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Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Herausgegeben von Michael Schmausf, Werner Dettloff, Richard Heinzmann, Ulrich Horst Band 47

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Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät

Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie

Herausgegeben von Michael Schmausf, Werner Dettloff, Richard Heinzmann, Ulrich Horst

Band 47

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Georgij Awakumov

Die Entstehung des Unionsgedankens Die lateinische Theologie des Hochmittelalters

in der Auseinandersetzung mit dem Ritus der Ostkirche

Akademie Verlag

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234 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

11. Jahrhunderts unter Byzantinern diskutiert wurde53 und in den Verständigungsver-handlungen von 1089 wieder zur Sprache kam. Als den wichtigsten Störungsfaktor jedoch in den Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel in dieser Zeit muß man zweifelsohne das Problem des eucharistischen Brotes betrachten54.

Zwei Ereignisse dieses Zeitabschnittes haben sich als besonders folgenschwer für die spätere Zeit erwiesen, sie bargen in sich schon die Keime der neuen Epoche. Das erste war die Vergabe des Handelsprivilegs von Kaiser Alexios I. Komnenos an Venedig im Jahr 1082, wovon bereits kurz die Rede war. Dieses Privileg bereitete die Expansion Venedigs und anderer italienischer Seestädte wie Pisa und Genua auf dem byzantini-schen Territorium im Laufe des 12. Jahrhunderts vor. Dadurch wurden die Byzantiner immer stärker mit dem Westen konfrontiert, was letzten Endes zu den schwer über-brückbaren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Spannungen zwischen Latei-nern und Griechen führte. Das zweite Ereignis war noch folgenschwerer: Der Anfang der Kreuzzugsbewegung, die die ganze Problematik der Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel in den nächsten Jahrhunderten bestimmen sollte55. Der erste Kreuz-zug (1096-1099) hatte die Gründung der Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten zur Folge, was den Beginn eines neuen Zeitabschnitts in den kirchenpolitischen Verhältnissen zwischen Rom und Konstantinopel markierte.

2. Von der Entstehung des Schismas in den Patriarchaten von Jerusalem und Antiocheia 1099/1100 bis 1204

Nachdem 1054 als das Datum der endgültigen Trennung zwischen der lateinischen und der byzantinischen Kirche durch die Forschung des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt

53 So tadelte Kerullarios den Petros von Antiocheia dafür, daß dieser angeblich den Namen des Papstes in seinen Diptychen kommemoriere; Kerullarios selber äußerte die Überzeugung, daß der Name des Papstes seit dem 6. Ökumenischen Konzil nicht in den Diptychen angeführt werde (WILL 178 Z. 15 - 179 Z. 6). Petros dagegen äußerte in seinem Antwortschreiben an Kerullarios die Meinung, der Name des Papstes sei erst unter Papst Sergius (IV., 1009-1012) aus den Dipty-chen gelöscht worden (WILL 190 Z. 7 - 193 Z. 10).

54 Dies wird auch durch andere Schriften gegen die Azymen aus dieser Zeit bezeugt, z. B. Joannes von Kiev an Gegenpapst Clemens, s. oben, S. 94 (Nr. 14a).

55 Die folgende Erörterung der Problematik, die im Zusammenhang mit der Geschichte der Kreuz-züge im 12. und 13. Jahrhundert steht, basiert auf folgenden zusammenfassenden Darstellungen: RUNCIMAN, Geschichte der Kreuzzüge, 3 Bde. (Originalaug.: 1 9 5 1 - 5 4 ; dt. Ubers.: 1 9 5 7 - 6 0 ) ;

SETTON (Hg.), A History of the Crusades, 6 Bde. ( 2 1 9 6 9 - 1 9 8 9 ) ; KAWERAU, Ostkirchengeschichte, EI: Das Christentum in Europa und Asien im Zeitalter der Kreuzzüge ( 1 9 8 2 ) ; RILEY-SMITH, The Crusades ( 1 9 8 7 ) ; MAYER, Geschichte der Kreuzzüge ( 7 1 9 8 9 ) ; RILEY-SMITH (Hg.), Illustrierte Geschichte der Kreuzzüge (Originalausg.: 1 9 9 5 ; dt. Übers.: 1 9 9 9 ) ; RICHARD, The Crusades (Originalausg. 1 9 9 6 ; engl. Übers. 1 9 9 9 ) . Literatur zur Einzelproblematik wird im folgenden ange-führt

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Die politische Dimension 235

wurde, scheint das Jahr 1204 die besten Aussichten zu haben, als Zeitpunkt des irrever-siblen Bruchs anerkannt zu werden. Indessen hat bereits Steven Runciman in seiner Monographie zum östlichen Schisma (1955) auf ein weiteres Datum aufmerksam ge-macht, das kirchenrechtlich gesehen sowohl mit 1054 als auch mit 1204 konkurrieren könnte56. Es handelt sich um die Jahre 1099/1100, in denen die Gründung der Kreuzfah-rerstaaten und die Einsetzung lateinischer Patriarchen für Jerusalem und für Antiocheia stattfand. In den genannten Jahren wurden die griechischen Patriarchen von den Kreuz-fahrern vertrieben und an ihrer Stelle lateinische Geistliche ernannt. Aus kanonischer Sicht vollzog man damals in Jerusalem und Antiocheia ein Schisma im klassischen Sinne des Wortes57: Es entstand eine Situation, in der jeweils für einen Patriarchensitz zwei Patriarchenlinien für längere Zeit miteinander rivalisierten. Vertreter der einen Linie wurden von den neuen lateinischen Herrschern eingesetzt und gewannen dabei geistliche Gewalt jeweils über das ganze ehemalige melkitische58 Patriarchat ein-schließlich der dort lebenden Griechen und Syrer. Vertreter der anderen Linie, die vom byzantinischen Kaiser designiert wurden, residierten in Konstantinopel und verstanden sich als alleinige rechtmäßige Patriarchen, die von ihren Sitzen verbannt sind bzw. im Exil leben müssen. Über das Schicksal der beiden um 1099 amtierenden melkitischen Patriarchen Joannes IV. (V.) Oxeites von Antiocheia und Symeon II. von Jerusalem wissen wir wenig, jedoch kann man heute die Verbannung aus ihren Städten und die gleichzeitige Einsetzimg von lateinischen Klerikern an ihrer Statt als nachgewiesen betrachten. Die Gründung der lateinischen Patriarchate in Antiocheia und Jerusalem kurz zu resümieren lohnt sich umso mehr, als die beiden 1099/1100 vertriebenen Patri-archen unter anderem bedeutende Schriften gegen den lateinischen Gebrauch von Azy-men hinterlassen haben.

Dank der verbesserten Quellenlage besitzen wir heute über Joannes Oxeites mehr Kenntnisse als über Symeon59. Wahrscheinlich 1089 zum Patriarchen von Antiocheia ernannt, nahm Joannes in demselben Jahr an der oben angesprochenen Synode in Kon-stantinopel teil, die sich im Zusammenhang mit der Legation Urbans II. versammelte. Einige Zeit darauf verfaßte er eine Schrift gegen die lateinische Azymenzelebration60. Zum Zeitpunkt seiner Ernennung war Antiocheia nach mehr als 100 Jahren der sog. „zweiten" byzantinischen Regierungszeit (969-1084) in die Hände der Seldschuken

5 6 RUNCIMAN, The Eastern Schism 9 2 . 97 .

57 So z. B.: Cyprian von Karthago, Epistola 69: „...perditionem sibi maximam de indignatione Dei adquirant qui schisma faciunt et relicto episcopo alium sibi foris pseudoepiscopum constituunt..." = DECRETUM GRATIANI C. 7 q. 1 c. 9 (ed. cit 5 6 9 ) . Zum Begriff „Schisma" s.: FEINER / LÖHRER

(Hg.),Mysterium salutis I V / 1 4 1 5 — 4 2 6 (CONGAR).

58 Zur Bezeichnung „Melkiten", die in Bezug auf die in Syrien und Ägypten ansässigen Chalkedo-nenser verwendet wird, s.: ODB 1 3 3 2 (GREGORY).

5 9 Der Stand der Forschung ist resümiert bei: GAUTIER, Jean V. l'Oxite 1 2 8 - 1 3 5 . S. auch: ODB 1 0 4 9

(KAZHDAN).

60 S. oben, S. 95 (Nr. 15).

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236 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

gefallen. Zwei Jahre mußte Joannes in der Reichshauptstadt warten, bis er 1091 seine Residenz in Antiocheia aufschlagen konnte. Während der Belagerung Antiocheias durch die Kreuzfahrer vom 21. Oktober 1097 bis zum 3. Juni 1098 blieb der Patriarch nach Berichten westlicher Geschichtsschreiber in Antiocheia. Dabei wurde er von den Türken auf den Mauern der Stadt vor den Augen der Belagerer öffentlich gefoltert61. Nach dem Bericht des Albert von Aachen wurde Joannes nach der Einnahme Antio-cheias durch den Normannen Bohemund von Tarent auf seinem Patriarchensitz „mit aller Unterwerfung und Verehrung" belassen62. Nach Ordericus Vitalis und Wilhelm von Tyrus mußte Joannes jedoch nach etwa zwei Jahren sein Patriarchat verlassen. Am interessantesten ist die Nachricht des Ordericus, der den Ereignissen zeitlich am näch-sten steht63; sein Zeugnis ist auch wegen seines normannischen Hintergrunds besonders wertvoll. Hier ist die Erzählung aus seiner Historia ecclesiasticcr.

„Ein gewisser Grieche hatte das Patriarchat Antiocheias zur Zeit der türkischen Regierung in-ne, der von den normannischen Siegern schwer gefügig zu machen war. Die Normannen, nachdem sie die Macht über die Stadt erlangt hatten, beschlossen, den Klerus und das Volk auf den lateinischen Ritus hin zu verpflichten, was die Griechen, die [ihren] alten Gewohnheiten folgten, für unangemessen kühn hielten. Nachdem Bohemund gefangengenommen worden war, entstand im Volk ein Gerücht, daß der Patriarch die Übergabe der Stadt an den [byzanti-nischen] Kaiser vorbereite. Als der [Patriarch] erfuhr, daß solch ein Gerücht über ihn im Um-lauf sei, wurde er sehr zornig und, ich weiß nicht ob durch die Reinheit seines einfachen Ge-wissens entrüstet oder durch die Anklage der frevlerischen Schuld und durch die Furcht bewogen, verließ er sein Bistum, zog sich in die Wüste zurück und beschloß, nie wieder zu je-nen zurückzukommen, deren Gewohnheiten er verabscheute"64.

6 1 ALBERT VON AACHEN, Historia hierosolymitana, V 1 (RecHC.Occ I V 4 3 3 ) : „Patriarcham <...> urbis, virum christianissimum, quem Turci, cum adhuc christianorum obsidione circumdaretur, saepius funibus astrictum vivum ad moenia suspenderunt in oculis omnium, ad augendas populo christiano molestias, et cuius pedes frequenter compedum laesione attriverant".

6 2 ALBERT VON AACHEN, ebd.: „Patriarcham <...> urbis, virum christianissimum, <...> decenter in cathedra sua relocaverunt et principem antiochenae ecclesiae cum omni subiectione et religione praefecerunt".

6 3 Seine Historia eccelsiastica ist in den Jahren 1 1 2 0 - 1 1 4 2 entstanden, s.: LMA V I 1 4 3 2 - 1 4 3 3

(SCHMALE).

6 4 ORDERICUS VITALIS, Historia ecclesiastica, pars 3 , üb 1 0 , cap 2 1 (ed. cit. 7 7 5 C - D ) : „Quidam graecus, tempore Turcorum, patriarchatum Antiochiae possidebat, qui victoribus Normannis intractabilis erat. Nam ipsi, postquam principatum adepti sunt, secundum ritus latinos clerum et populum disponere decreverunt, quod Pelasgi priscos mores secuti satis incongruum esse temere censuerunt. Capto autem Bohemundo, murmur ortum est in populo quod iste praesul pararet urbem antiochenam prodere Augusto. Cumque idem comperisset de se talem murmur esse, iratus est valde et nescio, an puritate simplicis conscientiae indignatus an nefarii reatus accusatione et metu stimulatus, relicto episcopatu, in eremum successit, nec ultra redire ad eos, quorum mores abhorrebat, diffinivit".

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Die politische Dimension 237

Ordericus bringt die Unzufriedenheit der Normannen mit dem griechischen Patriarchen klar zum Ausdruck und versucht nicht, den Konflikt zwischen Joannes und den Kreuz-fahrern zu vertuschen. Wilhelm von Tyrus ( f l l86) gibt in seiner Historia eine geglät-tete Version der Ereignisse um Joannes von Antiocheia, aber sein Versuch, die Ge-schichte in besseres Licht zu stellen, überzeugt nicht, vielmehr bestätigt seine Erzählung die Spannungen, die damals aufgetreten sind. Nach seinem Bericht wurde Joannes nach der Eroberung Antiocheias zuerst „mit viel Ehre" auf seinem eigenen Stuhl belassen. Bewußt wurde zunächst kein lateinischer Patriarch gewählt, um zu vermeiden, daß zwei Personen einen Sitz beanspruchten, „was ausdrücklich gegen die hl. Kanones" sei. Gleichzeitig aber haben die Kreuzfahrer „für die angrenzenden Städte" Bischöfe (d.h.: lateinische Bischöfe) konsekriert65. Nach zwei Jahren habe Joannes selber gesehen, „daß es nicht hinreichend nützlich sei, wenn ein Grieche den Lateinern [d.h. den neu konsekrierten lateinischen Bischöfen] vorstehe". Daher habe er Antiocheia verlassen und sei nach Konstantinopel gegangen. Danach seien „der Klerus und das Volk" in Antiocheia zusammengekommen und hätten als neuen Patriarchen von Antiocheia Ber-nard von Valencia gewählt, der früher Kaplan im Heere der Kreuzfahrer war und kurz vor seiner Wahl lateinischer Bischof von Artah wurde66. Von Joannes Oxeites ist ein datiertes Schreiben vom Oktober 1100 erhalten, in dem er sein Patriarchenamt nieder-legt67. Die Chronologien von Ordericus Vitalis und Wilhelm von Tyrus stimmen so-wohl untereinander als auch mit der Datierung des Abdankungsschreibens des Joannes überein: Nach der Einnahme Antiocheias durch die Kreuzfahrer am 3. Juni 1098 blieb Joannes noch zwei Jahre im Amt. Kurz nachdem Bohemund vom Emir von Sebastia Danischmend gefangengenommen wurde (Juli/August 1100), hat Joannes Antiocheia verlassen und ging nach Konstantinopel. Dort dankte er im Oktober 1100 ab, wohlge-merkt nicht zugunsten eines Lateiners, sondern offenkundig mit der Absicht, einen griechischen Nachfolger wählen zu lassen. An seiner Stelle wurde jedoch von den

65 Es sei betont, daß es sich ausschließlich um Sitze handelte, die im Jurisdiktionsbereich nicht des Jerusalemer, sondern des antiochenischen Patriarchen lagen. S.: FEDALTO, La Chiesa latina 9 8

und 118. 6 6 WILHELM VON TYRUS, Chronicon, lib 6 , cap 2 3 (ed. cit. L X M 3 4 0 ) : „Dominum <...> patriarcham,

Joannem nomine, qui tanquam verus Christi confessor post nostrorum adventum infinita ab infidehbus pertulerat supplicia, in sede propria cum multo honore locaverunt, per urbes finitimas, quae cathedralem consueverant habere dignitatem, constituentes episcopos. Nostrae vero Latinitatis patriarcham, eo vivente, qui pridem ibi ordinatus fuerat, eligere vel consecrare non praesumpserunt, ne duo unum et eundem obtinere thronum viderentur, quod manifeste contra sacros canones et contra sanctorum statuta patrum esse dinoscitur. Sed tarnen postmodum vix evoluto biennio videns ipse quod non satis utiliter praeesset Grecus Latinis, urbe cedens, Constantinopolim abiit. Post cuius discessum convenientes eiusdem civitatis clerus et populus Artasiensem episcopum, Bemardum nomine, natione Valentinum, qui, in eadem expeditiione dominum Podiensem episcopum sequutus fuerat capellanus eius, sibi praefecerunt patriarcham".

6 7 Ediert in: GAUTIER, Jean V. l'Oxite 1 3 6 - 1 4 0 .

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Kreuzfahrern vermutlich noch im Jahre 1100 Bernard von Valencia zum Patriarchen gewählt.

Über die Geschichte des Patriarchen Symeon II. von Jerusalem gibt es widersprüch-liche Zeugnisse. Lange Zeit galt es als bewiesen, daß Symeon noch zur Zeit der Belage-rung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Juli 1099 auf Zypern verstorben sei68. Die Wahl des Arnulf von Chocques zum (lateinischen) Patriarchen der Heiligen Stadt am 1. August 1099 durch die neuen Herrscher Jerusalems erschien daher als ein zwar über-eilter, aber doch gewissermaßen gerechtfertigter Schritt. Symeon galt in der Literatur als Freund der Lateiner und Förderer der Kreuzfahrer. Diese Meinung stützt sich vor allem auf zwei lateinische Briefstücke, die sich als Aufrufe der Kreuzfahrer und des Patriarchen von Jerusalem aus den Jahren 1097-1098 an das Abendland verstehen und um dringende militärische Hilfe aus dem Westen werben69. Beide Briefe schienen Pro-dukte engster Zusammenarbeit zwischen den Kreuzfahrern und dem Patriarch Symeon zu sein70. Noch 1869 hat Philipp Jaffe den bekannteren der beiden Briefe für eine Fäl-schung gehalten71. Auch die Glaubwürdigkeit der Berichte über den Tod des Symeon im Jahre 1099 hat man vereinzelt angezweifelt; Martin Jugie hat diese Zweifel 1927 ausführlich begründet72. Jüngst vermochte Peter Plank auf überzeugende Weise alle erhaltenen Zeugnisse über Symeon zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzuführen73. Nach seinen Untersuchungen darf es heute als sehr wahrscheinlich gelten, daß der Tod des Patriarchen im Jahre 1099 auf Zypern Legende ist, deren Zweck es war, die Ernen-nung eines Lateiners zum Oberhaupt der Kirche von Jerusalem zu legitimieren. Das gewichtigste Argument für diese Interpretation der Quellen liefert die Tatsache, daß unter dem Namen des Patriarchen Symeon ein Traktat gegen die Azymen überliefert ist, der nicht vor 1106 entstanden sein kann74. Auch die „Lateinerfreundlichkeit" des Sy-

68 So noch RUNCIMAN, The Eastern Schism 87. S. auch: RILEY-SMITH, The Crusades 46; MAYER,

Geschichte der Kreuzzüge 58 (hier jedoch mit gewisser Vorsicht); HAMILTON, The Latin Church 12; BECKER, Papst Urban 432; PAPADAKIS, The Christian East 94; ODB 1982 (PA-

PADAKIS). Diese Ansicht basiert auf Berichte Alberts von Aachen (Historia hierosolymitana, I 2 -5 und VI 39) und Wilhelms von Tyrus (Chronicon, 111, und Vffl 23, ed. cit. 124-126. 416). Vgl. dagegen: L M A V M 362 (P . PLANK).

