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492 Innovative Produktionsplanung Titelthema ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 101 (1999) 7/8 1 Allgemeines Die virtuelle Produktentwicklung eröffnet eine neue Dimension des Konstruierens und des CAE-Einsatzes. Ziel ist es, die Her- stellung und Montage eines Produktes be- reits vor der materiellen Realisierung mit hoher Genauigkeit zu simulieren. Neben der geeigneten Software sind Simulations- ansätze notwendig, die ein reales Verhal- ten abbilden. Zum natürlichen Verhalten technischer Sy- steme gehören insbesondere die Zufällig- keiten der Fertigung, die eine Montage be- hindern oder begünstigen können. Gerade bei komplexen Kfz-Subsystemen spielen Maß-, Form- und Lagetoleranzen eine maß- gebliche Rolle für die Funktionalität. Nur die Fertigungsgenauigkeit zu steigern, wäre jedoch die falsche Konsequenz, weil dies die Fertigung und Überwachung sehr verteuern würde. Ein pragmatischer Weg ist es, alle bei einer Fertigung entstehenden Toleranzen als Zufallsgrößen aufzufassen und diese mit den zutreffenden Verteilun- gen zu simulieren. Dieser Ansatz ist als sta- tistisches Toleranzmodell [2-4] bekannt, das für die Belange des Automobilbaus um die Form- und Lagetoleranzen erweitert werden soll. Für eine Serienfertigung lassen sich die Ma- schinen- und Prozessfähigkeit durch eine Toleranzoptimierung gezielt verbessern, und damit auch die Herstellkosten senken. Die Serienfertigung und Montage von Bauteilen erfordert es, statistische Einflüsse zu berücksichtigen. Bei Maß-, Geometrie- und Oberflächentoleranzen stellen sich Verteilungsgesetzmäßig- keiten ein, anhand derer eine Montagesimulation erst aussage- fähig wird. Eine geeignete Methode ist die statistische Tolerie- rung, mit der sich reale Fertigungssituationen und deren Auswir- kungen durch DMU (Digital Mock-Up) simulieren lassen. Wesent- liche Grundlagen dieses Ansatzes wurden an der Universität Kas- sel entwickelt und bei einem Kreis von Zulieferanten erprobt. Das Verfahren ermöglicht es, bereits vor der realen Fertigung wirt- schaftliche Fertigungstoleranzen sicherzustellen. Montagesimulation in der virtuellen Produktentwicklung 2 Simulation der Fügeverhältnisse Die Rechnersimulation mit CAE ermöglicht es schon im Entwurfsstadium, abgesicherte Aussagen über die Herstellbarkeit eines Produktes zu treffen. Nachfolgend ist dar- gestellt, wie sich Fertigung und Montage über Maß- und Geometrietoleranzen ver- knüpfen lassen. Dies erfordert eine Abkehr von der arithmetischen Toleranzrechnung und der sogenannten Mini-Max-Betrach- tung, die von der einfachen additiven (oder subtraktiven) Zusammenfassung von Höchst- und Mindestmaßen ausgeht. Bei klassischen Serienfertigungen herr- schen andere Verhältnisse. Man ist bemüht, alle Maße auf Mitte eines Tole- ranzfeldes (μ) zu fertigen, kann aber Streu- ungen aufgrund von Zufälligkeiten nicht verhindern. Ursache sind gewöhnlich Ma- schinen-, Vorrichtungs- und Werkzeugver- schleiß, Bild 1. Dargestellt ist eine Rechteckverteilung, die dem arithmetischen Prinzip entspricht und gleiche Auftrittswahrscheinlichkeit der Ist- maße im Toleranzfeld unterstellt. Tatsäch- lich tritt aber eine Gaußsche Normalvertei- lung auf, die sich über ein viel schmaleres Von Bernd Klein Bild 1: Gegenüber- stellung der Maß- verteilungen über den Toleranzfel- dern (RV) und dem statistischen Prin- zip (NV) Fig. 1: Comparison of measurement distributions over the tolerance inter- val (RV) and the statistical principle (NV)

Montagesimulation in der virtuellen Produktentwicklung

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Innovative Produktionsplanung

Titelthema

ATZ Automobiltechnische Zeitschrift 101 (1999) 7/8

1 Allgemeines

Die virtuelle Produktentwicklung eröffneteine neue Dimension des Konstruierensund des CAE-Einsatzes. Ziel ist es, die Her-stellung und Montage eines Produktes be-reits vor der materiellen Realisierung mithoher Genauigkeit zu simulieren. Nebender geeigneten Software sind Simulations-ansätze notwendig, die ein reales Verhal-ten abbilden.

