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HMD 269 61 Nadine Blinn, Michael Schlicker, Oliver Thomas, Thorsten Dollmann, Markus Nüttgens Mobile Informationsversorgung als Wettbewerbsfaktor im technischen Kundendienst Im Kontext produktbegleitender Dienstleistun- gen spielt zunehmend die prozessorientierte IT- Unterstützung als Wettbewerbsfaktor eine Rol- le. Gerade bei Dienstleistungen, die an komple- xen technischen Produkten erbracht werden, ist die korrekte, qualitativ hochwertige und den- noch kostengünstige Erbringung ein signifikan- tes Differenzierungsmerkmal gegenüber der Konkurrenz. Hierzu ist die stete Verfügbarkeit ak- tueller und korrekter Serviceinformationen un- abdingbar. Mobile IT-Systeme für technische Af- ter-Sales-Dienstleistungen unterstützen diese Anforderung. Ein konkreter Anwendungsfall zeigt die Umsetzung in einer idealtypischen mehrstufigen Wertschöpfungspartnerschaft am Beispiel der Sanitär-, Heizungs- und Klimatech- nik-(SHK-)Branche. Inhaltsübersicht 1 Die Bedeutung des technischen Kundendienstes 2 Klassifikation technischer Kundendienstprozesse 3 Wertschöpfungspotenziale der Serviceprozesse im erweiterten Produktlebenszyklus 4 IT-Systeme zur Unterstützung effizienter Dienstleistungsprozesse im technischen Kundendienst 4.1 Einführung in die Anwendungssituation 4.2 Unterstützung der Dienstleistungs- erbringung durch IT-Systeme 5 PIPE als technologischer Wettbewerbsfaktor 6 Literatur 1 Die Bedeutung des technischen Kundendienstes Die weltweite Vernetzung und die Globalisie- rung führen dazu, dass in Analogie zur Industri- alisierung der Produktion auch im Dienstleis- tungsbereich Effizienz, Qualität und Innovation in den Vordergrund rücken [Thomas & Nütt- gens 2009, S. V]. Im Standortwettbewerb um wissensintensive Dienstleistungen werden Me- thoden und Werkzeuge zur Entwicklung und Er- bringung technologiegestützter Dienstleistun- gen zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Dies gilt besonders für die größte Indus- triebranche Deutschlands, den Maschinen- und Anlagenbau. Neben der Entwicklung innovati- ver und hochwertiger Produkte leisten hier pro- duktbegleitende Dienstleistungen einen we- sentlichen Beitrag, wobei der technische Kun- dendienst (TKD) eine herausragende Stellung einnimmt. Gleichwohl existiert für den Begriff des Kundendienstes in Wissenschaft und Praxis kein einheitliches Verständnis. Häufig werden hierunter Dienstleistungen zusammengefasst, die der Förderung oder Werterhaltung eines Produktes dienen. Eine differenzierte Betrach- tung unterteilt die Serviceleistungen in Leistun- gen (1) vor dem Produktkauf (Pre-Sales-Service), (2) während des Produktkaufs (Sales-Service) und (3) nach dem Produktkauf (After-Sales-Ser- vice) [Harms 1999, S. 22 f.]. Im Rahmen dieses Beitrages stehen die Dienstleistungen der Af- ter-Sales-Phase im Fokus. Die Arbeitsausführung im TKD ist grund- sätzlich prozessorientiert. Der Kundendienst- techniker muss vor Ort beim Kunden »im Allein- gang« sach- und fachgerechte Leistungen auf einem hohen technischen Niveau erbringen. Er

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Nadine Blinn, Michael Schlicker, Oliver Thomas, Thorsten Dollmann, Markus Nüttgens