6 9 Die Briefe ediert in: HAGENMEYER, Epistulae et chartae 1 4 1 - 1 4 2 (Nr. VI) und 1 4 6 - 1 4 9 (Nr. I X ) ;

Kommentar: 2 4 2 - 2 4 7 und 2 6 9 - 2 7 5 .

70 So z. B . : RUNCIMAN, The Eastern Schism 85; HAMILTON, The Latin Church 6-7; LILIE, Die latei-nische Kirche 216.

71 JAFEE, Monumenta Bambergensia 181 Anm. 1: „Commenticiam esse hanc epistolam, minime difficile intellectu est".

72 JUGIE, Le traite sur les azymes. 7 3 PLANK, Patriarch Symeon II. von Jerusalem ( 1 9 9 4 ) .

74 In diesem Traktat wird auf eine Schrift „eines gewissen Papst Silvester" Bezug genommen (Text in: LEIB, Deux inedits 2 1 7 [ 8 5 ] ) , der nur mit dem Gegenpapst Silvester TV. (Maginulfiis) identisch sein kann, der erst am 18. November 1105 als (Gegen-)Papst gewählt wurde. Die Rivalität des

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Die politische Dimension 239

meon entbehrt jeglicher historischen Grundlage, weil in beiden Briefen, auf die sich diese Meinung stützt, der Verweis auf patriarcha Hierosolymitanus eine Fälschung ist. Vielmehr gibt es Gründe dafür, daß Symeon nach der Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer sich nach Kräften wehrte, die Reliquie des Heiligen Kreuzes den Lateinern zu übergeben, und deswegen in einen ernsthaften Konflikt mit den neuen Herrschern Jerusalems geriet75. Vielleicht war eben dieser Konflikt der Anlaß seiner Vertreibung aus der Stadt.

Man sieht also, daß in beiden Fällen - sowohl in Antiocheia als auch in Jerusalem -die Rechte der melkitischen Patriarchen von den Kreuzfahrern ignoriert worden sind. Beide Patriarchen waren - auch wenn wir die Einzelheiten nicht kennen - gezwungen, ihre Patriarchate zu verlassen. Die Wahl des Arnulf von Chocques zum lateinischen Patriarchen von Jerusalem nur zwei Wochen nach der Einnahme der Heiligen Stadt markierte den Beginn einer neuen Epoche in den Beziehungen zwischen Ost und West, nämlich die Präsenz einer lateinischen Hierarchie im Orient76. Die Annulierung der Wahl des Arnulf durch den päpstlichen Legaten Daimbert von Pisa, die Erhebung Daimberts zum Patriarchen Ende Dezember 1099 anstelle des Arnulfs und die Bestäti-gung dieses Vorgangs durch Papst Paschalis II. bedeuteten, daß Rom am Aufbau einer lateinischen Kirche im Heiligen Land unmittelbares Interesse hatte. Kurz nach seiner Amtseinführung weihte Daimbert vier lateinische Bischöfe: für Tarsus, Mamistra (Mopsuestia), Artah und Edessa77. Bemerkenswerterweise lagen alle diese Städte im Jurisdiktionsbereich nicht des jerusalemischen, sondern des antiochenischen Patriar-chen, der damals noch Joannes Oxeites hieß. Einer von den vier neugeweihten Bischö-fen, Bernard von Artah, wird kurz darauf anstelle des resignierten Griechen Patriarch von Antiocheia. Die beiden griechischen Patriarchen fliehen nach Konstantinopel, wo sich im 12. Jahrhundert eine konkurrierende Reihe von Patriarchen der beiden Städte etabliert78. Damit fing ein Schisma an, das im Gegensatz zu jenem von 1054, das trotz seiner heutigen Berühmtheit keine langfristigen kirchenrechtlichen Auswirkungen hatte, viel gravierender und auf eine längere Dauer etabliert war.

Maginulfus mit Paschalis II. dauerte bis April 1111, s.: LMA VII 1908 (SCHWAIGER). Vgl. oben, S. 102 (Nr. 39).

75 Darauf deutet ein Bericht aus der Narratio de reliquiis in monasterium Scqfhusene translatis, s.: PLANK, Patriarch Symeon 3 1 5 - 3 2 3 .

7 6 Zur lateinischen Kirche im Orient s.: LEQUIEN, Oriens christianus I—HI; FEDALTO, La Chiesa latina, HAMILTON, The Latin Church. Einzelne Aspekte der Problematik sprechen auch an: LILIE,

Die lateinische Kirche, FAVREAU-LILIE, Die italienischen Kirchen. 7 7 FEDALTO, La Chiesa latina 98 . 118.

78 Die Überlieferung ist nicht eindeutig, manche griechische Patriarchen scheinen von den Lateinern eingesetzt worden zu sein, so Sabas für Jerusalem in den Jahren 1117-1118 (HAMILTON, The La-tin Church 180). Vgl. die Wiedereinsetzung des Athanasios JH. auf den Thron von Antiocheia 1165-1170 (HAMILTON, The Latin Church 175-176; BRAND, Byzantium Confronts the West 26).

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240 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Paradoxerweise entsprang dieses Schisma der Überzeugung, daß sowohl die Lateiner als auch die Griechen der einen Kirche Christi angehören, daß diese Kirche einig und eben nicht nach ethnischen, kulturellen oder theologischen Merkmalen gespalten sei. Die Einsetzimg von lateinischen Patriarchen in Antiocheia und Jerusalem ist der beste Beweis dafür, daß das „Schisma von 1054" zumindest im Bewußtsein der Lateiner an der Wende zum 12. Jahrhundert nicht als normatives Ereignis wahrgenommen wurde79. Andernfalls wäre man mit den melkitischen Patriarchaten so verfahren wie mit den im Fürstentum Antiocheia lebenden Nicht-Chalkedonensern. Denn die Rechte des jakobiti-schen und des armenischen Patriarchen, über ihre Gläubige geistige Gewalt auszuüben, wurden von den Kreuzfahrern nicht in Frage gestellt. Mit wenigen Ausnahmen80 ver-folgte man hier eine Politik der Nichteinmischung, selbstverständlich unter Vorausset-zung der politischen Loyalität der Betroffenen. Bei den melkitischen Patriarchaten hatte man dagegen keine Bedenken, einen lateinischen Bischof bzw. Patriarchen als geistiges Oberhaupt für die dort lebenden Syrer und Griechen einzusetzen. Vielmehr erschien dies den Kreuzfahrern als eine natürliche Folge ihrer Eroberungen. Solches Denken war aus militärpolitischer Sicht für das hohe Mittelalter - wohlgemerkt nicht nur im Westen, sondern auch im Osten - eine Selbstverständlichkeit81. Die neuen Herrscher haben je-doch die kulturellen Dimensionen dessen, was sie sich anmaßten, völlig unterschätzt.

Für unser Thema sind die Ereignisse in den Kreuzfahrerstaaten deswegen wichtig, als sie das Zentrum der lateinisch-griechischen interkulturellen Spannungen und die Riva-lität der Riten in die beiden alten Patriarchate verlegen. Der Kulturkonflikt, der im 11. Jahrhundert vor allem auf süditalienischem Boden ausgetragen wurde, weitete sich nun auf den östlichen Mittelmeerraum aus82. Wie dies konkret aussah, berichtet eine um

79 Deswegen sind z. B. die Ausführungen von FAVREAU-LILIE, Die italienischen Kirchen 15, m. E. verfehlt, wenn sie schreibt: „das Schisma hatte ohnehin eine strenge Trennung zwischen griechi-scher und lateinischer Kirche bewirkt", und dies als Grund dafür angibt, daß die Gründimg der lateinischen Kirchen „problemlos" vor sich ging. Wenn es überhaupt wirklich „problemlos" ge-hen sollte, ist dafür nicht das Schisma, das es damals eben nicht gab, verantwortlich, sondern die sprachlichen Differenzen, die es nicht erlaubten, die Seelsorge zu vereinheitlichen.

80 Vgl. z. B. die Geschichte des Athanasios M . : HAMILTON, The Latin Church 174-177. 81 Die emotionalen Urteile, die in der heutigen Forschung über die Einsetzung der lateinischen

Bischöfe für Antiocheia und Jerusalem abgegeben werden (s. bes. bei Peter PLANK, Patriarch Symeon 326-327), sind insofern irreführend als sie die Motivation der Kreuzfahrer und die Ge-wohnheiten jener Zeit verkennen. Indessen war die Einsetzung einer lateinischen Hierarchie eine für jene Zeit normale Folge der Eroberung, die kein Spezifikum der -westlichen Handlungsweise darstellte, vgl. etwa die „Byzantinisierung" in Süditalien, vgl. oben, S. 55 und 83. Die Mehrheit der Gläubigen in den melkitischen Patriarchaten Antiocheia und Jerusalem sprachen Arabisch; ih-re Liturgie wurde auf Syrisch zelebriert. Ihnen waren die griechischen Patriarchen wohl genauso fremd wie die lateinischen, dazu s.: RUNCIMAN, The Eastern Schism 103.

82 Zu der schwierigen Problematik der Multikulturalität in den Kreuzfahrerstaaten s. kürzlich: MAYER / MÜLLER-LUCKNER (Hg.), Die Kreuzfahrerstaaten ( 1 9 9 7 ) .

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Die politische Dimension 241

1100 entstandene Schrift des Nikolaos von Andida „gegen jene, die die Azymen in der Göttlichen Liturgie darbringen"83. Der byzantinische Theologe beruft sich auf seine Erfahrungen, die er kurz zuvor auf der Insel Rhodos, dem Stützpunkt der venetiani-schen Flotte während des ersten Kreuzzugs, gemacht hatte. Er ist darüber empört, daß jener „Menge der Lateiner und der ihnen gleichgesinnten Venetianer84", die auf der Insel weilt, nicht nur gestattet werde, die Eucharistie nach ihrer Art mit Azymen darzu-bringen, sondern sie sich auch anmaßten, mit ihrer Argumentation zugunsten des unge-säuerten Brotes die einfachen Seelen der einheimischen Griechen zu verführen85. Daß der Azymenstreit im Hintergrund der Spannungen um die Patriarchenstühle von Jeru-salem und Antiocheia stand, wird vor allem aus dem Kontext der Epoche ersichtlich. Es ist kein Zufall, daß die beiden vertriebenen griechischen Patriarchen gerade Schriften gegen die Azymen verfaßt haben86. Nach all dem, was man aus ihren Traktaten er-schließen kann, war es unvermeidlich, daß sie einen Verzicht des häresieverdächtigen Brauches von den neuen Herrschern gefordert haben87. Die Azymenfrage mußte neben anderen Punkten, wie etwa die erzwungene Herausgabe der heiligen Reliquien, eines der wichtigsten Anliegen ihres Konfliktes mit den Kreuzfahrern werden. Die Bemer-kung des Ordericus Vitalis über jenen „Abscheu" gegen die Sitten und Bräuchen der Ankömmlinge, der den griechischen Patriarchen bewogen habe, sein Patriarchat zu verlassen88, gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit. Andererseits drängt sich aber auch die Vermutung auf, daß die von den Griechen praktizierten liturgischen Riten und Ge-wohnheiten, wie die Zelebration mit gesäuertem Brot, von den Kreuzfahrerstaaten als eine latente Bedrohung, zumindest als destabilisierender Faktor angesehen werden konnten.

83 Zu Nikolaos von Andida und seinen Schriften s. oben, S. 100 (Nr. 32). 8 4 Die Venetianer wurden als Untertanen des byzantinischen Reiches betrachtet; dazu: LILIE, Die

lateinische Kirche 203. 8 5 DARROUZES, Nicolas d'Andida 2 0 8 Z. 2 - 3 3 . ANGOLD, Church and Society 5 1 1 , interpretiert diese

Stelle in dem Sinne, daß „the local people were beginning to adopt the Latin custom of using azymes in the communion Service". Indessen ist diese Interpretation falsch: Nikolaos war bereits empört darüber, daß die Venetianer den Griechen die Toleranz gegenüber ihrem Brauch auf-drängten.

86 Es sind auch von dem Nachfolger Symeons, Joannes (VHI.) von Jerusalem Schriften gegen die Azymen bekannt, s. oben, S. 94 (Nr. 13).

87 Symeon von Jerusalem richtete zum Schluß seiner Schrift einen Aufruf an die Lateiner, „mit dem Widerstand aufzuhören", nachdem sie seine Belehrung über das ungesäuerte Brot gehört haben. Joannes von Antiocheia spricht sich noch unnachgiebiger aus: Für ihn sei die Azymenfrage nicht nur die wichtigste Ursache der Trennung und die Summe der christlichen Religion; er sagt aus-drücklich, sollte diese Krankheit nicht geheilt werden, werde die ganze Kirche krank (LEIB, Deux inedits 239 [107] und 245 [113]).

88 Den Wortlaut s. oben, S. 236 Anm. 64.

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242 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Erst kürzlich wurde in der Forschung darauf aufmerksam gemacht, daß eben die in Konstantinopel residierenden griechischen Titularpatriarchen von Antiocheia und Jeru-salem eine Quelle antilateinischer Stimmungen in Byzanz während des ganzen 12. Jahrhunderts hindurch waren89. Der bekannteste von ihnen, Theodoros Balsamon, Titidarpatriarch von Antiocheia ca. 1185 - 119590, hat als einer der führenden Kanoni-sten seiner Zeit besonders dazu beigetragen, das Bild der Lateiner im Bewußtsein der Byzantiner zu verzerren. In seinen kanonischen Antworten an den Patriarchen Markos von Alexandreia (verfaßt ca. 1195) beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, ob es erlaubt sei, den lateinischen Kriegsgefangenen die heilige Kommunion zu geben. Seine Antwort ist auch für unser Thema bemerkenswert:

„»Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«, sagt das heilige Evangelium, »und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut« [Mt 12, 30 = Lk 11, 23]. Da vor langer Zeit die Versammlung der westlichen Kirche (das heißt Roms) von der geistigen Gemeinschaft der übrigen vier heiligen Patriarchen abgefallen ist und sich Sitten und Dogmen, die der katholischen Kirche und den Orthodoxen fremd sind, zugewandt hat (weswegen auch der Papst in den heiligen Gottesdien-sten nicht der gemeinsamen Erwähnung mit den Namen der Patriarchen gewürdigt wird), ist es nicht erlaubt, daß die Sippe der Lateiner aus den priesterlichen Händen durch die göttlichen und unbefleckten Mysterien geheiligt werde, bevor sie nicht den lateinischen Dogmen und Gewohnheiten abschwört und gemäß den Kanones instruiert wird und [dadurch] gleichwertig mit den Orthodoxen wird"91.

Als Hindernis für die Zulassung zur Hl. Kommunion nennt Balsamon immer wieder zwei Dinge: die falschen ödyfiara (Dogmen, Lehrmeinungen) und cOt] / avvtjdciai (Bräuche, Sitten, Gewohnheiten). Während unter dem ersten Begriff offensichtlich das Filioque zu verstehen ist, umfaßt der letztere zweifelsohne die rituellen Streitfragen, vor allem das Azymenproblem.

Ein anderer Faktor, der zur Verschärfung der gegenseitigen Aversionen und vor al-lem zur Vertiefung antilateinischer Stimmungen in Byzanz im 12. Jahrhundert beigetra-gen hat, ist die wirtschaftliche Expansion der italienischen Seestädte im byzantinischen

8 9 ANGOLD, Church and Society 5 0 6 - 5 0 8 .

9 0 Zu Theodoros Balsamon s.: LMA 1 1 3 8 9 - 1 3 9 0 (STEIN); ODB 2 4 9 (KAZHDAN).

91 BALSAMON, 'EptDxrjaeig xavovixai Antwort 5 (ed. cit. 968 B): ö |XF| <3W |iEx'£poü, xax'£poü ecm, TÖ GeTov ctpriocv Etiaw^Xiov xai ö (if) auväywv iiex'epoü oxopjt(£ei. ' End ouv Jipö Xpövtüv iioAAüjv äjitaxioöri xfjg öimxrjg 'ExxX.r|oiag, xrjg 'Poonrte <pa(iev, TÖ Jiepicövunov aGpoiapa i x xfjg xajv exdpcov xeaadparv äylcov Jiaxptapxäiv jiveupaxixfK xoivuviag, xai ctJteoxoivio0Ti Jtpög cör| xai ööypaxa rrjg xaöoXixfig 'ExxXr|ai'at; xai xffiv 6p9oöö|cuv ctXAoxpia. Aiä yäp xoöxo oüxe ev xatg GeCaic; lcpoxeA,eaxiau;, xoivrjg xffiv Jtaxpiapxixffiv övopäxcov ctvatpopäg 6 JICOTCU; F^uoxai, oüx ötpeiXei y&voq Aaxivixöv Iv. xeipöc; iepaxixfjg öiä xffiv GCICOV xai äxpavxcov pwxripicov dtyid^EOÖai- et pf) xaxäörjxat npöxepov änexeoGai xffiv Aaxivixffiv öoypäxwv xe xai auvr|Geiffiv, xai xaxä xavövag xaxr|XT|6fj, xai xoTg öpöoöö|oi? £|iacüöti. Zu dem Status der Lateiner als Exkommunizierten vgl. ebd., Antwort 32 (ed. cit. 9 8 5 ) .