Zum natürlichen Verhalten technischer Sy-steme gehören insbesondere die Zufällig-keiten der Fertigung, die eine Montage be-hindern oder begünstigen können. Geradebei komplexen Kfz-Subsystemen spielenMaß-, Form- und Lagetoleranzen eine maß-gebliche Rolle für die Funktionalität. Nurdie Fertigungsgenauigkeit zu steigern,wäre jedoch die falsche Konsequenz, weildies die Fertigung und Überwachung sehrverteuern würde. Ein pragmatischer Wegist es, alle bei einer Fertigung entstehendenToleranzen als Zufallsgrößen aufzufassenund diese mit den zutreffenden Verteilun-gen zu simulieren. Dieser Ansatz ist als sta-tistisches Toleranzmodell [2-4] bekannt,das für die Belange des Automobilbaus umdie Form- und Lagetoleranzen erweitertwerden soll.

Für eine Serienfertigung lassen sich die Ma-schinen- und Prozessfähigkeit durch eineToleranzoptimierung gezielt verbessern,und damit auch die Herstellkosten senken.

Die Serienfertigung und Montage von Bauteilen erfordert es, statistische Einflüsse zu berücksichtigen. Bei Maß-, Geometrie-und Oberflächentoleranzen stellen sich Verteilungsgesetzmäßig-keiten ein, anhand derer eine Montagesimulation erst aussage-fähig wird. Eine geeignete Methode ist die statistische Tolerie-rung, mit der sich reale Fertigungssituationen und deren Auswir-kungen durch DMU (Digital Mock-Up) simulieren lassen. Wesent-liche Grundlagen dieses Ansatzes wurden an der Universität Kas-sel entwickelt und bei einem Kreis von Zulieferanten erprobt. DasVerfahren ermöglicht es, bereits vor der realen Fertigung wirt-schaftliche Fertigungstoleranzen sicherzustellen.

Montagesimulation in dervirtuellen Produktentwicklung

2 Simulation der Fügeverhältnisse

Die Rechnersimulation mit CAE ermöglichtes schon im Entwurfsstadium, abgesicherteAussagen über die Herstellbarkeit einesProduktes zu treffen. Nachfolgend ist dar-gestellt, wie sich Fertigung und Montageüber Maß- und Geometrietoleranzen ver-knüpfen lassen. Dies erfordert eine Abkehrvon der arithmetischen Toleranzrechnungund der sogenannten Mini-Max-Betrach-tung, die von der einfachen additiven (odersubtraktiven) Zusammenfassung vonHöchst- und Mindestmaßen ausgeht.

Bei klassischen Serienfertigungen herr-schen andere Verhältnisse. Man istbemüht, alle Maße auf Mitte eines Tole-ranzfeldes (μ) zu fertigen, kann aber Streu-ungen aufgrund von Zufälligkeiten nichtverhindern. Ursache sind gewöhnlich Ma-schinen-, Vorrichtungs- und Werkzeugver-schleiß, Bild 1.

Dargestellt ist eine Rechteckverteilung, diedem arithmetischen Prinzip entspricht undgleiche Auftrittswahrscheinlichkeit der Ist-maße im Toleranzfeld unterstellt. Tatsäch-lich tritt aber eine Gaußsche Normalvertei-lung auf, die sich über ein viel schmaleres

Von Bernd Klein

Bild 1: Gegenüber-stellung der Maß-verteilungen überden Toleranzfel-dern (RV) und demstatistischen Prin-zip (NV)Fig. 1: Comparisonof measurementdistributions overthe tolerance inter-val (RV) and thestatistical principle(NV)

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Toleranzfeld erstreckt. Dies zeigt, dass dieVorstellungswelt der Konstrukteure bezüg-lich der Ausnutzung von Toleranzfeldernkorrigiert werden muss.