Mobile Informationsversorgung als Wettbewerbsfaktor im technischen Kundendienst

Im Kontext produktbegleitender Dienstleistun-gen spielt zunehmend die prozessorientierte IT-Unterstützung als Wettbewerbsfaktor eine Rol-le. Gerade bei Dienstleistungen, die an komple-xen technischen Produkten erbracht werden, istdie korrekte, qualitativ hochwertige und den-noch kostengünstige Erbringung ein signifikan-tes Differenzierungsmerkmal gegenüber derKonkurrenz. Hierzu ist die stete Verfügbarkeit ak-tueller und korrekter Serviceinformationen un-abdingbar. Mobile IT-Systeme für technische Af-ter-Sales-Dienstleistungen unterstützen dieseAnforderung. Ein konkreter Anwendungsfallzeigt die Umsetzung in einer idealtypischenmehrstufigen Wertschöpfungspartnerschaft amBeispiel der Sanitär-, Heizungs- und Klimatech-nik-(SHK-)Branche.

Inhaltsübersicht1 Die Bedeutung des technischen

Kundendienstes2 Klassifikation technischer

Kundendienstprozesse3 Wertschöpfungspotenziale der

Serviceprozesse im erweiterten Produktlebenszyklus

4 IT-Systeme zur Unterstützung effizienter Dienstleistungsprozesse im technischen Kundendienst4.1 Einführung in die Anwendungssituation4.2 Unterstützung der Dienstleistungs-

erbringung durch IT-Systeme5 PIPE als technologischer Wettbewerbsfaktor6 Literatur

1 Die Bedeutung des technischen Kundendienstes

Die weltweite Vernetzung und die Globalisie-rung führen dazu, dass in Analogie zur Industri-alisierung der Produktion auch im Dienstleis-tungsbereich Effizienz, Qualität und Innovationin den Vordergrund rücken [Thomas & Nütt-gens 2009, S. V]. Im Standortwettbewerb umwissensintensive Dienstleistungen werden Me-thoden und Werkzeuge zur Entwicklung und Er-bringung technologiegestützter Dienstleistun-gen zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren.

Dies gilt besonders für die größte Indus-triebranche Deutschlands, den Maschinen- undAnlagenbau. Neben der Entwicklung innovati-ver und hochwertiger Produkte leisten hier pro-duktbegleitende Dienstleistungen einen we-sentlichen Beitrag, wobei der technische Kun-dendienst (TKD) eine herausragende Stellungeinnimmt.

Gleichwohl existiert für den Begriff desKundendienstes in Wissenschaft und Praxiskein einheitliches Verständnis. Häufig werdenhierunter Dienstleistungen zusammengefasst,die der Förderung oder Werterhaltung einesProduktes dienen. Eine differenzierte Betrach-tung unterteilt die Serviceleistungen in Leistun-gen (1) vor dem Produktkauf (Pre-Sales-Service),(2) während des Produktkaufs (Sales-Service)und (3) nach dem Produktkauf (After-Sales-Ser-vice) [Harms 1999, S. 22 f.]. Im Rahmen diesesBeitrages stehen die Dienstleistungen der Af-ter-Sales-Phase im Fokus.

Die Arbeitsausführung im TKD ist grund-sätzlich prozessorientiert. Der Kundendienst-techniker muss vor Ort beim Kunden »im Allein-gang« sach- und fachgerechte Leistungen aufeinem hohen technischen Niveau erbringen. Er

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ist verantwortlich für die korrekte Verrichtungder Arbeit, das Identifizieren benötigter Ersatz-teile bzw. deren Beschaffung und die sichereFunktion der komplexen Produkte und Anlagen.Der TKD repräsentiert demnach einen strate-gisch wichtigen Teilprozess der unternehmeri-schen Wertschöpfung und ist zugleich einwichtiges Differenzierungsmerkmal im natio-nalen und internationalen Wettbewerb der Un-ternehmen.

Die administrativen und betriebswirt-schaftlichen Prozesse und Konzepte im TKDsind heute weitestgehend wissenschaftlichanalysiert und werden mittels stationärer IT-Anwendungen unterstützt. Hierzu zählen bei-spielsweise die Bereiche der Auftragsannahme,-disposition und -abrechnung. IT-Systeme zurintegrierten Informationsversorgung des Kun-dendiensttechnikers vor Ort, also an der Stelle,an der sich der wirtschaftliche Erfolg der Kun-dendienstarbeit entscheidet, fehlen jedoch bis-lang.