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Die politische Dimension 243

Reich, auf die wir hier im Einzelnen nicht einzugehen brauchen92. Für uns ist jedoch von Belang, daß diese Expansion einen beträchtlichen Zuwachs von lateinischen Sied-lungen und dementsprechend auch lateinischen Kirchen auf byzantinischem Territorium nach sich zog. Nicht nur erhielt Venedig, worauf oben bereits hingewiesen wurde, 1082 ein eigenes Stadtviertel in Konstantinopel, sondern auch Pisa (1111) und Genua (1155) gewährte man dasselbe Recht, was selbstverständlich auch den Unterhalt lateinischer Kirchen miteinschloß93. Die halbhäretischen „Azymiten", die Patriarch Michael Kerul-larios in der Reichshauptstadt kaum dulden wollte, faßten im 12. Jahrhundert im Zen-trum des oströmischen Reiches mehr und mehr Fuß. Mehr noch: Sie mischten sich im-mer häufiger in die inneren Angelegenheiten des Staates ein. Die Politik der Komnenen-Dynastie gegenüber den italienischen Seestädten schwankte zwischen den Extremen. Besonders stark waren davon die Venezianer betroffen: Zunächst von bei-spiellosen Privilegien unter Alexios I. Komnenos verwöhnt, erlitten sie unter seinem Enkel Manuel I. einen vernichtenden Rückschlag, als am 12. März 1171 alle Venezia-ner im byzantinischen Reich (schätzungsweise 20.00094) auf Befehl des Kaisers ver-haftet und ihre Güter beschlagnahmt wurden95. Die Verwicklung der in der Hauptstadt ansässigen Lateiner in die byzantinische Politik brachte ihnen nicht nur Vorteile: Neben politischen Maßnahmen wie die oben genannte sahen sie sich auch wütenden Ausbrü-chen des Pöbels ausgesetzt. Inmitten der politischen Unruhen des Jahres 1182 kam es in Konstantinopel zu schrecklichen Massakern gegen die Lateiner (nach der Vertreibung der Venezianer waren dies meist Pisaner und Genuesen)96. Bemerkenswert ist dabei, daß es nach den erhaltenen Berichten insbesondere die griechischen Geistlichen waren, die nicht nur zu Ausschreitungen gegen die Lateiner aufgehetzt haben, sondern auch selbst daran teilnahmen. Vorrangiges Ziel des Hasses war dabei der lateinische Kle-rus97. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus dem Bericht des Wilhelm von Tyrus:

„Bei den griechischen Adeligen und besonders bei seinen [des Manuel I. Komnenos] Ver-wandten und im übrigen Volk wuchs ein unersättlicher Haß gegen die Unsrigen. Dabei kam hinzu, daß der Unterschied in den Sakramenten zwischen uns und ihnen die Entrüstung auf den Höhepunkt brachte und den Zunder des Hasses noch zusätzlich anheizte. Über alle Maßen arrogant und von der römischen Kirche durch Unverschämtheit getrennt, halten sie jeden fllr

9 2 Dazu zusammenfassend: LILIE, Handel und Politik 9 3 Zu den Kirchen der Pisaner und Genuesen in Konstantinopel s.: JANIN, Constantinople byzantine

2 4 7 - 2 5 1 ; LILIE, Die lateinische Kirche; DALLEGGIO D'ALLESSIO, Recherches 4 5 2 - 4 5 4 .

9 4 S . : BRYER, Cultural Relations 8 7 .

9 5 Dazu s.: BRAND, Byzantium Confronts the West 1 5 - 1 6 ; OSTROGORSKY, Geschichte 3 2 1 - 3 2 2 .

ANGOLD, Church and Society 5 1 1 , spricht zu Recht von einem „love-hate relationship" der By-zantiner zu den Lateinern.

9 6 Dazu s.: BRAND, Byzantium Confronts the West 4 1 - 4 3 .

9 7 Am ausführlichsten berichtet über die Greueltaten des Pogroms WILHELM VON TYRUS, Chronicon, l i b 2 2 , c a p 1 3 ( e d . c i t . 1 0 2 2 - 1 0 2 4 ) .

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244 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

einen Häretiker, der ihre unbedachten Traditionen nicht befolgt, obwohl sie vielmehr sich selbst den Namen von Häretikern aneignen sollen, weil sie ja gegen die römische Kirche und den Glauben der Apostel Petrus und Paulus, <...> neue und ungesunde Lehrmeinungen her-vorbringen oder befolgen"98.

Man sieht also, daß die „Verschiedenheit der Sakramente" auch 120 Jahre nach Kerulla-rios eines der wirksamsten Hetzmittel gegen die Lateiner blieb. Der Pogrom war nicht nur politisch, sondern vor allem kulturell und religiös motiviert". Seinerseits erwiderte Wilhelm die Animositäten der Byzantiner mit einem Häresievorwurf, nun gegen die Griechen. Die antivenezianische Aktion Manuels von 1171 und das Massaker von 1182100 bereiteten in gewisser Hinsicht den Weg für die Eroberung Konstantinopels im vierten Kreuzzug. Die Lateiner, besonders die Venezianer, nutzten 1204 die Gelegen-heit, Revanche für die Kränkungen der letzten Jahrzehnte zu nehmen101.

98 WILHELM VON TYRUS, Chronicon, lib 22, cap 11 (ed. cit. 1021): „Grecorum nobiles et maxime eius consanguinei, sed et reliquus populus odium insaciabile adversus nostros conceperant, accedente etiam ad indignationis cumulum et odiorum fomitem et incentivum ministrante sacramentorum inter nos et eos differentia. Arrogantes enim supra modum et a Romana ecclesia per insolentiam separati, hereticum omnem eum reputant qui eorum frivolas non sequuitur traditiones, cum ipsi magis hereticorum sibi nomen adaptent, dum contra Romanam ecclesiam et apostolorum Petri et Pauli fidem <...> novas et pestilentes opiniones aut gignunt aut sequuntur".

99 Dieser Bericht Wilhelms wird in indirekter Weise durch die weiteste Verbreitung antilateini-scher Schriften in Byzanz in der gleichen Zeit bestätigt. Daher halte ich die Verwunderung von LILIE, Die lateinische Kirche 219 Anm. 86, für unberechtigt, daß Wilhelm von Tyrus es gewe-sen sei, der „plötzlich alle alten religiösen Vorwürfe" hervorgeholt habe, „über die er bis dahin sorgfaltig geschwiegen hatte". Wilhelm folgte in seinem Bericht den Vorwürfen der Griechen, dessen weite Verbreitung in Byzanz auch von anderen byzantinischen Quellen und antüateini-schen Traktaten bestätigt wird. Es überraschen auch andere Aussagen des Autors, wie z. B. die Behauptung, daß „wir nicht den geringsten Hinweis auf einen etwaigen Widerstand der Kon-stantinopolitaner Kirche gegen die Etablierung lateinischer Kirchen in der Romania haben" (S. 209) und daß ,4m religiösen Bereich" sich „überraschenderweise" keine Aussagen finden, die die Lateiner etwa als Häretiker apostrophieren würden (S. 212). Die ganze antüateinische Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts spricht gegen diese Behauptung. Dabei sei nochmals be-tont (vgl. oben, S. 240 Anm. 79), daß in der damaligen Zeit man nicht davon ausging, ein Schisma vollzogen zu haben. Beide Seiten sahen sich als eine Kirche an, wenn auch die jeweüs andere Seite als irregeleitet betrachtet wurde. Darin bestand gerade die paradoxe Situation, die LILIE in seinem Aufsatz, der ansonsten viele hüfreiche historische Informationen bietet, in ver-kehrter Perspektive darstellt.

100 Wobei es anzumerken güt, daß es auch nach 1182, etwa im Jahre 1187, zu gelegentlichen Aus-brüchen des Pöbels gegen die Lateiner in Konstantinopel kam; diese erreichten jedoch nicht die Intensität des Massakers von 1 1 8 2 ; s. dazu: BRAND, Byzantium Confronts the West 8 3 - 8 4 .

101 Die erste Erwiderung auf das Progrom kann man in der normannischen Einnahme von Thessa-lonike im Jahr 1185 sehen, die durch besondere Greueltaten gekennzeichnet war. S.: ANGOLD,

Greeks and Latins 63.

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Die politische Dimension 245

Im Laufe des 12. Jahrhunderts kam es zu einer Reihe von Kontakten zwischen Rom und Konstantinopel, auf denen die Streitfragen zwischen den Kirchen besprochen win-den. Mehrmals hat man öffentlich, auch in Anwesenheit des Kaisers, miteinander dis-putiert und dabei auch die Frage der Azymen erörtert102. Jedoch tritt dieses Problem auf offizieller Ebene jetzt in den Hintergrund. Ein gewisses Mißverhältnis ist zu konstatie-ren: Im alltäglichen kirchlichen Umgang lieferten die Azymen, besonders dort, wo La-teiner und Griechen nebeneinander lebten und den gleichen Kirchenstrukturen ange-hörten, nach wie vor reichlich Zündstoff, aber die offiziellen Disputationen wandten sich im 12. Jahrhundert zunehmend anderen Streitpunkten zu, unter denen das Filioque unbestritten den ersten Platz einnahm. Mit der Primatsfrage trat aber nun ein neuer und zukunftsträchtiger Kontroversgegenstand auf den Plan. Auf byzantinischer Seite scheint über den Primat zum ersten Mal Niketas Seides im Jahr 1112 mit dem Erzbischof von Mailand Petrus Grossolanus disputiert zu haben103.» Seitdem tritt die Schlüsseholle die-ses Problems immer stärker in das Bewußtsein der Byzantiner. Die Diskussion der Azymen wird, wie wir unten sehen werden, tendenziell nicht mehr im sakramenten-theologischen Kontext erfolgen, sondern interessanterweise im Licht der Primatspro-blematik.

Michael Angold kommt in seiner Untersuchung über die byzantinische Barche und Gesellschaft unter den Komnenen zu dem Schluß, daß die byzantinische Identität im Laufe des 12. Jahrhunderts langsam in einem antilateinischen Sinne umgestaltet wur-de104. Selbst wenn es so ist, darf man sich diese Umgestaltung keinesfalls als einen eindeutig zielgerichteten Prozeß vorstellen. Die politischen Interessen und Prioritäten, Bündnisse und Kriege richteten sich nach ganz unterschiedlichen Konstellationen, die sich durchaus nicht auf die Formel „West gegenüber Ost" reduzieren lassen. Die Politik der Komnenen konnte sowohl „lateinerfeindliche" als auch „lateinerfreundliche" Züge annehmen, je nach der aktuellen politischen Konjunktur. Ebenfalls waren das Papsttum und die westlichen Mächte bisweilen Alliierte, bisweilen Feinde des oströmischen Rei-ches105. Man dachte pragmatisch-politisch und nicht religiös-kulturell. Aber auch in kultureller Hinsicht brachte das 12. Jahrhundert nicht nur die lateinerfeindlichen Aussa-gen des Balsamon hervor, sondern etwa auch die Ansichten des Theorianos, der die griechischen Mönche ermahnte, die Lateiner als Brüder im selben Glauben zu lieben106. Bemerkenswerterweise demonstriert auch die oben zitierte Stelle bei Balsamon eine im

102 Unklar ist, ob die Azymenfrage in der Disputation mit Petrus Grossolanus (1112) diskutiert wurde (zu Grossolanus s.: ODB 885); Grumel ist der Meinung, daß diese ausschließlich dem Filioque gewidmet war (GRUMEL, Autour du voyage 33).

1 0 3 DARROUZES, Documents byzantins, und nach ihm SPITERIS, La critica bizantina, haben das bisher Bekannte systematisiert. S . auch: GAHBAUER, Gegen den Primat.

1 0 4 ANGOLD, Church and Society 5 0 8 : „the Byzantine identity was being reshaped in an anti-Latin sense".

1 0 5 Vgl. zu den politischen Konstellationen: LILIE, Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten 2 3 5 - 2 5 1 .

106 S. oben, S. 116.

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246 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

ekklesiologischem Sinne schwankende Einstellung. Im Falle der Lateiner ist die gefor-derte Abkehr von Irrtümern, um zur Kommunion zugelassen zu werden, wesentlich milder als bei anderen Häretikern, die von Balsamon im gleichen Werk angesprochen wurden. Von diesen anderen verlangte er - entsprechend dem Grad ihres Abfalls vom rechten Glauben - entweder Firmung oder Wiedertaufe107. Das um 1155 verfaßte Schreiben des Erzbischofs Basileios von Achrida an Papst Hadrian IV. formulierte das Verhältnis zwischen den beiden Kirchen folgendermaßen:

„Wir, ich und alle [Bischöfe], die dem großen und apostolischen Stuhl von Konstantinopel an-gehören, verkünden und predigen das Gleiche wie Du [Papst], Dasselbe ist auch das Wort des Glaubens, das in den beiden Kirchen gesprochen wird, das gleiche Lamm wird dargebracht, <...> obwohl einige unbedeutende Steine des Anstoßes, die in unsere Mitte geworfen wurden, uns getrennt haben und aus uns, die wir ja aus demselben Geist stammen, eine Vielheit mach-ten"'08.

Auch von lateinischer Seite aus hegte man gegenüber den Griechen zweideutige Ge-fühle. Kennzeichnend ist eine Bemerkung des Bernhard von Clairvaux über die Grie-chen: „die mit uns sind und nicht mit uns sind, im Glauben [mit uns] vereint, im Frieden [von uns] getrennt", - Bernhard fügt hinzu: „Obwohl sie auch im Glauben von den richtigen Wegen abgewichen sind"109.

Das 12. Jahrhundert wurde bisher in der Erforschung der Ost-West-Problematik eher vernachlässigt. Allzu viele Fragen bleiben offen und allzu viele Texte unediert, und einzelne Teiluntersuchungen kommen zu unterschiedlichen, bisweilen sogar wider-sprüchlichen Schlußfolgerungen. Auf jeden Fall entzieht sich der Zeitraum von 1099 bis 1204 einer eindimensionalen Interpretation. Wenn auch eine zunehmende Aversion zu einem grundlegenden Bewußtseinswandel führte, so waren in diesem Prozeß die Alternativen als reale Möglichkeiten nach wie vor offen.

1 0 7 BALSAMON, 'EPÜRNIAEI? xavovixai Antwort 2 9 (ed. cit 9 8 1 - 9 8 4 ) .

108 PG 119, 932 C-D: xä aüxä aoi jipeaßeuopEV xai öiöäoxopev eycö xe xai Jtävxeg oi xoü peyaXou xai äjtoaxoXtxoö xfjg KarvaxavxivowiöXecoc; Bpövotr xai elc; ev äptpoxepai^ xatg 'ExxA.r|aiatg 6 XaXoüpEvog hbyoc, xrjc; maxeax;- xai ö aüxög äpvög öuexai <...>• ei xai xiva ßpaxea Jtpoaxöppaxa dt; piaov jrapappitp^vxa öieaxriaav f)p.äg, xai nolXovq jiEJioifjxaoi XOVQ ivÖQ xai xoö aüxoü nveüpaxog.

1 0 9 BERNHARD VON CLAIRVAUX, De consideratione, lib 3 , cap 1 ( 4 ) (ed. cit. 4 3 3 - 4 3 4 ) : „Ego addo de pertinacia Graecorum, qui nobisum sunt et nobiscum non sunt, iuncti fide, pace divisi, quamquam et in fide ipsa claudicaverint a semitis rectis".

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Die politische Dimension 247

II. Die Zeit nach 1204

1. Von der Eroberung Konstantinopels 1204 durch die Kreuzfahrer bis 1261

a. Die Gründung des lateinischen Patriarchates von Konstantinopel

Das Jahr 1204 stellt unbestritten den Scheidepunkt für die politische Geschichte der lateinisch-byzantinischen Beziehungen im Mittelalter dar. Die Eroberung Konstantino-pels am 13. April 1204 durch die Kreuzfahrer des Vierten Kreuzzugs1, die anschließen-de drei Tage dauernde Plünderung der reichsten und anziehendsten Stadt der damaligen christlichen Oikumene, schließlich die Gründung des lateinischen Kaiserreiches Kon-stantinopel und anderer lateinischer Staaten auf byzantinischem Territorium - dies alles hinterließ bei den Byzantinern eine tiefe Wunde, die im historischen Gedächtnis der Völker des byzantinischen Kulturraumes bis heute präsent ist. So sucht man gerade im Jahr 1204 nach den Wurzeln des modernen griechischen Nationalbewußtseins2. Aber auch in rein kirchlicher Hinsicht hat dieses Datum eine einmalige Bedeutung. Die mo-derne Forschimg tendiert seit Runciman3 dazu, den endgültigen Bruch zwischen den Kirchen von Rom und von Konstantinopel auf 1204 zu datieren.

Die Eroberung Konstantinopels verursachte eine kirchliche Spaltung, die im Großen und Ganzen nach dem Schema von 1099/1100 ablief. Der griechische Patriarch von Konstantinopel Joannes X. Kamateros war vor den Eroberern geflüchtet, und bereits zwischen Juni und Oktober 1204 wählten die Kreuzfahrer den Venezianer Thomas Morosini zum (lateinischen) Patriarchen. Die Wahl wurde von Papst Innozenz III. zwar als unkanonisch qualifiziert4, Morosini wurde aber dennoch - „um den Venezianern eine Gunst zu erweisen" - in seinem Amt bestätigt5. Am 30. März 1205 erhielt Morosi-

1 An diesem Datum fand eigentlich die zweite Eroberung der Reichshauptstadt durch die Kreuzfahrer statt: Die erste geschah am 17. Juli 1203 und hatte zum Zweck, die Wiedereinsetzung des Isaak Angelos (und mit ihm des Alexios IV.) auf dem byzantinischen Thron. Zusammenfassende Dar-stellungen der Ereignisse 1 2 0 4 und ihres Hintergrunds bieten: BRAND, Byzantium Confronts the West 2 3 2 - 2 6 9 ; SETTON, The Papacy and the Levant I 1 - 2 6 ; QUELLER, The Fourth Crusade; GODFREY, 1204. The Unholy Crusade.

2 S . : VACALOPOULOS, Origins of the Greek Nation 2 7 - 4 5 .

3 S.: RUNCIMAN, The Eastern Schism 1 5 1 ; zur Problematik der Datierung des Schismas in der mo-dernen Literatur s.: PAPADAKIS, Revision in History.

