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Wochenzeitung der röm.-kath. Pfarreien des Kantons Bern, alter Kantonsteil Samstag, 17. Mai 2008 AZA 2500 Biel Postfach 624 17. Mai 2008 Das Ross am Kirchturm. Provokation? Kunst und Kirche Seit Ende April hängt am Turm der Kirche St. Michael ein Ross. Gemeindeleiter Hubert Kössler über Kirche, Kunst und Lügen. Zweite Seite „Unter uns“ Freiwillige unterstützen Ohne sie geht nichts. An der nächsten Synode sind einmal mehr auch die Freiwilligen Thema. Seite Region Männer Ist Religiöses „Frauensache“? Diakon Bernhard Waldmüller über Männer, Spiritualität und Vorbilder. Zweitletzte Seite „Brennpunkt“ Teil eines faszinierenden Kunstwegs. Das Ross am Kirchturm. Foto: jm 1:1

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Installation; Artpicnic, Kunstweg in Wabern bei Bern; Text: Bernhard Wiebel, Prof. Dr. Silvia Schroer; Teil der 20-teiligen Monofgrafie von Haus am Gern

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Nr. 21

Samstag, 17. Mai 2008

AZA2500 BielPostfach 624

17. Mai 2008

Das Ross am Kirchturm. Provokation?

Kunst und Kirche

Seit Ende April hängt am Turm der Kirche St. Michael ein Ross. Gemeindeleiter Hubert Kössler über Kirche, Kunst und Lügen. Zweite Seite „Unter uns“

Freiwillige unterstützen

Ohne sie geht nichts. An der nächsten Synode sind einmal mehr auch die Freiwilligen Thema.Seite Region

Männer

Ist Religiöses „Frauensache“? Diakon Bernhard Waldmüller über Männer, Spiritualität und Vorbilder. Zweitletzte Seite „Brennpunkt“

Teil eines faszinierenden Kunstwegs. Das Ross am Kirchturm. Foto: jm

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Am Kirchturm der römisch-katholi-schen Kirche St. Michael in Wabern hängt seit Ende April ein Ross. Hilflos ist das arme Tier am Turmkreuz 30 m uber dem Kirchenplatz an ge bun den und strampelt in die Wolken. Hu bert Köss-ler, Ge mein de lei ter der Pfar rei, uber Kunst, Kir-che, Lugen und ratlo se Jogger: «pfarrblatt»: Hubert Kössler, ein Pferd am Kirchturm, das ist doch ein starkes Stuck Irritation.Hubert Kössler: Letzt-hin hat ein Jogger an der Pfarrhaustur ge läu- tet und gefragt, ob ich wisse, was da an unse- rem Kirchturm hänge. Ich habe ihm die Ge-schichte von Munch-hau sen erzählt. Er hat gelacht und ge- sagt, das musse er morgen seiner Frau und den Kindern zeigen. Was in aller Welt haben denn die Lugengeschichten des Barons von Munchhausen mit Kirche zu tun?Als Erstes: Hintergrund ist eines sei-ner beruhmten Abenteuer. Erinnern Sie sich? Munchhausen ist uber ein schneebedecktes Feld geritten; hat sein Pferd an einem aus dem Schnee ragenden Stab festgebunden und sich schlafen gelegt. Am nächsten Morgen – als der Schnee wegge-schmolzen war – hat er das Ross erst

nach längerem Suchen entdeckt: Es hing wiehernd am Kirchturm. Als gu-ter Schutze schoss er das Halfter ent-zwei und ritt seines Weges. So der Baron. Als Zweites: Die Installation ist ein Teil des Kunstweges «artpic-

nic», der vom Eichholz auf den Gurten fuhrt und während der Euro 08 zu begehen ist. Wir sind dank dem Ross eine Station dieses We-ges.Wollen Sie also als Gemeindeleiter der Luge ein Denkmal set zen?Wenn der US-ameri-kanische Präsident Un- wahr heiten behauptet, um seinen Irak-Krieg fuh ren zu können, ist das eine Luge. Im Ge-