2 Klassifikation technischer Kundendienstprozesse

Um IT-Systeme zu entwickeln, die den Kunden-diensttechniker während der Ausführung sei-ner Arbeit unterstützen, ist eine detaillierteKenntnis dieser Tätigkeiten unabdingbar. In die-sem Beitrag werden die technischen Kunden-dienstprozesse als produktbegleitende Dienst-leistungen der After-Sales-Phase des Maschi-nen- und Anlagenbaus subsumiert. EineMöglichkeit zur Klassifikation technischer Kun-dendienstprozesse bietet die DIN 31051. Sie un-terteilt technische Serviceprozesse in Inbetrieb-nahme, Instandhaltung und Entsorgung. Diewährend des Inbetriebnahmeprozesses durch-zuführenden Arbeitsschritte sind der Montagenachgelagert und überführen das Produkt in ei-nen funktionsfähigen Zustand. Zu den Instand-haltungsarbeiten werden die Prozesse zusam-mengefasst, die der Überwachung, Erhaltungund Wiederherstellung der ursprünglichen

technischen Leistungsfähigkeit des Produktesdienen. Die jeweiligen Tätigkeiten der Instand-haltung werden wiederum in die Tätigkeitsfel-der (1) Wartung, (2) Inspektion, (3) Instandset-zung und (4) Verbesserung unterteilt. War-tungsprozesse setzen Maßnahmen zurVerzögerung des Abbaus des vorhandenen Nut-zungsvorrats um. Tätigkeiten einer Inspektionbefassen sich mit der Feststellung des Istzu-standes einer Betrachtungseinheit, einschließ-lich der Bestimmung der Abnutzung und derAbleitung der notwendigen Konsequenzen füreine zukünftige Nutzung. Maßnahmen zurRückführung einer Betrachtungseinheit in denfunktionsfähigen Zustand werden als Instand-setzung bezeichnet. Prozesse, die als Kombina-tion technischer und administrativer Maßnah-men zur Steigerung der Funktionssicherheitbeitragen, ohne die Funktion zu verändern, wer-den Verbesserungen genannt.

Neben der inhaltlichen Klassifikation lassensich Serviceprozesse im TKD auch hinsichtlichihrer Komplexität differenzieren. Hierfür eignensich die beiden Kriterien »Arbeitsaufwand« und»Lösungskomplexität«. Der Arbeitsaufwandlässt sich beispielsweise aus der Anzahl derdurchzuführenden Arbeitsschritte oder derenzeitlicher Bearbeitungsdauer identifizieren. DieLösungskomplexität erfasst den Schwierigkeits-grad der durchzuführenden Serviceprozesse.Auch hinsichtlich ihrer Bearbeitungsstruktur,also der möglichen Vorgehensweise, nach derdie einzelnen Arbeitsschritte innerhalb der Pro-zesse abgearbeitet werden, lassen sich die tech-nischen Kundendienstprozesse gliedern.Grundsätzlich können sie nach einer linearenBearbeitungsabfolge mit antizipierbarem Ver-lauf und einer nicht linearen Bearbeitungs-struktur, deren Ablauf kaum antizipiert werdenkann, gegliedert werden.

Die Arbeitsschritte in den Inbetriebnahme-,Inspektions- und Wartungsprozessen folgen imWesentlichen einer linearen Bearbeitung. Diesewerden i.d.R. schon während der Konstruktions-und Entwicklungsphase des Produktes identifi-

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ziert, in einer sinnvollen Reihenfolge geordnetund dokumentiert. Abbildung 1 zeigt schema-tisch in der linken Darstellung das Prozessmo-dell eines Inbetriebnahmeprozesses in Form ei-ner vereinfachten ereignisgesteuerten Prozess-kette (EPK) [Scheer et al. 2005] und in der Mitteeinen Inspektions- und Wartungsprozess ausder technischen Dokumentation eines Pro-duktherstellers.

