-klärung im transrationalen, damit aber um so„realeren“ - Geheimnis. Hier sehen wir Stirner,wenn auch in einem ontologischen Kurzschlußund entgegen dem vermeintlichen Sinn seinerganzen Lehre, da endigen, wo Jakob Böhme be-ginnt, bei der immanenten Zeugung des Seins ausdem schöpferischen Nichts:„Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin esdann, wenn Ich Mich als Einzigen weiß. Im Einzi-gen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferischesNichts zurück, aus welchem er geboren wird“(a.a.O. 429).Das Kriterium also, daß ich an das „Ziel meinerEntwicklung“ gekommen bin, im StirnerschenSinne allererst Bin, ist die Eigenheit. Dabei stehenwir aber vor der Paradoxie, daß „etwas“ mir nurinsofern zu eigen ist und daß ich es, wie auchmich selbst, erst wirklich besitze, als ich es jeder-zeit zu zerstören oder wegzuwerfen willig undimstande bin:„Eigen ist Mir der Gedanke erst, wenn Ich ihnjeden Augenblick in Todesgefahr zu bringen keinBedenken trage, wenn Ich seinen Verlust nicht aheinen Verlust für Mich, einen Verlust Meiner, zufürchten habe. Mein eigen ist der Gedanke erstdann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Michunterjochen kann, nie Mich fanatisiert, zumWerkzeug seiner Realisation macht“ (a.a.O. 401).So richtig auch der erste Satz dieses Passus’ ist, sowird der Sinn desselben doch gleich wieder imzweiten überspitzt, indem die Bezogenheit vonGedanken und Ich, Ich und Gedanken, nur in denExtremen der Unterjochung oder der Abschütte-lung des Jochs gesehen wird. Frei bin ich dem-nach nur, wenn ich mich an nichts binde außer an

michselbst; aber ichselbst verflüchtige mich dabeiwieder nur in eine bloße „Form“ ohne „Materie“,in die „Form“ der Eigenheit. Diese Form ist hierder Grund, zu dem ich zu kommen strebe, ist hierdas Sein zum Grunde, die höchst labile, von Mo-ment zu Moment wechselnde Wahrheit meinesSeins; denn das ist wiederum das Kriterium derWahrheit der Eigenheit: daß ich alles, was ich tue,mit freiem Mute tue, und daß ich in allem, was ichtue, meiner froh werde.Freiheit bedeutet hier einmal Freiheit von gesell-schaftlichem und traditionellem Zwang undDruck, individuelle Unabhängigkeit, aber keines-wegs sittliche Freiheit, von deren befreienderMacht Stirner ebensowenig etwas wissen willwie Freud: „So lange auch nur Eine Institution noch besteht,welche der Einzelne nicht auflösen darf, ist dieEigenheit und Selbstangehörigkeit Meiner nochsehr fern. Wie kann ich z. B. frei sein, wenn Icheidlich an eine Konstitution, eine Charte, ein Ge-setz Mich binden, meinem Volke ,Leib und Seeleverschwören‘ muß? Wie kann ich eigen sein,wenn meine Fähigkeiten sich nur so weit entwik-keln dürfen, als sie die ,Harmonie der Gesell-schaft nicht stören‘.Der Untergang der Völker und der Menschheitwird Mich zum Aufgange einladen“ (a.a.O. 252).So könnte nur Luzifer sprechen. Aus diesem luzi-ferischen Prinzip ergibt sich nun auch das Maßmeiner Eigenheit:„Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergeben-heit bezeichnet den Standpunkt meiner Dienstbar-keit, der Grad meiner Versündigung zeigt dasMaß meiner Eigenheit“ (a.a.O. 391).Aber auch dieses Maß wird wieder destruiert,nämlich in ein bloß geträumtes, illusionäres ver-wandelt:„Ich aber sage Dir, Du hast niemals einen Sündergesehen, Du hast ihn nur - geträumt“ (a.a.O. 422).Der Nihilismus hebt sich hier selber auf.Das zweite - hedonistische - Kriterium der Eigen-heit, der Selbstgenuß im Sinne des Seiner-froh-werdens, ist mit dem ersten, der Freiheit, wesens-mäßig verknüpft; denn genießen kann ich michselbst nur, insofern ich freien Mutes, unabhängig,niemandem und nichts, auch nicht mir selbst,dienstbar bin. Anders als bei Freud, bei dem dasLustprinzip aus dem Begriff des psychischen Ap-parates und der naturwissenschaftlichen Kon-struktion des homo natura entspringt17, entspringtdas Lustprinzip hier rein aus der Idee eines „abso-luten“ Individualismus. Und während bei Freuddie Lust dadurch garantiert ist, daß der psychische

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1 vgl. hiezu so verschiedenartige Denker wie Hegel oder Simon Frank (La Connaissance et l’Etre) und Häberlin(Naturphilosophische Betrachtungen I). 2 Der Einzige und sein Eigentum. Ich zitiere nach der 2. Aufl. (Reclam). Zum Verständnis der historischen Position Stir-ners im Kampf gegen das Christentum vgl. Löwith, Die philosophische Kritik der christlichen Religion im 19. Jahrhun-dert. Sonderdruck der Theol. Rundschau, 5. Jahrg. 1933, 166 bis 172. 3 Vgl. das Schlußwort: „Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.“ 4 Stirner mag hier an Schleiermacher, Humboldt oder Goethe gedacht haben. 5 Ich sage: „Du bist zwar mehr als Jude, mehr als Christ usw., aber Du bist auch mehr als Mensch. Das sind alles Ideen,

Du aber bist leibhaftig“ (150). „Der fromme Wunsch der Alten war die Heiligkeit, der fromme Wunsch der Neuen ist dieLeibhaftigkeit.“ „Der unwirkliche ,Weise‘, dieser leiblose ‚Heilige‘, der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein ‚leibli-cher Heiliger‘ in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche ,Mensch‘, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leib-haftigen Ich, in Mir“ (424 f.). 6 Trotzdem lesen wir gleich eingangs zu unserem größten Erstaunen den Satz: „Auf Geist kommt zwar alles an“ (21),

eine höchst merkwürdige Parallele zu dem gleichlautenden Ausspruch eines anderen scheinbaren Geistesleugners:Freuds! Vgl. L. Binswanger, Freud und die Verfassung der klinischen Psychiatrie. Schweiz. Archiv f. Psych. u. Neur.,1935, XXXVI, 177: „Ja, Geist in alles.“ 7 Stirner wirft diesen - seinen tiefsten - Gedanken hier (398) aber nur so hin, um gleich darauf wieder gegenüber