3 Form- und Lagetoleranzen

Neben Maßabweichungen treten in derFertigung auch Form- und Lageabweichun-gen auf. Eine Formabweichung charakteri-siert die Abweichungen einer Istform voneiner idealen Sollform, während eine Lage-abweichung die Abweichungen einer Ist-lage von einer Sollage charakterisiert.

Zur Verteilung dieser Merkmale gibt es ver-schiedene Aussagen, die aus unterschiedli-chen Messreihen abgeleitet sind. Innerhalbvon Großserienfertigungen unterliegenMaßabweichungen gewöhnlich einer Nor-malverteilung. Geometrieabweichungenkönnen dagegen sowohl durch eine loga-rithmische Normalverteilung als auch Be-tragsnormalverteilung [5] beschriebenwerden. Eine Zusammenstellung vonMerkmalen und deren Verteilungen zeigtBild 2. Es ist weitgehend bekannt, dassForm- und Lagetoleranzen nur schwer zubeherrschen sind, da ihre Ursache nicht inEinstellfehlern, sondern in Prozesseffekten(Eigenspannungen, Einspannungen, Werk-zeughalterung, Zerspankräfte, Schnittge-schwindigkeit, Maschinenschwingungeno. ä.) liegen. Häufig fallen daher Geometrie-abweichungen an, wie bei der Herstellungeiner Kolben-Zylinder-Paarung, bei der esfür den Druckaufbau besonders auf einkleines Spiel ankommt, Bild 3.

Da bei Montageproblemen also nicht nurMaßabweichungen, sondern auch Geome-trieabweichungen bestimmend sind, musseine Simulation beide Effekte mit ihremstatistischen Verhalten berücksichtigen.Dazu müssen Zufallskombinationen nach-gebildet werden, die erfahrungsgemäß Ex-tremwerte weniger häufig gewichten alsdas Zusammentreffen von Mittelwerten.Dies lässt sich über die Eingrenzung vonVertrauensbereichen bei den Einzelvertei-lungen und bei der Gesamtverteilung lö-sen.

4 Verteilungsgesetzmäßigkeiten

Die in Fertigungsprozessen auftretendenVerteilungen können durch mathemati-sche Modelle mit hoher Genauigkeit nach-gebildet werden. In der Statistik stehendazu Reckteck-, Dreieck-, Trapez- und Nor-mal-Verteilungen zur Verfügung, die bei

bestimmten Fertigungsgegebenheiten [6]auftreten. Bei realen Montagen könnenauch Situationen vorliegen, in denen Bau-teile mit unterschiedlicher Verteilung auf-einander treffen; auch dies lässt sich nach-bilden.

Kontinuierlich anfallende Maßgrößen sindin der Regel normalverteilt, wenn keinesystematischen Einflüsse wirken. Ein häu-figer Effekt ist ein wandernder Mittelwertinfolge von Werkzeugverschleiß oder ande-rer Abnutzung von Herstellmitteln. Auchdies lässt sich simulieren, indem der Ab-weichungsbereich durch eine Rechteck-oder Trapezverteilung umfasst wird, umauch dieses Verhalten weitgehend reali-stisch abzubilden.

Bei den üblichen linearen Maßketten müs-sen die auftretenden Einzelverteilungenmiteinander gefaltet werden, woraus sichdie Ergebnisverteilung als Mehrfachinte-gral [7] ergibt. Der Verlauf der Ergebnisver-

teilung wird vom zentralen Grenzwertsatzfestgelegt. Dieser sagt aus, dass die Ergeb-nisverteilung eine Normalverteilung ist,wenn nur Normalverteilungen gefaltetwerden, oder sich die Ergebnisverteilungeiner Normalverteilung nähert, wenn vieroder mehr ungleiche Verteilungen mitein-ander gefaltet werden. Die Mittelwerte al-ler Verteilungen addieren sich in diesenFällen zum Gesamtmittelwert

(1)

Anders verhält es sich mit der Ergebnisvari-anz, für diese gilt das Gaußsche Abwei-chungsfortpflanzungsgesetz in der linea-ren Formulierung

(2)

Übertragen auf die Tolerierungsproblema-tik (s. auch [8]) sagt dieses Gesetz aus, dasssich in Maßketten nicht die Toleranzfelder,

Bild 2: Beschreiben-de Verteilungen fürMaß- und Geome-triemerkmaleFig. 2: Descriptive dis-tributions for dimen-sional and geometri-cal characteristics

μ μges ii 1

n

.==∑

σ σges2

i2

i 1

n

.==∑

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sondern die Varianzen aller Verteilungenaddieren.