Instandsetzungsprozesse – also Diagnose-und Reparaturprozesse – sind sehr komplexeProzesse, in denen sich Arbeitsschritte zur Feh-lerdiagnose mit den Arbeitsschritten einer Re-paratur abwechseln. Der Instandhaltungspro-zess folgt einer nicht linearen, dynamischenund verzweigten Bearbeitungsstruktur. Der in-dividuelle Prozessverlauf ist abhängig vom Kon-text der Störung und steht nicht im Vorfeld fest.Im günstigsten Falle können nach kurzer Diag-nose fehlerhafte oder defekte Bauteile identifi-ziert und ausgetauscht werden. Da aber dieBauteile in Wirkungsbeziehungen zueinanderstehen, ist der Diagnoseaufwand oft erheblich,und der Prozessverlauf ergibt sich ad hoc. Die

Bewertung des zuletzt durchgeführten Arbeits-schrittes bestimmt hierbei den nächstenSchritt. Abbildung 1 zeigt im rechten Teil denAusschnitt eines solchen Diagnose- und Repa-raturprozesses. Die Gestaltung der Servicepro-zesse ist zudem abhängig von der Betrach-tungseinheit und differiert demnach beispiels-weise zwischen der aufwendigen, mehrereWochen dauernden Inbetriebnahme einer kom-plexen Druckmaschine und der wenige Stun-den dauernden Inbetriebnahme einer Hei-zungsanlage eines Einfamilienhauses.

3 Wertschöpfungspotenziale der Serviceprozesse im erweiterten Produktlebenszyklus

Die vom TKD auszuführenden Instandhal-tungsarbeiten sind ebenso komplex und infor-mationsintensiv wie die instand zu haltendenProdukte selbst. Zur Gewährleistung einer kor-rekten, qualitativ hochwertigen und dennochkostengünstigen Instandhaltungsleistung istes daher unabdingbar, dass den Servicetechni-

Abb. 1: Serviceprozessklassifikation

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kern stets umfangreiche und zugleich relevan-te Serviceinformationen zur Verfügung stehen[Thomas et al. 2007]. Serviceinformationensind Informationen über die richtige Reihen-folge und die korrekte Ausführung von Ar-beitsschritten im jeweiligen Serviceprozess.Allerdings lösen die derzeit von den Herstel-lern bereitgestellten Informationsmedien und-systeme die Informationsversorgung im TKDnur unzureichend. Um vor Ort beim Kundenauf Serviceinformationen zugreifen zu kön-nen, stehen bislang vorrangig Informations-medien in Form von papierbasierten Produkt-katalogen, elektronischen Ersatzteilkatalogenoder PDF-Dokumenten zur Verfügung. Einge-setzte Diagnosesoftware liefert zwar Informa-tionen über Anlagenzustände, ermöglicht je-doch keine exakte Unterstützung der durchzu-führenden Arbeitsschritte. Unter diesenVoraussetzungen sind fehlerhafte Arbeitenvorprogrammiert. Diese führen zu vermeidba-ren und bisweilen enormen Kosten, vermeid-baren Maschinenausfallzeiten und in letzterKonsequenz zu einem Imageschaden bei denHerstellern. Auch die Rückmeldung durchge-führter Maßnahmen und Arbeitsschritte anden Hersteller erfolgt derzeit nur rudimentärund wird hauptsächlich nur zur Rechnungser-stellung verwendet. So können das strategi-sche Potenzial der Informationen nicht ge-nutzt und Maßnahmen zur Produkt- oderDienstleistungsverbesserung nicht abgeleitetwerden, Wertschöpfungspotenziale und Wett-bewerbsvorteile werden nicht erkannt.

Der hohe Anteil des TKD an den produktbe-gleitenden Dienstleistungen und das hohe Wert-schöpfungspotenzial durch Verwendung inte-grierter IT-Systeme zur Unterstützung der Ar-beitsausführung des Kundendiensttechnikerslassen sich am erweiterten Produktlebenszyklusin Abbildung 2 verdeutlichen, wobei die Grafikvon Produkt zu Produkt variiert. Das erweiterteLebenszyklusmodell ist in Analogie zu den klassi-schen Produktlebenszyklen in drei Hauptphasenunterteilt. Diese werden als Produktentstehung,

Produktvermarktung und After-Sales-Phase be-zeichnet [Harms 1999, S. 41].

