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Misch Rochus_Der Letzte Zeuge_Ich War Hitlers Telefonist Kurier Und Leibwächter_2008

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  • Er war nie Mitglied der NSDAP und empfand sich als unpolitischen Menschen, auch wenn ihn Hitlers Auftritt bei den Olympischen Spielen 1936 begeisterte. Durch eine schwere Verletzung whrend des Polenfeldzugs 1939 begriff Rochus Misch die Grausamkeiten des Krieges und war froh, nicht mehr an die Front zurck zu mssen. Stattdessen katapultierte es ihn ins Zentrum der Macht: 1940 beginnt er als Kurier, Leibwchter, spter auch als Tele- fonist fr Hitler zu arbeiten. Mischs Dienst- zimmer in der Berliner Wilhelmstrae 77 liegt nur wenige Schritte von Hitlers Wohnung in der Alten Reichskanzlei entfernt, bei vielen Aufenthalten seines Arbeitgebers auf dem Obersalzberg ist er dabei. Der Leibwchter beobachtet Heinrich Himmler und Albert Speer auf der Terrasse des Berghofs, er vermit- telt Gesprche aus Berlin zum Attentatsort in der Wolfsschanze am Tag des 20. Juli. Und er erlebt, wie Eva Braun Partys auf dem Berghof organisiert, wenn Hitler nicht anwesend ist. Am Schluss wird Rochus Misch mit den letzten Getreuen einziehen in den sogenannten Fhrerbunker. Als der Untergang naht, bleibt der Bunkertelefonist pflichtbewusst an seinem Platz in der Telefonzentrale. Selbst dann noch, als Hitler und Eva Braun sich umgebracht haben. Fr Misch, der Hitler nur als Privatmann erlebte eine gespenstische Variante der Banalitt des Bsen , galt das Gebot unbedingter Loyalitt. Um deren fatale Seite geht es ihm, wenn er heute sein Leben erzhlt: Nein, ich werfe dem Rochus Misch von damals nicht vor, dass er keinen rger machte. Dennoch dass mir das so selbstver- stndlich war, das macht mich nachdenklich.

  • Rochus Misch

    DER LETZTEZEUGEIch war Hitlers Telefonist, Kurier und Leibwchter

    unter Mitarbeit von Sandra Zarrinbal und Burkhard Nachtigall

    Mit einem Vorwort von Ralph Giordano

    Zrich und Mnchen

  • 1. Auflage 2008

    Copyright Pendo Verlag GmbH & Co KGMnchen und Zrich 2008Umschlaggestaltung: Hauptmann & KompanieWerbeagentur, Mnchen-ZrichGesetzt aus der SabonSatz: BuchHaus Robert Gigler, MnchenDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PneckPrinted in GermanyISBN 978-3-86612-194-3

    www.pendo.ch www.pendo.de

  • 5Inhalt

    I.

    Einleitung 9

    Vorwort: Ralph Giordano Misch Sie werden natrlich noch gebraucht! 19

    II.

    Der Waisenjunge vom Dorf 38Olympia 1936 46Auserwhlt 50Kriegsbeginn 58

    Hitler sucht einen Kurier 62Im Begleitkommando 65

    Der Chef 70Wilhelmstrae 77 73

    Die Alten 77Alltag in der Reichskanzlei 80

    Mein Reich die Telefonzentrale 89Der Berghof 94

    Dienst wie Urlaub 100Eva 109

    Molotows Bunker 113He fliegt nicht 114

    Amerika 118Ein Irrflug und seine Folgen 123

    Die Wolfsschanze 126Modelle und Miniaturbauten 133

    Magenschmerzen 137

  • 6Werwolf 140Stalingrad 144

    Flitterwochen 147Die Ostfront auf dem Weg nach Westen 150

    Hitlers Schatzkammer 152Onkel Paul im KZ 154

    Handschlag mit Mussolini 155Heilig, Abend und zwei Rendezvous 160

    Schrzenjger 162Vermhlungen und Verrat 164

    20. Juli 1944 167Ausgezeichnete Generle 175

    Tod und Zerstrung 178Bunkertelefonist 181

    Der Fhrerbunker 183Rauf und Runter 189

    Bunkerleben 19220. April 1945 19421. April 1945 19622. April 1945 19923. April 1945 20624. April 1945 20725. April 1945 21026. April 1945 21027. April 1945 21228. April 1945 21429. April 1945 21630. April 1945 2191. Mai 1945 226

    Der Ausbruch 233Im Tunnel 236

  • 7Gefangenschaft 238Folter 241

    Sieben Wochen Berlin 245Neun Jahre Gulag 246

    Rckkehr und Neuanfang 255John F. Kennedy, Prinz Philip und Rochus III. 260

    Epilog: Er blieb da, an seinem Platz,bis nach dem Untergang 266

    Anhang

    Anmerkungen 282Kurzbiografien 306

    Literatur 332Abbildungen 334Danksagung 335

  • I.

  • 11

    Einleitung

    Ich hatte niemals vor, meine Biografie zu verffentlichen. Unzh- lige Interviews habe ich im Verlauf meines Lebens Autoren, Zei- tungsreportern, Historikern und Fernsehteams aus aller Welt, eher wenigen aus Deutschland, gegeben. Es ist alles gesagt dachte ich. Doch die Tatsache, dass die Anfragen, die mich per Post und Telefon erreichen, in den letzten Jahren zu- statt abneh- men, hat mich eines Besseren belehrt. Die Zuschriften sind zum allergrten Teil freundlich und interessiert, und sie stammen von jungen, oftmals sehr jungen Menschen. Mich plagt ein schlechtes Gewissen, viele unbeantwortet lassen zu mssen. Ich bin ein alter Mann und kann diesen Ansturm nicht mehr bewltigen. Es ist nicht lange her, da sah ich mich gezwungen, mir eine Geheim- nummer zuteilen zu lassen, weil mich wegen der Zeitverschiebung viele internationale Anrufe nachts erreichen. Jahrzehntelang stand meine Telefonnummer in ffentlichen Telefonbchern, erst jetzt ist das Interesse an meiner Person derart enorm geworden, dass ich mich in dieser Weise schtzen muss.

    Warum ist das so? Ich denke, die jungen Leute haben mit dem immer grer werdenden zeitlichen Abstand zu den Jahren 1933 bis 1945 einfach weniger Berhrungsngste als die Generationen zuvor. Fr sie ist vllig klar, dass aus der Geschichte nur der ler- nen kann, der sie kennt. Und das, was in den Lehrbchern steht, beantwortet ihnen lngst nicht alles. Dazu kommt das muss ich ganz nchtern und gefasst feststellen der Wettlauf mit der Zeit. Es wird nicht mehr lange die Mglichkeit geben, Zeitzeugen wie mich zu befragen.

    Dieses Buch ist daher fr mich zunchst einmal eine Arbeitser- leichterung: Ich kann Interessenten jetzt auf meine niedergeschrie- benen Erlebnisse verweisen. Auch ist mir durch jngste Verfilmun- gen ber Ereignisse, deren letzter lebender Zeitzeuge ich heute bin, bewusst geworden, dass meine Eindrcke eine wichtige Erkennt- nisquelle sein knnen. Ich stelle fest, dass Darstellungen in die Ge- schichte einzugehen drohen, von denen ich sicher wei, dass sie falsch sind oder deren zugrundeliegende Geschehnisse und Um-

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    stnde ich jedenfalls anders gesehen, wahrgenommen oder in Erin- nerung habe. Darauf mchte ich nun doch noch hinweisen.

    Dass sich zahlreiche Irrtmer in der ffentlichkeit festgesetzt haben, wurde mir zuletzt anlsslich meines Zusammentreffens mit amerikanischen Filmemachern bei den Dreharbeiten zu dem Hollywoodspielfilm Valkyrie im Sommer 2007 bewusst. In die- sem geht es um das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Man befragte mich zu allen mglichen Dingen, von routi- nemigen Sicherheitsmanahmen bis hin zu Gewohnheiten Hit- lers. Das Team zeigte sich bereits gut informiert, und doch war ich berrascht ber so manche falsche Vorstellung.

    Ganz besonders aufgefallen ist mir dies schon zuvor im Zu- sammenhang mit dem weltweit aufsehenerregenden Spielfilm Der Untergang. Ein wichtiger Film, allerdings auch eine operetten- hafte Tragdie. In ein paar wenigen Szenen bin ich zu sehen; der Darsteller meiner Person hat keine Sprechrolle. Gezeigt wird, wie der Schauspieler die Generle Wilhelm Burgdorf und Hans Krebs nach deren Selbstmorden auffindet. Warum hat man mich nicht gefragt, wie das wirklich war? Man htte erfahren knnen, dass ich damals mitnichten ruhig, fast geschftsmig agierte, wie es im Film zu sehen ist. Im Gegenteil, ich war im hchsten Mae erregt, als ich feststellte, dass Burgdorf, den ich sachte anstie, weil ich ein Gesprch fr ihn auf der Leitung hatte, keineswegs eingenickt war, sondern tot. Schleunigst machte ich kehrt, um vom Tod der beiden Mnner umgehend Meldung zu machen. Ein Detail. Dennoch: Es entsteht ein vllig falscher Eindruck, denn ich war eben alles andere als gefasst in diesem Augenblick.

    In den letzten Stunden im sogenannten Fhrerbunker ver- setzte mich vor allem anderen ein Gedanke in Panik, der weder den Russen noch dem toten Hitler galt, sondern: Gestapo-Ml- ler! Ich hatte den Chef der Geheimen Staatspolizei im Reichs- sicherheitshauptamt in der Neuen Reichskanzlei gesehen. Seine Anwesenheit war absolut ungewhnlich. Hannes, der ebenfalls bis zuletzt im Bunker verbliebene Techniker, und ich spekulierten, ob wir nun am Ende noch alle umgebracht werden sollten. Wr- den sie vielleicht den Bunker in die Luft jagen? Lieber alles ver- nichten, als dass es den Russen in die Hnde fllt wir mussten

  • 13

    damit rechnen, dass das auch fr uns galt. Sollte restlos nichts und niemand brig bleiben aus dem Fhrerbunker?

    In den Apriltagen des Jahres 1945 herrschte in Hitlers Bunker- wohnung tief unter dem Garten der Alten Reichskanzlei Stille, Totenstille. Dort gab es kein aufgeregtes Kommen und Gehen. Der eigentliche Fhrerbunker bestand aus ein paar wenigen kleinen, zellenartigen Rumen. Auer Eva Braun hatten dort nur noch Hitlers Diener und sein Arzt Dr. Morell jeweils einen Auf- enthaltsraum; in den des Arztes zog spter Goebbels. Alle ande- ren Zimmer waren Funktionsrume. Allein in meiner kleinen Te- lefonzentrale gab es einen ffentlichen Sitzplatz, den man jemandem htte anbieten knnen. Die im Film Der Untergang ge- zeigten hektischen Szenen vor dem Ende das meiste davon er- eignete sich in den Kellern der Neuen Reichskanzlei, manches im Vorbunker. Der Film lsst fast alles in Hitlers Bunkerwohnung spielen, in die aber nur die wenigen kamen, die zum Chef geru- fen wurden. In den Fhrerbunker, noch tiefer unter der Erde gelegen als die Keller und der Vorbunker, war der Tod schon ein- gezogen, bevor Hitler die Waffe auf sich richtete. Den Krieg hrte man nur im Vorbunker und in den Kellern der Reichskanzlei. In Hitlers Bereich drangen allein Erschtterungen und allenfalls dumpfe Gerusche vor. Umgekehrt war es nicht mglich, Ereig- nisse im Tiefbunker wahrzunehmen, wenn man sich im Vorbun- ker oder gar in den weit entfernten Kellern der Neuen Reichs- kanzlei befand.

    Einen Tag vor der Urauffhrung von Der Untergang in Berlin erhielt ich spt abends einen Anruf. Es war jemand aus dem Pro- duktionsteam, der mich wissen lie, dass man mich bitte, zur Pre- miere nicht zu erscheinen. Eine Begrndung sagte man mir nicht. Fnf Wochen nachdem der Film angelaufen war, besuchte mich der Produzent Bernd Eichinger in meinem Berliner Haus. Er re- cherchierte schon in einer neuen Sache. Auf den Untergang ange- sprochen, verwies Herr Eichinger auf das gleichnamige Buch von Joachim Fest, das Vorlage fr den Film gewesen sei. Daran habe man sich gehalten und entsprechend meine Rolle angelegt. Nur auch Herr Fest hat nie persnlich mit mir gesprochen.

  • 14

    Ich war knapp achtundzwanzig Jahre alt, als das Dritte Reich un- terging. Ich stellte nach Hitlers Tod vom Fhrerbunker aus noch die Leitung zu den Russen her, und nach meiner offiziellen Entlassung durch Reichskanzler Joseph Goebbels zog ich schlie- lich alle Stecker aus der Telefonanlage. Fnf Jahre lang die letz- ten fnf Jahre im Leben Hitlers wohnte ich dort, wo Hitler wohnte: in der Fhrerwohnung in der Alten Reichskanzlei, in den Fhrerhauptquartieren, zuletzt im Fhrerbunker.