5 Ermittlung von Verteilungen

Um realitätsnahe Simulationen von Mon-tagen durchführen zu können, sollten In-formationen über die Verteilungsformenvon Fertigungsvorgängen [9] vorliegen.Meistens kann man die Verteilung einesMerkmals aus einer SPC-Überwachung ge-winnen. Hiermit wird eine beherrschte Fer-tigung überwacht, und zwar durch eineMerkmalauswertung an Stichproben. AlsErgebnis erhält man ein Histogramm, dassich über einen gewissen Streubereich er-streckt und das geglättet eine Verteilungdarstellt. Maschinenfähigkeit (cpk) verlangt,dass vorgegebene Grenzwerte der Vertei-lung innerhalb des Toleranzbereiches desMerkmals liegen. Quantifiziert wird diesbeispielsweise durch die Forderung cpk ≥ 1,0.Diese drückt aus, dass mit statistischerWahrscheinlichkeit mindestens 99,73 % al-ler Merkmalswerte einer Fertigung inner-halb des abgegrenzten Toleranzfeldes fal-len. In der Automobilindustrie wird dies

verschärft zu cpk ≥ 1,33 oder 99,994 % Gut-teile, gleichbedeutend mit weniger als 60Teilen von 1 Mio. Teilen außerhalb der Tole-ranz (60 ppm).

Jede Stichprobe (x–, s, n) stellt eine Schät-zung für die wahren Verteilungsparameter(μ, σ) dar. Die Schätzgrößen sind immer mitUngenauigkeiten behaftet, weshalb Ver-trauensbereiche definiert werden müssen.Beispielsweise [11] gilt für den Vertrauens-bereich des Mittelwertes bei bekannterStreuung

(3)

d. h., mit der Irrtumswahrscheinlichkeit αund dem (meist vorgegebenen) Vertrau-ensniveau P = 1 – α bewegt sich der Mittel-wert innerhalb des Bereiches Δμ.

Bei dieser Auswertung sollte man aller-dings differenzieren: Oft ist nicht die Ein-zeltoleranz entscheidend, sondern die letzt-endliche Funktionstoleranz. Deshalb ist dieAbnahmeforderung nur auf das Schließ-maß auszurichten. Dies erhält die Variabi-lität bei den Einzelmaßen.

Es ist offensichtlich, dass Funktionstoleran-zen nur unter Kenntnis von Verteilungsge-setzmäßigkeiten sinnvoll festgelegt wer-den können.

6 Statistische Toleranzanalyse

Alle Maß- und Geometriegrößen treten inihren Toleranzbereichen als Zufallsgrößenauf. Bei der Bildung von Maßketten ist da-her der „worst case“, also das Aufeinander-treffen aller Kleinst- oder Größtwerte sehrunwahrscheinlich. Vielmehr werden Ist-werte miteinander kombiniert, die um ei-nen bestimmten Erwartungswert streuen.Aufgrund der Istwertverteilung der Einzel-maße wird auch das entstehende Schließ-maß einer bestimmten Häufigkeitsvertei-lung unterliegen.

Voraussetzung für die Anwendung der sta-tistischen Tolerierung sowohl auf Einzel-maße als auch auf Schließmaße ist, dass– die Einzelteile in größerer Stückzahl

hergestellt werden,– die Einzelteile in eine Montagegruppe

einfließen, und– die Montage unter Wahrung des Zufalls

erfolgt.

Das Zufallsprinzip verlangt, dass alle zumontierenden Bauteile vorher nicht ge-paart oder sortiert werden.