Feuerbachs und Hegels „Absolutismus“ lediglich seinen reinen „Subjektivismus“ zu dekretieren. 8 A. a. O. 175. - Auf der letzten Seite seines Werkes spricht Stirner selbst diese Identifizierung von Gott und Sichselbst

naiv aus: „Man sagt von Gott: ‚Namen nennen Dich nicht‘. Das gilt von Mir: kein Begriff drückt mich aus, nichts, wasman als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen undhabe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir“. 9 Wir sehen hier ganz davon ab, daß „in Wirklichkeit“ nicht Ich-bin Voraussetzung der Selbstheit, sondern nur umge-

kehrt, die Selbstheit Voraussetzung des Ichseins sein kann, und zwar nicht ohne „gleichzeitige“ Bezogenheit auf dasDasein. Vgl. den bereits (p. 130) zitierten Passus bei Heidegger, Vom Wesen des Grundes, a. a. O. 97. 10 „Freiheit des Geistes in Knechtschaft Meiner, weil Ich mehr bin als Geist oder Fleisch“ (189). 11 Daß die Erfahrung aller dieser „Eigenheiten“, wie von Eigenheit, Eigentum, Eigenmächtigkeit überhaupt, nur gemachtwerden kann in Mitsein von Einem und dem Andern, also in einer überindividuellen Seinsform, haben wir bereits betont. 12 „Ich bin nur zu dem nicht berechtigt, was ich nicht mit freiem Mute tue, d.h. wozu Ich Mich nicht berechtige. Ich ent-scheide, ob es in Mir des Rechte ist; außer Mir gibt es kein Recht. Ist es Mir recht, so ist es recht“ (221 f.) 13 „Was ist also mein Eigentum? Nichts als was in meiner Gewalt ist! Zu welchem Eigentum bin ich berechtigt? Zujedem, zu welchem Ich Mich - ermächtige. Das Eigentumsrecht gebe Ich Mir, indem Ich Mir Eigentum nehme, oder Mirdie Macht des Eigentümers, die Vollmacht, die Ermächtigung gebe“ (299). 14 A. a. O. 261. Wir sehen auch hier, daß, sofern bei Stirner überhaupt von Zeitigung eines Selbst gesprochen werdenkann, die Zukunft, als Zeitform des Strebens und des gedachten Zieles, notwendigerweise „ausgeschaltet“ werden muß. 15 Auch als mein Eigentum muß ich mich doch als ein Selbiges Durchhaltendes - und nicht jeweils Momentanes - besitzen!16 Dabei wird vergessen, daß von Entwicklung und Sinn in einer derartigen Lehre garnicht gesprochen werden kann.Beides widerspricht dem Nihilismus, dem Stellen seiner Sach’ auf Nichts, der Negation von Selbstigung (eigentlicherZeitigung) und von Geist oder Idee. 17 L. Binswanger, Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie. A. a. O.Quelle: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. (Max Niehmann) Zürich 1942

Apparat frei und ungestört funktioniert, ist dieLust hier dadurch garantiert, daß ich mich alsIndividuum, als Einziger, fühle. Das Kriteriumder Eigenheit ist hier ein subjektives Gefühl, einepure Befindlichkeit oder Gestimmtheit. Der indieser Gestimmtheit zutage tretende Weltentwurfist der des idios Kosmos des Heraklit, der Weltals je eigener. Aber auch dieser Kosmos wird idi-os, eigener, nur in der Weise der Abwendung von,ja der Gegnerschaft zu dem koinós Kosmos, dergemeinsamen Welt. Seine Idee, sein Pathos, seineDialektik werden geboren, leben und nähren sich

vom koinós Kosmos. Der „Untergang“ des letzte-ren bedeutet daher nicht die ,,Einladung zumAufgang“ des Einzelnen, sondern seinen eigenenUntergang. Hat doch schon Plato gezeigt (vgl.das Ende des 1. Buches des Staates (351 A-352D), daß der absolute Einzige, als der absolut Böseund „Ungerechte“, überhaupt nichts mehr auszu-richten (LM›OOªÇI) imstande ist, also allermenschlichen „Praxis“ verlustig geht.

Ludwig Binswanger

*Max Stirner und Existenz

Die Gestalt Max Stirners, des bedeutenden Philo-sophen und Schöpfers des im Jahre 1845 erschie-nenen Werks „Der Einzige und sein Eigentum“,

ist von nicht nachlassender Faszination. Sie istbesonders seit Nietzsche und seinen Entdeckun-gen auf dem Felde des „Ich“ und der perspektivi-

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Quelle: Die freie Welt. 1. Jg., Heft 1. Wittlaer, April 1949, S. 25.

stischen Bezogenheit alles Seins auf das „Ich“immer intensiver geworden. Sie kannten sichnicht, Stirner und Nietzsche - welcher Gewinnwäre für uns ihre Begegnung gewesen bei beiderFähigkeit, die Dinge mit „rasanter Kraft zu Endezu denken (Friedell) - und doch ist es eigentlicherst Nietzsche gewesen, der Stirner für uns „frei-gelegt“ hat. Hier denkt man auch an die ungeheu-re Fruchtbarkeit, die eine Begegnung zwischenStirner und Kierkegaard gehabt haben könnte.Man denke nur an Kierkegaards Wort: „Man fra-ge mich nach allem, nur nicht nach Gründen! Ei-nem jungen Mädchen verzeiht man, wenn es kei-ne Gründe anzugeben hat: sie sagt, sie habe keine,sie lebe in Gefühlen. Anders ich. Ich habe meistso viele sich oft widersprechende Gründe, daß ichaus diesem Grund keine Gründe angeben kann!“Ein Satz, der geradezu ein Weideplatz für StirnersAnarchismus und Lust am Paradox gewesen wä-re! - und Schlußfolgerungen gleich seinen ande-ren, die ihn immer wieder in sein „Ich“ als „ein-ziges Eigentum“ warfen.Als 1845 das mit ungeheuren geistigen Sprengla-dungen angefüllte Werk Max Stirners erschien, hieltman es für so harmlos, daß man von einer Be-schlagnahme absah. Es erschien den Philistern voneinst ebenso „zu absurd“, um gefährlich zu sein, wieihnen heute umgekehrt das „Absurde“ als das„Gefährliche“ schlechthin offenbar geworden ist.Der erste, der - nach Egon Friedell - wieder aufMax Stirner hingewiesen hatte, war der NachfahrArthur Schopenhauers, der Philosoph Eduard vonHartmann. Er urteilte, daß das Werk Stirners „instilistischer Hinsicht hinter Nietzsches Schriftennicht zurücksteht, an philosophischem Gehaltaber sie turmhoch überragt“.Mit der Heraufkunft der Philosophie unserer Ta-ge, des modernen Existentialismus (der Philoso-phie des „Scheiterns“, der ,,Existenznot“, der„Angst und Verzweiflung“) ist Max Stirner inhohem Grade aktuell geworden.Untersucht man genauer den Existentialismusetwa Jean Paul Sartrescher Prägung, so kommtman zu der überraschenden Feststellung, daß Vie-les, was Sartre lehrt, keineswegs neu ist, sondernlängst schon von Stirner und seinem „Solipsis-mus“ vorgebracht wurde. Schon in Stirners „DerEinzige und sein Eigentum“ ist der Zusammen-bruch der „Ideologien“ und „Weltanschauungen“,der sich beute in wahrhaft üppiger Plastik bekun-det, vorweg genommen.