In der ersten Phase, der Produktentstehung,werden diejenigen Aktivitäten gebündelt, diezur Planung (Marktforschung, Konzeption, Ent-wurf, Erprobung, Fertigungsplanung), Realisie-rung (Beschaffung, Fertigung, Erprobung, Ver-packung, Lagerung, Anlieferung) und Qualitäts-sicherung eines Produktes erforderlich sind[Reinicke 2004, S. 10]. Die Phase der Produktrea-lisierung wird – mit Ausnahme der Anlaufphase– auch während der gesamten Phase der Pro-duktvermarktung und der After-Sales-Phase pa-rallel fortgeführt. Die weiterführende Ausdiffe-renzierung der Phase der Produktvermarktunggliedert sich in die in Abbildung 2 gekennzeich-neten Teilphasen. Mit der Auslieferung des ers-ten Produktes beginnt die der Produktvermark-tung nachfolgende After-Sales-Phase. Erweitertwird die Darstellung um die Kurve der Garantie-phase und den Aufwand zur Herstellung der Er-satzteile. Das Wertschöpfungspotenzial lässtsich aus der Gestaltung einer jeden einzelnenKurve ableiten. Werden durch eine adäquate In-formationsversorgung die Arbeiten in der In-standhaltung verbessert und damit beispiels-weise die Anzahl der fehlerhaften, nicht inRechnung zu stellenden Arbeiten reduziert, sosteigt der Ertrag und somit die Kurve entspre-chend an.

4 IT-Systeme zur Unterstützung effizienter Dienstleistungsprozesse im technischen Kundendienst

4.1 Einführung in die AnwendungssituationEin Beispiel dafür, wie die zuvor beschriebenenWertschöpfungspotenziale realisiert werdenkönnen, wurde im Verbundprojekt PIPE1 mitHerstellern von Sachgütern des Maschinen-und Anlagenbaus und Handwerksbetrieben imBereich der Sanitär-, Heizungs- und Klimatech-nik (SHK) entwickelt. Die Hersteller der SHK-Branche verkaufen ihre Produkte nicht direkt an

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den Endkunden, sondern zumeist über die ca.50.000 Fachbetriebe mit ihren 300.000 Mitar-beitern, die auch im Wesentlichen die produkt-begleitenden Dienstleistungen während derProduktvermarktungs- und After-Sales-Phaseerbringen [Mosen 1987]. Durch die Produktviel-falt und -komplexität ist langfristig abzusehen,dass derjenige Wettbewerber Marktanteile ge-winnen wird, der entlang der gesamten Wert-schöpfungskette vom Hersteller über die SHK-Betriebe bis zum Endkunden verbesserte Abläu-fe gewährleisten kann. Hier spielen SHK-Betrie-be als Vermittler zwischen Herstellern und

Kunden eine zentrale Rolle. Aus Sicht der SHK-Betriebe besteht ein Wettbewerb um die End-kunden, dem die Betriebe vor allem durchKundenbindung begegnen. Ein zentraler Aspektsind hierbei die Ausweitung und Verbesserungdes Serviceangebots. Dies gilt im Speziellen fürden technischen Kundendienst, der an derSchnittstelle zwischen Herstellern und Endkun-den eine Schlüsselrolle einnimmt. Die zu be-treuenden Instandhaltungsobjekte sind i.d.R.immobil und können nicht wie ein Auto in dieWerkstatt gebracht werden. Vor Ort beim Kun-den fehlt im Allgemeinen auch die IT-Infrastruk-tur, um erforderliche Reparaturinformationenabzurufen.