4 Wohlgemerkt bemängelte der Papst dabei nicht, daß man auf die Griechen keine Rücksicht ge-nommen hätte.

5 S. das diesbezügliche Schreiben des Innozenz EL in: CICO Fontes II 285-289 (Nr. 68), hier 289.

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ni vom Papst in Rom das Pallium6. Währenddessen kam Joannes Kamateros nach Di-dymoteichon in Thrakien, in das Gebiet, das im Jahr 1205 das Zentrum des Widerstan-des gegen die Lateiner wurde7, und blieb dort bis zu seinem Tod im Juni 12068. Erst kurz vor seinem Hinscheiden dankte er im April oder Mai 1206 von seinem Patriar-chenamt ab9. Nachdem die ersten durch die lateinischen Eroberungen ausgelösten Tur-bulenzen einigermaßen zur Ruhe gekommen waren, entstand in Nikaia ein Exilkaiser-tum unter dem neuen Kaiser Theodoros I. Laskaris, der auch einen neuen Patriarchen wählen ließ. Aus dieser Wahl ging am 20. Mai 1208 Michael Autoreianos als neues Oberhaupt der griechischen Kirche hervor, der zwar den Titel des ökumenischen Patri-archen von Konstantinopel führte, aber in Nikaia residierte. Wie im Falle Jerusalems und Antiocheias entstanden zwei rivalisierende Patriarchenlinien: die eine im lateini-schen Kaiserreich von Konstantinopel, die andere im griechischen Kaiserreich von Nikaia10. Erst mit der Wiederherstellung der griechischen Herrschaft in Konstantinopel im Jahr 1261 konnte der griechische Patriarch (damals Arsenios Autoreianos) seinen Thron in Konstantinopel wieder in Besitz nehmen. Daß dieses neue Schisma weit gra-vierendere Folgen haben mußte als die früheren Rivalitäten um Jerusalem und Antio-cheia, da es hier um den Patriarchensitz der Reichshauptstadt sowie letzten Endes um das Schicksal des oströmischen Reiches in seiner griechisch geprägten Gestalt ging, braucht man nicht zu betonen.

b. Papst Innozenz III.

Die kirchenpolitischen Aspekte der Gründung des lateinischen Kaiserreiches und Patri-archates in Konstantinopel sind hinreichend erforscht und brauchen hier nicht wieder-

6 Eine Chronologie der Ereignisse um die Gründung des lateinischen Patriarchats Konstantinopel bei FEDALTO, La Chiesa latina 2 8 3 - 2 8 6 .

7 Am 14. April 1205 fand bei Adrianopel eine Schlacht statt, bei der das Heer der Lateiner von den bulgarisch-kumanischen Truppen vernichtet wurde, s.: OSTROGORSKY, Geschichte 3 5 2 - 3 5 3 .

8 P . SCHREINER nennt in LMA V 5 5 0 als Datum des Todes April/Mai 1 2 0 6 , was offensichüich eine Verwechslung mit dem Datum der Abdankung ist.

9 Zu Patriarchen Joannes Kamateros s.: PAPADAKIS / TALBOT, John X Camaterus, ODB 1 0 5 4 - 1 0 5 5

(TALBOT); LMA V 5 5 0 (SCHREINER). HOECK / LOENERTZ, Nikolaos-Nektarios 4 4 Anm. 7 0 , be-zweifeln die Abdankung des Kamateros und sind der Meinung, daß die Quellenberichte nicht über die Abdankung, sondern über den Verzicht, nach Nikaia zu gehen, sprechen. Später sollte dieser Verzicht als Abdankung interpretiert werden.

10 In Epeiros formierte sich ein zweites Exilkaisertum, das mit dem von Nikaia rivalisierte. Hier gab es eigenes Kirchenoberhaupt, das jedoch nicht den Titel eines ökumenischen Patriarchen trug. Zu Epeiros und seinen kirchlichen Beziehungen zu Nikaia und zum lateinischen Konstantinopel s. zusammenfassend bei GILL, Byzantium and the Papacy 4 8 - 5 1 .

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Die politische Dimension 249

holt zu werden". Uns interessieren vielmehr die kulturellen Aspekte und Implikationen der genannten Ereignisse, insbesondere die Auswirkungen auf Liturgie und Sakramente, besonders auf die Azymenfrage. In diesem Zusammenhang kommt der Initiative des Papstes Innozenz III. eine entscheidende Bedeutung zu.

Die Rolle Innozenz' III. in den Ereignissen des Vierten Kreuzzugs und in der Er-richtimg des lateinischen Patriarchates von Konstantinopel wird in der Literatur sehr unterschiedlich beurteilt. „Aggressor or Apostle?", so formulierte Joseph Gill kurz und prägnant das zentrale Dilemma der Forschung12. Walter Norden etwa scheint das erste, Theodosius Haluscynskyj dagegen das zweite Attribut zu favorisieren13. Zum Teil gründen solche Bewertungen auf konfessionellen Vorurteilen, was angesichts der Be-deutung des Pontifikats Innozenz' III. als eines „Gipfelpunkts der Machtentfaltung des Papsttums im Mittelalter"14 durchaus verständlich ist. Aber auch das zwiespältige Ver-halten des Papstes selbst verbietet es, zu einem klaren, unzweideutigen Urteil zu gelan-gen. In der Korrespondenz Innozenz' III. finden sich durchaus widersprüchliche Aussa-gen zur byzantinischen Frage. So warnte der Papst zunächst die Kreuzfahrer ausdrücklich davor, byzantinische Territorien zu erobern und zu plündern. „Niemand von euch möge sich täuschen, es sei ihm erlaubt, das Land der Griechen zu okkupieren oder zu plündern, aus dem Grund, daß dieses Land nicht dem apostolischen Stuhl un-terworfen sei. <...> Es ist nicht eure Sache, über die Vergehen der Griechen zu urteilen. Nicht zu diesem Zweck habt ihr das Zeichen des Kreuzes genommen", schrieb Inno-zenz III. im Juni 1203 an die militärischen Führer des Kreuzzuges15. Ungeachtet dessen drückte der Papst kurz nach der Einnahme Konstantinopels seine Freude darüber aus, daß das Reich der Griechen „nach dem gerechten Urteil Gottes" von den Schismatikern

11 Zusammenfassende Darstellung der Geschichte des lateinischen Kasierreiches Konstantinopel s.: WOLFF, The Latin Empire of Constantinople. Zum lateinischen Patriarchat von Konstantinopel s.: WOLFF, The Organisation, FEDALTO, La Chiesa latina 2 3 5 - 2 8 2 ; RICHARD, The Establishment.

12 GILL, Innocent III and the Greeks ( 1 9 7 3 ) .

13 NORDEN, Papsttum und Byzanz ( 1 9 0 3 ) , bes. 2 4 2 - 2 5 8 ; vgl.: HALUSCYNSKYJ, Introductio zur Sammlung einschlägiger Urkunden und Briefe Innozenz' HI. in: CICO Fontes II 3 - 1 4 3 . Neben diesen Studien sei noch auf einige Arbeiten hingewiesen, die neben anderen Themen auch die Rolle des Innozenz DI. in den Beziehungen mit dem Osten behandeln, s.: TILLMANN, Papst Inno-zenz III. ( 1 9 5 4 ) 2 1 2 - 2 1 9 ; DE VRIES, Rom und die Patriarchate ( 1 9 6 3 ) 1 8 6 - 1 8 8 ; DERS. , Innozenz III. und der christliche Osten ( 1 9 6 5 ) ; ROSCHER, Papst Innozenz III. und die Kreuzzüge ( 1 9 6 9 ) ;

GILL, Byzantium and the Papacy ( 1 9 7 9 ) 2 0 - 2 3 ; SAYERS, Innocent III. ( 1 9 9 4 ) 1 6 4 - 1 7 6 . 1 8 5 - 1 8 6 .

14 So LMA V 436 (MALECZEK), vgl. TRE X V I 1 8 1 Z. 2 9 - 3 0 (SCHWAIGER) 15 CICO Fontes II 238 (Nr. 38, vom 20. Juni 1203): „Nullus <...> vestrum temere sibi blandiatur,

quod terram Graecorum occupare sibi liceat vel praedari tamquam minus sit apostolicae sedi subiectam <...> non est tarnen vestrum de ipsorum iudicare delictis, nec ad hoc crucis signaculum assumpsistis". Vgl. ebd. 246-247 (Nr. 45)

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250 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

auf die Rechtgläubigen (catholicos) übertragen worden ist16. In der Folgezeit stellte sich der Papst mit seiner ganzen Autorität hinter die Eroberer. Auch nachdem das griechi-sche Kaiserreich in Nikaia entstanden war, hat Innozenz III. das lateinische Kaiserreich Konstantinopel entschieden gegen Nikaia unterstützt. Kennzeichnend hierfür ist sein Brief an den nikaischen Kaiser Theodoros I. Laskaris vom 17. März 1208. Der Papst gibt zwar zu, daß die Lateiner, als sie Konstantinopel erobert haben, „nicht ganz un-schuldig" gewesen sind, drückt jedoch gleichzeitig seine Überzeugimg aus, daß die Griechen von Gott selbst durch die Lateiner „nach dem gerechten Urteil bestraft worden sind"17. Innozenz III. empfiehlt „dem vorzüglichen Herrn Theodoros Laskaris"18, sich gegenüber „unserem teuersten Sohn in Christo und vornehmen Kaiser von Konstanti-nopel" demütig zu verhalten und ihm die schuldige kaiserliche Ehre zu erweisen19.

Daß der Papst ungeachtet seiner ursprünglichen Warnungen die Eroberer militärisch und politisch unterstützte, wird bereits aus seinem Verhalten bei der Wahl des Thomas Morosini zum Patriarchen von Konstantinopel ersichtlich, den Innozenz III. für das einzig legitime Oberhaupt der Kirche von Konstantinopel hält. Die griechische Kirche sei dadurch wieder mit Rom versöhnt. „Die Kirche von Konstantinopel ist zum Gehor-sam des Apostolischen Stuhls wie die Tochter zu ihrer Mutter zurückgekehrt", jubelt er in seinem Schreiben an die lateinische Geistlichkeit in Konstantinopel vom 21. Januar 120520. Ähnlich, wenn auch etwas vorsichtiger, berichtet er in einem Brief vom 25. März 1205 an den Klerus in Frankreich: „Wir jubeln, und mit Recht muß die ganze Kirche der Heiligen jubeln, daß uns das aufstrahlende Licht aus der Höhe besucht hat [vgl. Lk. 1, 78], so daß der große Teil der östlichen Kirche, und zwar beinahe das ganze Griechenland, das seit längsten Zeiten verachtete, dem Weg seiner Mutter, der römi-schen Kirche, zu folgen, in unserer Zeit von der ungehorsamen zur gehorsamen und von der verachtenden zur ergebenen [Tochter] wurde"21. Kurz nach dem Tode des Patriar-chen Joannes Kamateros in Didymoteichon im Jahr 1206 richteten die „in Konstantino-

16 CICO Fontes II 276 (Nr. 64): „regnum Graecorum <...> a schismaticis ad catholicos iusto Dei iudicio est translatum".

17 CICO Fontes II 347 (Nr. 114): ,Licet autem ipsi [Latini] omnino inculpabiles non existant, per eos tarnen Graecos iusto Dei iudicio credimus fuisse punitos".

18 Ebd., S. 345: „Nobili viro, Theodore Lascaro". 19 Ebd., S. 347: „... nobilitati tuae consulimus, ut in conspectu charissimi in Christo fiüi nostri,

Henrici Constantinopolitani imperatoris illustris, humiles temetipsum eique servias honorem debitum impendendo...".

20 Ebd., S. 287 (Nr. 68): „...ecclesia Constantinopolitana reddit ad oboedientiam apostolicae sedis, tanquam ad matrem filia".

21 Ebd., S. 304 (Nr. 81): „Exultamus siquidem, et merito exultare debet omnis sanctorum ecclesia, quod visitans vistavit nos oriens de alto, ut magna pars Orientalis Ecclesiae, Graecia videlicet pene tota, quae a longissimis temporibus matris suae sanctae Romanae ecclesiae contempserat imitari vestigia, nostris temporibus facta sit de inoboediente oboediens, et de contemptrice devota".

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Die politische Dimension 251

pel versammelten" griechischen „Bischöfe, Priester, Diakone und übrigen Kleriker" sowie „das ganze christliche Volk" an den Papst eine „schmerzliche Epistel" (Avjrpäv ypacpijv) mit der Bitte, ihnen zu gestatten, einen griechischen Patriarchen für die Kirche von Konstantinopel zu wählen. Nachdem der neue Patriarch mit Zustimmimg des Pap-stes gewählt sein wird, soll eine Synode unter dem Vorsitz der päpstlichen Legaten zusammengerufen werden, auf der die strittigen kirchlichen Fragen (äfi(pioßrjTovf4eva cxxXtjmaortjxä gtjTtjfiaTa) besprochen werden sollen. „Auf diese Weise werden mit Hilfe des friedenstiftenden Gottes, nachdem die strittigen Fragen gelöst sind und die Wahrheit geoffenbart ist, alle in einem Geist und mit einer Zunge den einen <...> Gott loben und ehren, und Deiner Hoheit wird die von Anfang an geschuldete Kommemora-tion und die Erwähnung an erster Stelle in unseren heiligen Diptychen gewährt wer-den"22. Wie bei den Verhandlungen von 1089 mit Urban II. schlagen die Griechen ein Konzil zur Lösung strittiger Fragen vor. Es ist keine Antwort Innozenz' III. auf dieses Schreiben bekannt23. Der Lauf der Ereignisse zeigt jedoch, daß der Bitte der griechi-schen Geistlichkeit nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt wurde24.

Während der Papst unerschütterlich am lateinischen Patriarchen festhielt, mußte er bezüglich der Verwaltung der Diözesen den Griechen gewisse Zugeständnisse einräu-

2 2 HEISENBERG, Neue Quellen, I. 6 4 : Exxwpfjaai RIPCV xEipoxovrjaai jtaxpiäpxT|v f)püv xaxa xouc; lepoti^ xai Getoix; xavövat;, owe^ajtoaxeiXflg Öe xäx xoö ooü JiXeupoü ctvöpa? xoiic; xöv aöv Ü\|ttiX6xaxov XÖJIOV xr)pr)aovxag, CBG av pexä xö xöv fipixepov jiap'fipräv xavovixcog XEipoxovrjörjvai JtaxpiäcpxT|v jipoxaÖEoGEVxuv aüxcöv auväpa xffi f]p£XEp<p Jiaxpiäpxn xai xfj ÜJt' aüxöv (juvoö(p XaXriÖwoL xä peaov f)pwv äpcpiaßrixoüpeva exxXriaiaaxixä £riTr|paxa, xai oüxco 0eoO cruvEpyic? xoö eipr|vdpxot) öiaX-uGetacov xäjv ä|i(piaßr|xr|aca)v xai xrjg äXtiOcia^ ävacpaveicrriS ivi jivEÜpaxi xai pLQt y^woat) rcävxEg xöv £va GEÖV XÖV EV xpiai jipoaxwoij(XEVov x£>x(au; xai«; ÜTtoaxäoEai öoloXoyriaojpiv XE xai &vup.vr|aaip.£v xai xcp acp i)\|)£i xf)v E^ äpxrjg äjiov£vepr|pivr|v EV xoTg iEpotc; fipcöv öuixüxoig Jtpoavatpopäv xai jipoxf|pu|iv djlOV£ipO)|l£V.

23 Mit seinen Verhandlungen mit Kaiser Alexios IQ. und Joannes Kamateros, die noch vor dem Beginn des Vierten Kreuzzugs stattfanden, hat Innozenz IE. sich zu einem Konzil nur unter der Vorbedingung einverstanden erklärt, daß sich der griechische Patriarch zunächst dem Papst un-terwirft. S. Brief des Innozenz in. an den Patriarchen Joannes Kamateros vom 12. November 1199 in: CICO Fontes II 187-195, hier bes. 194 (Nr. 9).

24 Ein anderer Text s.: PG 140, 293-298. Dazu: HEISENBERG, Neue Quellen, I. 14. Heisenberg ist der Ansicht, daß der Schluß des Briefes: „Lebe wohl, Bischof des ersten Stuhles, hochverehrter Herr" dem Papst „wie Spott und Hohn klingen" mußte. Daher hätten die Griechen ein anderes Schreiben verfaßt, das mit der bei Migne abgedruckten Version zusammenfalle. Wenn auch mög-lich ist, daß das Schreiben der Griechen dem Papst nie bekannt wurde, so zeigt doch das Verhal-ten des Papstes in aller Deutlichkeit, daß Innozenz IE. grundsätzlich nicht bereit war, die Rechte der lateinischen Patriarchen des Ostens zugunsten ihrer griechischen/melkitischen Rivalen in Fra-ge zu stellen. In seinem Schreiben an den Patriarchen von Jerusalem vom 4. März 1208 charakte-risierte er den melkitischen Patriarchen Symeon II. von Antiocheia als intrudor und forderte ihn auf, alle seine Unterstützer zu exkommunizieren. S.: CICO Fontes II 339-340 (Nr. 107).

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252 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

men, da die Lateiner nur eine dünne Oberschicht im Kaiserreich von Konstantinopel darstellten und die überwältigende Mehrheit der Gläubigen griechisch war. In einer Instruktion an den lateinischen Patriarchen von Konstantinopel Thomas Morosini vom 2. August 1206 schreibt Innozenz III. vor, für jene Diözesen, in denen allein Griechen ansässig sind, griechische Bischöfe zu ordinieren, vorausgesetzt, es finden sich Kandi-daten, die dem Papst und dem lateinischen Patriarchen treu ergeben sind25. In Diözesen mit gemischter Bevölkerung seien Lateiner zu bevorzugen26. Diese Vorstellungen des Papstes haben sich letzten Endes als unrealisierbar erwiesen. Nur ganz wenige griechi-sche Bischöfe waren bereit, sich dem Papst und dem lateinischen Patriarchen unterzu-ordnen27. Das Modell der gemischten Bistumsbesetzungen im Osten scheint neun Jahre später auf dem IV. Lateranum (1215) modifiziert und den Realitäten des lateinischen Kaiserreiches angepaßt worden zu sein. Hier wird in Konstitution 9 vorgeschrieben, daß der (lateinische) Bischof für die Betreuung der Gläubigen anderer Sprache und eines anderen Ritus einen geeigneten (griechischen) Geistlichen, der mit der Sprache und den Gewohnheiten der einheimischen Bevölkerung vertraut ist, als seinen Vikar bestimme. Die Konstitution verbietet gleichzeitig, daß in einer Stadt zwei Bischöfe residierten: „Sie wäre ein Leib mit mehreren Köpfen, gleichsam eine Mißgeburt"28. Von einer Be-setzung der Diözesen durch Griechen ist hier keine Rede mehr, bezeichnend ist jedoch der Nachdruck, mit dem die Konstitution unter Androhung von harten Strafen „mit Hilfe des weltlichen Armes" (adhibito brachio saeculari) verbietet, sich in die geistige Betreuung der einheimischen Gläubigen „sonstwie einzudrängen", das heißt, ohne Er-laubnis und Zustimmung des lateinischen Bischofs Seelsorge zu praktizieren. Das Kon-zil hat hier jene griechischen Bischöfe und Kleriker im Blick, die sich geweigert haben, dem Papst und dem lateinischen Ortsbischof den Treueid zu leisten, und mit Unterstüt-zung der einheimischen Gläubigen ihre Seelsorge fortsetzten. Die Sorge des Latera-nums zeigt, daß diese Fälle häufig vorkamen29 und vom Papst als akute Gefahr angese-hen wurden30.