Der Ansatz beruht darauf, dass über jedevorgegebene Einzeltoleranz eine Vertei-lung aufgespannt wird, die im Regelfalleine Normalverteilung ist. Hierbei lässtsich der Anteil der Fälle, die die untere oderobere Toleranzgrenze über- oder unter-schreiten, gezielt steuern. Zwischen derGröße des Toleranzfeldes und der Spann-weite der Verteilung besteht ein direkterZusammenhang, so dass alle Einzelstreu-ungen (σi) bestimmt werden können.

Die Montage stellt die Analogie zur Faltungaller Verteilungen zur Ergebnisverteilungdar, die durch Integration erfolgen muss.Bei einfachen Abschätzungen mittelsHandrechnungen lässt sich dies umgehen.Über den zentralen Grenzwertsatz kann ge-schlossen werden, dass sich die Ergebnis-verteilung als Normalverteilung einstellenwird.

Das Toleranzfeld des Schließmaßes kannnun aus der resultierenden Gesamtstreu-ung des angewendeten Abweichungsfort-pflanzungsgesetzes festgesetzt werden,wobei sich der prozentuale Anteil anSchließmaßen außer- bzw. innerhalb be-

Bild 3: BeispielhaftausgewerteteGeometrieabweichungen mit Tendenz zurBetragsnormal-verteilungFig. 3: Exemplaryevaluated geometricaldeviations with atendency towards amagnitudinal normaldistribution

μσ

ob, un 1 a/2x un

,= ± ⋅−

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oder zu 66 % ausgenutzt. Der Umkehr-schluss ist, dass alle Einzeltoleranzfelderum

(13)

bzw. 52 % erweitert werden können, wenndas Toleranzfeld Ta = 0,7 mm als funktionalverträglich angesehen wird. Dass eine der-artige Umsetzung Kosten reduziert, ist of-fensichtlich. Darin ist der besondere Vorteilder statistischen Tolerierung begründet, derHerstellkostensenkungen von fünf bis zehnProzent ermöglicht.

8 Bedeutung vonGeometrieabweichungen

Eine für die Praxis wichtige Erkenntnis beider Maßkettenanalyse ist, dass Geometrie-abweichungen wegen möglicher Fügepro-bleme nicht vernachlässigt werden dürfen.Jede Abweichung muss als eigenständigesMaß aufgefasst werden. Entsprechend denZuordnungen von Bild 2 ist davor auch beider Rechtwinkeligkeitsabweichung die Be-tragsnormalverteilung zur Anwendung ge-kommen. Es stellt sich die Frage, ob ein ein-facheres Verteilungsgesetz nicht einegleichwertige Information vermitteln kann.

stimmter Grenzen steuern lässt. Diese bis-her nur prinzipiell beschriebene Vorge-hensweise ist nachfolgend durch verein-fachte Beispiele dargestellt.

7 Montagesimulation mit Form- und Lageabweichungen

Als Beispiel dient die im Bild 4 gezeigteMontage zweier Bauteile, wobei eineRechtwinkeligkeitsabweichung berück-sichtigt ist. Die Schließmaßtoleranz des Ge-samtmaßes soll aus funktionellen Gründennicht größer als 0,7 mm werden. Damit er-geben sich entsprechend den Fertigungs-möglichkeiten in etwa die festgesetzten To-leranzen, gewöhnlich aus einer arithmeti-schen Rechnung:

– Höchstschließmaß:Sao = Gol + T LWo + Go2 = 90,4 mm (4)

– Mindestschließmaß:Sau = Gul + 0 + Gu2 = 89,7 mm (5)

Daraus ergibt sich das tolerierte Schließ-maß zu Sa = 90 –0,3

+0,4

Die ermittelten Maße stellen Extremwertedes Schließmaßes dar und decken 100 % dermöglichen Fälle ab.

Da es sich aber um Serienbauteile handelt,ist anzunehmen, dass die Maße innerhalbdes Toleranzfeldes normalverteilt sind, wo-durch die statistische Toleranzanalyse zueiner realistischeren Einschätzung führt.