4.2 Unterstützung der Dienstleistungs-erbringung durch IT-Systeme

In Projekt PIPE wurde ein prozessorientiertes In-formationssystem zur mobilen Unterstützungdes TKD im Maschinen- und Anlagenbau entwi-

1. Das Akronym PIPE steht für »ProzessorientierteIntegration von Produktentwicklung und Service-dokumentation zur Unterstützung des techni-schen Kundendienstes«. Das Verbundprojektwurde vom BMBF im Rahmen des Konzepts »In-novation mit Dienstleistungen« gefördert (För-derkennzeichen: 01FD0623) und vom DeutschenZentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) betreut.

Ert

rag

Einführung EliminationWachstum

ReifeRückgang

Produktvermarktung

Produktentstehung

Planung Realisierung

Zeit

After-Sales-Service

Erweiterter Produktlebenszyklus

Ende Garantie / Gewährleistung

MaximalerErsatzteilbedarf

B - Aufwand für Realisierung (inkl.

Ersatzteilproduktion)

G - Ertrag aus Reparaturen und Instandsetzungen

E - Ertrag aus Montage

C - Ertrag aus Vermarktung

D - Aufwand fürGarantieleistungen

F - Ertrag aus Wartungenund Inspektionen

A -Aufwand

für Planung

Abb. 2: Erweiterter Produktlebenszyklus [Blinn et al. 2008, S. 715]

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ckelt. Damit wird es erstmals möglich, den TKDortsunabhängig mithilfe mobiler Endgeräte un-terschiedlicher Art, z.B. Smartphone, PDA oderLaptop, prozessorientiert und multimedial mitrelevantem Servicewissen zu versorgen und dieErgebnisse der Instandhaltungsarbeiten an denHersteller zurückzumelden. Der Lösungsansatzist interdisziplinär angelegt und berücksichtigtunterschiedliche organisatorische Rahmenbe-dingungen, wie sie beispielsweise aus der Be-trachtung abteilungs- bzw. unternehmens-übergreifender und kollaborativer Geschäfts-prozesse der unternehmerischen Wertschöp-fung vorgegeben werden. Auch unterschiedli-che Geschäftsmodelle und damit gekoppelteRollen und Leistungsumfänge werden im Ge-samtsystem berücksichtigt. Beispielsweise wirdüber das gewählte Geschäftsmodell die Intensi-tät der Zusammenarbeit zwischen Herstellerund SHK-Betrieb geregelt bzw. die Zugriffsbe-rechtigung auf Art und Detaillierungsgrad derauszutauschenden Informationen definiert.Diese Informationen werden in Zusammenar-beit mit dem Hersteller, spezialisierten Dienst-leistungsunternehmen und TKD-Anwendernentwickelt, bereitgestellt und kontinuierlichverbessert.

Ein wesentliches Teilziel im Projekt war es,eine höchstmögliche Wirtschaftlichkeit bei derErhebung und Modellierung der Serviceinfor-mationen und -prozesse zu erreichen. Hierzuwurde ein generisches Vorgehensmodell entwi-ckelt, das die zuvor identifizierten Merkmaleder klassifizierten Serviceprozesse berücksich-tigt. Im Rahmen der Implementierung wurdedas Vorgehensmodell in ein IT-basiertes Model-lierungswerkzeug überführt. Mithilfe teilauto-matisierter Verfahren wird dadurch das effizi-ente Anordnen verknüpfter Informationsobjek-te (z.B. Bilder, detaillierte Beschreibungen desArbeitsschrittes) zu komplexen Serviceinforma-tionsmodellen und Serviceprozessartefaktenmöglich, die dann zur Entwicklung komplexerServiceprozessmodelle verwendet werden. Diemodellierten Serviceinformationen werden in