gensatz dazu funktionieren die Munch- hau sen-Geschichten dadurch, dass jeder, der sie hört, weiss: Das ist so nicht geschehen. Bevor der Baron seine Ge schichte erzählt, hat man sich gegenseitig uber dieses Setting verständigt. Es ist deshalb eigentlich keine Lugengeschich te, sondern ei ne Geschichte daruber, wie Phantasie die Grenzen der Realität uber win den kann. Die Phantasie will unterhalten, den Geist be flugeln, Grenzen uber-schrei ten. «Die ur sprungliche Funk tion des Geistes ist das Fabulieren» wie das der Schriftsteller Bruno Schulz einmal treffend geschrieben hat. Die

DER RATLOSE JOGGERInterview und Fotos:

Jurg MeienbergPfarrblatt,

Wochenzeitung der röm.– kath. Pfarreien des Kantons Bern, alter Kantonsteil,

17.5.2008

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Bibel kennt diese Tradition ubrigens auch. Die Bibel?Manchmal liegt das Eigentliche nicht unmittelbar vor Augen. Nehmen Sie die Geschichte des Sehers Bileam im Buch Numeri. Er erkennt den En-gel nicht, der ihm mit seinem Flam-menschwert den Weg versperrt. Sein Esel wohl. Theologisch gesehen geht es um Distanz und Kontrast. Diese die nen der Existenzbewältigung. Das Lachen ist eine subversive Kraft ge gen- uber allen politisch-gesellschaftlich-kirchlichen Engfuhrungen. Denken Sie an den Brauch des «risus pa schalis», des Osterlachens. Die Re lativierung der Wirklichkeit verbindet Humor und Glaube; beide befähigen dazu, in Dis- tanz zur Welt und doch in ihr zu leben.Dann hätten Sie ja einen Esel an den Kirchturm hängen können oder einen Engel. Das wären we­nigstens biblische Figuren gewe­sen.Vergessen Sie nicht: Das renommier-te Kunstlerpaar «Haus am Gern» trat von aussen mit der Idee an uns heran, wir haben den Kirchturm zur Verfu-gung gestellt. Ich finde: Dem Kirch-gemeinderat ist es hoch anzurech-nen, dass er sich auf ein Kunstprojekt einliess, das neben dem Witz auch Anregungen fur vertiefte Gespräche ermöglicht. Dieses Interview und der Jogger zeigen ja, dass es funktioniert. Dabei geht es auch um die Kommu-nikation mit der Moderne, mit Kultur und Welt, die unsere Kirche immer

geprägt hat, wie sie selber immer auch prägend in der Welt mitwirkt. Es gab allerdings auch Reaktio­nen, die meinten, das Ross ent­weihe die Kirche, weil sie zum blossen Kunstobjekt werde. Auf religiöse Gefuhle achten ist et-was ganz Wichtiges, ohne Zweifel. Aber das darf nicht zu einem Argu-ment werden, das alle Energie lähmt. Es gibt auch religiöse Werte, die ver-letzt worden wären, hätte man die Installation abgelehnt, etwa: Tole ranz, Humor, Dialog, Weltoffenheit, innere Freiheit. Das Kunstlerpaar und der zu-ständige Gemeinderat von Köniz zwei-felten zunächst an der Realisierbar-keit. Warum? Weil sie Kirche eher als ubervorsichtig und weltabgewandt in-terpretierten. Sie haben sie nun an-ders erlebt. Die Installation ermöglicht einen verbluf fenden Kontakt zu einer uralten Bewegung mit einer aktuel-len Botschaft. Immerhin mus sen alle himmelwärts schauen. Und erleben damit, als ein Beispiel, die Schöpfung und unsere Verantwortung dafur neu.Wie das?Wir werden kaum mehr so viel Schnee haben, dass Munchhausen je wieder sein Pferd an der Kirchturmspitze an-binden kann. Aktueller kann eine Mah-nung doch gar nicht sein. Meinen Sie nicht auch?Hubert Kössler, danke fur das Ge­ spräch.