    Ich bin ein unbedeutender Mann, aber ich habe Bedeutendes erlebt. Viele dachten, sie mssten sich auf ihre Verbindung mit Hitler angesprochen entweder grer oder kleiner machen, je nachdem, wie es gebraucht wurde. Ich sehe weder zum einen noch zum anderen Veranlassung. Ich war immer ein unpolitischer Mensch. Ganz im Gegensatz zu meiner Frau, die SPD-Politikerin war, zeitweise sogar Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich habe mein ganzes Leben lang SPD gewhlt, ihr zuliebe. Ich selbst war nie Parteimitglied, nicht in der SPD, nicht in der NSDAP.

    Zur Waffen-SS habe ich mich nicht gemeldet. Ich wurde fr die Verfgungstruppe angeworben, man lockte mit der Mglich- keit, in den Staatsdienst bernommen zu werden. Zur Reichs- bahn wre ich gern gegangen. Erst spter wurde aus der Verf- gungstruppe die Waffen-SS.1

    Genesen von einer schweren Verwundung im Polenfeldzug und zurck in meiner Einheit, whlte mich mein Kompaniechef ei- nes Tages fr einen Posten in der Reichskanzlei aus. Ich stellte mich dort wie befohlen vor, und einen Tag spter, es war der 1. oder 2. Mai 1940, war Dienstbeginn. Mein neuer Chef hie Adolf Hitler.

    Wenn heute lange Diskussionen gefhrt werden, ob man Hit- ler berhaupt privat, eben als Mensch, zeigen darf, dann ver- mag ich das nur schwer nachzuvollziehen. Ich kenne ihn nur als Mensch. Als Mensch, der mein Chef und dem mein Wohlergehen wichtig war. Ein Chef, der mich von seinem eigenen Leibarzt un- tersuchen lie, wenn es mir schlecht ging, der mir spontan frei- gab, als ich mit einem Mdchen ausgehen wollte, der mir zu mei- ner Hochzeit zwei Kisten erlesensten Wein nebst Sonderzahlung

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    zukommen lie, der mich fr die enorme Summe von 100 000 Reichsmark lebensversicherte und der mich niemals anschrie. Wenn ich dennoch immer ein bisschen Angst hatte in Hitlers Nhe, dann, weil er eben der Chef war.

    Ich versuchte, wie es von mir erwartet wurde, alle an mich her- angetragenen Aufgaben bestmglich zu erfllen, freute mich ber die vielen Freiheiten, die mein Dienst oft mit sich brachte, und trieb auch mal Schabernack mit den Kameraden, mit denen ich mich gut verstand. Ein Fehltritt, den sich zwei von ihnen, die nach einer Vorfhrung von neuen Waffen Panzermodelle fr ihre Kin- der mitgehen lieen, leisteten, durfte mir nicht passieren ich wollte keinesfalls wieder zurck zur kmpfenden Truppe. Statt mit den blitzblanken, extra leichten Mastiefeln auf dicken Teppichen mit den schweren Soldatenstiefeln in Schlamm und Dreck einsin- ken nein. Der Gedanke an die Front machte es mir zustzlich leicht, mich als genau der zu prsentieren, den man ausdrcklich fr die Aufgabe gesucht hatte: einen, der keinen rger macht.

    Ich war nicht gern Soldat, machte mir nichts aus Dienstgra- den. Zeit meines Soldatenlebens gehrte ich zu den unteren Dienstrngen (zuletzt Oberscharfhrer2).

    Im persnlichen Begleitkommando des Fhrers war die Mglichkeit der Befrderung in einen hheren Dienstrang ohne- hin begrenzt. Fnf enge Kameraden meldeten sich deshalb an die Front und nur zwei kamen zurck, unter ihnen Otto Gnsche, der daraufhin Hitlers Adjutant wurde.

    Nun, fr mich war die Front erst mal weit, die Braut nah, die Arbeit im Begleitkommando abwechslungsreich, und im Ver- gleich zum Soldatenleben ging es locker zu. Solange wir sicher- stellten, dass immer jemand Dienst schob, konnten wir unterein- ander den Dienst tauschen, wie wir wollten. Die Zeiten auf dem Berghof (Obersalzberg) dort gab es einen eigenen Telefonisten waren ohnehin wie Urlaub.

    Selbstverstndlich ist mir bewusst, dass ich nicht von einem x- beliebigen Arbeitsplatz und irgendeinem Chef berichte. Mir war schon damals klar, dass ich mich an einem besonderen Ort unter lauter Menschen in herausgehobener Stellung befand. Ich wei heute , was in Deutschland und anderswo in deutschem Namen

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    geschah, whrend ich Leni Riefenstahl Tee servierte, mit General- feldmarschall Erwin Rommel auf dem Garderobentisch sitzend Fotos aus Afrika ansah oder aus Hitlers Arbeitszimmer die schne Stimme des jdischen Kammersngers Joseph Schmidt hrte, dessen Schallplatten der Chef so liebte. Damals wusste ich es nicht.

    Ich war weder bei Lagebesprechungen dabei noch war ich, wie die Adjutanten, persnlicher Gesprchspartner von Hitler. Was also kann ich berichten? Nach meinen Erfahrungen der letzten Jahre geht es gerade den jungen Leuten, die mich befragen, gar nicht darum, nochmals lngst bekannte Fakten besttigt zu sehen oder etwas ber Hitler als Mensch zu erfahren. Wie gelangte man hinein in das engste Umfeld Hitlers? Wie wurde man sein Bunkertelefonist? Auf welche Weise spielte sich in der Machtzen- trale Hitler-Deutschlands der Alltag fr Leute wie mich ab? Mit welchen Gefhlen nahm man Kriegsverlauf und Untergang aus meiner Position wahr? Dies sind die Fragen vieler junger Men- schen. Ich versuche sie in diesem Buch zu beantworten.

    Sicher ist weiterhin von Interesse, was in Hitlers letzten Le- benstagen geschah, wie der Bunker aussah und was mir zu Daten und Fakten erinnerlich ist, die heute zur Weltgeschichte gehren. Aber was sich in meinem Gedchtnis besonders festgesetzt hat, mir damals wichtig oder wertvolle Erfahrung war, dies deckt sich natrlich nicht immer mit dem, was historisch von Belang ist. Es ist mir gar nicht leichtgefallen, mich selbst in das Zentrum des Er- lebten zu rcken.

    Fr diese Biografie ist es unerlsslich, dass ich vieles von dem ausblende, was mich hindern wrde, von den Dingen so zu be- richten, wie ich sie damals wahrnahm. Die folgenden Schilderun- gen sollen weitgehend frei sein von rckschauenden Bewertun- gen, dem Wissen um das Ausma des Schreckens, das ich wie viele erst lange nach Ende des Krieges erfuhr. Nur dann kann ich wieder eins werden mit dem Rochus Misch von Mitte zwanzig, den es nun seit ber sechzig Jahren nicht mehr gibt.

    Dieses Buch ist keine Rechtfertigung. Ich bekam den Posten bei Hitler, weil mein Kompaniechef sich sicher war, dass ich eben kei-

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    nen rger machen wrde. Ich trat den Posten an, weil ich Soldat war, und ich behielt ihn, weil mein Kompaniechef recht hatte.

    Ich werfe mir heute nicht vor, dass ich unter den damaligen Umstnden funktionierte, dass ich meinen Dienst immer ordent- lich und gewissenhaft versah, selbst dann noch, als mir 1943 klar wurde, dass der Krieg verloren gehen wrde. Selbst dann noch, als er lngst verloren war. Selbst dann noch, als Hitlers Leiche brannte. Nein, ich werfe dem Rochus Misch von damals nicht vor, dass er keinen rger machte.

    Dennoch dass mir das so selbstverstndlich war, das macht mich nachdenklich. Ich lauschte damals Schwiegervaters Berich- ten ber alte SPD-Zeiten, hrte mit ihm den Feindsender und fuhr anschlieend wieder zum Dienst in die Reichskanzlei. Ich holte Onkel Paul aus dem KZ und danach ging ich wieder zu- rck zu Hitler. Im Juli 1944 glaubte ich nicht mehr die Bohne an den Endsieg, aber als uns nach dem Attentatsversuch die Telefon- verbindung in die Wolfsschanze zum berlebenden Hitler glckte, da war ich, in dem ganz konkreten Augenblick, schlicht erleichtert und sei es nur deshalb, weil nun die nervenzehrende Anspannung wegen der unklaren Befehlslage beendet war.

    Ich habe mich zur unbedingten Pflichterfllung eigentlich nie berwinden mssen, nie mit mir gekmpft, nie gezgert. Nur ganz am Schluss, als ich umkam vor Sorge um meine Frau und meine Tochter, da habe ich berhaupt einmal den Gedanken ge- habt, etwas Pflichtwidriges zu tun. Aber dann blieb ich doch im Bunker, bis mich der neue Reichskanzler Joseph Goebbels offiziell und als Letzten entlie. Ich war Soldat. Ich hatte meine Aufgaben, meine Anweisungen, meinen Platz. Und ich hatte einen guten Platz im Vergleich zu den Kameraden im Feld. Ich brachte Berge von Depeschen zu Hitler und vermittelte unzhlige Gesprche, aber ich habe das groe Ganze weder gesehen noch danach ge- sucht. Ich habe mich darum nicht bemht. Ich habe keine Fragen gestellt, wenn man besser keine stellte, und man wusste immer, wann man besser keine stellte. Ich habe aber auch keine Fragen gestellt, wenn man dies htte machen knnen. Ich sage es so wie es ist: Der junge Rochus hatte wenig Fragen.

    Als Hitlers Leibwchter habe ich die meiste Zeit ber herum-

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    gestanden, als sein Telefonist die Knpfe der Telefonanlage ge- drckt und als Kurier Papier durch die Gegend transportiert. Durch russische Behrden sollte das eines Tages als Unterstt- zung des Naziregimes abgeurteilt werden. Aber wer bleibt dann brig von meiner Generation, der sich in diesem Sinn nicht schul- dig gemacht hat?

    Wenn ich gefragt werde, was meine Aufgabe bei Hitler war, antworte ich hufig: Einfach nur da sein. Genau darber bin ich heute froh. Ich musste nicht mehr als einfach da sein. Und was, wenn es anders gewesen wre? Wie weit htten mich Pflicht- bewusstsein, Gehorsam und der Eid auf Hitler gehen lassen? Ich bin froh, dieser Prfung entgangen zu sein. Viele Kameraden hat- ten dieses Glck nicht.

    Ich erzhle meine Geschichte den jungen Leuten auch, damit sie es nicht versumen, rechtzeitig die richtigen Fragen zu stellen. Und um dem auf die Spur zu kommen, warum das damals mir und so vielen anderen nicht gelang, berichte ich von den Dingen mglichst so, wie ich sie seinerzeit wahrnahm.

    Meinen Weg von Schlesien ber die Oberlausitz und den Schwarzwald nach Berlin in die Reichskanzlei, vom Obersalzberg in die damalige ostpreuische Wolfsschanze, dann direkt vom Fhrerbunker in die Folterkeller des russischen Geheimdiensts GPU in der Moskauer Lubjanka, weiter in wechselnde Arbeitsla- ger in Karaganda (Kasachstan), Borowitschi (Oblast Nowgorod), Swerdlowsk (Ukraine) und Stalingrad und endlich nach fast neun Jahren Kriegsgefangenschaft wieder zurck nach Berlin ich mchte all dies so schildern, wie es mir begegnete. Meine Noti- zen, die ich kurz nach meiner Rckkehr aus russischer Kriegsge- fangenschaft im Februar 1954 mit-hilfe meiner Frau nieder- schrieb, sttzen meine Erinnerungen, die ich zustzlich in ausfhrlichen Gesprchen mndlich weitergegeben habe und die in diesem Buch aufgezeichnet sind.

    Rochus Misch Mai 2008

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    Ralph Giordano

    Vorwort: Misch Sie werden natrlich noch gebraucht

    Dieser Befehl vielleicht einer der gespenstischsten der Ge- schichte, wenn man das historische Ambiente bedenkt, unter de- nen er gegeben wurde ergeht am 22. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei des brennenden Berlin.

    Nachdem er mit der spten Erkenntnis Der Krieg ist verlo- ren soeben alle anderen aus seiner Umgebung von ihren Pflich- ten entbunden hatte, nimmt Adolf Hitler einen von ihnen aus, den Mann, der wie kein anderer die letzten fnf Jahre in ebenso ungeheuerlicher wie gewhnlicher Nhe des Fhrers zuge- bracht hat seinen Leibwchter und Telefonisten Rochus Misch.

    Der, Jahrgang 1917, heute also im einundneunzigsten Lebens- jahr, hat nun eine spte Chronik vorgelegt, deren Lektre mir als Aufgabe angetragen wird.

    Erste Reaktion Abwehr, mulmiges Gefhl. Luft das etwa ab im Stil von Napoleons Kammerdiener kennt den lEmpereur in Unterhosen?