Es ist müßig, darüber zu streiten, ob Stirner mitseiner Formel „Ich hab mein Sach auf Nichts ge-stellt“ zu den Nihilisten zu rechnen ist. Er ist keinNihilist, trotz seiner Äußerung, daß seine Sacheweder das Göttliche noch das Menschliche, son-dern das Seinige sei. Der Vorwurf seines Nihilis-mus ist schon mit dem Hinweis darauf widerlegt,daß für ihn das „Individuum“ existiert, zwar als„Einziges“, dem aber alles Andere „Eigentum“ist. In großartiger Paradoxie kommt dieser konse-quenteste Egoist zu einer Art spirituellem Altruis-mus, indem er im Hinblick auf die Teilnahme undTeilhabe am Andern sagt: „Unzählige Genüssekann Ich ihm mit Freuden opfern, Unzähligeskann Ich mir zur Erhöhung seiner Lust versagen,und was mir ohne ihn das Teuerste wäre, das kannIch für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben,meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht jameine Lust und mein Glück aus.“Einen außerordentlich interessanten Aspekt aufMax Stirner eröffnet Egon Friedell in seiner„Kulturgeschichte der Neuzeit“ (Band 3, Bieder-stein-Verlag), indem er auf Stellen im Werk MaxStirners hinweist, die einen „sublimen Spiritualis-mus“ bekunden und ihn „fast in die Nähe desmagischen Idealismus rücken, den Novalis ver-kündet hat“. Es sind folgende Stellen, die beson-ders den Christen interessieren dürften: „DerChrist hat geistige Interessen, weil er sich erlaubt,ein geistiger Mensch zu sein ... Von den Dingendieser Welt wird, wer sich als freien Geist fühlt,nicht gedrückt und geängstigt, weil er sie nichtachtet; soll man ihre Last noch empfinden, somuß man borniert genug sein, auf sie Gewicht zulegen. Das endende Altertum hatte an der Welterst dann sein Eigentum gewonnen, als es ihreÜbermacht und „Göttlichkeit“ gebrochen, ihreOhnmacht und „Eitelkeit“ erkannt hatte. Ent-sprechend verhält es sich mit dem Geiste. WennIch ihn zu einem Spuk und seine Gewalt übermich zu einem Sparren herabgesetzt habe, dannist er für entweiht, entheiligt, entgöttert anzuse-hen, und dann gebrauche Ich ihn, wie man die Na-tur unbedenklich nach Gefallen gebraucht.“In der Tat: in dieser unerhört kühn überspitztenBemerkung, die für Egon Friedell eine „karikatu-ristische“ Übersteigerung ist, liegt eine Tiefe, diean Novalis erinnert.

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Wie das Katzerl im Teer II*Meine Begegnung mit Max Stirner in Friedrich Lieblings Zürcher Schule für Psychotherapie

«Was soll nicht alles Meine Sache sein!»Stirner

A N D E R E B E I T R Ä G E Z U M A X S T I R N E R

Meine Dissidenz«Er wollte nichts mit der Tyrannei des Wir zu tun

haben, das alles dransetzt, einen einzusaugen,dieses zwingende, einvernehmende, historische,

unvermeidliche, moralische Wir mit seinemhinterhältigen E pluribus unum.»

Philip Roth (The Human Stain, 2000)Mit Lieblings Tod anfangs 1982 war die Spitze abge-brochen. Handstreichartig verwandelten die TöchterLieblings die «Psychologische Lehr- und Beratungs-stelle Friedrich Liebling» in Zürich in eine gleichna-mige Aktiengesellschaft, in deren Leitung eineSchülerin und zwei Schüler Lieblings berufen wur-den. Einer dieser neuen Leiter war, zu meiner Überra-schung, ich. So stand die neue Organisation bereits,bevor nach einigen Tagen der Tod Lieblings und dieInstallation der neuen Leitung den Teilnehmernöffentlich bekannt gemacht wurde. «Alles wird imGeiste Friedrich Lieblings weitergeführt», war dieverkündete Parole. Durch diesen Überraschungscoupwurden bei den meisten Teilnehmern die Ängste vordem Verlust der Liebling-Familie überbrückt. Manging zur Tagesordnung über und vermied jede tiefereAuseinandersetzung mit irgendwelchen Emotionen -was aber schon Lieblings Art und Weise war, mit sol-chen Gefühlen zu verfahren. Am Rande aufkeimende,jedoch sehr hartnäckige Proteste gegen die neueOrdnung, wurden durch ausgrenzende Abwendungder „Gemeinschaft“ von den Opponenten oder, wonötig, durch Wachdienste, welche den Demonstrantenden Zutritt zu Versammlungslokalen und eigenenLiegenschaften verwehrten, in Schach gehalten.(Warum nur geistert mir beim Schreiben dieser ZeilenOrwells «Animal Farm» im Kopf herum?) Jedenfallsschien die große Mehrheit die Bewahrung desFamilienfriedens und die Idee, alles sei wie bisher, ir-gendwelchen Protesten vorzuziehen.Der Spaltpilz befand sich in der neuen Leitung. MeinKollege und ich waren der Meinung, die Verfahrens-weisen Lieblings hätten nichts mit Psychotherapie (i.S. der bekannten psychologischen Therapieverfahren)zu tun, und wer bei uns den Anspruch erhebe, Psycho-therapeut sein zu wollen, der bedürfe nun einer zusätz-lichen seriösen Ausbildung und vor allem auch einereigenen Lehranalyse bei einer geeigneten Fachperson,

die außerhalb unseres Zürcher-Schul-Kreises stehe, wirdrei Leiter mit eingeschlossen. Darin wurden wir vonden Töchtern Lieblings, welche über die Aktienmehr-heit der neuen Institution verfügten, unterstützt, ob-wohl unsere Kollegin in der Leitung nicht wirklich ein-verstanden war.Da wir uns nicht vorstellen konnten, uns einfach einerbestehenden Ausbildungsinstitution anzuschließen unddas Adler-Institut in Zürich eine Sperre gegenüberLiebling-Schülern beschlossen hatte, gründeten wirunser eigenes Ausbildungsinstitut und engagierten vie-le bekannte (v. a. ausländische) Gastdozenten aus Krei-sen der Individualpsychologie Adlers (u.a. den in NewYork tätigen Sohn Alfred Adlers), der PsychoanalyseFreuds und sogar eine Dozentin des C.G.Jung-Instituts.Meine Idee (damals noch immer in der naiven Absicht,diese Liebling-Gemeinde damit über die Runden zuretten) war es, als Zentrum der «Zürcher Schule fürPsychotherapie» ein anerkanntes, seriöses Psychothe-rapie-Institut zu schaffen und darum herum die großeGemeinde der Liebling-Familie zu gruppieren. Naivnenne ich meine damalige Absicht, weil mein Konzeptdie familiäre Dynamik der Liebling-Schule nicht genü-gend erfasste und ich heute solche Familienstrukturenals in mancherlei (sowohl geistiger als auch psychi-scher) Hinsicht konträr zu den Intentionen der Psycho-therapie sehe.Naiv, bzw. blind waren wir beiden männlichen Leiterauch gegenüber der umsichtigen Vorbereitung unseresRausschmisses durch unsere Kollegin, welche insbe-sondere die Ratsmitglieder der von den Erbinnen unab-hängigen Stiftung, welcher die von Liebling gekauftenLiegenschaften gehören, von ihren Plänen zu überzeu-gen vermochte. Wir beiden Männer waren die Verräteran der Sache Lieblings. Ich war es mit der Zeit ganzbewusst, weil ich die Methoden Lieblings, die für michnicht selten den Charakter von teils bewusstem, teilsunterschwelligem Psychoterror angenommen hatten,immer offener ablehnte. So war der zweite Coup, wel-cher die «Zürcher Schule für Psychotherapie» endgül-tig aufgelöst hat, von langer Hand (und ohne, dass iches geahnt hätte) vorbereitet.