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Im Rahmen der Frei luft aus­

stel lung Art pic nic in Wabern,

in der Ber ner Vor ort ge mein de

Köniz, hat Haus am Gern ei ne

le bens gros se Pfer de skulp tur

an die Turm spit ze der ka tho ­

li schen Kir che ge hängt. Das

Pferd hat Haus am Gern von

Korb flech ter Jan Rospek in Polen aus Weide

flech ten las sen – nach einem Stich von Gustav

Doré aus dem Jah re 1862. Der Stich illustriert die

Geschichte des Lugenbarons Munchhausen, wie

er durch das winterliche Po­

len nach St. Petersburg reitet.

Mu de ge wor den bindet er

sein Pferd an einen Pfahl im

Schnee und legt sich schla­

fen. Am näch s ten Mor gen er­

wacht Munch hau sen auf ei­

nem Fried hof lie gend, der

Schnee ist in der Nacht ge schmol zen, und sein

Pferd hängt mit dem Half ter an der Kirchturm­

spitze. Das Pferd am Turm löste hef tige Re ak­

tio nen bei Kirchgemeinde und Bevölkerung aus.

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 1 Meister der Flechtkunst: Jan Rospek und Sohn, Odolanów, PolenAbb. 2 Verlad auf den Anhänger von Zbyszek Marszałek.Abb. 3 Im Pferdeanhänger von Ruedi Häberli.Abb. 4 Ankunft in Wabern.Abb. 5 Montage am Kirchturm.

1 : 12008,

Installation;aus Weide geflochtenes

Pferd, Zurrgurte;Artpicnic, Kunstweg in

Wabern bei Bern

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Abb. 5

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Gustave Doré, Pferd am Kirchturm, Holzstich, 1862

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Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Pohlen, Kur- und Liefland, welche, nach der Beschreibung aller Reisenden, fast noch elen-der sind als die Wege nach dem Tempel der Tugend, endlich, ohne besondere Kosten hochpreislicher, wohlfursorgender Landes-Regierungen, ausbessern mußte. Ich reisete zu Pferde, welches, wenn es sonst nur gut um Gaul und Reiter steht, die bequemste Art zu reisen ist. Denn man riskiert alsdann weder mit irgendeinem höflichen deutschen Post-meister eine Affaire d‘honneur zu bekommen, noch von seinem durstigen Postillion vor jede Schenke geschleppt zu werden. Ich war nur leicht bekleidet, welches ich ziemlich ubel empfand, je weiter ich gegen Nordost hin kam.Nun kann man sich einbilden, wie bey so stren-gem Wetter, unter dem rauhesten Himmels-striche, einem armen, alten Manne zu Muthe seyn mußte, der in Pohlen auf einem öden Anger, uber den der Nordost hinschnitt, hilflos und schaudernd da lag, und kaum hatte, womit er seine Schaamblöße bedecken konnte.Der arme Teufel dauerte mich von ganzer See-le. Ob mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel uber ihn her. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Himmel, die die-ses Liebeswerk ganz ausneh-mend herausstrich, und mir zurief: Hohl mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!Ich ließ das gut sein und ritt weiter, bis Nacht und Dunkel-

heit mich uberfielen. Nirgends war ein Dorf zu hören, noch zu sehen. Das ganze Land lag un ter Schnee; und ich wußte weder Weg noch Steg.Des Reitens mude, stieg ich endlich ab, und band mein Pferd an eine Art von spitzem Baumstaken, der uber dem Schnee hervor-ragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder, und that ein so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wie-der aufgingen, als bis es heller lichter Tag war. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorfe auf dem Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nir-gends zu sehen; doch hörte ichs bald darauf irgend wo uber mir wiehern. Als ich nun empor sah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wet-terhahn des Kirchthurms gebunden war, und von da herunter hing. Nun wußte ich sogleich wie ich dran war. Das Dorf war nähmlich die Nacht uber ganz zugeschneyet gewesen; das Wetter hatte sich auf einmahl umgesetzt; ich war im Schlafe nach und nach, so wie der Schnee zusammen geschmolzen war, ganz sanft herabgesunken; und was ich in der Dun-kelheit fur den Stummel eines Bäumchens, der uber dem Schnee hervorragte, gehalten, und daran mein Pferd gebunden hatte, das

war das Kreuz oder der Wet-terhahn des Kirchthurmes gewesen.Ohne mich nun lange zu be-denken, nahm ich eine von meinen Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glucklich auf die Art wieder an mein Pferd, und verfolgte meine Reise.