    Mischs Vorwort enthebt mich solcher Befrchtung ich stoe auf einen wrdigen Einstieg, der mich nicht gleich in die Flucht schlgt. Dennoch soll ich mir einen Text zumuten, aus dem ich erfahren werde, wie es war und wie es zuging im Dunstkreis einer Horrorfigur, die ich zwischen meinem zehnten und zweiundzwan- zigsten Lebensjahr mehr als jede andere auf Erden gefrchtet habe, den Todfeind meiner jdischen Mutter, des geliebtesten Menschen auf der Welt?

    Als mir die Einfassung des Buchs mit einem Vorwort angetra- gen wurde, war mir Rochus Misch kein Unbekannter. Ich hatte ihn des fteren gesehen in den TV-Sendungen von Guido Knopp ber die Geschichte des Dritten Reichs. Darin stellt er sich als das dar, was er damals war als eines der vielen Millionen Rdchen im Getriebe eines Staatssystems, das von ihnen bis fnf Minuten

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    nach zwlf in Gang gehalten wurde. Wenn auch in diesem Fall in schwindlig machender Hhenluft.

    Was hat uns dieser Rochus Misch heute zu sagen? Das lag nun schriftlich vor mir. Ich habe mich hineinvertieft.

    Und hier sind meine Gedanken dazu.

    I.

    Am Anfang zwei Fragen.Die erste: Wie wird da umgegangen mit dem historischen, also dem geschicbtsrelevanten Hitler, dem Schrecken Europas und der Welt? Und wie mit dem anderen, der tagsber Sigkeiten und Gebck nascht, nett ist und hchst hundelieb, also dem geschichts- unrelevanten Hitler?

    Um darauf gleich zu antworten: Das Buch ist ein Beleg dafr, dass er sich von diesem, von seinem Hitler, dem Chef, wie er ihn nach wie vor nennt, nie wirklich hat trennen knnen.

    Was hinlenkt auf die zweite Frage: Wo steht Rochus Misch ge- genwrtig? Die zweite Antwort ergibt sich aus der ersten: Die Be- gegnung mit Hitler erweist sich als unaufhebbar verinnerlicht.

    Trotzdem setze ich die Lektre fort: Denn obschon wirklich erarbeitete Distanzierung nicht sichtbar wird und der Mann in vlliger bereinstimmung mit den herrschenden Ideen der NS- Zeit war, mag ich Rochus Misch nicht einen glhenden Nazi nennen. Da wird etwas Intellektfernes sichtbar, eine unverberg- bare Unfhigkeit, zu analysieren und zu interpretieren, bei gleichzeitig scharfer Beobachtungsgabe, aber emotional begrenz- ter Eindrucksfhigkeit. Heraus kommt eine fast holzschnittartige Aufrichtigkeit, die seine Aufzeichnungen jedem Verdacht von Voyeurismus entzieht, daneben aber auch die Enge seiner Wahr- nehmungsmuster entblt. Einerseits Defizite, die andererseits jedoch zur Authentizitt seiner Erinnerungen beitragen. Der na- trliche Argwohn, posthum beschwindelt zu werden, kommt gar nicht erst auf. Vielmehr entdecke ich mich dabei, auf die jeweils folgenden Seiten neugierig zu sein.

    Wobei ich mir nur zu genau bewusst bin, an welch unheim- lichem Topos sich die Schilderungen und Erinnerungen abspielen.

  • 21

    II.

    Die krperliche, sozusagen geografische Nhe zu dem groen Zerstrer bleibt fr mich durchgehend befremdend, und das umso befremdender, je mehr die geschichtsunrelevanten Facetten dieses Daseins direkt oder indirekt zum Vorschein kommen. So, wenn man erfhrt, dass Hitler eine Leidenschaft frs Kegeln hatte, gern Apfel- und Kmmeltee trank, dem kleinen Hund der Kchin aufgerumt zurief: Wo kommst du denn her, kleiner Racker? oder aus seinen Rumen operettenhafte Schmachtfet- zen wie Dein ist mein ganzes Herz erklangen. Dazu Misch: Als ich den schnen Gesang vernahm, schaute ich unglubig zum Fenster in Hitlers Arbeitszimmer. Nachdenklich in sich zu- sammengesunken sa er wie der einsamste Mensch in seinem Ses- sel. Hier habe ich den traurigsten Hitler gesehen.

    Doch es wird noch enger.Ich jedenfalls zucke zusammen bei Stzen wie diesem: Ich

    habe nie irgendwelche Intimitten zwischen Hitler und Eva beob- achtet. Dann die Szene, als Misch, auch Leibtelefonist, Depe- schen in Hitlers Wohnung bringt und er durch die offene Tr des Schlafzimmers auf eine Eva Braun in einem dnnen Nachthemd blickt. Das Blut schoss mir in den Kopf, erinnert er sich so viel spter, aber immer noch wie atemlos vor Entsetzen. Eva hatte mich bereits bemerkt, daher traf mein Blick gleich ihre Augen. Sie sagte nichts, hob lediglich ihren rechten Zeigefinger an die ge- schlossenen Lippen. Ich machte sofort kehrt

    Wird hier nun doch lstern durchs Schlsselloch gegiert? Der Eindruck kommt nicht fr eine Sekunde auf, Mischs Persnlich- keit schliet solche Assoziation einfach aus. Aber auch nach Ver- herrlichung Hitlers durch seinen Leibwchter, nach Inschutz- nahme des Fhrers sucht man vergebens. Und das ganz im Gegensatz zu einem anderen Hitler-Nahen, seinem Leibsteno- grafen Henry Picker. Der, Jahrgang 1912 und seit 1930 Mitglied der NSDAP, hat die Tischgesprche im Fhrerhauptquartier von Mrz bis Juli 1942 nicht nur Wort fr Wort aufgenommen, son- dern in der Jubilumsausgabe von 1983 auch kommentiert, was sein Herr und Meister in der ra des NS-Machtzenits an Unsg-

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    lichkeiten abgesondert hat. Unfhig, seine Verfallenheit an den Chef auch Picker nannte Hitler so zu berwinden, offenba- ren die eingeschobenen und als solche kenntlich gemachten Kom- mentare und Interpretationen den hochgebildeten Stenografen letztlich als geistigen Lakaien und unbelehrbaren Apologeten. Roter Faden auf hohem Bildungsniveau: fortwhrende, schlecht getarnte Inschutznahme des geschichtsrelevanten Hitler. Dass Picker, typischer Vertreter eines nichthuman und nichtdemokra- tisch motivierten Antikommunismus, dabei jedes Verstndnis fr die extremen Leiden der Sowjetvlker im Kampf gegen die deut- schen Aggressoren und Okkupanten abgeht, kann also nieman- den verwundern.

    Ich habe die so kommentierten Tischgesprche als einen hand- festen Skandal fr ihren Herausgeber Picker empfunden, als cha- rakteristisches Beispiel dafr, wie die Bundesrepublik sich mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe auseinandergesetzt hat.

    Ein hnliches Empfinden der Abscheu hatte ich bei diesem Buch von Misch nicht.

    III.

    Allerdings war eine Reaktion bei der Lektre beider Bcher, der des Leibwchters und der des Leibstenografen Hitlers, die gleiche. Ob sich der eine nun zu seiner Hochzeit ber das handschriftliche Herzlichen Glckwunsch Adolf Hitler gefreut hat oder der andere den Chef von deutschen Siedlungsperlen an Don und Wolga fr die nchsten fnfhundert Jahre schwadronieren lie immer wieder war ich hilflos einem Gedanken ausgeliefert: Wie viele Gaskammertote konnte der Auschwitz-Birkenau-Komman- dant Rudolf H an dem Tag verbuchen, als Hitler seinem Leib- wchter und dessen Frau Gerda zur Vermhlung gratulierte? Wie viele Widerstandskmpfer wurden im besetzten Europa gerade f- siliert, wie viele Geiseln in der Minute erschossen, als Hitler den Hund der Kchin leutselig kleiner Racker nannte? Wo berall und wie viele Mnner, Frauen und Kinder wurden von den mobi- len Mordkommandos der Einsatzgruppe A, B, C und D hinter und

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    an der deutschen Ostfront unter dem Deckmantel der Partisanen- bekmpfung umgebracht, als Misch den zusammengesunkenen Hitler in dessen Arbeitszimmer erblickte? Und wie viele Leichen in den Vernichtungslagern verbrannt, als sich sein Blick durch die of- fene Schlafzimmertr mit dem Eva Brauns traf?

    Fr berlebende des Holocaust sind dies typische Zwnge, die besttigen, dass ein Teil ihres Ichs mitgemordet wurde, um nie wieder aufzustehen.

    Zur Biografie: Am 29. Juli 1917 geboren, sterben Rochus Misch innerhalb der nchsten fnf Jahre die Mutter und der ltere Bruder weg der Vater lebte schon bei der Geburt nicht mehr , so- dass er als Waise bei den Groeltern aufwchst. Acht Jahre Volks- schule, danach malt er an Kinoplakaten und Reklameschildern. Was wird? Die Antwort knnte sein, abgewandelt von Sigmund Freud: Anatomie ist Schicksal denn Rochus Misch ist ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und Gardema.

    Nach Musterung wird der Adonis fr die Leibstandarte SS Adolf Hitler ausgewhlt und am 1. Oktober 1937 in Berlin- Lichterfelde eingezogen. Einziges Kriterium fr seine sptere Ab- ordnung in Hitlers Begleitkommando: Der Mann soll keinen r- ger machen. Eine Maxime, an die sich Rochus Misch gehalten hat, und zwar im buchstblichen Sinn bis zum letzten Atemzug des Fhrers.

    Befehlsgewalt hatte er keine, ebenso wenig einen nennenswer- ten Rang. Gefuchst hat ihn das nicht, wollte er doch ber die Be- frderung zum SS-Oberscharfhrer hinaus ausdrcklich keinen hheren Dienstgrad haben: Wozu denn? Ich war doch schon beim Fhrer(!), schreibt er sechzig Jahre spter. Mitglied der NSDAP war er brigens nie, was er eher beilufig erwhnt. Dass er sich darauf posthum nichts zugutetut, ist eben auch Rochus Misch. Fr die Generle und Parteibonzen ist er gerade noch eine Begrungsadresse, aber keine Person von Aufhebung und Inter- esse. Er hatte seine Funktionen als Leibwchter und als Telefo- nist, und die sind klar abgegrenzt.

    Und doch zhlte dieser Mann zum innersten Kreis um Adolf Hitler, spinnt sich, unsichtbar, fast Familires hin und her, atmo- sphrisch Selbstverstndliches. Rochus Misch gehrt zum Inven-

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    tar der Fhrer-Entourage mit einem sicheren Platz in der Nhe des Herrn ber alle und ber alles.

    Da kommt es einem brhwarm und gruselig hoch, wenn man nun liest, wie Hitler mein Wohlergehen wichtig war. Ein Chef, der mich von seinem eigenen Leibarzt untersuchen lie, wenn es mir schlecht ging, der mir spontan freigab, als ich mit einem Mdchen ausgehen wollte, der mich fr die enorme Summe von 100000 Reichsmark lebensversicherte und der mich niemals an- schrie. Also ganz der Hitler, wie ihn seine Sekretrin Traudl Junge geschildert hat und wie wir ihn aus Bernd Eichingers Der Untergang kennen. Fr die Weltgeschichte hatte der Hitler dieser Aufzhlung keine Bedeutung gehabt, wohl aber fr Rochus Misch.

    So viele Attentate auf Hitler auch geplant und bis auf eines fehlgeschlagen sind seine Aufgabe als Leibwchter bei einem konkreten Angriff auf die Schutzperson hat weder Misch noch ei- ner seiner Kameraden ausben knnen. Die Chronik liefert kei- nen einzigen Fall, dass er eine Kugel auf das Staatsoberhaupt htte abfangen mssen was Misch, htte es einen solchen gegeben, si- cher vermeldet htte. Am 20. Juli 1944 war er nicht an Ort und Stelle, sondern gerade als Kurier in Berlin. Htte er sich, gegebe- nenfalls, zwischen Bombe und Hitler geworfen? Ich glaube den Mann mittlerweile so gut zu kennen, dass ich diese Frage unver- zglich mit einem Ja beantworte. Es knnte brigens sein, dass Misch in dieser Zeit an der Uhr der Weltgeschichte mitgetickt hat. Jedenfalls hat er am 20. Juli 1944 in der Telefonzentrale der Berli- ner Reichskanzlei am Zustandekommen der entscheidenden Ge- sprche zwischen dem Kommandanten des Berliner Wachbatail- lons, Major Remer, Goebbels und Hitler technisch mitgewirkt.

    Lebte Hitler oder lebt er nicht?, lautete die alles entscheidende Frage.

    Ich hatte offiziell gar keinen Dienst, war ja auf Kurierfahrt, lsst er uns von diesen geschichtsschweren Stunden wissen. Aber meine Kameraden konnten die Probleme so schnell nicht allein lsen ich kannte mich mit der Telefonanlage am besten aus. Und er schafft es: Hitler lebte. Er sprach mit Goebbels, dann mit Remer. Erkennen Sie mich an der Stimme?, fragte Hitler den

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    Major. Der bejahte. Hitler befahl Remer, sich und sein Bataillon allein seiner persnlichen, also Hitlers, Befehlsgewalt sowie der von Goebbels zu unterstellen: Sie mssen das jetzt mit Goebbels ausmachen, ich kann von hier nichts unternehmen. Damit war der Spuk vorbei.