Der Ansatz besteht aus folgenden Schrit-ten:– Über die Maßtoleranzfelder wird eine

symmetrische Normalverteilung aufge-spannt. Die Grenzwerte werden zumBeispiel auf ± 3 σ gesetzt. Damit ver-bunden ist die Voraussetzung, dass99,73 % aller Maße innerhalb und 0,27 %außerhalb der Toleranzgrenzen liegen.

– Aus der Beziehung Ti = 6 • σi können fürdie beiden Maßverteilungen die Streu-ungen bestimmt werden zu

σ1 = T1––6 = 0,0334 bzw. σ2 = T2––6 = 0,0667.

– Bild 2 zeigt, dass die Rechtwinkelig-keitsabweichung einer Betragsnormal-verteilung (BNV1) gehorcht. Für diesekann angenommen werden, dass diemeisten Bauteile keine Abweichungen(d. h. TLWu

= 0) und im Extremfall dievolle Abweichung (d. h. TLW0

= 0,1) auf-weisen. In diesem Fall (s. [5]) wird

(6)

und

(7)

– Somit findet sich als mittleres Schließ-maß

(8)

und als Schließstreuung

(9)

– Entsprechend den kundenseitigen Vor-gaben kann muss sich das Schließmaßinnerhalb des ± 3 σ-Bereichs oder ± 4 σ-Bereichs bewegen. Für die erste Forde-rung findet sich dann die Schließ-maßtoleranz zu

(10)

oder die Toleranzgrenzen aus der An-gabe

(11)

Die als zugelassen angesehene Schließ-maßtoleranz wird nur zu

Bild 4: Symbolische Montage von zwei Bauteilen mit Maß- und einseitiger LageabweichungFig. 4: Symbolic assembly of two parts with deviations in measurements and positions

μπ

LWLW2

3

T

20,0270= ⋅ =

σπ

LWLW1

2 T

30,02.0= − ⋅ =

S40 0,027 50 90,027

s ges 1 LW 2≡ = + + == + + =

μ μ μ μ

σ μ μ μ μs ges 12

LW2

22

0,0772.≡ = + + ==

T 6 0,46 ... 0,23s s= ⋅ = ±σ

S ST

290,027s s

s 0,23= ± = ±

rT

T0,657s

a

= =

eT

T1,52a

s

= =

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zehntel Millimetern. Bei der Anwendungder Dreieckverteilung führt dies gegenüberGleichung (6) zu dem Verteilungsmittel-wert

(14)

bzw. gegenüber Gleichung (7) zu der Streu-ung

(15)

und gegenüber Gleichung (9) zu derSchließmaßstreuung

(16)

Die Schließmaßtoleranz (± 0,23) ist hier-durch nicht beeinflusst. Auch die weitereRechnung mit einem Histogramm stütztdie Aussage, dass man so einfach wie mög-lich approximieren sollte.

9 Lageeingrenzung des funktionalenMittenschließmaßes

Im Zusammenhang mit der vorstehendenBerechnung des Schließmaßes und dessenToleranzen bleibt noch die Frage, wie sicherdiese Feststellung ist und ob in der Praxisnoch mit Verschiebungen der Werte ge-rechnet werden muss. Möglicherweise isteine derartige Bewertung im Vorfeld rat-sam, um eventuellen Kundeneinwändenauf der Basis von wenigen Messungen be-gegnen zu können.

Zunächst gilt die Aussage, dass sich bei ei-nem sehr großen Fertigungslos die vorste-hend bestimmten Verhältnisse tatsächlicheinstellen werden. Verschiebungen sind je-doch bei kleineren Losen möglich, die sichaber ebenfalls relativ sicher abschätzen las-sen. Hierzu dient der wahrscheinlichkeits-theoretische Ansatz über die Mittenlagen-verschiebung in der folgenden Form:

(17)

Wenn ein kleines Los von n = 100 Stück auf-gelegt wird, folgt aus Gleichung (17) undTabelle 1, dass sich mit einer Wahrschein-lichkeit von 99,99 die Mittenlage und da-mit die Toleranzgrenzen um nicht mehr als0,06 mm gegenüber der Abschätzung vonGleichung (11) verschieben können.