Anonym [Gottfried August Bürger]. Wunderbare Reisen zu Wasser und Lan­de, Feld züge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen, wie er die­selben bey der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt. – Aus dem Englischen nach der neuesten Aus­gabe übersetzt, hier und da erweitert und mit noch mehr Kupfern gezieret. Zweyte vermehrte Ausgabe. London [d.i. Göttingen] 1786. – S. 13 –16

DES FREYHERRN VON MÜNCHHAUSEN EIGENE ERZÄHLUNG.

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AUCH ABSTRUSE SZENEN KÖNNEN ZUM NACHDENKEN BRINGEN Das Pferd hat am Kirchturm nichts verloren, ob tot oder lebendig. Die Kirchturmspitze gehört dem Hahn, der Generationen von Christen und Christinnen zur Wachsamkeit mahnte und daran erinnerte, dass der Hahnenschrei den Verrat des Petrus begleitete. Wenn Münch­hausen mit seinen irren Angebergeschichten nicht wäre, käme also niemand auf die Idee, einen Pferdekadaver an einem Kirchturm aufzuhängen. Das Pferd ist nämlich – im Ge­gensatz zum Hahn – in der christlichen Tradition nicht recht verankert. Ausser dem heiligen Martin, der als Soldat vom Pferd herab dem Bettler die Hälfte seines Mantels gab und bis heute am Martinsumzug zu Pferde einherzieht, hat keiner von den grossen Heiligen der Kirche sich das Pferd als Begleiter ausgewählt.Wie kommt es, dass die stattlichen Tiere nicht recht ins Christentum zu passen scheinen? Die Antwort finden wir in den Schriften des Alten Testaments, die auf Schritt und Tritt bezeugen, wie ambivalent das Ansehen der Pferde im alten Israel war. Das Pferd war kulturgeschichtlich ein Neuling, der das viel ältere Haustier, den Esel, nie zu ersetzen vermochte. Der genügsame Esel trug schwere Lasten, und in Palästina ist man mit Stolz auch auf ihm geritten. Man achtete seine Arbeitsleistung und hielt ihn für ziemlich gescheit, ja beinahe hellsichtig, wie die Erzählung von Bileams störrischer Eselin beweist, die dem Propheten das Leben rettet, weil sie den gefährlichen Engel auf dem Weg stehen sieht (Buch Numeri 22). Das Pferd hingegen war ein teurer Kostgänger, den sich praktisch nur der Königshof leisten konnte. Geritten wurden Pferde damals noch selten und ohne Sat­tel, viel öfter kamen sie als Zugtiere vor Streitwagen zum Einsatz. Weil das kleine Israel schlechte Erfahrungen mit den hochgerüsteten Armeen der imperialen Nachbarn, der Ägypter, Assyrer, Babylonier, machte, geriet das Pferd, der Tank der Antike, bei ihnen in schlechtes Licht. Der ungestüme Charakter und Todesmut der Tiere, die sich in das Kampfgetümmel stürzen statt zu fliehen, weckte Faszination und zugleich Abneigung, ebenso der Prunk, der mit Pferden getrieben wurde. Die Tiere wurden nicht nur gepanzert, sondern oft auch als Statussymbole herausgeputzt. Das Ross stand symbolisch für das Militär und den Glauben an die Rüstungskräfte – und wird in den Psalmen und anderen Texten sogar manchmal direkt dem Gott Israels und dem wahren Glauben gegenüber gestellt: «Durch Wagen sind jene, durch Rosse stark, wir durch den Namen JHWHs, unseres Gottes.» (Psalm 20,8).Auf diesem Hintergrund versteht es sich beinahe von selbst, warum die Evangelisten in Anlehnung an eine Prophezeiung von Sacharja (9,9f ) Jesus auf einem Esel und nicht auf einem Pferd als König und Friedensfürst in Jerusalem einziehen lassen. Die apokalyptischen Reiter im Buch der Offenbarung bewahren auf der anderen Seite das abschreckende und bedrohliche Image, das dem Pferd anhaftete.Das Pferd ist, obwohl es in unseren Breiten ebenso wie der Esel in Palästina lange Zeit als Arbeitstier eingesetzt wurde und man die Leistung von Automobilen bis heute in Pferde­stärken bemisst, zurzeit vor allem ein Luxustier, und ein Pferd, das sich an einem Kirchturm den Hals bricht, wird so, weitab von Münchhausens dummen Geschichten, zu einer Er­innerung an die biblischen Vorzeichen. Prof. Dr. Silvia Schroer