25 CICO Fontes II 319 (Nr. 91): „in illis ecclesiis, in quibus sunt solummodo Graeci, graecos debes episcopos ordinäre, si tales valeas reperire, qui nobis et tibi devoti et fideles existant, et a te consecrationem velint recipere humiliter et devote".

26 Ebd.: „In illis vero [ecclesüs], in quibus cum Latinis Graeci sunt mixti, latinos praeficias ipsis Graecis".

27 So Theodoros von Negropont, s. über ihn: RICHARD, The Establishment 4 7 .

28 COD/DÖK II 239: „Prohibemus omnino, ne una eademque civitas sive dioecesis diversos pontiflces habeat, tanquam unum corpus diversa capita, quasi monstrum".

2 9 S . die Hinweise bei RICHARD, The Establishment 4 8 ^ 4 9 .

30 COD/DÖK II 239: „Quoniam in plerisque parübus intra eadem civitatem atque dioecesim permixti sunt populi diversarum linguarum, habentes sub una fide varios ritus et mores, districte praecipimus ut pontiflces huiusmodi civitatum sive dioecesum, provideant viros idoneos, qui secundum diversitates rituum et linguarum divina officia illis celebrent et ecclesiastica sacramenta ministrent, mstruendo eos verbo pariter et exemplo. Prohibemus autem omnino, ne una eademque

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Die politische Dimension 253

Auch hinsichtlich der rituellen Eigenart der Ostkirche weist die Haltung Inno-zenz' III. gewisse Widersprüchlichkeiten auf. Diese reichen so weit, daß die einen For-scher den Papst in dieser Sache als intolerant, die anderen ihn dagegen als eher liberal bezeichnen. So charakterisiert Helene Tillmann die Politik Innozenz' III. in Bezug auf den griechischen Ritus als durch „Mäßigung, Klugheit und Weitherzigkeit" gekenn-zeichnet31. Sie glaubt jedoch, eine gewisse Entwicklung in den Ansichten des Papstes feststellen zu können, da er ihrer Meinung nach zunächst den griechischen Riten gegen-über ablehnend war, später aber seine Position revidiert habe32. Indessen überzeugen die Argumente Tillmanns nicht. Es stimmt zwar, daß der Papst hier und da sein Einver-ständnis zum griechischen Ritus äußerte, man sollte sich aber dadurch nicht über die grundsätzlich negative Einstellung des Papstes hinwegtäuschen lassen. Die Zugeständ-nisse, die er machte, oder vielmehr machen mußte, geschahen, wie Wilhelm de Vries m. E. zu Recht betont, widerwillig. In der Regel zielte der Papst auf eine „Angleichung an den lateinischen Ritus"33. Man gewinnt aus seiner Korrespondenz bisweilen den Eindruck, daß er einen „Kulturkampf gegen die Griechen zu führen glaubte. Unter diesem Gesichtspunkt hat der Papst die Eroberung der Reichshauptstadt und die Eta-blierung eines lateinischen Patriarchates nicht nur politisch legitimiert, sondern darüber hinaus auch versucht, diese Usurpation in einen religiösen und kulturellen Zusammen-hang einzupassen.

Gott habe „das Reich von Konstantinopel von den Stolzen zu den Bescheidenen, von den Ungehorsamen zu den Ergebenen, von den Schismatikern zu den Rechtgläubigen (catholicos), d.h. von den Griechen zu den Lateinern" übertragen. So schrieb der Papst an die lateinische Geistlichkeit in Konstantinopel kurz nach der Eroberung34. Auf sol-

civitas sive dioecesis diversos pontiflces habeat, tanquam unum corpus diversa capita, quasi monstrum; sed si propter praedictas causas urgens necessitas postulaverit, pontifex loci catholicum praesulem, nationibus Ulis conformem, provida deliberatione constituat sibi vicarium in praedictis, qui ei per omnia sit obediens et subiectus, unde si quis aliter se ingesserit, excommunicationis se noverit mucrone percussum, et si nec sie resipuerit, ab omni ecclesiastico ministerio deponatur, adhibito, si necesse fiierit, brachio saeculari ad tantam insolentiam compescendam".

31 TILLMANN, Papst Innozenz 216. Vgl. dazu auch: DE VRIES, Innozenz III. 114. Tillmann kontra-stiert seine Politik mit der des Cölestin (1191-1198), der Zypern „a beluato fermentatorum schismate" zu befreien suchte (s.: CICO Fontes 1815, Nr. 398). Indessen ist dieses Beispiel nicht beweiskräftig, weü Cölestin nicht unbedingt um das Verbot der Zelebration mit dem gesäuerten Brot, sondern um die fermentati als Verteidiger des gesäuerten Brotes ging. Auch NORDEN, Das Papsttum und Byzanz 195-197, spricht einerseits von der bewundernswerten Mäßigung des Pap-stes in der Sache des Ritus, andererseits unterstreicht er, daß diese Mäßigung die Kurie „einzig und allein aus Politik" übte.

3 2 TILLMANN, Papst Innozenz 2 1 6 - 2 1 7 .

3 3 DE VRIES, Rom und die Patriarchate 1 8 7 .

34 CICO Fontes, II 278 (Nr. 65, vom 13. Nov. 1204): „...is, qui dominatur in Regno hominum, <...> Constantinopolitanum imperium a superbis ad humües, ab inoboedientibus ad devotos, a

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254 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

che Art hatte sich kein Papst vor Innozenz III. ausgedrückt. Dieser Text zielt nicht auf konkrete griechische Hierarchen, so wie früher etwa Nikolaus I. gegen Photios (862/67) oder Leo IX. gegen Kerullarios (1053/54) Konflikte austrugen, er zielt auch nicht auf die Sedes Constantinopolitana, deren Abtrünnigkeit etwa um die Mitte des 12. Jahrhun-derts von Papst Hadrian IV. beklagt wurde35, vielmehr werden hier „die Griechen" in ihrer Gesamtheit und als Kultureinheit als Schismatiker und Ungehorsame bezeichnet und der Gesamtheit und Kultureinheit der rechtgläubigen und gehorsamen „Lateiner" gegenübergestellt36. Es wundert deswegen nicht, wenn der Papst in einem weiteren Schritt die Forderung stellt: „Nachdem das Imperium [von den Griechen zu den Latei-nern] übertragen worden ist, ist es notwendig, daß [auch] der Ritus des Priesteramtes übertragen werde"37. Er meint damit nichts anderes als die liturgische und sakramentale Angleichung der Griechen an die römischen Normen. Die griechische Kirche soll „ge-mäß den Anordnungen der heiligen römischen Kirche, die der Herr als Mutter und Leh-rerin aller Kirchen bestimmt hat", „in der Reinheit des Kultus (devotio) und des Glau-bens" unterwiesen werden38. Konkret spricht der Papst in diesem Schreiben auch über den Brotgebrauch in der Eucharistie. Die griechische Kirche sei von der Einheit abge-wichen, sie habe „den Sauerteig nicht aus dem Hause weggeschafft, so daß sie gegen jenen gesündigt hat, über den sie nicht verkünden wollte, daß der Heilige Geist von ihm hervorgeht"39. Nim aber, „nachdem Ephraim zu Juda zurückgekehrt ist", nachdem also die Griechen wieder mit Rom versöhnt seien, soll man den alten Sauerteig wegschaffen und „mit den ungesäuerten Broten der Aufrichtigkeit und Wahrheit feiern"40. Daß der Papst die biblische Metapher nicht nur rhetorisch einsetzt, sondern tatsächlich eine li-turgische Vereinheitlichung im Sinn hat, bestätigen auch andere Stellen aus seiner Kor-respondenz. So ermuntert er am 25. Mai 1205 in seinem Aufruf an „alle Erzbischöfe, Bischöfe und andere Prälaten der Kirchen im Frankenreich" die Ordensleute in diesem

schismaticis ad catholicos, a Graecis videlicet transtulit ad Latinos". Ähnliche Ausdrücke findet man im Brief des Innozenz an Balduin vom 7. Nov. 1204: ebd., S. 276 (Nr. 64).

35 S.: CICO Fontes I 799 (Nr. 387, Papst Hadrian IV. an den Erzbischof Basileios von Achrida ca. 1154/1159): „...per invidiam hostis antiqui Constantinopolitana Sedes a sacrosancta Romana et apostolica <...> Ecclesia seipsam separavit".

36 Interessant ist dabei die Anspielung auf Dan 4, 14. Diese bezeugt, daß in den Augen des Papstes der Eroberung Konstantinopels eine religiöse Bedeutung zukomme.

37 CICO Fontes, H 302 (Nr. 79, Brief an Balduin von Konstantinopel vom 15. Mai 1205): „Translato ergo Imperio, necessarium est, ut ritus sacerdotii transferatur, quatenus Ephraim reversus ad Iudam, in azymis sinceritatis et veritatis, expurgato fermento veteri, epuletur".

38 Ebd.: „Ut <...> in devotione ac fidei puritate, iuxta institutiones sacrosanctae Romanae Ecclesiae, quam Dominus omnium ecclesiarum matrem constituit et magistram, praedicta ecclesia informetur...".

39 Ebd., S. 301: „Fermentum quoque non eiecit a domo, ut peccaret in eum, a quo Spiritum sanctum procedere renuit confiteri..."

40 S. oben, Anm. 37.

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Die politische Dimension 255

Land, nach Konstantinopel zur Unterstützung der dortigen Kirche zu gehen, und leitet die Bitte des lateinischen Kaisers von Konstantinopel weiter, „Meßbücher, Breviarien und andere Bücher, die den kirchlichen Gottesdienst nach der Ordnung der römischen Kirche enthalten, wenigstens als Muster in jene Gebiete" (d.h. in das lateinische Kaiser-reich Konstantinopel) zu übersenden41. Das Ziel dieser Aktion soll sein, daß „die östli-che Kirche im göttlichen Lobgesang nicht von der westlichen abweicht, und wie es nur einen Gott und einen Glauben gibt, so soll auch der Osten und der Westen ihn mit ei-nem Munde loben und verherrlichen"42. Ein Indiz für die Pläne zur liturgischen Verein-heitlichung darf man in griechischen Handschriften aus jener Zeit erblicken, worin der lateinische Text der römischen Messe mit griechischen Buchstaben transliteriert und mit einer interlinearen griechischen Übersetzung versehen ist43.

Diese Pläne erwiesen sich - offensichtlich wegen des Widerstandes der griechischen Gläubigen und Priester - letzten Endes als nicht durchsetzbar. Am 2. August 1206 schrieb der Papst dem Patriarchen Thomas Morosini bezüglich der griechischen Riten:

„Du hast vom Apostolischen Stuhl erbeten, über den Ritus der Eucharistie und anderer Sakra-mente belehrt zu werden, ob du den Griechen erlauben sollst, daß sie diese [Sakramente] nach ihrer Gewohnheit praktizieren dürfen, oder ob du sie eher zum Ritus der Lateiner zwingen sollst. Darauf antworten wir deiner Brüderlichkeit kurz, daß du sie, falls sie sich von dir nicht bekehren lassen, in ihrem Ritus solange erträgst, bis der Apostolische Stuhl etwas anderes glaubt entscheiden zu müssen"44.

Neun Jahre später deutet die Konstitution 4 des IV. Lateranums in die gleiche Richtung:

„So sehr wir bereit sind, den Griechen, die in unseren Tagen zum Gehorsam gegen den Apo-stolischen Stuhl zurückkehren, unsere Förderung und Ehre zu erweisen, indem wir, soweit wir es im Herrn vermögen, ihre Bräuche und Riten gestatten, wollen und dürfen wir ihnen jedoch

41 CICO Fontes, II 304 (Nr. 81): „Postulavit missalia, breviaria, caeterosque libros, in quibus officium eccelsiasticum secundum instituta sanctae Romanae ecclesiae continentur, saltem pro exemplaribus ad partes illas faceremus transmitti".

42 Ebd.: „...ut et vestra abundanüa illorum inopiam suppleat, et Orientalis ecclesia in divinis laudibus ab Occidentali non dissonet, et sicut est unus Deus et fides una, ita uno ore ipsum laudat et glorificet oriens et occasus".

4 3 S. dazu: HALUSÖYNSKYJ in: CICO Fontes H 1 3 0 Anm. 8 3 . Der Text ist ediert in: HEISENBERG,

Neue Quellen, II. 4 6 - 5 2 , Kommentar: ebd., 1 2 - 1 5 . Heisenberg hat Bedenken, diesen Text als zu solchen Zwecken dienend zu interpretieren (S. 1 2 - 1 3 ) . Er gibt jedoch selber zu, daß er auch zu diesen Zwecken gebraucht werden konnte. Anders denken HOECK / LOENERTZ, Nikolaos-Nektarios 82, die der Meinung sind, daß „für ein solches Vorgehen Roms gegen den griechischen Ritus, mindestens in damaliger Zeit, noch jeglicher Beleg fehlt".

44 CICO Fontes II 319 (Nr. 91): „Edoceri quoque de sacrificiorum et aliorum sacramentorum ritu per sedem apostolicam postulasti, utrum debeas graecos permittere, ut ea exerceant more suo, vel compellere ad ritum potius Latinorum. Ad quod fratemitati tuae breviter respondemus, ut eos tamdiu in suo ritu sustineas, si per te revocari non possunt, donec super hoc apostolica sedes maturiori consüio aliud duxerit statuendum".

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256 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

nicht in dem entgegenkommen, was die Seelen gefährdet und dem Ansehen der Kirche scha-det"45

In beiden Fällen werden die griechischen Riten nur vorbehaltlich ihrer Unbedenklich-keit für die römische Kirche geduldet und in beiden Fällen behält sich der Apostolische Stuhl die Möglichkeit vor, anders zu entscheiden. Die Konstitution des IV. Lateranums diente auch für spätere Verlautbarungen als Vorbild46. Streng genommen gesteht die Konstitution des IV. Lateranums De superbia Graecorum contra Latinos ein totales Scheitern der päpstlichen Politik gegenüber der griechischen Kirche im lateinischen Orient ein. Als Gewohnheiten der Griechen, die nicht geduldet werden können, nennt die Konstitution (1) das Abwaschen der Altäre, auf denen einmal lateinische Priester zelebriert hatten, und (2) die Wiedertaufe der von den Lateinern Getauften47. Das Kon-zil erläßt „die strenge Vorschrift", daß die Griechen „solches in Zukunft nicht mehr tun sollen. Sie sollen sich wie gehorsame Söhne ihrer Mutter, der hochheiligen römischen Kirche, anpassen, auf daß eine Herde und ein Hirte sei"48. Der Gesetzgeber bemerkt anscheinend die Widersprüchlichkeit seiner Anordnungen nicht: Denn derjenige Grie-che, der so etwas tut, gehört ja ipso facto nicht der vom Papst geleiteten Kirche an, er erkennt ja die päpstliche Jurisdiktion über sich nicht an; er hält ja die lateinische Eucha-ristie für unrein und die lateinische Kirche für eine Institution, die kein Taufsakrament besitzt. Deswegen hat die Verurteilung derartiger Fälle nichts mit der eigentlichen Pro-blematik der Toleranz bzw. Intoleranz gegenüber der rituellen Eigenart der griechischen Kirche zu tun. Der Eindruck, der am Anfang der Konstitution erweckt wurde, täuscht: Es geht hier nicht um die rituelle Eigenart der Griechen, ob deren „Bräuche und Riten" geduldet bzw. nicht geduldet werden, sondern um Handlungen, deren Vollzug die be-wußte Abgrenzung gegenüber der lateinischen Kirche bedeutet49. Die Strafandrohungen

45 COD/DÖK II 235: .Licet Graecos in diebus nostris ad oboedientiam sedis apostolicae revertentes, fovere et honorare velimus, mores ac ritus eorum, quantum cum Domino possumus, sustinendo, in his tarnen illis deferre nec volumus nec debemus, quae periculum generant animarum et ecclesiasticae derogant honestati". Ubers, teilweise nach: FOREVILLE, Lateran 7-7 F, übers, von Nikolaus Monzel, S. 406. Diese Übersetzung trifft den Text besser als die neuere in COD/DÖK.

46 Vgl.: CICO Fontes m 115 (Nr. 86); ebd., IV/1 172 (Nr. 105); ebd., IV/2 103 (Nr. 46a). 47 COD/DÖK II 235-236: „Postquam enim Graecorum ecclesia cum quibusdam complicibus et

fautoribus suis ab obedientia sedis apostolicae se subtraxit, in tantum Graeci coeperunt abominari Latinos, quod inter aha quae in derogationem eorum impie committebant, si quando sacerdotes latini super eorum celebrassent altaria, non prius ipsi sacrificare volebant in illis, quam ea tamquam per hoc inquinata lavissent; baptizatos etiam a Latinis et ipsi Graeci rebaptizare ausu temer ario praesumebant et adhuc, sicut accepimus, qui dam agere non verentur".

48 COD/DÖK II 236: „Volentes ergo tantum ab ecclesia Dei scandalum amovere, sacro suadente concilio districte praecipimus, ut talia de caetero non praesumant, conformantes se tamquam oboedientiae filü sacrosanctae Romanae ecclesiae matri suae, ut sit unum ovile et unus pastor".

4 9 Deswegen sind die Ausfuhrungen von Helene TILLMANN, Papst Innozenz 2 1 8 , fehl am Platz: ,^uf dem Laterankonzil endlich zeigt Innozenz den Griechen gegenüber eine Haltung, die sich in

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Die politische Dimension 257

der Konstitution zeigen, daß solche Handlungen unter den griechischen Klerikern im lateinischen Machtbereich eben vorkamen.