Auf Basis dieser Erkenntnisse kann auchdie kleinste Stückzahl eines Fertigungsloseszu akzeptablen Verteilungsverhältnissenabgesteckt werden, und zwar aus der Rela-tion

(18)

wodurch alle die parameteriellen Abhän-gigkeiten sichtbar werden.

10 Montagesimulation mit Passung

Eine weitere Problemsituation kann sichbei Montagen ergeben, wenn Maßkettenunter Einschluss von Spielpassungen zubilden sind und diese Einfluss auf das Funk-

P = 1 – α Q = α u1 – α

0,90 0,10 1,28160,95 0,05 1,64490,975 0,025 1,96000,990 0,010 2,32630,995 0,005 2,57580,9975 0,0025 2,80700,9990 0,0010 3,09020,9995 0,0005 2,29050,9999 0,0001 3,71900,99995 0,00005 3,89060,99999 0,00001 4,2649

Anm.: u1 – α/2 ist zu α/2 abzulesen, d. h. immer eine Zeile weiter.

Tabelle 1: Vertrauensniveau der NormalverteilungTable 1: Confidence level of a normal distribution

Bild 5: Symbolische Montagevon drei Bauteilen mit Passung (ISO 8015)Fig. 5: Symbolic assembly of three parts with limitedplay

μLWLWT

30,0330′ = =

σLWLWT

240,02040′ = =

σS 0,0773=

ΔS 2 us

n.s ob un 1 a/2

s= − = ⋅ ⋅−μ μ

n 4 us

DS,1 a/2

2 s2

s2

≥ ⋅ ⋅−Aufgrund des Verlaufs der Verteilungkönnte sowohl eine Dreieckverteilung alsauch ein Histogramm eine gute Näherungabgeben. Wie unter anderem am vorliegen-den Beispiel bewiesen, sind die gegenübereiner Betragsnormalverteilung gemachtenFehler in der Regel vernachlässigbar. Manmuss dies pragmatisch in Relation zurSpannweite der Verteilung sehen, die iden-tisch ist mit der Größe des Toleranzfeldesvon in der Regel wenigen hundertstel bis

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tionsmaß haben. Um auch einen solchenFall diskutieren zu können, ist im Bild 5eine Baugruppe aufgeführt, bei der sich dasSchließmaß aus Einzelmaßen und einemindifferenten Spiel ergibt.

Aus der gewöhnlichen arithmetischen To-leranzrechnung erhält man:– Nennschließmaß:

No = N1 + N2 + N3 + 0 = 100 mm (19)

– arithmetische Schließtoleranz:(20)

Hier kann eine statistische Toleranzanalysehelfen, günstigste Einzeltoleranzen bei vor-gegebener Schließmaßtoleranz oder Tole-ranzfelder für ein möglichst enges Schließ-maß zu finden. Da in der gewähltenMaßkette eine Spielpassung vorkommt,bietet es sich vor allem bei umfangreiche-ren Ketten an, die Distanzmaße von denPassmaßen [6] zu separieren. Der Lösungs-weg sieht folgendermaßen aus:– Zunächst wird der Anteil des Schließ-

maßes aus den mittleren Distanz-maßen gebildet zu

(21)

genauso bestimmt sich der Anteil ausdem Spiel zu

(22)

Damit findet sich das gesamte mittlereSchließmaß als

(23)

– Weiterhin erhält man die Streuungender Maße aus dem schon zuvor benut-zen Ansatz zu

σ1 = T1––6 = 0,01667, σ2 = 0,06667, σ3 = 0,0334

bzw. zuσ4 Bohr. = 0,00367, σ4 Welle = 0,0025.

– Nach Anwendung des Abweichungs-fortplanzungsgesetzes kann die Streu-ung des Schließmaßes

(24)

und die Größe des statistischen Tole-ranzfeldes als

Ts = 6 • σs = 0,4848 = ± 0,245

bestimmt werden.– Demnach ergibt sich das Schließmaß

der Montagegruppe zu

Ss = –Ss + Ts––2 = 1000,0158± 0,245.

Bild 6 zeigt, dass das gesamte Toleranzfeldeine etwas andere Lage einnimmt, als zu-erst lokalisiert worden ist. Es liegt nun inder Hand des Konstrukteurs, entsprechen-de Maßnahmen zu ergreifen, die die Mon-tage weiter vereinfachen.