Mein missglückter RausschmissAuslöser für die öffentlich erhobene Forderung nachunserem Rücktritt war mein provokativer Vortrag mit

* Fortsetzung aus Heft 3 (23), 3. August 2003

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dem Titel «Die Diktatur des guten Menschenbildes»im Frühling 1986 in der roten Villa im Rieterpark inZürich. Es war mein gewissermaßen Stirnerscher Pro-test gegen die in der «Zürcher Schule» vorherrschende«Der-Mensch-ist-gut»-Moralpredigtkultur. Meine Kol-legin, der ich zuvor ahnungslos ein Manuskript meinesVortrages überlassen hatte, hatte alles gut vorbereitet.Die «Jugend» (so nannten wir die Teenagers, welchebei uns verkehrten und betreut wurden) inszenierteeinen Aufstand gegen das von mir begangene Sakrileg,was mich mehrfach schachmatt setzte. Zum einen warich gehemmt in der „Diskussion“ von meiner scharfenZunge Gebrauch zu machen, weil es mir unmöglich er-schien, gegen junge Menschen, die bei uns «gepflegt»wurden, lautstark zu polemisieren, und leiserer, diffe-renzierterer Protest war mir verwehrt, weil sie mir kon-sequent das Mikrophon verweigerten ...Nun, der geplante Rausschmiss aus der Leitung gelangnicht, da die Töchter Lieblings uns stützten. So trat derAlternativplan unserer Kollegin in Kraft: die Inszenie-rung eines „Massenaustritts“ von Mitarbeitern/Schü-lern aus den Diensten der Aktiengesellschaft und, wasvor allem wichtig war für unsere „Niederlage“, dankder Mehrheitsverhältnisse im Stiftungsrat konnte dieAG (nach von uns verlorenen Prozessen) aus allen Lie-genschaften hinausgeworfen werden. Inwiefern wardas das Ende der «Zürcher-Schule»? Die Teilnehmer, welche mit der ehemaligen Leiterinmitzogen, gründeten einen (aus juristischen Gründenim Streit um die Liegenschaften gegen uns gerichteten)Verein: den berühmt berüchtigt gewordenen VPM(«Verein zur Förderung der PsychologischenMenschenkenntnisse»), welcher inzwischen wiederaufgelöst worden ist, da ihre Angst, wir könnten nachwie vor die Liegenschaften als Erbe Lieblings zurück-fordern, wohl gegenstandslos geworden ist. DieseGruppierung ist ziemlich rasant auf z.T. fanatisch undkämpferisch verfochtene extrem rechtskatholischePositionen verfallen, was sie sowohl im öffentlichenSchulwesen, bei psychologischen Fachverbänden undsogar in Ärztekreisen erneut (nur diesmal mit umge-kehrten Vorzeichen) auf diverse schwarze Listen ge-bracht hat. Sie haben auf verschiedensten Ebenenrechtskatholische Agitationsgruppen gegründet undsind mit solchen konservativ ideologischen Inhaltenbis in die Gremien der UNO tätig geworden. An dieserStelle sei vor allem ihr sinniger Einfall erwähnt, einePressuregroup mit dem konservativ-katholischgemeinten Kampfruf «Mut zur Ethik» zu bilden, alsmüssten sie das über Liebling auf uns gekommene teu-flische Erbe Stirners (wenn auch aus der Perspektivevon Pierre Ramus) mit einer Extra-Portion Weihwasserbannen. Schließlich ist sogar ein Raum des (inzwi-schen verkauften) Hauses, in welchem Liebling bis zu

seinem Tod gewohnt und gewirkt hatte, von einem inder Schweiz berüchtigten rechtskatholischen Bischofgeweiht worden, um darin heilige Messen zelebrierenzu können. (Hier muss ich an das Schicksal von Stir-ners Liebchen/Ex-Ehefrau Marie Dähnhardt denken -doch das ist ein anderes Thema.)

Papa Liebling muss sich im Grab umdrehenViele Ehemalige, aber auch außenstehende Beobachterwundern sich, wie es nur möglich sei, dass eine Grup-pierung, welche über Jahrzehnte mit Eifer die Notwen-digkeit des Anarchismus und auch sonst eher linksex-tremes, konsequent atheistisches Kulturgut gepflegtund propagiert hat, plötzlich im rechtskatholischen La-ger tätig wird und dort noch eifrigere Propagandaarbeitfür den Erzfeind ihres großen Vaters Liebling betreibt.Muss sich «Papa Liebling» (wie ihn ein italienischerTeilnehmer der ersten Stunde in aller Öffentlichkeitkonsequent genannt hat) nicht im Grab umdrehen vorSchmach? Doch, er muss (und es geschieht ihm recht).Die Antwort auf diese Frage ist nicht so schwierig, hataber wenig mit dem Klischee «les extrèmes se tou-chent» zu tun.Es geht gleichsam um den Kern von Lieblings Projektder kulturrevolutionären Volkserziehung: die familiäreTherapiemethode, dieser damals durchaus sehr erfol-greichen Mischung aus intensiver gegenseitiger Hilfe-leistung, individueller tiefenpsychologischer Aufklä-rung, kulturkritischer Diskussion und erweitertem Fa-milienleben. Liebling (und mit ihm wir alle, die sichdarüber überhaupt Gedanken gemacht haben) hat trotzseiner tiefenpsychologischen Orientierung die Wir-kung des rationalen Inhaltes gegenüber der irrationalenWirkung des familiären Angebots überschätzt, einerriesigen Familie, die bald einmal von uns allen, nichtmehr nur von Papa Liebling getragen worden ist, ob-wohl er zu Lebzeiten die integrierende Symbolfigurwar, etwa so wie das älteste Mitglied einer traditionel-len chinesischen Großfamilie.Schon, ja vor allem, zu Lieblings Zeiten war auffällig,wie extrem groß das Bestreben der meisten Teilneh-merInnen war, an jedem Anlass dabei zu sein, um janichts zu verpassen, natürlich vor allem dort wo «derHerr Liebling» auch war: er könnte ja womöglich et-was Wichtiges sagen, das man später zwar auch vonTonband hätte hören können, doch darum ging es nicht.Scharenweise sind ihm die Leute auch dann in die Fe-rien nachgereist, wenn er sich „inkognito“ irgendwohinzurückziehen wollte; der „Geheimdienst“ der gegen-seitigen Hilfe spürte ihn (fast) überall auf. Auch Lieb-ling plante immer wieder einmal, im kleineren RahmenAusbildungskurse für Fortgeschrittene zu veranstalten,der Macht der Eifersucht vieler dafür nicht Auser-wählter hat er (mit klugem Instinkt für das Wesentliche