Die Haltung des Papstes gegenüber einzelnen von der lateinischen Kirche abwei-chenden Gewohnheiten der Griechen war unterschiedlich. So wurde die Ehe von Kleri-kern durch Innozenz prinzipiell nicht in Frage gestellt. Auch die Konstitution 14 des IV. Lateranums erhob keine Einwände gegen die Sitte der Kleriker gewisser Regionen, „in einer rechtmäßigen Ehe zu leben"50. Dieses Zugeständnis verdankt sich allerdings nicht so sehr päpstlicher Liberalität, als vielmehr der im westlichen Kirchenrecht da-mals längst erfolgten Billigung der ostkirchlichen Priesterehe. Die Akzeptanz der grie-chischen Klerikerheirat, die vermutlich von Stephan IX. (Friedrich von Lothringen) auf dem Konzil in Rom 1058 postuliert winde, fand Aufnahme in das Decretum Gratiani51. Insgesamt erfuhr die ostkirchliche Priesterehe unter allen griechischen Eigengewohnheiten wohl das glücklichste Schicksal in der westlichen Kanonistik. Nicht eindeutig hat sich dagegen Innozenz III. gegenüber den griechischen Bischofs-konsekrationen verhalten. In seinem Schreiben an den bulgarischen Erzbischof Basi-leios vom 25. Februar 1204 verurteilte er die griechische Praxis der Bischofsweihe ohne Salbung und betonte die Notwendigkeit, die Ordination nach dem römischen Brauch mit Salbung zu vollziehen bzw. die früher nach dem griechischen Brauch erteilten bi-schöflichen Ordinationen durch die Salbung zu vervollständigen52. In der Instruktion an Thomas Morosini vom 8. März 1208 verlangte der Papst, die neuen Bischöfe aus-schließlich mit der Salbung zu weihen. Er machte jedoch das Zugeständnis, daß von den nach östlichem Brauch konsekrierten Bischöfen keine Vervollständigung ihrer Ordina-tion verlangt werden dürfe, falls diese Bischöfe zwar die Bereitschaft zum Gehorsam zeigten, jedoch Hemmungen hätten, nach lateinischem Ritus gesalbt zu werden53. Die

Fragen des Ritus und Brauchtums aus jeder Enge und Unfreiheit gelöst zu haben scheint. Er ver-bietet nur zwei Gewohnheiten der Griechen, das Abwaschen der Altäre, an denen Lateiner Messe gelesen haben, und die Wiederholung der von Lateinern gespendeten Taufe".

50 COD/DÖK II 242: „Qui <...> secundum regionis suae morem non abdicarunt copulam coniugalem, si lapsi fuerint, gravius puniantur, cum legitimo matrimonio possint uti".

51 DECRETUM GRATIANI, D. 31 c. 14 (ed. cit. 115): „Aliter se habet Orientalium Ecclesiarum traditio, aliter huius sanctae Romanae ecclesiae. Nam eorum sacerdotes, diaconi atque subdiaconi matrimonio copulantur"; vgl.: CICO Fontes I 785 (Nr. 374). Dieses Kapitel Gratians bot für die Dekretisten einen Anlaß, über die kirchenrechtliche und rituelle Eiganart der Ostkirche insgesamt zu reflektieren; so bei z. B . Huguccio; s. dazu: HERDE, Das Papstum und die griechische Kirche 30-31 Anm. 124.

52 CICO Fontes II 258-263 (Nr. 52). 53 Ebd., II 341 (Nr. 109): „Ex parte tua fuit propositum coram nobis, quod quidam episcopi graeci

ad tuam oboedientiam redeuntes, fidelitatis praestiterunt tibi corporaliter iuramentum, nobisque oboedientiam promiserunt, sed inungi renuunt iuxta consuetudinem Latinorum. Unde quid super hiis agere debeas, postulasti per sedem apostolicam edoceri. Nos igitur inquisitioni tuae taliter respondemus, quod si hii qui iam consecrati sunt induci nequeunt, ut recipiant unctionem, id in

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258 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Obödienz, die Anerkennung der päpstlichen Superiorität hatte bei all diesen Fragen die vorrangige Stellung. Solange die Griechen bereit waren, sich der Jurisdiktion des Pap-stes und des lateinischen Patriarchen von Konstantinopel unterzuordnen, war man -wenn auch unter Vorbehalt - zu Zugeständnissen in rituellen und kanonischen Fragen bereit. Gleichwohl verhielt sich Innozenz gegenüber der rituellen Eigenart der Grie-chen in Süditalien liberaler als in bezug auf Konstantinopel. Der Papst stellte das Recht der kalabresischen Griechen, ihre Gewohnheiten zu praktizieren, normalerweise nicht in Frage. Vielmehr sind Dokumente erhalten, in denen der Papst die griechische Kirche in Kalabrien verteidigt - in Einzelfallen sogar gegen die Lateiner54. Man hat den Eindruck, daß man in der Kurie zwischen „guten" (kalabresischen) und „schlechten" (konstan-tinopolitanischen) Griechen unterschied. Erstere durften ihren Ritus unangefochten behalten, Letztere, als hartnäckige Schismatiker verdächtigt, mußten dagegen ihren Ritus und die Gewohnheiten, die als Gefahr oder Bedrohung angesehen wurden, dem römischen Ritus angleichen. Außerdem unterschied der Papst zwischen „vernünftigen und alten Gewohnheiten (consuetudines rationabiles et antiquae), die den Institutionen des Apostolischen Stuhls nicht widersprechen" einerseits55, und Gewohnheiten, die eine gewisse Gefahr für das Seelenheil und die kirchliche Einheit darstellen, andererseits. Die ersten können frei ausgeübt werden, die zweiten müßten eigentlich korrigiert bzw. abgeschafft werden. Nur um den Griechen den Übertritt zum Gehorsam gegenüber dem Papst zu erleichtern, werden sie in Einzelfallen vorläufig geduldet, bis der Apostolische Stuhl anders entscheidet. Während etwa die Priesterehe nach Ansicht des Papstes eher zur ersten Kategorie gehört, scheint eine Reihe anderer Bräuche wie z. B. die Bischofs-ordination ohne Salbung und die Erteilung der Firmung durch einfache Priester56 von Innozenz als gefährlich angesehen zu werden. Die oben angeführte Stelle über die Azymen57 spricht dafür, daß der Gebrauch des gesäuerten Brotes eher zur zweiten Ka-tegorie gerechnet wurde. Jedenfalls gibt es in der Korrespondenz Innozenz' III. keine eindeutigen Aussagen darüber, daß die Zelebration mit gesäuertem Brot als „ungefähr-lich" einzustufen sei.

hac novitate sub dissimulatione poteris pertransire. Consecrandos vero nullatenus consecres, nisi more latino voluerint consecrari, cum nos ipsi nonnisi iuxta nostram consuetudinem consecremus".

54 So CICO Fontes • 169 (Nr. 1). 55 Ebd., II 296 (Nr. 74, Brief an Thomas Morosini vom 30. März 1205): „Libertates etiam et

immuniates eiusdem ecclesiae ac consuetudines rationabiles et antiquas, quae apostolicae sedis non obviant institutis, ratas habemus, et eas perpetuis temporibus illibatas permanere sancimus". Vgl. ebd., S. 416 (Nr. 185).

56 Zur letzteren Gewohnheit s. Brief an die Maroniten vom 4. Januar 1215 in: CICO Fontes II 459 (Nr. 216). In diesem Schreiben nennt der Papst eine Reihe von Gewohnheiten der Maroniten, die korrektur- bzw. vervollständigungsbedürftig sind.

57 S. oben, S. 254 Anm. 39.

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Die politische Dimension 259

„Apostel oder Aggressor?" Mir scheint, Innozenz III. war beides gleichermaßen. Mag sein Engagement auch aus religiösen Motiven entsprungen sein, so band er doch seinen Apostolat so eng an die militärpolitische Aggression, daß sich sogar die Frage aufdrängt, ob er diese Aggression bisweilen nicht doch mit dem Apostolat gleichgesetzt hat. Es ist daher kein Wunder, daß im Bewußtsein der Byzantiner die Kirchenunion seither ein für allemal mit politischer Eroberung verbunden war und jede Annäherung an die römische Kirche als politischer Verrat gebrandmarkt wurde. Steven Runciman bezeichnet in seiner klassischen Monographie zum östlichen Schisma den Theodoros Balsamon als wohl einen der aussichtsreichsten Kandidaten, um für einen villain on the Orthodox side for the development of schism - noch eher als Photios und Kerullarios -gehalten zu werden58. Müßte man auf der römischen Seite eine Entsprechung suchen, käme man nur schwer an Innozenz III. vorbei. Kein anderer lateinischer Kirchenfürst, Kardinal Humbert und alle Päpste des 11. und des 12. Jahrhunderts miteingeschlossen, begegnete den Griechen, der griechischen Kirche und sogar dem „Griechentum" mit solchem Hochmut und solchem Unverständnis wie Innozenz III. Für die lateinisch-griechischen Beziehungen hatte das Wirken dieses Papstes verheerende Folgen. Wenn die Hoffnung auf Wiederherstellung der Kircheneinheit für Jahrhunderte geschwunden war, trug dieser Papst einen Großteil der Verantwortung dafür.

c. Kontroversgespräche mit den Griechen

In der Zeit 1204-1261 wurden zwischen Griechen und Lateinern intensive kirchenpoli-tische und theologische Kontroversgespräche geführt. In den ersten Jahren nach der Eroberung Konstantinopels wurde von Rom aus mehrmals versucht, eine Verständi-gung mit den Griechen im lateinischen Machtbereich, vor allem in Konstantinopel, herbeizufuhren, um von der griechischen Geistlichkeit Gehorsam gegenüber dem Papst zu erreichen. Zunächst traten dabei als Legaten Innozenz' III. Kardinal Petrus von Ca-pua, der bereits im Dezember 1204 in der Hagia Sophia zu Konstantinopel ein Gespräch mit dem griechischen Klerus führte59, und Kardinal Benedikt de S. Susanna, der in den Jahren 1205/7 im Auftrag des Innozenz eine Reise in den Osten unternahm, hervor60. Über den Verlauf der Disputationen Benedikts, die er in Konstantinopel von August bis Oktober 1206 geführt hat, wissen wir vor allem aus dem Bericht seines Dolmetschers, des süditalienischen Griechen Nikolaos von Otranto, der diesen Streitgesprächen einen bedeutenden Teil seiner drei Syntagmata gegen die Lateiner widmete61. Auch der grie-chische Schriftsteller Nikolaos Mesarites, der Bruder des damaligen Wortführers der

5 8 RUNCIMAN, The Eastern Schism 1 3 8 .

59 Über diese Disputation sind wir aus dem Epitaphios des Nikolaos Mesarites unterrichtet; s. dazu: HEISENBERG, Neue Quellen. I. 7 - 8 .

6 0 Zu diesen Verhandlungen s.: HEISENBERG, Neue Quellen. I. 8 - 1 3 ; HOECK / LOENERTZ, Nikolaos-Nektarios 3 0 - 5 4 .

61 Zu Nikolaos-Nektarios von Otranto, Abt von Casole, s. oben, S. 100 (Nr. 34).

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Die Reflexion der Lateiner 357

In dieser Passage des Scotus kann man auch einige Elemente des Anerkennungsmodells beobachten, dem wir uns nun zuwenden.

6. „Diversa, non adversa": Das Anerkennungsmodell

a. Die „Zauberformel" des 12. Jahrhunderts

Die Anerkennung des Wertes unterschiedlicher Gewohnheiten in der einen Kirche, also das, was im Kern schon bei Gregor dem Großem und bei Ratramnus von Corbie formu-liert wurde und auch bei Leo IX. und bei Humbert nicht unerwähnt blieb, erreichte ihre volle Blüte mit der Entwicklung der frühscholastischen Rationalität im 12. Jahrhundert. Gerade in diesem Jahrhundert fallen die deutlichsten Aussagen zugunsten nicht nur einer Duldung, sondern auch zugunsten einer Anerkennung der sakramentalen Praxis der Ostkirche. Mehr noch: Die Problematik der „Einheit in Vielfalt" wurde zum Thema der Epoche schlechthin, das sich nicht nur in den Fragen des Ritus, sondern auch in vielen anderen Bereichen der kirchenrechtlichen Praxis und der theologischen Theorie auswirkte. Einen Schlüssel zur Versöhnung von Vielfalt und Einheitlichkeit fand man in der „Zauberformel"89 diversa, non adversa, „verschieden, aber nicht entgegenge-setzt"90. Diese Formel wendete man im Sinne der aufblühenden scholastischen Methode immer wieder an, um gegensätzliche biblische, patristische oder kanonistische Autori-täten zu versöhnen. Diese Anerkennung der Multiformität im religiösen Leben und Denken erstreckte sich auch auf die Haltung gegenüber der rituellen Eigenart der Ost-kirche in dieser Zeit.

Das Prinzip, das Peter Abaelard im seinem berühmten Sic et non formuliert hatte, diente ohne weiteres dazu, auch auf die Problematik der Azymen bzw. der Wasserbei-mischung oder der griechischen Taufformel angewendet zu werden91:

„Wenn über denselben Gegenstand Unterschiedliches ausgesagt wird, muß man sorgfältig analysieren, was als gebotene Pflicht, was als Erleichterung aus Gnade oder als Aufruf zur

mentionem faciente de eis), vel si permisit, sive concessit, licitum videtur eis illam formam continuare. Et si tali permissione seu licentia stante, in concilüs suis particularbus, ordinaverunt inter se talem formam esse servandam, videtur quod minister eorum tenetur eam servare, sicut stante ista permissione Ecclesiae Romanae, quod alicubi fiat trina immersio, alicubi una, in üla Ecclesia, quae determinavit trinam immersionem servandam, sie faciendum est, et est de necessitate ministri, praeeeptum et modum propriae Ecclesiae servare".

8 9 S. : CONSTABLE, The Diversity ofReligious Life 30 .

90 Zu dieser Formel s. neben dem in der vorhergehenden Anmerkung genannten Aufsatz: DE GHELLINCK, Le Mouvement theologique 5 1 7 - 5 2 3 ; LUBAC, A propos de la formule; SILVESTRE,

Diversi sed non adversi. Generell zum Thema „Verschiedenheit in der Einheit" in der Theologie des 12. Jahrhunderts s.: CONGAR, Die Lehre von der Kirche 8 0 - 8 2 .

9 1 Zur Bedeutung des Abaelard für die Entwicklung der Sakramententheologie s.: WEINGART, Peter Abailard's Contribution.

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358 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Vollkommenheit beabsichtigt wird, damit wir nach der Unterschiedlichkeit der Intentionen ein Heilmittel gegen die Widersprüchlichkeit suchen. Falls es sich aber um ein Gebot handelt, [muß man analysieren,] ob es ein allgemeines oder ein partikulares ist, das heißt, ob es sich generell an alle oder nur speziell an bestimmte Personen richtet. Man muß außerdem die Zei-ten sowie die Ursachen von Verfügungen unterscheiden, weil oftmals, was zu einer bestimm-ten Zeit erlaubt wird, zu einer anderen Zeit verboten wird, und das, was oftmals mit Strenge vorgeschrieben wird, manchmal durch Dispens gemildert wird. Diese Umstände beim Erlaß kirchlicher Dekrete oder Kanones gilt es äußerst sorgfältig zu unterscheiden"92.

Der gleiche Grundsatz bestimmte auch die kanonistische Methodologie. Die Divergen-zen zwischen der lateinischen und der griechischen sakramentalen Praxis erforderten nach Ansicht damaliger Kanonisten eine „Konkordanz der Widersprüchlichkeiten" (Concordantia discordantium canonum), um mit dem Titel des Decretum Gratiani zu sprechen. Die Kanonisten gingen dabei denen voran, die eine Gleichberechtigung der lateinischen und der byzantinischen Eigenart postulierten. In diesem Sinne äußerte sich Magister Rolandus:

„Die Griechen zelebrieren mit gesäuertem Brot wegen des alttestamentlichen Opfers, das mit den Azymen vollzogen wurde, und sagen, daß wir sündigen, weil wir es anders machen, und daß wir judaisieren. Einige der Unsrigen behaupten jedoch, daß sie sich darin verfehlen. Es kann aber sein, daß weder wir noch sie in dieser Sache sündigen, weil sie dem angegebenen Grund und der Institution der Väter folgen und wir einen guten Grund haben, indem wir in dieser Sache Christus nachahmen"93.

Aus einer Nebenbemerkung, die Stephanus von Tournai im Prolog zu seiner Summa in Decretum Gratiani macht, kann man schließen, daß auch er die beiden Bräuche des gesäuerten und des ungesäuerten Brotes als gleichwertig ansah94. Auch die Summa des Huguccio postuliert die Gleichberechtigung der beiden Zelebrationsweisen95.

92 ABAELARD, Sic et non, Prologus (ed. cit. 96 ) : „Diligenter <...> discutiendum est, cum de eodem diversa dicuntur, quid ad praecepti coartationem, quid ad indulgentiae remissionem vel ad perfectionis exhortationem intendatur, ut secundum intentionum diversitatem adversitatis queramus remedium. Si vero praeceptio est, utrum generalis an particularis, id est ad omnes communiter an ad aliquos specialiter directa. Distinguenda quoque tempora sunt et dispensationum causae, quia saepe quod uno tempore est concessum alio reperitur prohibitum; et quod ad rigorem saepius praecipitur ex dispensatione nonnunquam temperatur. Haec autem in institutionibus ecclesiasticorum decretorum vel canonum maxime distingui necesse est".

9 3 ROLANDUS, Sententiae, ed. cit. 2 3 2 : „Greci <...> in fermento celebrant propter veteris legis oblacionem, que fiebat in azimis, et dicunt nos peccare, quia aliter facimus, ac iudaizare. Quidam vero de nostris asserunt, eos in hoc offendere. Sed potest esse, quia nec nos nec ipsi in hoc peccamus, quia et illi predictam rationem ac patrum secuntur institutionem, et nos rationabiliter agimus Christum in hoc imitando".