einen Serviceportalserver überführt. Der Serversorgt gemeinsam mit einer Kommunikations-Middleware dafür, dass jedem anfragendenund zugangsberechtigten Client zu jeder Zeitperformant, komfortabel, sicher und kosten-günstig die angeforderten Serviceinformatio-nen zur Verfügung gestellt werden, und ermög-licht die differenzierte Speicherung der zurück-gemeldeten Servicedaten und des Feedbacksder Servicetechniker. Nur während der wenigeSekunden dauernden Datenübertragung – vomServer zu den mobilen Endgeräten und späterzurück – ist eine Verbindung zu den Mobilfunk-netzen (GPRS, EDGE, UMTS oder HSDPA) erfor-derlich. Die Serviceinformationen werden kom-plett auf das mobile Endgerät geladen und imOfflinemodus genutzt. So ist gewährleistet,dass die Anwendung auch in mobilfunkfreienZonen (z.B. Keller oder Maschinenhalle) funktio-niert. Eine intuitive Benutzerführung, die auchdie Erfahrung und den Kenntnisstand der Servi-cetechniker berücksichtigt, war eine wesentli-che Forderung der Anwendungspartner im Ver-bundprojekt.

Abbildung 3 zeigt ausschnittsweise am Ar-beitsschritt »NTC-Fühler Vorlauf mit Kabel Wi-derstand messen«, wie das in den Informati-onsobjekten und den Informationsmodellenmodellierte Servicewissen in einer adäquatenund für den Servicetechniker verständlichenForm auf dem mobilen Endgerät dargestelltwird. Die geforderte Orientierung an den indivi-duellen Informationsbedürfnissen der Service-techniker geschieht durch Anordnung der Infor-mationen auf getrennten Prozess- und Zusatz-informationsebenen. Auf der Prozessebenewird der durchzuführende Arbeitsschritt in ei-ner Kurzbeschreibung erläutert und anhand derAuswahl eines entsprechenden Ergebnisses derVerlauf des Serviceprozesses gesteuert. Reichendie Kenntnisse zur Umsetzung des Arbeits-schrittes nicht oder nur teilweise aus, stehenauf der Zusatzinformationsebene weitere Er-läuterungen zur Verfügung. Beispielsweise einedetaillierte Beschreibung des Messvorgangs,

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eine Widerstandstabelle oder Bilddokumentezum Verdeutlichen der Widerstandsmessungan Leiterplatte und am NTC-Fühler.

Die Ergebnisse der Arbeitsschritte und derdaraus resultierende Prozessverlauf werden au-tomatisiert dokumentiert und mit eventuellemFeedback der Servicetechniker (Feld »Bemer-kung«) an den Server der Lösung zurückgesen-det. Anschließend lassen sich die Servicedatengezielt auswerten.

5 PIPE als technologischer Wettbewerbsfaktor

Erzielbare Nutzeffekte von PIPE können qualita-tiv und quantitativ aus den Ansätzen zur Beur-teilung der Wirtschaftlichkeit von Investitionenin die Informationstechnologie abgeleitet wer-den [Mertens 2006]. Diese lassen sich gruppie-

ren nach (1) Kostensenkung (Personalkosten,Kommunikationskosten), (2) Zeiteinsparung(Durchlaufzeit, Informationssuche, Informati-onsübermittlung) und (3) Informationswerter-höhung (Verfügbarkeit aktueller Daten, Daten-analyse). Lösungen wie PIPE kann ein Return onInvestment (ROI) nur dann sinnvoll zugeordnetwerden, wenn durch ihren Einsatz auch die un-terstützten Geschäftsprozesse verbessert wer-den – die Informationsversorgung selbst bringtnoch keinen Nutzen.

Werden die identifizierten Nutzenaspekteauf die Prozesse in den jeweiligen Phasen deserweiterten Produktlebenszyklusmodells über-tragen, lassen sich die durch Anwendung derLösung generierbaren strategischen Wettbe-werbsvorteile herausarbeiten. So können in derProduktentstehungsphase Erkenntnisse hin-

Abb. 3: Informationsmodell und Darstellung auf dem mobilen Endgerät

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sichtlich möglicher Kundenanforderungen beider Planung neuer Produkte oder verbesserterProdukteigenschaften berücksichtigt werden.Kostenintensive Mängel werden sofort erkannt.Deren Ursache liegt häufig in der planerischenadministrativen Ebene und der Fertigung. Wirdbeispielsweise erkannt, dass der Grund für einehäufig auftretende Gerätestörung in einem voneinem Zulieferer produzierten Bauteil liegt,können entsprechende Fehlererfassungspro-zesse und Fehlerbehebungsprozesse angesto-ßen werden.