    Der Spuk Nach diesem Datum werden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehr Soldaten und Zivilisten gettet werden, als zwischen seinem Ausbruch am 1. September 1939 und dem 20. Juli 1944.

    Politische Urteile gibt Misch selten preis, aber im Fall der Ver- schwrer um Stauffenberg weist er doch darauf hin, dass sie da- mals unter seinesgleichen als Kameradenmrder galten, wobei er bekrftigend hinzu setzt: Wesentlich Schlimmeres gab es nicht. Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind sie ihm noch immer sehr prsent die alten Wertvorstellungen von damals. Dass das Subjekt des Anschlags das Schlimmste, das Aller- schlimmste verkrperte, der Gedanke blieb ihm verschlossen. Eine innere Beziehung zur Welt der deutschverursachten Opfer, eine wirklich humane und demokratische Sozialisation, Wirkungen von mehr als einem halben Jahrhundert Aufklrungsarbeit ber Hitler-Deutschland, vermag ich an solchen Stellen nur schwer zu erkennen. Aufarbeitung von Geschichte das ist etwas, was an Rochus Misch abgetrufelt zu sein scheint wie Wasser an einer Re- genhaut.

    Und doch stimmt das so nicht ganz.

    IV.

    Persnliche Unmenschlichkeit und grausame Gesinnungen wer- den nicht sichtbar. Dennoch fllt es schwer, von einem Verlust der humanen Orientierung zu sprechen denn wie kann man verlieren, was man gar nicht hat?

    Bezeichnenderweise macht Misch den kriminellen Charakter des NS-Regimes nur an einem Punkt fest, und auch das eher hal- ben Herzens: dem Holocaust, der Vernichtung der europischen Juden im deutschen Machtbereich. Die begann im groen Stil aber erst nach dem berfall auf die Sowjetunion im Juni 1941

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    durch die vier mobilen Einsatzgruppen, ehe sie fortgesetzt wurde mit den stationren Vernichtungszentren ab nchstem Frhjahr. Doch wird der verbrecherische Charakter des Systems wirklich erst sichtbar, als die Juden abgeschlachtet wurden?

    Was war denn mit den acht Jahren von 1933 bis dahin?Da Rochus Misch bei Hitlers Machtantritt siebzehn war, also

    kein Kind mehr, sondern ein junger Mann, taucht ganz von selbst die Frage auf, wie und was er von den ffentlichen Geschehnissen wahrgenommen hat, die den wahren Charakter des NS-Staates von vornherein unverbergbar prgten.

    Also: das abrupte Ende der Weimarer, der demokratischen Re- publik (die in seinem Buch berhaupt nicht vorkommt, obwohl er die ersten mehr als anderthalb Jahrzehnte darin zubringt); das Ver- bot aller Parteien, auer der NSDAP, und der freien Gewerkschaf- ten; der Boykott jdischer Geschfte, und zwar bereits am 1. April 1933; die ffentlichen Bcherverbrennungen im Mai desselben Jahres; der viehische Mord an Hitlers SA-Rivalen Ernst Rhm nebst weiteren unliebsamen Personen Ende Juni 1934, das Tages- gesprch der Nation, wie ich mich erinnere; der aus allen Poren des NS-Propaganda- und Agitationsapparats schieende tagtg- liche Antisemitismus; die in alle Himmelsrichtung herausge- schriene Entrechtung der deutschen Juden durch die Nrnberger Rassengesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deut- schen Ehre; die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. Novem- ber 1938; die Annexion sterreichs, des Sudetenlandes und der Tschechoslowakei sowie die Deportationen deutscher Juden im Grodeutschen Reich ab 1940 unter offenem Himmel und am helllichten Tag.

    Die Wahrnehmung dieser (damals allen erwachsenen Deut- schen bekannten) Tatsachen aus der ersten Halbzeit des Tau- sendjhrigen Reichs durch Rochus Misch ist gleich null. Wo er dennoch auf diese Jahre zurckkommt, an zwei Stellen, entblt sich eine zurckgebliebene bis regimeapologetische Sicht.

    Beide Male dreht es sich um Selbsterlebtes: Die Berliner Olym- piade von 1936, auf der er Hitler zum ersten Mal leibhaftig sieht: Die Menschen gerieten schier auer sich alles jubelte und schrie es war ohrenbetubend. Ich wurde von der ganzen Stim-

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    mung vllig mitgerissen, irgendwann schossen mir die Trnen in die Augen. (Auch ich erinnere mich daran als Hhepunkt na- tionaler Fhrer-Besoffenheit.)

    Das andere Mal geht es, wie er es nennt, um den Einmarsch in die Resttschechoslowakei im Mrz 1939, der mit einer kriege- rischen Auseinandersetzung nichts zu tun hatte. Von den Ein- wohnern in ilina wurden wir freundlich empfangen, schreibt Misch 2008. Er hatte inzwischen Zeit genug, um sich bekannt ge- macht zu haben mit den anderen Bildern jenen von weinenden und vom Straenrand her mit in ohnmchtiger Wut erhobenen Fusten den deutschen Truppen drohenden Pragerinnen und Pra- gern.

    Bis hierher ist lngst klar: Dies ist ein junger Mensch, der sich in vlliger bereinstimmung mit den herrschenden Ideen seiner Zeit befand, ganz wie die berwltigende Mehrheit der damali- gen Deutschen, und doch in einer Sonderrolle als Hitlers Leib- wchter und Telefonist, also im Zentrum des Bsen. Aber so pa- radox es klingen mag gerade die Nhe zu Hitler knnte eine Erklrung fr seine beteuerten Kenntnisdefizite sein: Vom Wehr- dienst freigestellt, wird er nicht zum Zeugen von Vernichtungsak- tionen an und hinter den Fronten wie so viele Soldaten erstens. Zweitens, und das ist eine kaum zu berbietende Ungeheuerlich- keit: Im Dunstkreis Adolf Hitlers wird von KZ und Holocaust nicht gesprochen. In der internen Runde, zu der auch der Statist Rochus Misch zhlte, waren diese Begriffe tabu.

    Man glaubt ihm, und wird noch einmal getroffen durch eine gleichsam beilufige Beobachtung: Wenn Himmler kam, zog Hit- ler mit ihm hinter geschlossene Tren.

    Irgendwann entfhrt es Misch: Wie konnten Untaten solchen Ausmaes nur ein so gut gehtetes Geheimnis bleiben?

    Das sind so die Stellen, in denen ich das Manuskript aus den Hnden legen muss, weil sie schwer zu ertragen sind.

    Gleichzeitig entdecke ich, der Ttererfahrene, dass ich Ro- chus Misch nicht grollen kann ein unbestimmtes Gefhl, das schwer zu definieren, aber da ist.

  • 28

    V.

    Weite Strecken von Hitlers Leben, und also auch dem seines Leibwchters, boten das Bild eines Maulwurfdaseins, dessen oberirdischer Teil einen Namen hatte Wolfsschanze. Hier, tief in den Wldern Ostpreuens, verbrachte Hitler vom berfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 die nchsten fast dreiein- halb Jahres bis zum Herbst 1944.

    Man muss diesen Platz des Schreckens, genannt Fhrer- hauptquartier, gesehen haben, um es zu glauben. Da trmen sich keine Steine, sondern Gebirge von Beton, liegen Betonplat- ten wie Kontinentalschollen untergegangener Erdteile aufeinan- der, ragen Stmpfe mit verbogenen Stahlstangen wie klagend in die Luft, erheben sich gigantomanische Elefantenrcken hoch ber den Boden, in dem sie noch einmal tief verankert sein sol- len. Die aufgebrochenen, auseinandergerissenen, dynamitzerfetz- ten Bunker geben verrterischerweise die ngste des Bauherrn und ihrer sonstigen Bewohner preis. Decken und Wnde haben eine Dicke von bis zu acht, ja zehn Metern, das sind keine menschlichen Mae mehr. Sie sollen das kostbare Leben derer schtzen, die es ohne Wimpernzucken Millionen zu nehmen ge- wohnt waren.

    Ein zyklopisches Chaos, so sieht Wilczy Szaniec, die Wolfs- schanze, heute aus. Ich hatte es aufgesucht fr mein Buch Ost- preuen ade Reise durch ein melancholisches Land.

    Da brteten sie dumpf vor sich hin, Bauwerke von zermal- mendem Gewicht auch noch in ihrem geplatzten Zustand. ber- all Lcher, ffnungen, leichter Zutritt ins Innere was als ge- fhrlich angedroht wird. Deshalb Warntafeln mit groer Aufschrift und in vier Sprachen, auf Polnisch, Russisch, Englisch und Deutsch: Eintritt streng verboten Lebensgefahr.

    Aber halten konnte ich mich nicht daran.Da wuchtete er hoch, nrdlich der stillgelegten Bahnlinie, die

    das Gelnde durchzieht, in Zone 1 der Fhrerbunker. Nach dem Lageplan trgt er die Nummer 13 und ist, wie es sich gehrt, das grte dieser Ungetme, unter sieben Bunkersauriern sozusa- gen der Brontosaurus.

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    Den habe ich dann betreten ich konnte nicht anders.Zu unglaublich war es, dass ich dort stand, an diesem Platz,

    einst Zentrum der eigenen tdlichen Bedrohung. Es konnte nicht wahr sein, dass ich mich, wenn auch verbotenerweise, mitten im Fhrerbunker befand, whrend Adolf Hitler, der Minotaurus dieses Labyrinths aus knstlichem Stein, inzwischen schon seit mehr als einem halben Jahrhundert tot ist. Wie kann es sein, dass ich dagegen lebe? Lebe nach so viel unvergessener Gewissheit ein Dutzend Jahre lang, dass die Meinen und ich diesen Fhrer nicht berleben wrden? Und doch musste es stimmen, denn ich sprte: Es ist windstill. Ich sah: Grn schoss aus den Betonklf- ten, nistete in den Spalten, trieb junge Stmme ans Licht.

    Ich rhrte mich nicht vom Fleck, eine Minute lang. Deren Ewigkeit ich nie vergessen werde.

    Die Wolfsschanze, die Trmmer des ehemaligen Fhrer- hauptquartiers in der Nhe von Ktrzyn, dem ehemaligen Ras- tenburg, materialisieren auf zweieinhalb Quadratkilometern in konzentrierter Form den ganzen Wahnsinn des sogenannten Drit- ten Reichs. Zwischen diesem Ort und den Panzerspitzen hatten einmal zur Zeit der grten Machtausdehnung bis an Wolga und Kaukasus im August 1942 an die dreitausend Kilometer gelegen. Eine Distanz, die im Oktober 1944 von den sowjetischen Panzer- verbnden des Generals Tschernjakowski auf kaum mehr als fnfzig Kilometer gekrzt war.

    Das hatte Folgen.Am 2. November 1944, nachdem noch riesige Leichenmassen

    verbrannt worden waren, werden in Auschwitz die Vergasungen eingestellt. Achtzehn Tage spter, am 20. November 1944, nimmt Adolf Hitler sehr unfreiwillig Abschied von der Wolfsschanze. Fr immer so sein Leibwchter und Telefonist Rochus Misch.

    VI.

    Dann auf einem seiner anderen Aufenthalte dem Obersalzberg: Das ist kein Berg, auch keine Bergkuppe, noch weniger eine Ort- schaft, sondern ein Hang ber einem alten Salzbergwerk. Hier war Hitlers momentaner NS-Staat en miniature und seine sptere

  • 30

    Alpenfestung. Betrende Kulisse Bruchtaler, Steinernes Meer, Groer Hundstod, Groes Teufelshorn.

    Mein Ziel aber ist das Kehlsteinhaus, Hitlers Adlernest, 1834 Meter hoch, sozusagen das Privatissimum des sonst unifor- mierten Fhrers, ein fr mich in seiner zivilen Verlogenheit be- sonders abstoender Ort. Die einzigen Fotos und Filmaufnahmen von Hitler nach 1933 in zivilen Textilien, die mir vorgelegt wor- den sind, kamen von hier und seinem Berghof, seinem sporadi- schen Domizil. Unertrgliche Idyllen, mit Eva Braun und Schfer- hund, familires Ambiente, linkische Gebrden und eherner Blick des Einzigen auf die grandiose Bergwelt ringsum. Bilder, die mir die Auffahrt zum Kehlsteinhaus extrem schwer machten, ganz ab- gesehen von der physischen Anstrengung, die steinerne Treppe mit ihren sechsundsiebzig Stufen bis zum Plateau hinaufzustap- fen. Fr die letzten 124 Meter htte auch der messingglnzende Fahrstuhl (Original!) benutzt werden knnen, aber meine NS-ver- ursachte Klaustrophobie traute sich nicht

    Einer meiner Versuche, mit der Vergangenheit fertig zu wer- den, bestand darin, mir selbst zu helfen, indem ich berhre, an- fasse, andenke, was mir seinerzeit Abscheu, Todesangst, Grauen eingeflt hat dass ich mich dem stelle. Der Aufstieg zum eagle nest, wie die Amerikaner das Kehlsteinhaus genannt haben, war einer dieser Versuche.