9 4 STEPHANUS TORNACENSIS, Summa, Prologus (ed. cit. 1): „Si duos ad coenam convivas invitaveris, idem postulantibus contraria non appones; petente altera quod alterum fastidiat, nonne variabis

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Die Reflexion der Lateiner 359

Wohl eines der eloquentesten Beispiele der Anerkennung der griechischen sakra-mentalen Praxis in der frühscholastischen Literatur begegnet in der Summa Zwettlensis. Hier fmdet man geradezu einen Hymnus auf die Vielfalt der Gewohnheiten in dem einen Glauben. Die Toleranz gegenüber fremden Bräuchen im Sinne etwa des Anselm von Canterbury ist für Peter von Wien nicht mehr ausreichend. Unterschiedliche Ge-wohnheiten müssen nicht bloß geduldet werden, vielmehr müsse jede Ortskirche ihre eigene Gewohnheit bewahren und pflegen. Dabei dürfe man die Gewohnheit der Ande-ren nicht verachten, sondern respektieren, weil sie genauso wie die eigene Gewohnheit zum Heil führe. Wir haben bereits gesehen, daß Peter von Wien an der Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidentien des Sakraments im üblichen frühscholastischen Sinne festhielt96. Akzidentien des Sakraments wie Gesäuert- bzw. Ungesäuertsein gehö-ren aber zum Bereich der Gewohnheiten, der einen eigenen Wert besitzt. Daher darf man die eigene Gewohnheit nicht ohne Grund ändern:

„Mutwillig verändert die Gewohnheit des eucharistischen Opfers ein jeder, der sie nicht mit der gleichen Autorität ändert, die als Grund für ihre Einsetzung diente. <...> In der Bewahrung der Gewohnheit einer jeden Kirche soll man nämlich die Einheit des kirchlichen Friedens eh-ren und die Autorität ihrer Einsetzung nicht tadeln oder verachten, solange feststeht, daß es ei-nen Grund dafür gibt. Denn eine Gewohnheit ist nicht deswegen falsch, weil sie anders ist, sondern wenn sie ohne Grund ist. Nicht der Unterschied der Gewohnheit macht sie verwerf-lich, sondern das Fehlen eines Grundes. <...> Jede Kirche Christi muß also die eigene Ge-wohnheit beobachten und sie pflegen. Wir sollen nicht glauben, daß wir alleine fasten, weü wir alleine auf diese Art und Weise fasten. Wir sollen nicht glauben, daß wir alleine beten, weil wir alleine auf diese Art beten. Wir sollen schließlich nicht glauben, daß wir alleine das Opfer darbringen, weil wir alleine es auf diese Art darbringen. <...> Solange also der vom Evangelium vorgesehene Zelebrant am vom Evangelium vorgesehenen Ort mit den vom Evangelium vorgesehenen Elementen und mit der vom Evangelium vorgesehenen Konsekrati-onsformel zelebriert, darf der Lateiner vom Griechen nicht getadelt werden, als ob er nicht oder schlecht konsekriere, weil er mit weißem Wein oder mit ungesäuertem Brot konsekriert. Und auch das Opfer des griechischen Priesters darf vom Lateiner nicht als wertlos verachtet werden, weil er mit rotem Wein und mit gesäuertem Brot zelebriert Wagen etwa die Spanier, die mit rotem Wein zelebrieren, die Deutschen zu schelten, die mit weißem Wein zelebrieren, oder umgekehrt die Deutschen die Spanier? <...> Eine jede Gewohnheit wird üblicherweise von denen geliebt, deren Gewohnheit sie ist. Das ist doch gut! Es ist aber auch üblich, daß sie von denen verachtet wird, deren Gewohnheit sie nicht ist Das ist doch schlecht! Die Regeln des positiven Rechts können, obwohl sie gut sind, in andere ebenfalls gute geändert werden, und zwar von denen, die die Gesetzgebungsgewalt haben. Und weil sie sich unterscheiden,

fercula, ne vel confundas accubitum vel accumbentes offendas? Latinus azyma, fermentum Graecus amplectitur. Si pariter accesserint ad altare, neuter al terms sacrificium contemnat".

95 HUGUCCIO, Summa decretorum, zu d. 31 c. 14, sub verbis Aliter se habet (Cod. Vat. lat. 2 2 8 0 , fol. 32v): „id est alia est et diversa, non tarnen adversa vel contraria, sicut <...> non sunt contraria quod illi fermentato conficiunt, nos vero de azymis".

96 S. oben,S. 317 Anm. 39.

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360 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

dürfen sie deswegen nicht als Gegensätze betrachtet werden. <...> Die Gewohnheiten der Kir-chen, um welche immer es sich auch handelt und wie sehr sie sich auch unterscheiden, solange sie mit dem Glauben und mit der Liebe übereinstimmen, sind alle heilbringend und stammen alle von Gott. Von allen, auch von denen, die sie nicht verwenden, müssen sie in dem Maße respektiert werden, in dem die Frucht der kirchlichen Gemeinschaft von allen zu erhoffen ist"97

b. Die Multiformität des Ordenslebens und die rituelle Eigenart der Ostkirche

Die Frage der Einheit der Kirche in der Vielfalt sakramentaler Gewohnheiten wurde mit einem anderen Thema der Zeit eng verknüpft: der Entstehung neuer Ordensgemein-schaften und der Multiformität ihrer jeweiligen Lebensweisen und consuetudines. Giles Constable hat bereits darauf aufmerksam gemacht, welch gewichtige Rolle diesem Thema für die Entwicklung der gesellschaftlichen Pluriformität in der westlichen Ge-sellschaft generell zukam98. Wenn das Problem der Einheit in der Vielfalt von der rein theoretischen Ebene, die wir etwa bei Abaelard finden, auf den praktischen Bereich angewendet wurde, so geschah dies in erster Linie mit Blick auf die Vielfalt der mona-stischen Lebensweisen. Gegen diese Art von Vielfalt wurden - nicht weniger als gegen

97 SUMMA ZWETTLENSIS, lib 4, n 282-287 (ed. cit. 192-193): „Temere enim mutat consuetudinem sacrificii quicumque non eadem auctoritate mutat eam qua constat causa institutam esse. <...> In conseruanda etenim consuetudine uniuscuiusque ecclesie unitas honoranda est pacis ecclesiastice non redarguenda auctoritas institutionis aut contempnenda dum constet eam habere rationem. Non enim praua est consuetudo quoniam aha est sed quoniam sine ratione est. Diuersitas namque consuetudinis non facit reprobam consuetudinem sed defectus rationis. <...> Tenenda igitur et conseruanda est unicuique ecclesie Christi sua consuetudo. Nec ideo soli putandi erimus ieiunare quia soli hoc modo ieiunamus. Nec ideo soli putandi erimus orare quia soli hoc modo oramus. Non ergo nos putandi erimus soli sacrificare quoniam soli hoc sacrificamus modo. <...> Dum ergo minister secundum euangelium institutus in loco secundum euangelium instituto in elementis secundum euangelium instituüs benedictione secundum euangelium instituta sacrificauerit, Latinus non est increpandus a Greco tanquam non sacrificans aut male sacrificans eo quod uel in albo uino uel in pane azimo sacrificat. Nec est a Latino contempnendum sacrificium ministri Greci tanquam uacuum quoniam in uino rubeo et fermentato pane sacrificat. Numquid enim Yspani qui in rubeo sacrificant uino audeant increpare Germanos qui in albo quidem uino sacrificant aut Germani Yspanos? <...> Solet siquidem consuetudo omnis amari ab hiis quorum est consuetudo. Quod utrique <so bei Häring!> bonum est. Solet etiam contempni ab hüs quorum non est. Quod utique <so bei Häring!> mal um est. Regule etenim iusticie positive quamuis bone sint, in aüas etiam bonas mutari possunt ab hiis qui habent statuendi auctoritatem. Nec ideo putande erunt contrarie quoniam sunt diuerse. <...> Consuetudines ilaque eccelsiarum quelibet et quantumlibet diuerse dum fidei et caritati conueniant omnes sunt salutares et omnes a deo: ab omnibus hiis etiam qui eis non utuntur honorande quantum sperandus est ab omnibus ecclesiastice fructus communionis".

9 8 S.: CONSTABLE, The Diversity ofReligious Life ( 1 9 8 5 ) .

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Die Reflexion der Lateiner 361

die sakramentalen „Abweichungen" der griechischen Kirche - Einwände erhoben: Man sah die Unterschiedlichkeit der monastischen consuetudines oftmals als verwirrend und kontraproduktiv an. In ihrem Versuch, diese Einwände zu entkräften, kamen die Vertei-diger der monastischen Vielfalt nicht selten auf die Eigenart der Byzantiner zu spre-chen. Die unterschiedlichen rituellen Gewohnheiten der jeweiligen Ortskirchen wurden als Parallele zur Vielfalt der monastischen consuetudines empfunden. Falls sich die Eigenart der griechischen Kirche bewährt, hätte dies auch positive Auswirkung für die Vielfalt monastischer Lebensweisen. Und umgekehrt: Billigt man die Vielfalt der Or-den, dann gewinnt auch die Vielfalt der Riten eine Anerkennung. Zwei Autoren haben um die Mitte des 12. Jahrhunderts zu dieser Sichtweise entscheidend beigetragen: Petrus Venerabiiis und Anselm von Havelberg.

In seiner berühmten Epistel 111 an Bernhard von Clairvaux geht Petrus Venerabiiis auf den Streit zwischen den verschiedenen Orden ein, der aus der Verschiedenheit der Gewohnheiten entsprang. Petrus nennt diesen Streit „sehr unvernünftig", „kindisch" und „dumm"99 und führt als Begründung seiner Ansicht die Vielfalt der Gewohnheiten der verschiedenen Ortskirchen ins Feld. Falls die gegenseitige Liebe unter den Christen von denen, die unterschiedlichen Bräuchen folgen, verlassen werde, dann sei sie nir-gendwo zu suchen100. Denn alle Kirchen zeichnen sich durch eine Unterschiedlichkeit ihrer Bräuche aus:

„Unzählig ist die Vielzahl der Kirchen, die im einen Glauben und in der einen Liebe Gott die-nen, und die Vielfalt ihrer Bräuche ist so groß, wie die Orte unendlich sind: mal in Gesängen, mal in Lesungen, mal in allen kirchlichen Gottesdiensten, mal in verschiedenen Gewändern, mal - neben den verbindlichen Fastenzeiten, die nicht geändert werden dürfen - auch in ver-schiedenen Fastenzeiten. Mal in allen ähnlichen Dingen, die je nach Zeit, Ort, Volk oder Ge-gend von den Vorstehern der Kirchen eingerichtet sind, denen es nach dem Apostel erlaubt ist, diesbezüglich nach eigenem Dafürhalten reichlich Gebrauch zu machen. Geben also alle diese Kirchen die Liebe auf, weil sie eine Gewohnheit geändert haben? Werden sie aufhören, Christen zu sein, weil sie sich in ihren Bräuchen als unterschiedlich erweisen?''101

99 PETRUS VENERABILIS, Rescriptum ad Bernardum, ed. cit. 278: „Est fortasse inter uos litis huius causa diuersa consuetudo, uaria monastici ordinis obseruatio. Sed si haec, carissimi, tanti mali causa est, ualde irrationabilis, et quod salua utriusque uestrum gratia loquor, ualde puerilis et stulta est".

100 Ebd.: „Si inquam lex Christi, id est Caritas, ab omnibus diuersos usus sequentibus relinquenda est, nusquam plane ultra quaerenda est. Nusquam enim inueniri potent, postquam ab omnibus morem diuersum sequentinus exclusa fuerit".

101 Ebd., 278-279: „Cumque omnem pene numerum excedat multiplicitas aecclesiarum sub una fide, et eadem caritate deo famulantium, tanta pene apud eas inuenitur uarietas usuum, quanta infinitas est locorum. Hoc in cantibus, hoc in lectionibus, hoc in omnibus aecclesiasticis officiis, hoc in uestitu uario, hoc praeter authentica quae mutari non possunt ieiunia, in ieiuniis diuersis. Hoc in uniuersis similibus, quae pro temporum, locorum, gentium, regionum uarietatibus, a praelatis aecclesiarum, quibus secundum apostolum quantum ad talia pertinet in suo sensu

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362 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Petrus fuhrt als Beispiel derartiger Verschiedenheit die Divergenz des Osterdatums in der alten Kirche und Unterschiede in der Eucharistie zwischen den Griechen und Latei-nern in neuerer Zeit an, die er - bemerkenswerterweise beide! - als die Punkte bezeich-net, die es nicht vermochten, die gegenseitige Liebe zu zerstören und die Kirchen zu trennen102. Die Divergenzen im Brauchtum konnten und können die gegenseitige Liebe und die Einheit nicht auflösen:

„Zeugen sind auch wir in unserer Zeit, die wir sehen, daß die römische und die ganze latei-nisch sprechende Welt das heilbringende Opfer mit ungesäuertem Brot darbringt, während man sagt, daß die griechische Kirche und der größte Teil des Orients sowie die barbarischen, aber christlichen Völker das Opfer mit gesäuertem Brot darbringen. Obwohl dies so ist, sagten sich weder die Alten noch die Heutigen wegen derart feierlicher und berühmter Unterschiede in den Gebräuchen von der gegenseitigen Liebe los, weil sie in all dem nichts fanden, was den Glauben oder die Liebe verletzen würde"103.

Dieses Ideal der gegenseitigen Achtimg der Ritusunterschiede zwischen den Kirchen fuhrt Petrus Venerabiiis als Vorbild für den Umgang zwischen den unterschiedlichen Orden an.

Eine eminente Rolle spielte der Vergleich zwischen der Vielfalt der monastischen consuetudines und der Vielfalt der Gewohnheiten unterschiedlicher Ortskirchen bei Anselm von Havelberg. Die Vielfalt des kirchlichen Lebens ist geradezu das Hauptthe-ma seines Antikeimenon*04. Das Antikeimenon besteht aus drei Büchern. Im ersten Buch antwortet Anselm auf die Bedenken derer, die sich über die Entstehung neuer Ordens-gemeinschaften und über die sich daraus ergebende Vielfalt der monastischen consue-tudines empören:

„Sehr viele wundem sich, sehen darin ein ernstes Problem und bringen durch ihr Fragen nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen ein Ärgernis in die Welt. Sie sagen nämlich und fragen wie böswillige Ermittler: Warum geschehen in der Kirche so viele Neuerungen? Warum ent-

[Rom. 14, 5] licet abundare, instituta sunt. Relinquent ergo omnes istae aecclesiae caritatem, quia mutauerunt consuetudinem? Cessabunt esse Christiani, quia uidentur in diuersis usibus uarii?"

102 Ebd., 279: „Frustra rem patentem multiplicibus testimoniis uel exemplis cingerem, maxime cum nec apud antiquos ipsius paschalis temporis dissonantia, nec apud modemos ipsius sacrificii Christiani inter Graecos et Latinos nota uarietas, caritatem ledere, uel scisma aliquod unitatis gignere potuerit". Diese Worte des Petrus sind ein weiteres Zeugnis dafür, daß die Einheit zwischen der römischen und der byzantinischen Kirche - zumindest von den lateinischen Theologen um die Mitte des 12. Jh. - als nicht beeinträchtigt angesehen wurde.

103 Ebd., 279: „Testes sumus et nos temporis nostri, qui Romanam aecclesiam et totam Latinam linguam offerre deo salutare sacrificium azimi panis uidemus, cum Graeca aecclesia, et maxima orientis pars ac barbarae, sed Christianae gentes sacrificare de fermentato dicantur. Cum hoc ita sint, nec antiqui nec moderni propter tarn celebres et famosas usuum dissonantias a caritate mutua desciuerunt, quia nichil quod fidem uel caritatem lederet, in his omnibus inuenerunt".

104 Ausführlich zum Antikeimenon und seiner Entstehungsgeschichte s. oben, S. 172-186.

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Die Reflexion der Lateiner 363

stehen in ihr so viele Orden? Wer vermag noch so viele Klerikerorden zu zählen? Wer staunt nicht über so viele Arten von Mönchen? Wer nimmt schließlich nicht Ärgernis daran und wird angesichts so vieler und so unterschiedlicher sich gegenseitig widersprechender Formen des monastischen Lebens nicht von Überdruß und Widerwillen gepackt?"105.

Die „Neuerungen" und die Multiformität des Ordenslebens drücke sich in der Vermeh-rung der Gewohnheiten, vor allem der liturgischen und disziplinären aus:

„Schau, da sehen wir in der Kirche Gottes, so sagen sie, irgendwelche auftauchen, die sich nach ihrem Gutdünken mit einem ungewohnten Habit bekleiden, sich eine neue Lebensweise erwählen und - sei es unter dem Vorwand eines Mönchsgelübdes oder dem Versprechen als Regularkanoniker - sich das herausnehmen, was sie wollen. Sie erfinden für sich eine neue Psallierweise, eine neue Weise der Enthaltsamkeit..."106.

Anselm hingegen will in seinem ersten Buch zeigen, daß die Verbindung zwischen der „Uniformität des Glaubens" und der „Vielförmigkeit des Lebens" einen der Wesenszü-ge der Kirche Christi darstellt und „vom gerechten Abel bis zum letzten Auserwählten" die ganze Kirchengeschichte durchzieht:

„Schau, wie sich offenkundig zeigt, daß der eine Leib der Kirche durch den einen Heiligen Geist belebt wird, der zwar in sich ein einziger ist, aber vielförmig in der vielfachen Verteilung seiner Gaben. Dieser wahrhafte, vom Heiligen Geist belebte Leib der Kirche, der sich durch die verschiedenen Zeiten und Epochen hindurch in verschiedene Glieder aufteilt und unter-scheidet, begann bei Abel, dem ersten Gerechten, und wird beim letzten Auserwählten enden, dieser Leib wird im einen Glauben immer eins, aber in der vielfachen Verschiedenheit des Le-bens vielfaltig unterschieden sein. <...> Soll man diese und viele andere, die durch das Zeugnis des Glaubens geprüft worden sind, die zwar in einem Glauben, aber in unterschiedlicher Le-bensweise und durch verschiedenen Opferritus den einen Gott verehrt haben, soll man diese etwa nicht zur Einheit der Kirche gehörig halten?"107.

105 ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 1, cap 1 (BALUZE 163 — P L 1141 C): „Solent plerique mirari, et in quaestionem ponere, et interrogando non solum sibi, verum etiam aliis scandalum generare: dicunt enim et tamquam calumniosi inquisitores interrogant: Quare tot novitates in Ecclesia fiunt? Quare tot ordines in ea surgunt? Quis numerare queat tot ordines clericorum? Quis non admiretur tot genera monachorum? Quis denique non scandalizetur, et inter tot et tarn diversas formas religionum invicem discrepantium taedioso non afficiatur scandalo?"

106 Ebd., BALUZE 163 = P L 1 1 4 2 C-D: „Ecce videmus in Ecclesia Dei, ut aiunt, quosdam emergere, qui pro libitu suo insolitu habito induuntur, novum vivendi ordinem sibi eligunt, et sive sub monasticae professionis titulo, sive sub canonicae disciplinae voto, quidquid volunt, sibi assumunt, novum psallendi sibi adinveniunt, novum abstinentiae modum..."