Prof. Dr. Silvia Schroer, Professorin fur Altes Testament und Biblische Umwelt an der Theologischen Fakultät BernBuchhinweis: Silvia Schroer, Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Herder Verlag 2010

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englischen Parlament machte. Das ergab das erste Buch unter dem Namen des Freiherrn von Münch­hausen. Auto ren und Verleger haben die Geschichten immer wieder ergänzt, erneuert, gekürzt, bear bei tet oder übersetzt. Heute kennt man ihn in min destens 65 Sprachen. Zurück zum Pferd am Kirch turm und zum Spiel mit den zwei Existenzweisen von Baron Münchhau sen bzw. zum Oszillieren zwischen Tatsache und Fik­

tion. In Wabern war etwas nicht zu sehen, was in den Buch illus trationen fast im­mer vor kommt: Die Haupt­per son fehlte – mit Absicht und mit Recht. Sonst aber steht Münchhausen unten vor dem Turm und zielt auf das Halfter. Er richtet seine Waff e gegen die Kirche, ge­gen den Turm, wohlgemerkt vom Friedhof aus. Wenn das keine Blasphemie ist!

Die Bildformel dieser Situation ist so bekannt und erscheint heute so «normal», dass die Irritation, die von ihr ausgehen müsste, ausbleibt. Wenn man jedoch als Passant in Wabern das Pferd sieht, und wenn man das Abenteuer kennt, stellt sich Irrita­tion ein. Der Betrachter wirkt physisch unmittel­bar mit. Er schlüpft ungewollt und zwingend in die Rolle des Münchhausen, der verwundert sein Pferd in der Höhe entdeckt.Deutlicher als der Text zeigt das erste Bild, das übri­gens von Raspes Hand stammt, dass Münchhausens Schuss eine gewisse Brisanz hat. Während Münch­hausen im Text «nach dem Halfter» und damit nur implizit gegen den Kirchturm schiesst, und das von einer Stelle aus, die man als Leser nicht mehr unbedingt mit dem Friedhof in Verbindung bringt, steht Münchhausen auf dem Kupferstich zwischen den Grabsteinen; er hat soeben auf das Halfter an der Turmspitze geschossen, die Pistole raucht noch; die zweite zielt wie zufällig gegen den Eingang der Kirche. Um die Tragweite dieses Frevels zu ermes­sen, muss man sich die gesellschaftliche Position der Kirche am Ende des 18. Jahrhunderts, vier Jah­re vor der Französischen Revolution, vor Augen halten. Der regelmässige Kirchgang war eine Selbst­verständlichkeit. Die Bevölkerung praktizierte die Religion ihrer Konfession nach den Regeln ihrer Kirche. Es war undenkbar, dass auf dem Fried(sic!)hof geschos sen wurde.