    Whrend ich mich in das Manuskript von Rochus Misch ver- tiefe, kommen mir Bilder und Gefhle von und an dieser Sttte wieder hoch. Die sachten Atembeschwerden, wenn auch nicht der dnnen Luft wegen, Flucht- und Umkehrgedanken, je hher hin- auf, desto bedrngender. Dazu das alte Bedrfnis, die wahren Motive fr den Wunsch davonzulaufen, vor mir selbst zu ver- schleiern: Warum tust du dir diese Strapaze blo an? Von allen Ankmmlingen bist du es ohnehin allein, der hier auf Schusters Rappen aufwrtsstrebt. Was also soll das ganze Abenteuer?

    Spter, im Bunker des Obersalzbergs, ungefhr das Einzige, was nach den frchterlichen Bombardements im April 1945 von der Alpenfestung brig geblieben ist, geht es tiefer, immer tiefer nach unten: Gefngniszellen des ehemaligen Reichssicherheits- diensts, Schlafrume der Leibwache, Hundezwinger, Maschinen-

  • 31

    gewehrnester, Verbindungsstollen taub, stumm und doch auf frchterliche Weise gegenwrtig. Weiter zum Bormann-Bunker, zum Filmarchiv, zu den SS-Kasernen. Ein Wegweiser informiert: Der Gang endet sechzig Meter weiter unten. Soll er! Ich schaue hinab, wo er sich diffus verliert, und erspare mir die unterste Etage dieses glitschigen Labyrinths, das ein wahnsinniger Mino- taurus hier einsenkte, eine Krypto- und Katastrophenexistenz, ein Maulwurf und Unterirdischer.

    An diese Stunde, an diesen schon etwas zurckliegenden Tag denke ich, whrend ich mich in der Biografie des Leibwchters und Telefonisten Rochus Misch vorarbeite.

    Ein Fanatiker ist der Mann nicht, so wenig wie ein Militarist. Am Anfang des Polenfeldzugs verletzt glatter Lungendurch- schuss auf dem Vormarsch nach Warschau , wei er, was Krieg bedeutet. Kaum verhlltes Entsetzen, an die Front zur kmpfen- den Truppe zurckzukehren. Seine zuknftige Aufgabe bewahrt ihn davor. Ein schlechtes Gewissen aus diesem Grund ist nicht zu erkennen. Seine neue Adresse: Reichskanzlei, Berlin, Wilhelm- strae 77 die Wohnung des Fhrers. Die Treppe dahin hat zweiundzwanzig Stufen.

    Misch ist Mdchen fr alles Lufer, Austrger von Zei- tungen und Depeschen, und lngst vertraut mit den Verhaltens- maregeln im Allerheiligsten des Reichs: Wenn man dem Fhrer begegnet zur Seite treten, nichts machen! Entweder er spricht ei- nen von selbst an oder eben nicht. Also, alles, blo nicht dem Fhrer begegnen. Er ist einer von zwanzig, drei Schichten, rund um die Uhr. Der Adjutantenflgel ist keine zwlf Meter von Hit- lers Privatrumen entfernt.

    Misch schreibt: Ich hatte weder ein Monster gesehen noch ei- nen bermenschen Der Privatmann Hitler war ein normaler, ein einfacher Mann, der einfachste Mensch, den ich kannte. Nur nach auen schlpfte er in seine Fhrerrolle. Bei solchen Stzen frage ich mich wieder und wieder, wie jemand mit einem anderen Bildungsstand und mit analytischem Verstand seine Erlebnisse in- terpretiert htte. Und denke: Hier geht der Nachwelt gewiss an intimer Kenntnis manches verloren, whrend anderes hinzu- kommt, was eine intellektuelle Perspektive bersehen htte.

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    VII.

    Schlielich das Ende, wieder maulwurfshaft, im Bunker der Reichskanzlei, tief unter der Erde. Schwere Stahltren, gasdichte Schleusen, aber zu spt damit begonnen es tropft, Sickerwasser muss abgepumpt werden. Letztes Mauseloch eines politischen Bankrotteurs, dem das nationale Kollektiv seiner Anhnger bis in die Endphase hrig war. Und alles nun zusammengeschrumpft auf die Frage: Wo stehen die Russen? Das ist jetzt das Hauptpro- blem fr den einstigen Herrn ber Europa und weite Teile der Weltmeere

    Und dann, gespenstisch, doch wahr, weil es von Rochus Misch kommt: Der Telefondienst geht noch, die Reichskanzlei wird an- gerufen! Eine Frau schreit, dass ihre Nachbarin vergewaltigt werde: Hilfe, Hilfe so helfen Sie doch. Im Hintergrund hrte man furchtbare Schreie.

    Noch einmal: Mir fiele es schwer, das zu glauben, wenn es nicht aus dieser Feder kme.

    Am Schluss, endlich, die Entlassung aller, auer: Misch, Sie werden natrlich noch gebraucht!

    Natrlich Und so bleibt er denn und berichtet hautnah von den letzten Tagen und Stunden einer Gtterdmmerung, die ver- glht mit der Langsamkeit, mit der sich zwei Eiszeiten ablsen. So jedenfalls will es mir gegen Ende der Lektre scheinen. Doch whrend es fr Hitler und seine zusammengeschmolzene Umge- bung enger und enger gert, wird mir immer weiter und offener zumute.

    Wer hier unten zurckgeblieben ist, der wartet nur noch auf eines: den Schuss. Oder auf die Schsse, denn Eva Braun ist auch dabei, nun sogar als Angetraute des Fhrers.

    Es folgt die Apokalypse in dieser kalten, feuchten und nur von Kunstlicht beleuchteten Gruft ohne jeden Kontakt zur Auenwelt. Der Tod der Goebbels-Kinder auch dieses Grauen geschildert mit der exemplarischen Ausdruckskargheit des Chronisten, und doch mit einem bisher ungehrten Unterton: Ich musste mit so vielem fertig werden dies werde ich niemals los.

    Das glaubt man ihm. Auch dass er keine Selbstttung began-

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    gen htte vor Hitlers Ende. Dessen wird er erst Ohren-, dann Au- genzeuge.

    Rochus Misch bleibt am Leben.Er wird es in den folgenden neun Jahren wohl mehr als einmal

    bedauert haben: russische Gefangenschaft, endlose Verhre, da- runter auch in der berchtigten Moskauer Lubjanka, Folter. Die Russen konnten nicht glauben, dass Hitler tot sein sollte da war sein Leibwchter und Telefonist klger.

    Die eigenen frchterlichen Leiden beschreibt er mit jener Zu- rckhaltung, die typisch ist fr ihn, und die Zweifeln keinen Raum lassen: Irgendwann, in meinen eigenen Exkrementen lie- gend, verlor ich die Besinnung. Das ist auch schon das uerste, sonst nur trockene Aufzhlung: erste Post im Oktober 1948; am 21. Dezember 1949 Massenprozess ohne eigentliches Gerichts- verfahren mit Todesurteil, 1950 umgewandelt in fnfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Militrgefngnis in Kasachstan, Speziallager bei Leningrad und Moskau, im Ural und in Stalingrad. Schlie- lich Weihnachten 1953 in das Kriegsgefangenenauffanglager Fr- stenwalde bei Berlin, DDR von dort gelingt ihm die Flucht. Am 31. Dezember 1953, ihrem Hochzeitstag, sieht er nach bald neun Jahren seine Frau wieder.

    Ich schlage das letzte Blatt um und atme, sehr berhrt von diesem Schicksal, tief auf.

    Epilog

    Die Verflochtenheit mit der NS-Zeit ber ein langes, langes Da- sein hin, wie sie bei dem nunmehr ber neunzigjhrigen Rochus Misch so berdeutlich sichtbar wird, ist unter anderen Vorzei- chen auch die zentrale Erfahrung meines eigenen fnfundachtzig- jhrigen Lebens. Obwohl fr beide gilt, dass die Jahre 1933 bis 1945 nur Bruchteile davon ausmachen.

    Bei dieser Statistik aber hren die Parallelitten auch schon auf.

    Dennoch bin ich der Vita von Misch mit groer persnlicher Anteilnahme und hohem historischen Interesse gefolgt.

    Mein Leben ist nach seinem grten Ereignis, der Befreiung

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    vom 4. Mai 1945 durch die 8. Britische Armee in Hamburg, ent- scheidend mitgeprgt worden von dem, was ich die zweite Schuld genannt habe also der Verdrngung und Verleugnung der ersten Schuld unter Hitler in der 1949 entstandenen Bun- desrepublik Deutschland. Und das nicht allein als moralische oder rhetorische Kategorie, sondern tief verankert durch den groen Frieden mit den Ttern, wie ich es bezeichnete.

    Denn in der Tat wir leben in einem Land, wo dem grten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und Abermillio- nen Opfern, die wohlbemerkt hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das grte Wiedereingliederungswerk von Ttern gefolgt ist, das es je gegeben hat. Von wenigen Aus- nahmen abgesehen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Es klingt wie ein historischer Irrwitz, aber die Funktionselite der Bundesrepublik Deutschland war bis in die siebziger Jahre hinein in weiten Teilen identisch mit der Hitler-Deutschlands. (Wobei die DDR mit ihrem ebenso verlogenen wie verordneten Antifaschis- mus schon von ihrer Grundstruktur her unfhig war, die NS-Ge- schichte wirklich aufzuarbeiten, der Begriff zweite Schuld also auch auf sie zutrifft.)

    Ja, sie sind davongekommen, die gesamte Skala der Tter- schaft hinauf und hinunter, von den Ttungsarbeitern in den KZs, unterste Glieder in der Kette des industriell betriebenen Serien-, Massen- und Vlkermords, bis zu den Bauherren von Auschwitz im Reichssicherheitshauptamt, Dach des Vernich- tungsapparats.

    Kein Wunder, dass in den Jahrzehnten seither immer wieder an den mir von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt appelliert worden ist. Ein beruhigtes Leben war es nicht, als Nachbar der zweiten Schuld, auch wenn es daneben in der Bundesrepublik groe Anstrengungen historischer Aufarbeitung und kraftvolle Demokratieprozesse gegeben hat. Dennoch stand ich mehr als einmal vor der Frage: Gehst du oder bleibst du? Ich blieb, und werde bleiben. Aber, noch einmal, leicht ist es nicht angesichts ei- nes Verfassungsschutzberichts von 2006, der ber achtzehntau- send rechtsextrem motivierte Vorflle verzeichnet.

  • Dem Verlag bin ich dankbar, dass er mich mit der Aufgabe be- traut hat, das Manuskript zu sichten und meine Assoziationen dazu einzubringen. Die Lektre hat mich ber das Persnliche hinaus noch einmal in ganz bestimmten Erkenntnissen besttigt.

    Unter dem Codewort Deutschland das Opfer der Ge- schichte, das nach dem Ersten Weltkrieg aufkam, war Hitler die personifizierte Summe aller Fehlschlsse aus der ra des Zweiten Deutschen Reichs von 1871 bis 1918. Die Logik dieser Fehl- schlsse war der Untergang Deutschlands im Dritten Reich. Das Gesetz der Selbstzerstrung war dem Nationalsozialismus zwar von vornherein und unausweichlich eingeboren. Aber es bedurfte der vereinten Kraft der bedrohten Menschheit, um ihn als Staats- macht militrisch unschdlich zu machen. Eine Renaissance der einstigen Strke ist nicht zu befrchten. Seine Ideen jedoch sind nicht aus der Welt, und es bedarf aller Wachsamkeit, um sie im Stadium eines Virus zu halten und einen Ausbruch ins Machtfak- tische zu verhindern.

    Nun bin ich mir zwar ziemlich sicher, dass das, was mir das Leben so schwer machte, die nahezu kollektive Entstrafung der Tter, Rochus Misch wahrscheinlich nie berhrt hat, dass sie sei- nen Wahrnehmungsmustern entgangen ist, wie so manches in den Jahren zwischen 1933 und 1945.

    Aber ich bin berzeugt, dass der Mann nach seiner Rckkehr aus der Gefangenschaft ein redliches Leben gefhrt hat und zu keiner Sekunde eine Gefahr fr die demokratische Republik war. Das sind meine Kriterien bei der Beurteilung ehemaliger Nazis.

    Wenn ich also Rochus Misch begegnen sollte ich wrde ihm ohne Zgern die Hand geben.

  • II.