107 Ebd., lib 1, cap 2 - 3 (BALUZE 164 = P L 1144 B - C ; 1145 B - C ) ; vgl.: LEES, Anselm of Havelberg. Deeds into Words 176 Anm. 32: „Ecce manifeste apparet unum corpus Ecclesiae uno Spiritu Sancto vivificari, qui et unicus est in se, et multiplex in multifaria donorum suorum distributione. Verum hoc corpus Ecclesiae Spiritu Sancto vivificatum, et per diversa membra diversis temporibus et aetatibus discretum et et distinctum, a primo Abel justo incoepit, et in

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364 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

Weiterhin entfaltet Anselm im ersten Buch des Antikeimenon ausgehend von dem apo-kalyptischen Bild der sieben Siegel (Ofifb 5-8) eine symbolische Periodisierung der Heilsgeschichte, worauf wir hier nicht näher einzugehen brauchen. Eine Bemerkimg ist jedoch im Hinblick auf die Ostkirche interessant: Anselm zieht eine Parallele zwischen der Vielfalt der Orden im Westen und der Multiformität des monastischen Lebens in der Ostkirche:

„In der Ostkirche, bei den Griechen, Armeniern und Syrern, gibt es unterschiedliche Arten von Ordensleuten, die im einen katholischen Glauben übereinstimmen, jedoch in den Bräuchen, in der Ordnung, im Habit, in der Ernährung und im Stundengebet nicht wenig voneinander ab-weichen"108.

Anselm beruft sich auf seine eigenen Erfahrungen mit dem byzantinischen Mönchtum, die er während seiner Reise nach Konstantinopel machen konnte109. Die Vielfalt des byzantinischen Mönchtums wird also zur Begründung des Grundsatzes una fldes, diversae consuetudines herangezogen, womit die Lage in der westlichen Kirche erklärt werden soll.

Der eigentlichen Problematik der theologischen und rituellen Eigenart der byzantini-schen Kirche sind die Bücher 2 und 3 des Antikeimenon gewidmet, die Anselm als Streitgespräch zwischen sich und einem griechischen Erzbischof Niketas von Nikome-dien konzipierte110. Beide Bücher leitet eine ähnliche Fragestellung wie Buch 1: Woher kommen Neuheiten und Divergenzen in der Kirche und wofür sind sie gut? Der Autor stellt im Prooemium zum Buch 2 die ostkirchliche Problematik als Fortsetzung und Erweiterung der Fragestellung des ersten Buches dar: Die Menschen, die sich von der Multiformität der lateinischen Orden skandalisiert fühlten, erweitern nun ihre Kritik und übertragen sie auf die byzantinische Kirche. Sie seien mit dem im Buch 1 vorgeschla-

novissimo electo consummabitur, Semper unum una fide, sed multiformiter distinctum multiplici vivendi varietate. <...> An non putandi sunt isti et quamplures alii testimonio fidei probati fuisse de unitate Ecclesiae, qui licet una fide, tarnen diversis modis vivendi et diverso sacrificiorum ritu unum Deum coluerunt?".

1 0 8 ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 1, cap 10 (BALUZE 1 6 9 = P L 1 1 5 6 C ) : „Item in Orientali Ecclesia, apud Graecos et Armenos et Syros, diversa sunt genera religiosorum, qui in una quidem fide catholica concordant, ac tarnen in moribus, in ordine, in habitu, in victu, in officio psallendi non parum ab invicem discrepant".

109 Ebd., BALUZE 1 6 9 = PL 1 1 5 6 C-D: „Ego cum essem in urbe regia Constantinopoli apocrisiarius Lotharii Magni et christianissimi Romani imperatoris ad Kalojannem ejusdem regiae civitatis imperatorem, et essem avidus explorator et diligens inquisitor diversarum religionum, vidi ibi multos ordines christianae religionis. In monasterio quod dicitur Pantocratoros, id est, Omnipotentis, vidi septingentos ferme monachos sub regula beati Antonii militantes. In monasterio quod dicitur Philanthropou, id est, Amantis hominem, vidi non minus quingentos monachos sub regula beati Pachomii müitantes. Vidi et quamplures congregationes sub regula beati Basilii Magni et dictissimi viri devote militantes".

1 1 0 Zur Historizität des Disputationsberichtes im Antikeimenon s. oben, S. 1 8 1 - 1 8 6 .

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Die Reflexion der Lateiner 365

genen Kirchenbild vorerst zwar einverstanden, weisen jedoch darauf hin, daß sich die byzantinische Eigenart mit Hilfe dieses Kirchenbildes kaum bewältigen lasse:

„Aber was hat es auf sich, fragen sie, daß einige in der Kirche im Glauben an die heilige Drei-faltigkeit und im Ritus der Sakramente voneinander abzuweichen scheinen, wie beispielsweise die Griechen von den Lateinern? Falls sie sich in allen übrigen Dingen voneinander unter-scheiden sollten, dabei aber die Einheit des Glaubens und den einheitlichen Ritus der Sakra-mente bewahren, könnte man dies noch dulden und es schiene einen geringeren Anstoß oder eine geringere Gefahr nach sich zu ziehen. Aber weil sie hinsichtlich des Glaubens, ohne den es unmöglich ist, Gott zu gefallen, voneinander abzuweichen scheinen, und auch nicht in ei-nem einheitlichen Ritus der Sakramente übereinstimmen, ist es notwendig, daß du uns darüber Auskunft gibst, was wir über jene denken, oder was wir selber einhalten sollen"111.

Diese Passage formuliert die Problematik der Vielfalt der Gewohnheiten unter Wahrung des einen Glaubens in aller Schärfe: Handelt es sich bei den Differenzen zwischen Ost und West wirklich nur um rituelle Unterschiede, oder ist nicht vielmehr der Glaube selbst berührt, wenn es um den Hervorgang des Heiligen Geistes geht oder wenn die sakramentale Heilsvermittlung auf dem Spiel steht? Eine besondere Schwierigkeit stellte selbstverständlich das Problem des Filioque dar, da es sich dabei um eine Ab-weichung zu handeln schien, die eindeutig in den Bereich des Glaubens wies. Anselm gibt im Prooemium zum 2. Buch sogar zu, daß er sich zu einer Lösung dieses Problems nicht imstande sieht. Nichtsdestoweniger wird in den Dialogen zwischen „Anseimus" und „Nechites" im 2. und 3. Buch eine Übereinkunft in allen einschlägigen Kontrovers-fragen erzielt, die man mit gutem Grund als die von Anselm von Havelberg selbst vor-geschlagene Lösung halten darf. Diese betrifft nicht nur die Frage des Filioque, sondern auch die drei im Antikeimenon behandelten Streitfragen des Ritus: das eucharistische Brot, die Wasserbeimischung und die Wiedertaufe bzw. die Wiedersalbung112 der in die griechische Kirche aufgenommenen Lateiner. Diese Lösung heißt: Die Einberufung eines allgemeinen Konzils (concilium generale), auf dem über die Streitfragen disku-tiert und entschieden werden müßte. So lautet die von „Nechites" zum Ausdruck ge-brachte Empfehlung:

111 ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 2 , prooemium (BALUZE 171 = PL 1161 A - B ) ; vgl. LEES, Anselm von Havelberg. Deeds into Words 2 2 5 Anm. 198: „Verum quid est, inquirunt, quod aliqui in Ecclesia in fide sanctae Trinitatis et in sacramentorum ritu videntur discrepare, quemadmodum Graeci a Latinis? Quod si salva unitate fidei et uno sacramentorum ritu in caeteris omnibus dissinules essent, utcumque tolerari posset et minus scandalum seu periculum esse videretur. Verum quoniam de fide, sine qua impossibile est placere Deo, dissentire videntur, nec in uno sacramentorum ritu convenire dinoscuntur, necessarium est ut super hoc nobis respondeas, quod vel de Ulis sit sentiendum, vel nobis tenendum".

112 In diesem Kapitel wirft,Anseimus" den Byzantinern die Wiedertaufe vor. „Nechites" scheint in dem Sinne zu antworten, daß das, was ,Anseimus" für den Taufakt hält, in Wirklichkeit eine Firmung sei, s.: ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 3 , cap 2 1 (BALUZE 2 0 7 = P L 1 2 4 5 -

1246) .

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366 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

„Der Preis dieses Werkes wäre, daß alle, sowohl die Lateiner als auch die Griechen, sich sehr eifrig im Herrn bemühen sollten, daß sie sich zu einem allgemeinen Konzil an einem geeigne-ten Ort und zu geeigneter Zeit einfinden sollten, und entweder alle gemeinsam den Ritus des ungesäuerten Brotes oder alle gemeinsam den Ritus des gesäuerten Brotes einheitlich anneh-men sollten. Oder, falls sich dieses oder jenes in gemeinsamer Weise ohne den geringsten oder ohne allzu großen Anstoß für die andere Seite oder für das andere Volk nicht zustande bringen lasse, sollten sie wenigstens darin übereinkommen, daß weder die Griechen die Lateiner we-gen des ungesäuerten Brotes, noch die Lateiner die Griechen wegen des gesäuerten Brotes, an das sie sich gewöhnt haben, unbesonnen verurteilen, sondern sie im gegenseitigen Frieden Nachsicht miteinander haben. Und dabei würde die heilige Liebe nicht zerstört werden, die nicht ohne Gefahr für beide Völker bei beiden erheblich geschwächt wird"113.

Da auch „Anseimus" wiederholt sein Einverständnis zu dem Vorschlag gibt, ein allge-meines Konzil zur Lösung der Streitfragen einzuberufen114, scheint der Havelberger Bischof jenes Anliegen, das die Byzantiner, wie wir oben gesehen haben, im Laufe des 11., 12. und 13. Jahrhunderts so oft - und ohne Erfolg - an die römische Seite richteten, unterstützt zu haben115. Seine Antwort auf die von den Gegnern der Vielfalt in der Kir-che hervorgebrachten Bedenken über die byzantinische Eigenart lautet: Sicherer und besser wäre es, den Ritus der Sakramente zu vereinheitlichen. Diese Vereinheitlichung sollte jedoch nicht bloß auf Verordnung Roms hin geschehen, sondern das Resultat einer offenen Diskussion auf einem allgemeinen Konzil sein116. Ein gemeinsames Kon-zil könnte auch die sakramentale Praxis der jeweiligen Kirche sanktionieren. Dann müßten sich beide Seiten an einen solchen Beschluß halten und müßten künftig auf gegenseitige Vorwürfe verzichten. „Nechites" faßt seine Erwartungen an ein solches „Unionskonzil" in folgendem optimistischen Ausblick zusammen:

113 ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 3, cap 19 (BALUZE 204 = PL 1239 C-D): „...hoc operae pretium esset, ut omnes tarn Latini quam Graeci studiosissime in Domino elaborarent, quatenus generale concilium congruo loco et tempore in unum convenientes celebrarent, et aut omnes universaliter ritum azymi, aut omnes universaliter ritum fermenti uniformiter assumerent: aut si hoc vel illud universaliter sine minimo, aut sine nimio scandalo alterius partis vel gentis non posset fieri, saltem in hoc convenirent, quod nec isti illos propter azymum,nec Uli istos propter fermentum, quod isti consueverunt, temere judicarent, sed mutua pace sibi invicem indulgerent, et hac occasione Charitas sancta non destrueretur, quae non sine utriusque gentis periculo apud utrosque graviter infirmatur".

114 S.: PL 1210 B, und bes. die allerletzte Passage des „Anseimus", der selbstverständlich aufgrund ihrer hervorgehobenen Stellung eine entscheidende Bedeutung zukommt: 1248 A-B (= BALUZE

207): „...tu qui generale concilum desideras, videtur quod id quod catholicum est intendas; ideoque et ego concilium universale futurum exopto...".

115 Zur Bedeutung des Werkes des Anselm von Havelberg für die Geschichte der Konzilsidee des Mittelalters s. besonders: SIEBEN, Die Konzilsidee 153-187.

116 Vgl. für diese Ansicht die Nachricht des Gaufredus Malaterra über die Verständigungsversuche zwischen Urban II. und dem byzantinischen Kaiser, s. oben, S. 226-227.

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Die Reflexion der Lateiner 367

„Wie aus vielen reinsten Getreidekömern sowohl das ungesäuerte als auch das gesäuerte Op-ferbrot gemacht wird, und wie aus vielen zusammengetragenen Trauben gepreßter Wein ge-wonnen wird, so soll auch aus vielen Scharen sowohl der Griechen als auch der Lateiner die eine, einträchtige und eines Sinnes seiende Kirche erstehen, damit weder euere Azymen uns, noch unser Sauerteig euch am Tag des Herrn zur Verurteilung gereichen, solange wir gegen-seitig darüber streiten, was für uns beide zum Heil eingesetzt wurde. Beide sollten wir mehr die gefährliche Streiterei fürchten, als die unterschiedliche Gewohnheit in der Feier ein und desselben Sakraments"117.

Auch wenn sich in einem so vielschichtigen Text wie dem fingierten Dialog zwischen „Anseimus" und „Nechites" im Antikeimenon Spuren sowohl der Mißbilligungs- als auch der Duldungstendenz gegenüber der byzantinischen Eigenart erkennen lassen, spricht dennoch vieles dafür, daß das Hauptanliegen des Autors auf eine Anerkennung beider Traditionen hinausläuft. Zum einen ist die Unterstützung der griechischen Forde-rung nach einem allgemeinen Konzil, die Anselm im Gegensatz zur Politik der Päpste offensichtlich nicht an Vorbedingungen knüpft118, ein Zeichen der Anerkennung der Griechen als eigener Kirche und Kultureinheit. Zum anderen geht der Anerkennungsge-danke aus dem Gesamtkontext des Werkes hervor, wenn die im 1. Buch pathetisch gepriesene Pluriformität in der Kirche mit den im 2. und 3. Buch diskutierten Divergen-zen zwischen der Ost- und der Westkirche konfrontiert wird. Dadurch wird dem Leser die Ebenbürtigkeit der byzantinischen und der lateinischen Kirche mitsamt ihren Tradi-tionen im Heilsplan Gottes nahegelegt. Bei Anselm von Havelberg wie auch bei Petrus Venerabiiis, die über die Betrachtung der Vielfalt monastischer consuetudines an die Ritusdifferenzen zwischen Ost- und Westkirche herantreten, wird darauf Wert gelegt, daß es sich um eine Vielfalt gleichberechtigter Glieder handelt. Es könne prinzipiell keine „besseren" oder „schlechteren" monastischen Lebensweisen geben. Billigt man ihre Vielfalt grundsätzlich, dann sind sie alle ausnahmslos gut und fuhren alle zum Seelenheil, wenn auch auf eigene Art und Weise. Auf die griechischen Gewohnheiten übertragen ergibt sich daraus eine Gleichberechtigung der sakramentalen Bräuche. Die byzantinische sakramentale Praxis darf nicht nur geduldet, sondern muß als Modus

117 ANSELM VON HAVELBERG, Antikeimenon, lib 3, cap 20 (BALUZE 206-7 = PL 1245 B - C ) ; vgl. LEES, Anselm von Havelberg. Deeds into Words 278 Anm. 341: , 3 t sicut ex multis purissimi frumenti granis tarn azyma quam fermentata hostia conficitur, et sicut ex multis uvis in unum collectis vinum expressum colligitur, ita ex multis tarn Graecorum quam Latinorum turbis una et concors, et id ipsum sentiens constituatur Ecclesia, ne vel nobis vestrum azyma, vel vobis nostrum fermentum in die Domini fiat damnationis judicium, dum altrinsecus inde surgimus in contentionem quod utrisque institutum est ad salutem. Magis enim tarn nobis quam vobis timenda est periculosa contentio, quam ejusdem oblationis <Baluze und PL: obigationis> diversa consuetudo".

118 Vgl. die Äußerung der Päpste, vor allem Innozenz' in. und der Päpste, die an der Vorbereitung des Konzils von Lyon 1274 gearbeitet haben, die die Unterwerfung der griechischen Kirche als Vorbedingung für ein gemeinsames Konzil ansahen, s. dazu oben, S. 250-251; 290-293.

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368 Die lateinischen Zugänge zur Eigenart der Ostkirche

anerkannt werden, der nicht weniger als jener der römischen Kirche zum Seelenheil hinfuhrt. Wie stark sich diese wechselseitige Konsequenz im westlichen Denken festge-setzt hat, bezeugt auf umgekehrte Weise die negative Haltung Innozenz' III. sowohl gegenüber der Vielfalt der Orden im Westen (Man erinnere sich an das Verbot des IV. Lateranums, neue Ordensgemeinschaften zu gründen!119) als auch gegenüber den griechischen Eigentraditionen.

c. Ein Höhepunkt des scholastischen Anerkennungsgedankens: Thomas von Aquin

Die mit Innozenz III. beginnende „Eiszeit" in den Beziehungen zwischen Lateinern und Griechen spiegelte sich auch in der theologischen Literatur des 13. Jahrhunderts wieder. Bei den Hochscholastikern findet man kaum mehr Spuren der frühscholastischen Be-geisterung über die Vielfalt der Gewohnheiten. Vielmehr begegnet man häufiger sol-chen Aussagen, die nicht mehr nur in Richtung Duldung, sondern eher schon in Rich-tung Mißbilligung weisen. Gerade bei den „Klassikern" der Hochscholastik, allen voran Bonaventura, kommt ein markanter antigriechischer Affekt zum Tragen. Auf diesem Hintergrund ist die Wende, die Thomas von Aquin durchgemacht hat, besonders be-merkenswert.

In seinem Frühwerk, dem Sentenzenkommentar, kommt Thomas bei der Betrachtung der Azymenproblematik, offensichtlich im Gefolge seines Lehrers Albert, zu einer Schlußfolgerung, die sowohl Griechen als auch Lateiner betreffen soll:

„Der Herr konsekrierte mit ungesäuertem Brot, daher muß mit ungesäuertem Brot konsekriert werden. Gleichwohl kann auch mit gesäuertem Brot konsekriert werden, aber dann sündigt der Zelebrant, weil er den Brauch der Kirche nicht beobachtet"120.

Thomas konkretisiert nicht, an welchen Zelebranten sich der Vorwurf der Sünde richtet; offensichtlich auf einen jeden Zelebranten, gehöre er der lateinischen oder der griechi-schen Kirche an. Denn Albert der Große sprach in seinem Sentenzenkommentar aus-drücklich von einer Sünde der Griechen, die mit gesäuertem Brot zelebrieren121. In seinem Spätwerk, der Tertia Pars, hingegen sieht Thomas die gleiche Frage in ganz anderem Licht:

119 S. Konstitution 13 des IV. Lateranums 1215 De novis religionibus prohibitis. „Ne nimia religionum diversitas gravem in ecclesia Dei contusionem inducat, firmiter prohibemus, ne quis de caetero novam religionem inveniat, sed quicumque voluerit ad religionem converti, unam de approbatis assumat" (COD/DÖK H 242).

120 THOMAS VON AQUIN, In IV. Sententiarum, dist 11, q 2, art 2c, cor (ed. cit. 480): „Dominus in azymo confecit, et in azymo conficiendum est, quamvis etiam in fermentato confici potest, quamvis peccaret conficiens, Ecclesiae morem non servans".

121 Vgl. oben, S. 351 Anm. 67 und 68.