An einem Kirchturm hängt ein zappelndes Pferd. Die Installation spielt auf eines der bekanntesten Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen an. Schätzungsweise 400 verschiedene Buchillustratio­nen sind dazu in 220 Jahren entstanden. Die erste ist 1786 in England erschienen (vgl. Abb. letzte Seite); sie wirkt noch heute konzeptionell für die künstlerische Gestaltung der Szene nach, auch für das Pferd aus Weidenruten am Kirchturm in Wabern. Fraglich ist aber, ob die Va riante von Wa­bern auch eine Il lus tra tion ist. In ein Buch jedenfalls passt sie nicht. Die Be deu­tung dieses Aben teuers und des Er eignisses in Wabern kann man ermes sen, wenn man sich die Be son derheit der Münch hau sen’ schen Geschichten und de ren Ge­ schic h te vergegenwärtigt.Einzigartig ist der Sachver­halt, dass es sowohl eine literarische Figur namens Münchhausen gibt, als auch eine historische Persönlichkeit gleichen Na­mens, die mit der literarischen Figur auch tatsäch­lich gemeint war. Das verhält sich folgendermassen: Der in England le ben de deutsche Gelehrte Rudolf Erich Raspe (1736 – 1794) machte im Herbst 1785 durch die Publikation eines Buches aus seinem Zeitgenossen Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720 – 1797) die literarische Figur des Icherzählers Baron von Münchhausen, der seinerseits Geschichten erzählt, die teilweise Be­zug zur Biographie der historischen Person haben. So war der historische Münch hausen berühmt für sein Fabuliertalent. Ein literarisches Ich erzählt von unmöglichen oder unwahrscheinlichen Abenteu­ern als selbst erlebten, der Icherzähler entspricht einer bekannten zeitgenössischen Persönlichkeit; dass die beiden in gewisser Hinsicht identisch, in anderer Hinsicht aber nicht gleich sind, ist uns meistens nicht bewusst, die wir den Münchhausen wohl am ehesten aus Kinderbüchern kennen.Ein Kinderbuch war der Münchhausen ursprüng­lich nicht, wobei es auch keinen anderen «eigent­lichen» Ursprung des Buches gibt. Die Stoffe der einzelnen Erzählungen sind vielfältigster Herkunft, stammen aus der Antike, der frühen Neuzeit und der Literatur des 18. Jahrhunderts, wurden teils münd lich, teils schriftlich tradiert, bis Raspe dar­aus eine politische Satire auf die Vielschwätzer im

DAS PFERD AM

KIRCHTURMBernhard Wiebel

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Die These der blasphemischen Bedeutung des Tex­tes wie auch der Illustration mag etwas gewagt erscheinen. Doch überprüft man das Buch, in wel­chem die erste Illustration publiziert wurde, stellt man fest, dass es einige Passagen gibt, die antikirch­lichen oder gar gotteslästerlichen Charakter haben. Ganz eindeutig sind die Kopfstücke des Bu ches, nämlich das erste und das letzte Kapitel in diesem Sinne zu verstehen. Als Abschluss des ersten Aben­teuers lässt der Autor den lieben Gott aus dem Himmel herab fluchen: «Hol’ mich der Teufel …»; und das letzte Kapitel erzählt von dem Liebes­abenteuer eines Papstes. Über die Skepsis des Autors und Zeichners Raspe gegenüber der Kir­che, insbesondere die Verbindung von weltlicher Macht und kirchlichem Amt besteht kein Zweifel. Liest man die Erzählung unvoreingenommen, vermittelt sie den Eindruck eines lustigen Gags oder absurden Witzes. Stellt man sich aber den Kontext von Autor und Buch vor, eröffnet sich ein weitergehendes Verständnis dieser Szene, nämlich als eine Formel zur Darstellung einer dezidiert aufklärerischen Haltung.Raspe ist in mancher Hinsicht der Aufklärung zuzuordnen. Vehement wettert er in Publikationen und Briefen gegen das Gottesgnadentum der eu­ropäischen wie der asiatischen Monarchen und wendet sich in seinen geologischen Schriften da­gegen, die Bibel weiterhin als Quelle für die Er­klärung der Erdgeschichte anzuerkennen. Im Wis sen um diese Haltung des Autors und Künst­lers und um die politische Dimension des Münch­hausen sei nun eine etwas kühne Lesart der Ge­schichte vorgeschlagen.Man könnte den Verlauf vom Anbinden des Pfer­des bis zu seiner Loslösung als eine einzige Me­tapher auffassen, welche die Unausweichlichkeit der gewaltsamen Befreiung aus den Fesseln der bevormundenden Kirche illustriert: Der Orientie­rung an einer Instanz sowie der Ruhe und des Schutzes bedürftig begeben sich Ross und Reiter unwissentlich in die Obhut der Kirche, indem Münch hausen sein Pferd an dem rettenden «Ste­cken» fixiert – im blinden Vertrauen – notabene auf die Kirche. Der verdunkelnde und verdecken­de Schnee schmilzt schnell an der aufgehenden Son ne, so dass sich schon am frühen Morgen die Aufklärung, das Enlightenment, durchsetzt. Das blinde Vertrauen auf den «Stecken» hat allerdings zur Folge, dass die Einheit von Reiter und Pferd auseinandergerissen wurde. Münchhausen kommt