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seines Unternehmens) immer wieder nachgegeben, sodass daraus schnell die üblichen flachen Monsterveran-staltungen geworden sind.Das erklärt auch den Frust sehr vieler Liebling-Kinder,als wir nach dem Tod des großen Vaters planten, nebstder Liebling-Familie ein exklusives Ausbildungsinsti-tut zu führen mit einschränkenden Aufnahmebedingun-gen für die Studenten. Gegen mich persönlich sprachenauch weitere Provokationen, etwa dass ich anordnete,die Ausleihe des großen Tonbandarchivs zu sperren,obzwar aus Gründen des Datenschutzes, aber auch mitder Bemerkung: «Nur immer Bänder abhören machtdumm». Liebling hatte den Teilnehmern in aller Welt jadas Gegenteil empfohlen. So ist unsere ehemalige Kol-legin schließlich zur neuen Mutter der vaterlosen Ge-sellschaft geworden - genau genommen war es knappdie Hälfte aller damaligen Teilnehmer, die mit ihr zo-gen, der Rest hat sich in alle Winde zerstreut, einigewenige hören noch heute auf Einladungen die altenLiebling Tonbänder, andere machten ihre gesellschaft-liche Karriere, manche bekamen spät noch eigene Kin-der, was zu Lieblings Zeiten nicht der fortschrittlichenWeltanschauung entsprach.

Die Kirche war stärkerNun, meine Antwort auf die eingangs dieses Ab-schnitts gestellte Frage ist: Tragend an Lieblings Kon-zept war nicht in erster Linie der Inhalt der atheistischfreiheitlichen Weltanschauung, sondern die Liebling-Familie. Wichtig war für die Teilnehmer, dazu zu ge-hören, sich mehr oder minder gleichberechtigt undnicht ausgeschlossen fühlen zu müssen. Die Liebling-Schule hat sich nicht „gespalten“, wie es die zur Trau-er kaum bereiten Liebling-Kinder vorerst zu sagenpflegten, sondern sie ist mit ihrem Vater gestorben,atomisiert und nun endgültig erloschen. Nur das Fa-milienkonzept wurde von der Gruppierung um denschlagzeilenträchtigen VPM weitergeführt, aber in-haltlich mit umgekehrtem Vorzeichen.Es ist die Weiterführung dieser Familie, was unsereehemalige Kollegin, als die langjährigste von Lieb-lings SchülerInnen, den ihren Verlust nicht wahrhabenwollenden Liebling-Kindern anzubieten hatte, aller-dings erst nach etlichen extrem rigiden Säuberungs-aktionen in den eigenen Reihen. Jetzt beten sie. Dochder Inhalt ist nicht wichtig, sondern die Geborgenheit.Eine paranoide Komponente muss vermutet werden.Die heilige katholische Kirche und deren aristoteli-sche Naturrechtsethik (im Kern ist die KropotkinscheEthik der «Anarchistischen Moral» davon übrigensnicht allzu verschieden) bieten besseren Schutz vor allden Angriffen von außen, als irgendein Anarchisten-Image. Sektenvorwürfe hin oder her. Die katholischeKirche war schon immer die große Mutter, mit und

ohne Hexenverbrennungen. Liebling wollte einenErsatz bieten - die Kirche war stärker.

Was hat das mit Stirner zu tun?«Der Einzige und sein Eigentum» ist über meineschnell gewonnenen Freunde in der Liebling-Familie1966 erstmals in mein Leben getreten und darum habeich deren Geschichte, über die es noch manchesBemerkenswerte zu erzählen gäbe, hier kurz skizziert.«Der Einzige und sein Eigentum», ein Buch, das mangelesen haben müsse. Es sei Lieblings Lieblingsbuchging die Mär. Er hat sich nie explizit dazu geäußert.Aber Lieblings Identifikation von Gemeinschafts-gefühl und Egoismus, seine bewusste Vermeidung desintellektuell theoretisierenden Stils und der Anlehnungan irgendwelche psychologischen oder philosophi-schen Theorien (außer zur Camouflage) und vor allemsein Hauptaugenmerk auf die Durchseuchung der kind-lichen Seele mit religiöser Weltsicht von Geburt auf,widerspiegeln u.a. Stirnersches Gedankengut. Als eineseiner Schülerinnen sich einmal überschwänglich beiihm dafür bedankte, was er alles für sie getan habe, undseine große Güte lobpries, sagte er öffentlich: «MerkenSie sich eines: Alles, was ich tue, tue ich nur für mich!»Wir haben private Lesegruppen u.a. zu StirnersHauptwerk und anderen Schriften von ihm, veranstal-tet, dazu auch Publikationen von Ludwig Feuerbach,der sogenannten französischen Materialisten, La Mett-rie, Holbach, Helvétius, Diderot, sowie natürlich dieWerke und Pamphlete der Anarchisten und anverwand-ten Geister studiert und diskutiert. Auch in Beiträgenzu öffentlichen Veranstaltungen haben wir von Stirnergesprochen. Im Endeffekt, soweit ich sehen kann, aller-dings nicht nur ohne die beabsichtigte Wirkung, son-dern im ständigen krassen Gegensatz zur zwar vehe-ment verleugneten, aber real existierenden Gruppen-diktatur, deren paranoider, jedoch unangefochtenerFührer Friedrich Liebling gewesen ist.Von Anbeginn an habe ich mich vom «Einzigen» ange-zogen gefühlt. Stirners konsequente Entheiligung jedesnur möglichen Ideals, nicht nur der fremden, auch dereigenen, hat meinem Unglauben nicht nur weitere An-regung gegeben, sondern ihm gleichsam die „Abso-lution“ erteilt. In seiner philosophischen Logik viel-leicht ein absurdes Bild, für mich aber stimmig. Theo-retisch war es mir nun sonnenklar, dass nur ich fürmich zuständig war, kein Ideal, an dem ich mich mes-sen müsste, auch meine Einstellungen von gesternkonnten mir gestohlen bleiben, wenn ich heute andersdachte und fühlte. Theoretisch. Doch praktisch bedurf-te es auch des Abschieds von Papa Liebling. Und soleicht war der auch nach seinem Tode nicht, wie meineGegner wähnen.