    Er aber dankte seinem Gott, dass er ihn allerlei Unglck erfahren lie, und brachte fnf ganzer Jahre im Kerker zu

    Johann Wolfgang von Goethe, aus: Sankt-Rochus-Fest zu Bingen

  • 38

    Der Waisenjunge vom Dorf

    Der heilige Sankt Rochus wird in Europa als Pestheiliger verehrt. Ende des 13. Jahrhunderts in Montpellier geboren, hatte er die Kraft, die Menschen vor der Seuche zu bewahren. Goethe wohnte am 16. August 1814 dem Fest zur Einweihung der zu Ehren des Heiligen gebauten Rochuskapelle in Bingen am Rhein bei und be- schreibt in dem Aufsatz Sankt-Rochus-Fest zu Bingen seine Eindrcke von diesem Tag. Der Name Rochus selbst wird zurck- gefhrt auf das althochdeutsche Wort rohon (brllen) oder auf die jiddischen Begriffe rochus und rauches (rger, Zorn) wie auch auf den franzsischen Ausdruck rouge (rot). Der heilige Rochus jedenfalls wurde mit einem roten Kreuz auf seiner Brust geboren als Zeichen seiner gttlichen Auserwhlung.

    Dies alles habe ich vor langer Zeit herausgefunden, als ich be- gann, mich mit meinem nicht ganz gewhnlichen Vornamen zu beschftigen. Was davon meiner Mutter bekannt war, als sie mir diesen Namen gab, wei ich nicht. Genauso wenig wei ich, ob meine Groeltern den Pestheiligen absichtlich zum Namenspa- tron fr ihren Sohn, meinen Vater, whlten. Rochus das war der Name meines Vaters, und deshalb wurde er auch meiner. Er wre es aber wohl gar nicht geworden, htte mein Vater meine Geburt noch erlebt. Ich bin nmlich nach meinem lteren Bruder Bruno der zweite Sohn von Rochus und Victoria Misch, und htte mein Vater seinen Namen weitergeben wollen, so htte er wohl seinen erstgeborenen Sohn Rochus getauft. Meine Mutter aber wollte, dass ich den Namen ihres verstorbenen Mannes trage.

    Mein Vater war Bauarbeiter, meine Mutter Victoria bei den Berliner Verkehrsbetrieben beschftigt. Bruno war noch am Hn- delplatz in Berlin-Steglitz zur Welt gekommen, doch kurz danach, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, zog die Familie nach Alt-Schal- kowitz3 nahe Oppeln in Oberschlesien. Dort wohnten die Eltern meiner Mutter. Ich nehme an, sie wollte whrend des Krieges nicht allein in Berlin sein, denn fr meinen Vater fhrte der Weg bald an die Front.

    Im Juli 1917 war meine Mutter mit mir hochschwanger. Mein Vater lag in einem Lazarett in Oppeln. Er war schwer verwundet

  • 39

    von der Front zurckgekehrt, mit einem Lungenschuss und ohne Daumen. Kurz vor der erwarteten Niederkunft seiner Frau er- laubte man ihm, das Lazarett zu verlassen. Er durfte also zu uns nach Hause, und man erwartete gemeinsam meine Ankunft. Eines Nachts erlitt mein Vater pltzlich einen Blutsturz, und am nchs- ten Morgen war er tot.

    Die Totengrber kamen, um meinen Vater abzuholen, und meine Mutter weinte und schrie, als sie den Sarg an ihr vorbeitru- gen. Die Hebamme war bereits im Haus und stand hilflos dane- ben. Einige Stunden spter, an diesem 29. Juli 1917, wurde ich ge- boren.

    Der Name des Vaters wurde auch seiner: Rochus Misch, geboren am 29. Juli 1917, im Alter von vier Jahren

  • 40

    Zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt starb meine Mutter an einer Lungenentzndung infolge einer schweren Grippe. Mein Bruder Bruno verunglckte am 2. Mai 1922 bei einem Badeun- fall. Seine rechte Seite war steif, wohl die Folge eines Schlagan- falls, den er sich im eiskalten Wasser unseres kleinen Bachs zuge- zogen hatte. Vierzehn Tage dauerte sein Sterben.

    Nun blieb ich ganz allein bei den Groeltern. Ich war noch zu klein, um zu begreifen, dass ich innerhalb der ersten fnf Jahre meines Lebens meine ganze Familie verloren hatte: Vater, Mutter, Bruder. Meine Groeltern Fronia, die Eltern meiner Mutter, spra- chen wenig ber ihre Tochter. Sie hatten nicht einmal eine Foto- grafie von ihr aufgehngt. So wuchs ich auf, ohne zumindest ein Bild meiner Eltern in mir zu tragen. Dennoch oder vielleicht ge- rade deshalb habe ich Vater und Mutter nicht bewusst vermisst. Zunchst war meine Gromutter mein Vormund. Spter, in den dreiiger Jahren, als sie dafr zu alt war, bertrug man diese Auf- gabe an die Schwester meiner Mutter, meine Berliner Tante Sofia Fronia.

    Soldaten in der Familie: Der Vater war Soldat, der Sohn wurde Soldat: Rochus Misch sen. steht hinter seinem sitzenden Kameraden

  • 41

    Ich habe trotz dieses tragischen Starts ins Leben nur gute Erin- nerungen an meine Kindheit. Ich muss als kleiner Junge allerdings einmal sehr krank gewesen sein. Man erzhlte mir, ich htte die Englische Krankheit4 gehabt. Ich entsinne mich, dass ich zur Be- handlung in ein Spezialkrankenhaus im Altvatergebirge gebracht wurde. Aber ich wei nicht mehr, wie ich dorthinkam und wann ich wieder zu Hause war. Man hat die Sache aber offensichtlich in den Griff bekommen.

    Nach meiner achtjhrigen Volksschulzeit wollte mein Gro- vater, dass ich einen Handwerksberuf erlerne. Grovater konnte interessante Geschichten erzhlen, und er hatte in Berlin bei der Errichtung des Teltowkanals mitgewirkt. Das war eine groe Sa- che 1906 eingeweiht, war dieser Kanal das Werk von nicht we- niger als zehntausend Arbeitern. Fr ihn war es sehr wichtig, dass man etwas mit den Hnden machte, sich eine handwerk-

    In dem Haus in Alt-Schalkowitz nahe Oppeln (Oberschlesien) kam Rochus Misch auf die Welt. Im linken Trakt wohnten die Groeltern,

    rechts die Eltern bis zu ihrem Tod. Das Kinderzimmer lag hinten nach hinten zum Garten hinaus. (Das Foto wurde um 1958 aufgenommen,

    vor dem Haus eine Cousine von Rochus Misch mit ihrer Familie.)

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    liche Fertigkeit aneignete. So hatte er dafr gesorgt, dass ich lernte, auf der Mandoline zu spielen. Der Schneidermeister im Dorf gab mir Unterricht auf diesem Instrument.

    Ich kann mich noch gut erinnern, dass Grovater, als er mich von der Schule nahm, dabei in einen handfesten Streit mit dem Schuldirektor Demski geriet. Der Rektor wollte unbedingt, dass ich weitermache und auf eine hhere Schule in Oppeln gehe ich hatte gute Noten. Doch Grovater lehnte das entschieden ab, ob- wohl der Rektor uns sogar zu Hause aufsuchte, um ihn zu ber- reden. Es half nichts. Fr Grovater stand fest, dass ich einen Handwerksberuf ergreifen sollte. Zu seiner groen Freude hatte ich immer eine Eins in Kunst, und so war bald entschieden, dass ich Kunstmaler werde. Grovater htte Widerspruch nicht gedul- det, durch und durch preuisch-autoritr wie er war, aber ich hatte auch gar nichts dagegen.

    Meine Cousine Marie aus Hoyerswerda, die zufllig bei uns

    Vater, Mutter, Bruder verloren - der Waise Rochus Misch (letzte Reihe, ganz rechts) wuchs seit dem fnften Lebensjahr bei den Groeltern

    Franz und Ottilie Fronia auf, die mit Verwandten um 1930 Goldene Hochzeit feierten. In der zweiten Reihe, ganz rechts, ist Tante

    Sofia Fronia, die spter diese Erziehungsaufgabe bernimmt

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    zu Besuch war, als der Schuldirektor mit Grovater diesen Streit hatte, vermittelte mir durch Verbindungen ihres Ehemanns 1932 eine Lehrstelle in ihrer Heimatstadt bei der Firma Schller und Model. Whrend der ersten beiden Lehrjahre wohnte ich bei mei- nem Lehrmeister Schller. Der hatte selbst auch einen Sohn, Ger- hard. Zwar wurde mein Lehrmeister eine Art Ziehvater fr mich, aber letztlich blieb ich auf mich allein gestellt: Ich hatte nicht ein- mal einen eigenen Schlssel zur Wohnung. Wenn niemand zu Hause war, konnte ich nicht hinein und musste mir die Wartezeit irgendwie vertreiben. Ich fand das aber nicht weiter schlimm. Ich war ohnehin Einzelgnger und wusste eigentlich immer etwas mit mir anzufangen.

    Die Lehre machte mir groen Spa. Ich kann sagen, dass ich besonders begabt war, und man lie mich recht frh an viele in- teressante Auftrge heran. Wir malten Kinoplakate und riesen- groe Reklamesprche auf Fassaden. Persil fr alle Wsche nur Persil stand beispielsweise in mannshohen Lettern am Bahn- hof eines Nachbarorts zu lesen, dessen Namen ich mich nicht mehr entsinne.

    Grovater Fronia nahm seinen Enkel Rochus von der Schule, gegen den Willen von Schuldirektor Demski (in der Mitte

    des Klassenfotos); Rochus Misch steht in der rechten Gruppe, letzte Reihe, zweiter von links

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    Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, interessierte das in Hoyerswerda kaum jemanden. Es muss wohl eine Veranstaltung auf dem Marktplatz gegeben haben, aber ich selbst habe das berhaupt nicht mitbekommen der Name Adolf Hitler sagte mir damals ohnehin fast gar nichts. Hoyerswerda, ein kleineres Stdtchen, war wegen der vielen Minenarbeiter eher links ge- prgt. Auch die Familie Schller hatte mit den Nationalsozialisten nichts am Hut. Die Jungen meines zweiten Chefs, Herrn Model, waren allerdings in einem Nationalpolitischen Erziehungslager, kurz Napola5 genannt. Und ein Nachbarsjunge trat in die Hit- lerjugend ein, das ging aber vllig an mir vorbei. In der Folgezeit habe ich nie irgendwelche Schikanen, Verhaftungen oder sonstige Manahmen gegen Personen beobachtet, die sich auf das neue Regime zurckfhren lieen.

    1935, im Vorjahr der Olympischen Spiele, erhielt mein Ausbil- dungsbetrieb einen besonders ehrenvollen Auftrag des rtlichen Schtzenvereins: Zu jedem Schtzenfest wurde als Preis ein Ge- mlde angefertigt, und diesmal sollte es etwas mit Olympia zu tun haben. Unser angehender Meister Schrmmer wollte das Bild ma- len, doch er hatte gerade damit begonnen, als er schwer er- krankte. So wurde ich, gerade achtzehn Jahre alt und noch nicht einmal Geselle, ausgewhlt, es zu vollenden. Es waren sogar zwei Bilder: eines als Preis fr den Sieger im Hauptwettbewerb, eines fr den Jungschtzenknig. Ersteres Werk zeigte das Olympiasta- dion, das zweite einen Fackellufer, im Hintergrund die Lnder, die er durchluft.

    Dreihundert Reichsmark erhielt ich fr das groe Bild, ein- hundertneunzig Reichsmark fr das kleinere. Ich war reich. Das war richtig viel Geld. Mein Lehrherr setzte sich mit meinen Gro- eltern in Verbindung, um sicherzustellen, dass ich damit etwas Sinnvolles anfing. Eine Fortbildung hielten Grovater und mein Lehrherr fr eine gute Investition.

    So kam es, dass ich ein halbes Jahr lang die Klner Meister- schule fr Bildende Knste besuchen konnte. Als Lehrling, wohl- gemerkt. Ich konnte, da ich nicht einmal Geselle war, natrlich nicht Meister werden, obwohl ich alle Prfungen absolvierte und bestand. An der Schule waren etwa vierzig Meisterschler aus al-

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    len Teilen des Deutschen Reichs. Ich lernte viele interessante ge- stalterische Techniken, wie etwa das Vergolden, Schleiflackver- fahren, auch Bhnenbildmalerei und vieles mehr.

    Mit Feuereifer war ich bei der Sache. Als unsere Schule damit beauftragt wurde, in der Dombauhtte das Bhnenbild fr ein Klner Theater zu erstellen, bemerkte ich, dass mich der Regis- seur bei der Arbeit hufig beobachtete. Eines Tages sprach er mich an, ob ich nicht in einem Theaterstck ber den Dombau eine Statistenrolle als Steinmetz bernehmen wolle. Es wirke ein- fach viel besser, wenn das jemand mache, dem man ansieht, dass er die Bewegungen beherrscht. Ich war zunchst wenig erbaut von dem Vorschlag. Auf der Bhne sah ich mich nun wirklich nicht. Nach anfnglichem Zgern lie ich mich dann doch ber- reden. Also gab ich einen Steinmetz des 13. Jahrhunderts mit Bu- bikopf und Lederschrze, der Zwangsarbeit beim Dombau leisten musste. Ich hatte sogar etwas zu sagen, na ja, ein einziges Wort: Maria. Obwohl ich schlielich doch noch Gefallen an der Sa- che fand, freuten mich zweifelsohne die fnf Reichsmark am mei- sten, die ich pro Vorstellung erhielt. Ei- nes Tages wrde ich im wahren Leben Zwangsarbeit leisten mssen: Als Kriegsgefangener in russischen Arbeits- lagern sollte ich Baustellenschilder ma- len. Diese makabre Parallele ist nur eine der vielen Merkwrdigkeiten, die das Schicksal fr mich bereithalten sollte.