Aus den Auswertungen der Serviceprozess-daten können Maßnahmen abgeleitet werden,die sich auf die Vermarktungsphase auswirken.Wenn beispielsweise bekannt ist, welche Er-satzteile von welchem Kunden zu welchem Pro-dukt benötigt oder verwendet werden, lassensich daraus Informationen über den richtigenZeitpunkt möglicher Neuanschaffungen identi-fizieren oder neue Vermarktungs- und Dienst-leistungsmodelle entwickeln. Die Auswertungder Daten verbessert jede einzelne Kurve der Af-ter-Sales-Phase. Damit wird nicht nur das zu be-treuende Produkt verbessert, sondern auch dasServicewissen selbst wird weiterentwickelt. Sokönnen beispielsweise die modellierten Servi-ceinformationen und -prozesse einfach ange-passt werden, wenn erkannt wird, dass sich zurBearbeitung eines Fehlers eine bestimmte Ar-beitsschrittfolge als besonders erfolgreich be-währt hat. Sofort nach Änderung der Modellestehen die aktualisierten Daten jedem anfra-genden Servicetechniker zur Verfügung.

Trotz des hohen Aufwands, den die Herstel-ler zur Informationsversorgung der SHK-Fach-betriebe leisten, ist der »Leidensdruck« derartgroß, dass nach einer bundesweit durchgeführ-ten empirischen Erhebung in der SHK-Branche39 % der Befragten angaben, ganz sicher einderartiges IT-System nutzen zu wollen. Bei 42 %war es ziemlich wahrscheinlich [Walter 2009].Derzeit wird der nachgelagerte Einsatz dieserim Verbundprojekt entwickelten Lösung bei ei-

nem namhaften internationalen Unternehmendes Maschinen- und Anlagenbaus mit weltweitüber 12.000 Mitarbeitern und einem Jahresum-satz von mehr als 2 Mrd. Euro erprobt [Vaillant2009]. Ziel ist die Weiterentwicklung des Sys-tems zur Marktreife. PIPE ist damit ein Beispieldafür, wie sich aus einem Technologieeinsatzund einer mobilen InformationsversorgungWettbewerbsvorteile ergeben können.

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orientierte Integration von Produktentwick-lung und Servicedokumentation zur Unterstüt-zung des technischen Kundendienstes. In:Oberweis, A. et al. (Hrsg.): eOrganisation: Ser-vice-, Prozess-, Market-Engineering, 8. Internati-onale Tagung Wirtschaftsinformatik; Karlsru-he, 28. Februar - 2. März 2007; Band 1. Universi-tätsverlag, Karlsruhe, 2007, S. 403-420.

[Vaillant 2009] Vaillant Deutschland GmbH & Co.KG (Hrsg.): ISH 2009 – Internetbasierte Unter-stützung für technischen Kundendienst, Pipe:Individuelle Serviceinformation just in time;www.vaillant.de/Ueber-Vaillant/Presse/Fach-presse/Aktuelles/article/100309_Vaillant_zur_ISH_2009_-_Pipe.html.

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Dipl.-Wirt.-Inf. Nadine BlinnProf. Dr. Markus NüttgensUniversität HamburgFakultät Wirtschafts- und SozialwissenschaftenVon-Melle-Park 920146 Hamburg{nadine.blinn, markus.nuettgens}@wiso.uni-hamburg.dewww.wiso.uni-hamburg.de

Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH) Michael SchlickerINTERACTIVE Software Solutions GmbHHochstr. 6366115 Saarbrückenmichael.schlicker@interactive-software.dewww.interactive-software.de

Prof. Dr. Oliver ThomasUniversität OsnabrückFachgebiet Informationsmanagement und WirtschaftsinformatikKatharinenstraße 3 49074 Osnabrü[email protected]

Dipl.-Kfm. Dipl.-Inform. Thorsten DollmannInstitut für Wirtschaftsinformatik (IWi) im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche IntelligenzStuhlsatzenhausweg 366123 Saarbrü[email protected]