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Progressives SektierertumMan hat Friedrich Lieblings Projekt als Psychosektebezeichnet. Dem kann ich so nicht zustimmen. Die eta-blierten Kirchen nennen alles, was sich ihrem dogma-tischen Machtanspruch entzieht, „Sekte“. Als einst einJournalist davor warnte, die jungen Menschen «inLieblings Arme zu treiben», meinte Liebling trocken:«In welchen Armen möchten sie denn die jungenMenschen lieber sehen?» Er dachte immer politisch,auch wenn er sich selbst an einer öffentlichen 68er-Protestversammlung in Zürich («Zürcher Manifest»),welche seine sich anarchistisch gebärdenden Schülerdurch lautstarke Abstimmungsverweigerung zum Plat-zen brachten, als «politisches Baby» bezeichnet hatte.Obschon er immer wieder zu paranoiden Reaktionenneigte, war er keineswegs unrealistisch in seiner Ver-mutung, dass gewisse (nicht zuletzt auch linke) Kreisedanach trachteten, seine «Zürcher Schule für Psycho-therapie» zu zerschlagen, um der Unterwanderung dergesellschaftlichen Institutionen (insbesondere des Er-ziehungswesens) durch seine Schüler einen Riegel zuschieben.Die Konservativen sahen den Teufel im Atheisten, dieRevoluzzer beklagten, dass er so viele einst im links-extremen Milieu aktive Studenten und Lehrlinge vomDemonstrieren und Revoluzzen abhielt - in Erzieh-ungskursen in Kreisen der Sozialdemokraten undGewerkschaftler mussten wir schon früh erfahren, dassdie Genossen schwer zugänglich waren für Gedankender gewaltfreien Erziehung und die Perspektive, dasswir alle «Produkte unserer Erziehung» seien, vomautoritären Denken und Fühlen durch und durch ver-dorbene und geschwächte Individuen.Wenn schon, dann unterscheidet sich die Lieblingsche„Psychosekte“ nicht sonderlich von all den Psychoana-lytikerzirkeln u.dgl. der letzten hundert Jahre. Ihr ge-meinsames Merkmal ist die Angst vor der Skepsis nachinnen. Es ist die Angst vor der Erosion und demMachtzerfall der tragenden Idee. Diese Angst ist nichtganz unberechtigt. Die katholische Kirche hat darineine jahrtausendealte Erfahrung - durch das erfolgrei-che Infragestellen geltender Dogmen würde die Machtder Institution erodieren. Und umgekehrt. Das wussteauch Freud. Und das wusste Lenin und die Marxisten-Leninisten, solange sie das Sagen hatten, zu verhin-dern. Kampf dem Renegatentum.Die Liebling-Schule war diesbezüglich insofern wes-entlich milder, als Liebling theoretische Festlegungenaus Überzeugung verworfen hat. Natürlich hat es tra-gende „Dogmen“ gegeben; sie waren aber mehr inschlagwortartig formulierten Grundsätzen verbindlich:«Der Mensch ist gut. Er ist nur verdorben durch eineunsachgemäße Erziehung und die Fütterung mitMärchen ... usw.» (Liebling sagte «Märchen» und

meinte damit alle Arten von religiösem Glauben.).Außerdem galt die Anti-Partei-Devise: «Bei uns gibt eskeine Ausschlüsse.» Was allerdings schon zu LebzeitenLieblings eine anarchistische Selbsttäuschung war,denn die Zerstörung des bisher vorhandenen Ansehenseines Gruppen-/Familienmitglieds ist ein Akt desPsychoterrors, der den des institutionellen Parteiaus-schlusses bei weitem übertrifft.Das Ende von Lieblings «Zürcher Schule» war keinProdukt der Angriffe von außen, sondern die durchneue interne Machtkonstellationen nach Lieblings Todvon verschiedener Seite Einfluss gewinnende Skepsisnach innen - wie einst Babylon.

Was bleibtLife’s but a walking shadow, a poor player

That struts and frets his hour upon the stageAnd then is heard no more: it is a tale

Told by an idiot, full of sound and fury,Signifying nothing.

Shakespeare (1606)Macbeth, act V, scene 5

Durch das Sein wird gar nichts gerechtfertigt.Stirner

Keine Enttäuschung. Kein Pessimismus. Aber eine Er-weiterung der Perspektiven.Es bleibt die Verachtung der Textauslegung, die Fitnessder Frechheit gegen den «morbus hermeneuticus».Wenn ich dem Einzigen begegne, muss ich an Stirnerdenken - und ihn gleich wieder vergessen. Denn nichtVerstehen ist mein Ziel, sondern ich begegne gewisser-maßen der Sache selber. Er ist mein Einziger, und wasweiß ich, ob Stirner dem selben begegnet ist, was küm-mert’s mich. Auch Stirner bin ich begegnet, in unter-schiedlichen Stimmungen. Er hat Gedanken in mirgeweckt, die dennoch die meinigen sind.«Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt.» Das erzeugtPerspektiven, in denen ich mich einsam sehe. KeineEthik vermag mich darüber hinweg zu trösten, keinGemeinschaftsgefühl mich zu täuschen. Einsamkeit istdie leere, noch inexistente Raumzeit, in welcherEigensein Leidenschaft und Skepsis entfaltet. Lieblingpflegte in seinen Therapiegesprächen oft zu sagen, esginge darum zu lernen, seine Sache auf Nichts zu stel-len - doch wer hat das schon verstanden? Er selbstwohl nicht.

Meine heutigen Gedanken zu StirnerAls Kernaussage des «Einzigen» kann ich das geltenlassen: Einzig ich bin das Kompetenzzentrum aller fürmich gültigen Wertungen und Sinngebungen - undzwar stets nur für den jeweiligen Augenblick meinesLebendigseins. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich

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vielleicht wieder ganz andere Perspektiven und Hand-lungen bevorzugen.Diese Kernaussage ist nicht nur eine Absage an diephilosophische Intention aller Ethik als allgemeingülti-gem Aussagenkomplex über das, was sein soll. Sie ne-giert auch die Allgemeingültigkeit jedes weltanschau-lichen, gesellschaftspolitischen Projekts. In Lieblings„Zürcher Schule“ habe ich am Projekt der Erziehungder Erzieher mitgearbeitet. Ziel war, Eltern und Lehrerzu befähigen, ihre Kinder zu freiheitsfähigenErwachsenen heranzubilden, nicht zuletzt, indem wirErzieher uns selbst mit unserer beschränkten Freiheits-fähigkeit auseinandersetzten.Doch selbst ein der Sache des Egoismus so dienlichesZiel, wie „meine Freiheitsfähigkeit“ verfällt in derKonsequenz der selben Kritik, die Stirner dem Idealdes Menschentums angedeihen ließ. Denn als derarttraktiertes Kind könnte ich mich ja fragen: Warum sollich „freiheitsfähig“ sein? Warum soll „Egoismus“ mei-ne Sache sein und nicht vielmehr, die gepredigte„Nächstenliebe“ oder der Dienst am Vaterland oder einscheißbürgerliches Leben? Der Philosoph kann ein-wenden: Weil nur der Freiheitsfähige frei wählenkann. Schon ist die Falle der Ethik wieder zuge-schnappt. Schon Stirner ahnte, dass auch das Ideal der„Freiheit“ eben zu den fixen Ideen gehört, auf die sichder „Einzige“ nicht festlegen lässt.Allerdings scheint mir auch Stirner der philosophi-schen Konsequenz, welche aus seiner Kernaussagefolgt, selbst nicht ganz gewachsen gewesen zu sein.Denn keine seiner positiv ins Gesellschaftspolitischeausgreifenden Äußerungen kann aus dieser Kernaus-sage abgeleitet werden - grundsätzlich nicht. Nicht ein-mal eine utopische Aussage der Art:: «Ich werde im-mer tun, was ich will,» lässt sich daraus folgern, dennauch das formuliert ein Ideal - und sei es das Ideal derWidersetzlichkeit gegen Fremdbestimmung und ver-suchter Manipulation. Als Ideal ist es selbst wiedereine Fixierung und, bezogen auf einen neuen Augen-blick, eine „Fremdbestimmung“. Stirner verwirft - hierphilosophisch konsequent - auch das Ideal meinerTreue zu mir.So folgt aus der Kernaussage des Einzigen logisch kei-nerlei lebenspraktische oder gesellschaftspolitischeEinstellung, weder die von Stirner selbst, noch eine an-dere. Sie ist im Gegenteil eine geistige Befreiung vonjeder weltanschaulichen Diktatur jedweder Gemein-schaft, aber auch eine geistige Befreiung vom Diktatlebenspraktischer Maximen - selbst meiner eigenenguten Vorsätze. Mit Genuss kann ich mir selber untreusein. Es ist, wenn vielleicht auch nicht die tiefenpsy-chologische, so doch die geistige Befreiung von meinereigenen Geschichte.Das ist für mich keine Verminderung des Wertes von

Stirners Hauptanliegen, wie es gewisse ausgemusterteMarxisten-Leninisten gelegentlich beurteilen. ImGegenteil! Die „atheistisch-kommunistischen“ Ideolo-gen haben ihren machtorientierten Hang zur geistigenVersklavung mit den Priestern der katholischen Kirchegemeinsam - für beide ist der Individualismus desTeufels. Aber auch der Individualismus, wie jede nochso angenehme Weltanschauung, lässt sich nicht aus derKernaussage des «Einzigen» ableiten. Was bietet siemir denn? Sie ist mir gleichsam der Hüter meinerSkepsis. Sie hilft mir, niemals zu vergessen, dass jedesSollen und jede Legitimation Willkür ist - auch die vonmir bejahte Willkür meiner Leidenschaft.

Den Einzelnen die Welt!Was, bin ich dazu in der Welt,

um Ideen zu realisieren?Stirner

Die Perspektive des Politischen betrifft andere Aspektedes Lebens, z.B. die Frage nach der Würde desEinzelnen in der Diktatur der Gemeinschaft. Es gibtdabei nichts zu lehren und nichts zu hoffen. Wenn ichvon der „Würde des Einzelnen“ spreche, dann meineich weder Ethik noch Recht, sondern nur einen Inhaltmeiner Leidenschaft, keinen philosophisch ideellen,sondern einen machtpolitischen. Ich meine nicht«Liberté, Égalité, Fraternité» (trotz meinem Respektvor dieser Geschichte!). Ich meine den Schlachtruf:«Den Einzelnen die Welt!» Das hat nichts mitClanfreiheit, Völkerfreiheit und noch weniger mitReligionsfreiheit u.dgl. zu tun - mit der strikt säkularenMacht, die ein Gemeinwesen beherrscht, schon eher.Ich sage Schlachtruf, denn diese Leidenschaft ist mili-tant, kein Friedensgesang, kein gesinnungssolidari-scher Sand in die Augen. Und er wird Schlachtruf blei-ben, jetzt und für alle Zeiten, solange solche Leiden-schaft sich entzünden mag. Er ist zwar „nur“ eine lei-tende Fiktion, ein Widerspruch in sich, aber ein leiden-schaftlich gelebter, kein Ideal, denn die Übermacht deseinen, ist die Mindermacht der anderen. Die herrschen-den Gesellschaftsordnungen sind mächtige Systeme,welche sich stets ihre einzelnen Elemente unterordnen,je effizienter sie sind, umso mehr. Das Ganze ist mehrund etwas anderes als seine Teile.«Die Würde des Einzelnen» ist kein Ideal, kein Ziel desWeltprozesses, keine „höhere“ Kulturstufe, bloß einzufälliger, leidenschaftlicher Traum, philosophisch sowillkürlich, wie der logische Kult des Absoluten. Amehesten noch biologisch erklärbar. Es ist die Potenz desKünstlers, schaffen zu können, seine Welt zu gebrau-chen und zu verbrauchen. Sie ist das Feuer desLiebesspiels und die Anstrengung im ewigen Krieg.Sie ist das Schicksal von Sisyphos. Sie ist das ideallo-se, zufällige Glück, welches du erlangst, ohne Rezept,

Wie das Katzerl im Teer 37

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ohne Anspruch, ohne Dauer. Nachhaltigkeit gehörtzum Themenkatalog der Politik, der Diktatur derGemeinschaft und Gesellschaft. Als Einzelner bist dueinzig und allein, Schöpfer deiner vergänglichen Welt,Tänzer zwischen Bunkern, Ruinen und Sternen.Menschen, Tiere und Pflanzen werden geschunden,geschlachtet und gedemütigt, sie sind arm, gehetzt,fanatisch, verrückt und apathisch. Manchen geht esmanchmal gut, den meisten schlecht. Das ist kein pes-simistisches Weltbild, sondern Realität, heute undsolange du und ich noch leben werden und darüber hin-aus. Manchmal kommt Frohsinn auf, Liebe, Glück undÜbermut, öfter Mord, Vergewaltigung, Verstümmelungund Krankheit. Und über allem das große Geschwätz inden Medien und die Eitelkeit der mahnenden Intellek-tuellen und der billige Trost der ethischen Diskurse -als wäre Erlösung in Sicht -, denn Christus ist amKreuz für uns gestorben und Allah hat alles im Griffund Buddha zu werden unser schönstes Ziel und Funund Brot und Spiele und Efficiency. Doch der Todbleibt mein größter Feind. Denn glaub’ mir: es gibtkeine Wiederkehr. Manchmal rast ein Meteor haar-scharf an unserem Planeten vorbei. Öfter verglüht eineSonne. Was tun? Du selbst „musst“ es erschaffen, jetzt,immer nur für jetzt, wenn überhaupt.Das Ideal der Anarchisten, die Würde des Einzelnendurch die Abschaffung des Staates mit den Anforde-rungen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen, hatdas Verhältnis von Element und System verkannt, dastyrannische Potential jeder Form von Gemeinschafts-leben gegenüber der Würde des Einzelnen verleugnet.Die «freie Vereinbarung» ist ein hölzernes Eisen.Entweder ist eine Vereinbarung bindend und zwingendoder sie ist praktisch nutzlos. Jeder Zwang aber, dessenWirksamkeit nicht einzig auf einem anonymenMachtmonopol beruht, ist das größere Übel. «Infor-melle Zwänge» jedoch (à la Kropotkinsche anarchisti-sche Moral) sind der schrecklichste der Schrecken.Mann soll Frau werden. In der Liebling-Gemeinschaft,war Männlichkeit tabu. Die alte Dorfgemeinschaft magmehr Geborgenheit gegeben haben als die herzlose«anonyme» Großstadt, aber die moralische Tyrannei istumso grässlicher. Es gibt keine Harmonie zwischen derDiktatur der Gemeinschaft und der «Würde des Ein-zelnen». «Den Einzelnen die Welt» ist ein Kampfspiel,das nie gewonnen werden kann, das nie zu Ende seinwird, es sei denn, die Leidenschaft dafür erlahme -auch meine Faulheit fordert ihren Tribut.Es ist mein Spiel, nach Regeln, die ich akzeptiere,solange keine besseren eine Chance haben. Ein Scherzauch, weil meine Skepsis nicht glaubt, dass die Weltgrad auf mich gewartet hat, sowenig wie auf dich, nichtauf die Völker und nicht auf die Fliegen, weil ich auchSpielball dessen bin, womit ich spielen will, Sklave des