    In Kln wohnte ich in dieser Zeit im Jugendwohnheim Kolpinghaus in der Breite Strae. Dort konnte man sehr gnstig wohnen, eine Mahlzeit gab es schon fr vierzig Pfennig. An- fang Mrz 1936 sah ich hier auf den Straen deutsche Soldaten, als sie aus- zogen, um das entmilitarisierte Rhein- land zu besetzen. Dies war damals je- doch kein besonderes Erlebnis fr

    Rochus Misch, der Einzelgnger und Lehrling; das Foto ist

    datiert vom 15. Juni 1932

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    mich. Die Stadt allerdings war mindestens genauso aus dem Huschen wie erst kurz zuvor, in der Zeit der tollen Tage, also dem berhmten Klner Karneval. berall gab es Musik und Tanz. Ich war fasziniert von der Grostadt, dem sprichwrtlich rheinischen Frohsinn und natrlich den jungen Klnerinnen. Ich fhlte mich frei und hatte viel Spa. Nach diesem insgesamt sechsmonatigen Ausflug setzte ich meine Lehre in Hoyerswerda fort.

    Was ich whrend der Fortbildung gelernt hatte, konnte ich gleich anwenden. Ich war im ganzen Ort jetzt der Einzige, der das Handwerk des Vergoldens beherrschte. Die meisten Leute hielten es allerdings fr furchtbar teuer. Das war es aber nicht einmal. Ich wei noch, dass man mit einem Beutel Goldstaub fr siebenund- dreiig Reichsmark recht weit kommen konnte. Mit einem Huf- chen Goldstaub in der Gre eines Fnfmarkstcks knne man ein ganzes Pferd vergolden, hatte ich in Kln gelernt. Als man fr die Kirchturmuhr einer evangelischen Kirche in Hoyerswerda Bronze verwenden wollte, machte ich klar, dass die Bronze bald dunkel werden wrde. Dank meiner berredungsknste sollte dann doch Gold zum Einsatz kommen. Und so vergoldete ich nicht nur diese Kirchturmuhr, sondern auch den Hintergrund ei- ner Darstellung der vierzehn Stationen des Kreuzwegs Jesu in ei- ner katholischen Kirche. Auf Schloss Moritzburg bei Dresden re- staurierten wir wiederum die vergoldeten Gemlderahmen. Die Goldreste verwahrte ich sorgfltig in Seidenpapier. Erst vor Kur- zem habe ich ein letztes Pckchen verschenkt.

    Olympia 1936

    Auf dem Schtzenfest, fr das ich das Bild gemalt hatte, nahm ich im Frhjahr 1936 am Schie-Wettbewerb teil. Ich wurde dritt- bester Schlesier in der Jugendkonkurrenz, und dafr gab es eine kleine Bronzemedaille mit dem offiziellen Olympialogo und der Aufschrift Wir rufen die Jugend der Welt Berlin 1936, auer- dem ein Diplom und eine Freikarte fr den Erffnungstag der Olympischen Spiele in Berlin.

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    Und da stand ich, der Junge vom Dorf, am 1. August 1936 mit meiner Tante Sofia im Gedrnge vor dem Reichssportfeld. Die Stimmung, die Menschenmassen, die Inszenierung es war ge- waltig.

    Der Auftritt Hitlers aber machte am meisten Eindruck auf mich. Der Zufall wollte es, dass meine Tante und ich just in dem Augenblick ganz nah an der Durchfahrt fr die Ehrengste stan- den, als er die von der Reichskanzlei aus durch Berlin ziehende Triumphfahrt der Offiziellen und Ehrengste anfhrend dort eintraf. Hitler stand in der offenen Limousine und grte in die Menge, umrahmt von Angehrigen seines persnlichen Begleit- kommandos, welche in ihren schwarzen Uniformen mit weien Koppeln das Bild perfekt abrundeten. Die Menschen gerieten schier auer sich. Alles blickte nun in eine Richtung, smtliche Augenpaare waren auf diesen Mann gerichtet. Keine zehn Meter vor uns hielt die Limousine an. Die Mnner vom Begleitkom- mando sprangen, noch ehe der Wagen ganz zum Stehen kam, ele- gant von den Trittbrettern und mussten sich mit ihrem ganzen

    Freikarte fr Hitler: Am 1. August 1936 begegnete Rochus Misch zusammen mit Tante Sofia (sie sollen auf dem Rondell gestanden haben)

    zum ersten Mal seinem spteren Chef. Hitler betritt auf dem Foto gerade das Sdtor zu den Olympischen Spielen

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    Gewicht den herandrngenden Menschenmassen entgegenwer- fen. Die Leute schoben und schubsten. Wer es schaffte, vorzulau- fen, klammerte sich wie ein Ertrinkender an den Wagen und musste regelrecht weggezerrt werden. Alles jubelte und schrie es war ohrenbetubend.

    Ich wurde von der ganzen Stimmung vllig mitgerissen, ir- gendwann schossen mir die Trnen in die Augen. Was ist denn mit dir los?, fragte meine Tante. Ich trumte, sah mich in einer dieser schmucken Uniformen auf dem Trittbrett des Wagens ste- hen, als Mitglied des Begleitkommandos. Mensch, das waren doch ganz normale Soldaten, was hatten die fr ein Glck. Dass meine Trumerei eines Tages Wirklichkeit werden sollte kein Gedanke.

    Meine Eintrittskarte htte es mir erlaubt, noch weiter ins Olympiastadion vorzudringen, aber ich nutzte sie nicht. Nach- dem ich den Einzug von Hitler so hautnah erlebt hatte, war ich so bervoll von Eindrcken, dass ich nur noch nach Hause wollte. Weiter hinein in diesen Taumel? Auch noch ohne die Tante, die mich ohne Eintrittskarte nicht weiter htte begleiten knnen? Nein, dazu sah ich mich nicht mehr in der Lage. Es war schlicht- weg zu viel fr mich. So ein Spektakel etwas Vergleichbares habe ich nie wieder erlebt. Berlin versank in einem Fahnenmeer. Auf den Straen war kaum ein Durchkommen.

    Noch Tage und Wochen nach diesem Ereignis war ich ganz er- griffen, wenn ich daran zurckdachte. Den Nazis und ihrer Poli- tik hatte der mich so berwltigende Auftritt Hitlers aber nicht nhergebracht. Was die wollten, wohin sich unser Land bewegte, wer welche Funktion innerhalb des Regimes innehatte man sprach darber, aber ich habe mich nie an diesen Diskussionen beteiligt. Ich interessierte mich fr meine Arbeit, und daneben nur fr Sport. Am liebsten spielte ich Fuball, was mein Lehrmeister gar nicht gern sah, denn er hatte Angst, dass ich mich verletzte. Nachdem er aber einmal bei einem Spiel zugeschaut hatte, lie er mich gewhren. Er war anscheinend ein bisschen stolz auf seinen Lehrling, denn im Gegensatz zu seinem Sohn war ich ein recht be- gabter Fuballer.

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    Im Dezember 1936 war meine Lehrzeit vorbei. Mein Gesellen- stck, eine Werbung fr ein Reiseunternehmen, beendete ich nie. Denn kaum hatte ich damit angefangen, winkte mein Lehrherr schon ab: Da kommen die anderen sowieso nicht mit, Rochus. Mein praktische Prfungsarbeit wurde mir also erlassen, ich er- hielt nur die besten Noten.

    Nach einiger Zeit als Malergeselle in Hoyerswerda nahm mich einer der lteren Kollegen bei Schller und Model, der aus Horn- berg im Schwarzwald stammende Kunstmalermeister Schweizer, mit in seine Heimatstadt. Dort wollte er sich selbststndig ma- chen. Schweizer erhoffte sich Auftrge im Rahmen des Programms Deutschland soll schner werden, bei dem es staatliche Zu- schsse von bis zu fnfundvierzig Prozent gab. Ich fertigte also fr die ffentlichen Gebude in Stdten wie Hornberg, Triberg und Hausach Entwrfe an, jeweils drei Stck, und es klappte tatsch- lich mit den ffentlichen Auftrgen. Wir malten auch wieder Re- klameschilder, unter anderem fr eine wichtige Ausstellung in Brssel. Fnfundneunzig Pfennig verdiente ich in der Stunde.

    Ich fand im Schwarzwald schnell Anschluss, und in meiner Freizeit war ich meistens mit drei, vier Gleichaltrigen zusammen. Einer von ihnen war technischer Zeichner in einem Nachbarsbe-

    Schon als jugendlicher Fuballspieler der Grte: Rochus Misch (zweiter von rechts) mit seinem Verein Hoyerswerda, 1934

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    trieb. Hufig gingen wir in einen Bauerngasthof, in dem es herrli- chen Schwarzwlder Schinken gab. Mit einem dnnen, sehr scharfen Messer wurden die hauchfeinen Scheiben vor unseren Augen von dem riesigen Schinken abgeschnitten, und wir lieen sie uns mit Schwarzbrot und Senf schmecken. Manchmal gingen wir zum Tanzen oder ins Freibad. Dort lernte ich die zwei Tch- ter eines Mehlhndlers kennen und versuchte sie mit meinem Mandolinenspiel zu beeindrucken. Eine der beiden Schwestern wurde meine erste Freundin. Besonders gern fuhr ich mit den Freunden an den Wochenenden zum Bodensee, nach berlingen. Mandoline und Badehosen wurden eingepackt, und dann ging es los. An diese Zeit habe ich meine schnsten Jugenderinnerungen.

    Natrlich trieben wir allerlei Unfug. Wir jungen Burschen konnten zum ersten Mal frei und ohne Aufsicht durch die Welt ziehen das musste ausgenutzt werden. Einmal gerieten wir in berlingen an einen defekten Zigarettenautomaten der wollte gar nicht mehr aufhren, Zigaretten auszuspucken. Lass blo was drin, ermahnte ich meinen Freund, der sich hocherfreut die Taschen vollstopfte.

    Wir alle hatten keine Ahnung, dass fr unsere Generation diese unbeschwerte Zeit und fr so viele sogar das ganze Leben schon bald jh enden wrden.

    Auserwhlt

    1937 erhielt ich den Musterungsbescheid. Soldat musste jeder werden. Da hatte man ohnehin keine Wahl.

    Zusammen mit meinem gleichaltrigen Freund Hermann fuhr ich wenige Wochen nach meinem zwanzigsten Geburtstag mit der Bahn nach Offenburg zur Musterung. SS-Angehrige hatten auf dem Gelnde ebenfalls einen kleinen Tisch aufgebaut und warben ziemlich massiv dafr, den Wehrdienst bei der Verfgungstruppe6

    abzuleisten. Sie lockten mit einer vierjhrigen Ausbildung ohne Arbeitsdienst, die als Erfllung der allgemeinen Wehrpflicht aner- kannt wurde, und anschlieender bernahme in den Staatsdienst.

    Fr meinen Freund Hermann war die Sache schnell klar: Nor-

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    malerweise bedeuteten Wehr- und Reichsarbeitsdienst mitsamt der dazwischenliegenden Pause drei Jahre. Hier bestand nun die Mglichkeit, ein Jahr dranzuhngen, dafr aber bergangslos in den ffentlichen Dienst einzutreten und viel frher Beamter zu werden, als es blicherweise mglich war. Hermann erschien das verlockend: Mensch, Rochus, da tret ich ein. Er wollte auf diese Weise zur Reichsautobahnpolizei die gab es erst seit Kur- zem , und er sah sich schon auf einem BMW-Motorrad die na- gelneuen Fernstraen auf- und abflitzen.

    Ich war im ersten Moment nicht so begeistert wie Hermann, denn es war mir sehr wichtig, blo keine Brottigkeit machen zu mssen, und die, befrchtete ich, wrde mich im Staatsdienst vor allem erwarten. Ich schob die Bedenken dann aber beiseite: Warum eigentlich nicht Beamter werden? Vielleicht ergab sich et- was bei der Reichsbahn, was mit Reisen zu tun hatte, oder ich wrde sogar als Grafiker fr den Staat arbeiten knnen. Jeden- falls fllten wir beide in Offenburg die notwendigen Antragsfor- mulare fr die Verfgungstruppe aus und fuhren danach erst ein- mal wieder nach Hause. Einige Zeit spter wurde ich zur Musterung fr die Verfgungstruppe geladen. Sie fand in Mn- chen statt und war eigentlich ganz unspektakulr. Man musste ein bisschen Gymnastik machen, sie wogen und maen uns. Ins- besondere die Gre interessierte ich hrte, wie man davon sprach, dass man mindestens 1,78 Meter sein musste.

    Ich wurde schlielich aus den hundertneununddreiig fr die Verfgungstruppe gemusterten jungen Burschen zusammen mit elf Kameraden speziell fr die Leibstandarte7 ausgewhlt. Noch am Abend der Musterung erhielt ich den Einberufungsbefehl fr den 1. Oktober 1937. Hermann habe ich nach diesem Tag aus den Augen verloren und leider nie wieder gesehen.