nur zu seinem Pferd, indem er die blasphemische Handlung vollzieht, auf den Kirchturm zu schies­sen. – Wie steht es nun mit dem Pferd von Wabern? Die Buchillustration ist ein konservatives künst­lerisches Ausdrucksmittel: Die Bindung der Illus­tratoren an den Text führt zu den oft über grosse Zeiträume hinweg ähnlichen Bildern. Das beginnt bei der Auswahl der illustrablen Szenen aus den beschriebenen Ereignissen und endet mit der An­sicht, die Illustration habe als ein Fachgebiet der bildenden Kunst eine dienende, eine subalterne Funktion gegenüber der Sprachkunst. Von 1786 an herrscht fast 80 Jahre lang die Bildkonzeption von Raspe; da klammert sich auf allen Bildern zu dieser Szene das Pferd anthropomorph an den Turmhelm. 1862 erfolgt ein konzeptioneller Schnitt: Gustav Doré kehrt das Tier um, lässt es am Rücken auf dem Turmhelm liegen und mit den Beinen ins Leere zappeln. Das ist kein Heldenross, sondern die geschundene Kreatur. Und Dorés Holzstich war das Vorbild für die Variante von Wabern. Wenn also in Wabern das geplagte Tier gemeint war, ist es keine Blasphemie, den Kirchturm mit dem Modell zu schmücken; vielmehr knüpft solch ein Verständnis an das caritative Selbstverständnis der Kirche an. Auch wenn mit der Skulptur aus Weidengeflecht das Pferd Münchhausens gemeint war, hat das nichts Gotteslästerliches. Denn was wäre an ihm böse? Wenn es, wie oben vermutet, so ist, dass der staunende Passant notwendig den fehlenden Münchhausen ersetzt, dann müsste er schiessen – allerdings nur, wenn man das Werk von Haus am Gern als Illustration aufassen würde. Wenn die Passanten tatsächlich Münchhausens wären und schössen, wäre es eine Performance. Die Installation bildet nicht ab, und sie tut nichts. Sie ist reine Irri tation.

Bernhard Wiebel (*1950) lic.phil.I, lebt als freischaffen der

Kunsthistoriker in Zurich. Ausbildung als Res tau ra tor fur

Skulp tur und Malerei am Schweizerischen Landes museum

Zurich. Studium der Kunst geschichte, Publizistik und Phi-

losophie an der Uni versität Zurich. Ausstellungen und Pu-

b likationen zur Schweizer Kunst des 19. und 20. Jahr hun-

derts (1976 –1980). Organisationsberatung als Partner ei nes

Beratungsunternehmens (1983 –2002). Seit 1993 Aufbau

der Munchhausenbibliothek Zurich, Forschung zum Phäno-

men Munchhausen, Vorträge, Aus stellungen, Publikationen.

www.munchausen.org

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Credits: Veranstalter G

emeinde K

öniz / Kurator Beat G

ugger / Ort K

irche St. Michael, R

öm.­ kath. Pfarrei W

abern / O

rganisation + Support Ueli Studer, M

artha Häberli, Vreni Jost, Pierre Pestalozzi, H

ubert Kössler, H

einrich Röthlin /

Pferdeskulptur Jan Rospek, K

epsor, Odolanów

(PL) / Produktionsmanagem

ent PL Rafał R

ózga (PL) /Transport Z

byszek Marszałek, R

uedi Häberli, R

ené Steiner / Montage m

altech.ch AG

, Bern

Rudolf Erich Raspe, Pferd am Kirchturm, Kupferstich, 1786