Steins, den ich behaue, Hofnarr meiner Leinwand undFarbe, meiner Formen und Töne und Weisheit,Untertan der Tyrannei des Gemeinen, des Guten unddes Bösen der Gemeinschaft, die mich beutelt undnährt, liebt und hasst, so wie ich sie, ein Spielstein imGesellschaftsspiel, in welchem mich die Zeit verwür-felt, die Natur wieder verschlingt, kaum hat sie michausgespuckt.Den Einzelnen die Welt! Oder willst du etwas anderesauf deine Fahne schreiben? Dann geh’, wir müsstenuns bekriegen! Mit welchem Sinn? Mit keinem. Ichhabe bloß die Spielregeln so bestimmt, aus Leiden-schaft und Skepsis. Zu rechtfertigen gedenke ich sienicht - vor niemandem!Doch diese letzten Sätze bleiben reine Poesie, l’artpour l’art, wenn mir die Macht fehlt, auch so zu leben.Ich habe leicht zu reden und zu schreiben, so lange ichin einer Weltgegend lebe, in welcher die Wahrschein-lichkeit klein ist, dafür verfolgt oder gar getötet zu wer-den. Ich bin wohl zu alt, um die weltfremde Politeia-phobie, die blinde Ablehnung jeglicher, auch der säku-laren Staatsmacht, weiterhin zu pflegen. Auch dazufehlt mir der Glaube. Den Einzelnen die Welt! Zu die-sem leidenschaftlichen, künstlerischen Ideal geselltsich die pragmatische Skepsis gegenüber jeglicher Ide-alisierung. Denn wie sollen meine Spielregeln die dei-nigen sein? Und für mich allein kann ich auf Regelnverzichten. Die „neutrale“ Macht, jenseits der Fami-lien, Clans und Stämme ist der pragmatische Kompro-miss.Mein Schicksal als «Katzerl im Teer» teile ich mit allenanderen Individuen meiner biologischen Art. Die ganze„Weltgemeinschaft“ ist mit dem Teer verklebt, und eswird immer neuer Teer erzeugt. Da hilft keine chemi-sche Reinigung. Utopien, sollen sie mehr sein als gei-stige Selbstbefriedigung, fordern Machtentfaltung,Bereitschaft und Fähigkeit zum Krieg und zurMachterhaltung. Doch jeder ideologische „Sieg“ frisst,wie der Titan Kronos im altgriechischen Mythos, seineKinder. Was bleibt, ist die Möglichkeit zur Drecksar-beit und Wursteln im immer Ungenügenden des ver-fluchten, liberalen und säkularen Staates, der wohldoch am ehesten von einem immer wieder um seineuniverselle Freiheit kämpfenden Markt in Schachgehalten wird. Was nach meinem Geschmack einemLeben in einem Gottesstaat oder unter einer Einpar-teien-„Gerechtigkeits“herrschaft bei weitem vorzuzie-hen ist. Was bleibt, ist vielleicht die von Voltaire imSchlusssatz seines «Candide» formulierte Einsicht: «ilfaut cultiver notre jardin». So mir das Schicksal gnädigist: mein Gärtchen. Meine Sache.

Antonio Cho

Antonio Cho38

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Harmtuth Malorny:DIE SCHWARZE LEDERTASCHE

Roman161 Seiten

ISBN 3-933287-54-5 / 15,90 Euro

Zum Autor:Hartmuth Malorny, 1959 in Wuppertal geboren, diverse Jobs und zuletzt 12 Jahre Straßenbahnfahrer, lebt noch.

Der Stil ist lakonisch, die Sprache ebensoklar und direkt. ... Für Malorny ist sein Werk„Underground-Literatur“ ganz in der Tradi-tion Bukowskis.

- Deutsche Presse-Agentur -

Der 44-Jährige war 12 Jahre lang Straßen-bahnfahrer bei den Dortmunder Stadtwerken... Sein Antiheld Harald Malowsky ist - ent-sprechend - nicht nur Straßenbahnfahrer,sondern auch ein Säufer vor dem Herrn undein erstaunlich lakonischer Philosoph, derden Selbstbetrug, dem der kleine Mann auf

ImpressumHerausgeber und V.i.S.d.P.:

Kurt W. Fleming

ABO für 4 Ausgaben: 12,24 Euro (1998-2000: 10,22 Euro) incl. Versandkosten; Einzelheft mit Porto € 3,83;Kurt W. Fleming. ABC Privatkunden-Bank Leipzig, BLZ 101 209 00, Konto-Nr. 60 40 79 33Redaktion: Max-Stirner-Archiv Leipzig, c/o Kurt W. Fleming, [email protected].© liegt bei den AutorInnen. Für den Inhalt nicht redaktioneller Beiträge trägt der Herausgeber keine Verant-wortung. Soweit auf abgedruckten Texten mir noch unbekannte Urheberrechte ruhen, möchten sich dieberechtigten Personen zur etwaigen Geltendmachung von Ansprüchen bei mir melden. Kommerzielle An-zeigen werden aufgenommen, soweit diese zu dem Anliegen der Zeitschrift nicht im Widerspruch stehen.

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der Suche nach etwas Glück erliegen kann, gnadenlos entlarvt ... Der Straßenbahnfahrer dreht seineRunden zwischen Grevel und Hombruch. Und, man glaubt es kaum, die Tour der Linie 402 kann zurMetapher für das ganze Leben werden. Hartmuth Malornys erster Roman: Eine Entdeckung!

- Westfälische Rundschau -

„Mann, wenn ich an all die Klamotten denke, die ich schon bei der Arbeit erlebt habe, ich könnte glatt einen ganzen Roman schreiben.“ Klingt vertraut der Satz, haben viele Menschen schon mal gesagt. Geschrieben haben am Ende die wenigsten. Hartmuth Malorny hat geschrieben und nun seinen ersten Roman veröffentlicht.

- Westdeutsche Allgemeine -

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ISSN 1435-0432