    So kam ich zur Leibstandarte, 5. Kompanie, nach Berlin-Lich- terfelde in die alte preuische Kadettenanstalt8 zur militrischen Ausbildung. Ich gehrte mit einem Krperma von 1,85 Meter zu den kleineren Soldaten. In der 1. Kompanie waren sie alle um die zwei Meter gro.

    Wann genau meine Vereidigung auf Hitler stattfand, kann ich gar nicht mehr sagen. Das geschah jedenfalls nicht in Berlin, son-

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    dern in Mnchen vor der Feldherrnhalle. Der Eid fr uns SS-An- gehrige lautete: Ich schwre Dir, Adolf Hitler, als Fhrer und Kanzler des Deutschen Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod. So wahr mir Gott helfe. Das war brigens das einzige Mal, dass ich Hitler duzte.

    Meine Militrzeit war eher ein Sportcamp. Laufen und Leibes- bungen aller Art fllten die Tage. In meiner Kompanie gab es fast ausnahmslos Sportler und Abiturienten. Mit allen sechs Kamera- den auf meiner Stube kam ich gut aus. Wir hatten eine Menge er- folgreicher Leistungssportler in unseren Reihen, Olympiateilneh- mer und -sieger von 1936 wie etwa den Kugelstoer Hans Woellke. Auch weitere Leichtathleten und einige Ruderer hatte man zur Leibstandarte geholt. Ich sah neben all den Spitzensport- lern gar nicht mal so schlecht aus. Meine Disziplin war der 400- Meter-Lauf. Ich war der Schnellste in meiner Kompanie, lief ohne Training knapp ber fnfzig Sekunden. Beim 5000-Meter-Lauf wurde ich hinter dem Spezialisten auf dieser Strecke Zweiter. In den Kraftraum ging ich ebenfalls gern. Das war die Welt von Her- bert Kleinwchter und Adolf Kleinholdermann. Kleinwchter und Kleinholdermann waren bekannte Boxer. Kleinwchter war Halb- schwergewichtler, Kleinholdermann, einer meiner Stubengenos- sen, Schwergewichtler. Er hatte gegen viele groe Boxer der dama- ligen Zeit gekmpft, kannte auch Max Schmeling9 gut.

    Kleinwchter und Kleinholdermann setzten ihre Karrieren nach dem Krieg fort. So war es Adolf Kleinholdermann, der am 14. Mai 1950 den ersten Boxkampf zwischen einem Deutschen und einem US-Amerikaner, den Schwarzamerikaner Gene Tiger Jones, nach Kriegsende bestreiten sollte. Ein deutscher Adolf ge- gen einen schwarzen US-Boxer das war schon etwas, so wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Adolf verlor und wurde in der vierten Runde von Max Schmeling, hier in der Rolle des Ringrich- ters, ausgezhlt. Als der Kampf in der Berliner Waldbhne statt- fand, sa ich in den Folterkellern des sowjetischen Geheimdienstes GPU (Glawnoje Polititscheskoje Uprawlenije). Adolf war ein net- ter Kerl. Durch ihn wurde ich eines Tages Erdnussbutterprodu- zent, aber bis dahin ist es noch eine lange Geschichte.

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    Sport, Sport und nochmals Sport. Auf dem Gelnde der Ka- dettenanstalt hatte man die modernste Schwimmhalle Europas gebaut. Kurz nach Abschluss einiger Bauarbeiten kam eines Tages der Spie mit Schrubber und Eimer in der Hand auf unsere Stube und grinste: Wer will baden? Das Becken msse nur noch von Sandresten befreit werden, fuhr er fort, dann knne man das Wasser einlassen. Wir lieen uns nicht lange bitten, schnappten uns das Putzzeug und reinigten die Kacheln. Anschlieend wurde das Bassin mit Wasser gefllt. Der Sprungturm war noch einge- rstet, aber mal von oben in die Tiefe schauen wollten wir unbe- dingt. Also kletterten wir die Stufen hinauf, und mit zunehmender Hhe wurde die bermtige Truppe deutlich leiser.

    Wir standen gerade alle Mann oben, als wir Stimmen hrten. Der Kommandeur. Sepp Dietrich10 betrat persnlich die Halle, im Schlepptau hatte er den Schauspieler Mathias Wiemann11 und ei- nige Generle. Dietrich beschrieb mit ausladenden Gesten und al- lerlei Superlativen die rtlichkeit. Whrenddessen htte ich mich am liebsten lang und flach wie eine Briefmarke auf das Brett ge- legt, damit man mich nicht von unten sah. Aber es war zu spt. Seid ihr da oben denn schon mal gesprungen?, schallte Diet- richs Stimme herausfordernd zu uns herauf. Es war klar, die Si- tuation war jetzt im wahrsten Sinn des Wortes nur durch den Sprung ins kalte Wasser zu retten. Es war das erste und letzte Mal, dass ich mich mit Todesverachtung und einer klassischen Arschbombe von einem Zehnmeterturm in die Tiefe strzte. Eine Arschbombe vor dem Kommandeur. Na ja.

    Neben dem Sport blieb kaum Zeit fr anderes. Der unbe- quemste Dienst war der an der Schranke zur Kapelle, die sich, fr alle Gottesdienstbesucher zugnglich, auf dem Anstaltsgelnde befand. Jeden Sonntag war Gottesdienst, eine Woche evangeli- scher, die Woche darauf katholischer. Wenn die Messe begann, musste man die Schranke ffnen und dort so lange warten, bis sie beendet war. Das war unglaublich langweilig. Tante Sofia war eine sehr glubige Frau und ging jeden Sonntag in die Kirche, sie wohnte damals in Lichterfelde. Wie unsere gesamte Familie bin auch ich katholisch und habe daraus nie einen Hehl gemacht.12

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    Vllig zu kurz kam die eigentliche soldatische Ausbildung, was sich fr viele von uns bitter rchen sollte. In den ersten zwei Jah- ren waren wir nur zweimal fr je zehn Tage auf Truppenbungs- pltzen. Stattdessen galten wir als Paradesoldaten, tummelten uns als Komparsen bei Film- und Theaterproduktionen herum. Fr den UFA-Film Die gelbe Flagge (1937) drehten wir in der Nhe von Berlin. Hans Albers spielte die Hauptrolle, seine Partnerin war Olga Tschechowa. Auch am Deutschen Theater mimten drei weitere Kameraden und ich bei einer Auffhrung Soldaten Fried- richs des Groen. Bei greren Truppenparaden oder als Ehren- posten vor der Reichkanzlei wurde ich allerdings nie eingesetzt, das war den Kameraden mit beeindruckenderer Krpergre vor- behalten. Zweimal immerhin marschierte ich am Fhrerbalkon in der Wilhelmstrae vorbei.

    Mir kam das alles sehr entgegen. Ich war begeisterter Sportler, das Soldatenleben interessierte mich sowieso berhaupt nicht. Und dass man unter so vielen fr die Leibstandarte ausgewhlt worden war, gab einem nun auch nicht unbedingt ein schlechtes Gefhl. Obwohl uns vermittelt wurde, dass wir des Fhrers Elite seien, wusste ich weiterhin recht wenig ber diesen Hitler. Am Schwarzen Brett in der Kaserne hing aus, wer von uns NSDAP-Mitglied war: wenige.13 Es wurde auch keinerlei Druck ausgebt, in die Partei einzutreten ich hatte gar nicht erst den Gedanken. Weltanschauliche Unterweisung erfolgte eher zwang- los, in Form von Vortrgen, die sich hnlich geringer Aufmerk- samkeit erfreuten wie der Deutschunterricht, den ich als trocke- nes Grammatikpauken in Erinnerung habe. Es war jedoch deutlich zu erkennen, dass sich die politische Lage in Europa n- derte, viele waren begeistert von Hitlers Politik der Strke, sich dem Versailler Diktat entgegenzustellen.

    Wenn es hie: Affen14 umschnallen, auf die Wagen!, dann fragte man nicht viel. Im Mrz 1938 ging es Richtung Wien. Beim Anschluss sterreichs, einem der sogenannten Blumenkriege, war ich dabei. In Wien wurden wir von der Bevlkerung ber- schwnglich empfangen. Jubelnde Menschen sumten die Straen und bewarfen unsere Fahrzeuge mit Blumen. Wir waren entspre- chend in ausgelassener Stimmung, und als wir in einem Kloster

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    Quartier bezogen, feierten wir dort noch weiter. Wir schafften ein Klavier in den Hof und musizierten und tanzten bis tief in die Nacht hinein. Laut intonierten wir lustige Lieder, fr besonders eindrucksvolle Sangeseinlagen eigneten sich russische Volkswei- sen. Die Nonnen, die sich zunchst verschreckt zurckgezogen hatten, schauten nun neugierig zu den Fenstern hinaus, und ir- gendwann kamen sie zu uns in den Hof. Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder, bse Menschen kennen keine Lieder das mgen sie wohl gedacht haben!

    Erst gegen Mitternacht schlugen wir im Speisesaal des Klos- ters unser Nachtlager auf. Die Nonnen warfen aus den oberen Stockwerken sogar Matratzen fr uns ber das Treppenhaus hin- unter.

    Drei oder vier Tage blieben wir in Wien, nicht ohne das welt- berhmte Wiener Schnitzel zu testen. Man wies uns ein gutes Re- staurant, und wir wurden etwas still, als jemand meinte, fr das original Wiener Schnitzel werde Euterfleisch verwendet.

    Wieder in Berlin ging alles seinen gewohnten Gang. Am 11. Juli besuchte ich mit einigen Kameraden ein Polizeifest im Treptower Park. Ich hatte eigentlich keine groe Lust, aber man hatte mich berredet. Als einer meiner Freunde auf ein Mdchen zuging, um sie zum Tanz aufzufordern, blieb ihre Freundin dane- ben sitzen. Zu ihr ging ich hin. So lernte ich Gerda kennen, Gerda Lachmund, meine sptere Frau. Sie war gerade am 3. Juli 1938 achtzehn Jahre alt geworden und ging berhaupt zum allerersten Mal aus. Mit ihren 1,78 Metern berragte sie die meisten anderen Damen und so manchen Herrn. Ein wenig ernst wirkte sie wie eine Lehrerin. Sie war ein hbsches Mdchen mit recht kurzem Haar. Verliebt habe ich mich nicht sofort in sie. Auf Gerda muss ich aber gleich Eindruck gemacht haben, denn bevor wir uns auf dem Fest verabschiedeten, lud sie mich fr das nchste Wochen- ende zu sich nach Hause ein.

    Wir trafen uns danach immer hufiger, allerdings spielte der Zufall dabei eine groe Rolle, denn sie war telefonisch nicht er- reichbar. Oft sa ich den ganzen Nachmittag ber bei ihren El- tern, wenn ich vorbeigekommen, Gerda aber mit einer Freundin ausgegangen war. Ich machte mich dann ntzlich. Mein spterer

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    Schwiegervater konnte nach einem Betriebsunfall einen seiner Daumen nicht richtig bewegen. Er war sehr froh, dass ich mich um den Garten kmmerte, und hat mich, aber kaum allein des- halb, rasch in sein Herz geschlossen. Und das, obwohl er politisch weit links stand. Er hatte sich zeitlebens fr die Rechte der Arbei- terklasse engagiert und war whrend des Ersten Weltkriegs Mit- glied der USPD15 gewesen. Seine Frau war 1916 in die SPD einge- treten.

    Das Haus von Gerdas Eltern befand sich in einer klassischen Arbeitersiedlung. Dort wohnten fast ausschlielich Fabrikarbei- ter, in der Nhe waren viele Grobetriebe angesiedelt, etwa die Henschel Flugzeugwerke AG oder die Allgemeine Elektricitts- Gesellschaft (AEG). Man knnte meinen, ein SS-Mann war nicht gerade das, was sich diese Familie fr ihre Tochter vorstellte. Mein spterer Schwiegervater hat aber verstanden, dass mein Weg nichts als Soldatenschicksal war. Ich war nicht in der Partei, und wie es mich zur Leibstandarte und dann spter gar zu Hitler verschlug, war ihm bekannt. Hitler und die Nazis standen nie zwischen uns. Ich war Soldat das erklrte alles, auch fr meinen zuknftigen Schwiegervater.

    Manchmal nahm mich Gerdas Vater mit zu Onkel Paul, einem Nennonkel und sehr guten Freund der Familie. Onkel Paul war ebenfalls berzeugter Sozialdemokrat und so lange das gefahr- los mglich war und darber hinaus aktiver Gewerkschafter. Ich sollte ihm spter noch einmal behilflich sein knnen, als er Probleme mit dem Regime bekam.

    Zwei Jahre siezten Gerda und ich uns. Als die Kameraden vom Bratkartoffelverhltnis frozzelten, korrigierte ich: Tomaten- verhltnis Gerdas Mutter machte einen hervorragenden Toma- tensalat. Es war durchaus ungewhnlich, aber meine Beziehung zu Gerda wuchs im Grunde im Schatten des immer enge