11 DV-Simulation

Die virtuelle Produktentwicklung ist einesystematische und auf Rechnereinsatz ge-stützte Technologie, bei der die vernetzteKommunikation ein wichtiges Element ist.Zielsetzung ist es, ein Produkt mit abge-stimmten Merkmalen zu entwickeln unddieses unter eindeutigen Bedingungen zufertigen.

Innerhalb des Softwareeinsatzes zur Pro-duktgestaltung nimmt die funktions- undfertigungsgerechte Tolerierung eine zen-trale Stellung ein, da diese der Produktdefi-nition in unterschiedlichen Fertigungsum-

gebungen dient. Vor diesem Hintergrundsind in den letzten fünf Jahren verschiede-ne Softwarepakete [12–16] zur statistischenTolerierung entstanden, die entweder alseigenständige Lösungsansätze oder als inCAD integrierte Ansätze verfügbar sind.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kannfestgestellt werden, dass in der Industrievielfach die Systeme TOL1, LITOAN, TOLE-RANCE DESIGNER sowie die CAD-Applika-tionen VSA und VALISYS/Assembly einge-setzt werden. Leistungsmerkmale dieserSysteme sind:– alternative Verarbeitung von linearen

und nichtlinearen Maßketten– Begrenzung auf eine bestimmte Anzahl

von Einzelmaßen– Dateien für Passtoleranzen und ISO-To-

leranzreihen– Berücksichtigung verschiedener Vertei-

lungen– Anschluss an SPC und Histrogramm-

Auswertungen– CAD-Interface zur online-Maßketten-

verarbeitung– sowie Toleranzsynthese ausgehend von

einem Schließmaß.

Da die statistische Tolerierung mit einemetwas erhöhten Auslegungsaufwand ver-bunden ist, ist für die Praxis jede Art vonRechnerunterstützung immer eine Motiva-tion, einen neuen Ansatz intensiv zu nut-zen. Für den Einsatz einer Software sprichtzudem, dass das Potenzial der statistischenTolerierung besonders bei langen Maßket-ten sehr erfolgreich ausschöpfbar ist undhohen wirtschaftlichen Erfolg bringenkann. Dies erfordert, dass die Softwarefunktional so integriert ist, dass für die Si-mulation unmittelbar die CAD-Bauteil-modelle herangezogen werden können,und dass die Ergebnisse wieder in dasBauteilmodell rückgeführt werden können.Für die marktverbreiteten Systeme ist diesgewährleistet.

12 Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der virtuellen Ferti-gung und dem heute schon gegebenen Lei-stungsstand des DMU gewinnen Simulati-onsansätze an Bedeutung, die eine prozess-gerechtere Auslegung durch quantitativeProduktmerkmale ermöglichen. Die rein at-tributive Montagesimulation muss daherum Möglichkeiten zur Toleranzanalyse und-synthese erweitert werden. Für diese Auf-gabenstellung ist der Ansatz der statisti-schen Tolerierung prädestiniert, da er einuniverselles Verfahren darstellt, um funk-

Bild 6: Gegenüberstellung der arithmeti-schen und statistischen Toleranzfeldlage bei dem PassungsproblemFig. 6: Comparison of the arithmetic and statistical tolerance interval for the problemof limited play

T T T T T 0,370,34ao, au 1 2 3 4Sp= ± ± ± + = ±

μ μ μ μD 1 2 3 100,= + + =

μSp B W B W1

2T T T T

0,0315 0,0158.0 u u 0

= −⎛⎝

⎞⎠ + −⎛

⎝⎞⎠

⎡⎣⎢

⎤⎦⎥

=

= ±

S 100,0158.s ges D Sp≡ = + =μ μ μ

σ σ σ σ σ

σ σ

s ges 1 2

2 2

3 2

4Bohr. 2

4 Welle 2

0,0808

≡ = + + +

+ + =

=

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Innovative Produktionsplanung

Titelthema

tionelle Aspekte mit realen Fertigungssi-tuationen zu verknüpfen.

Die bisherige Vorgehensweise, bei derMontierbarkeitsprüfung eine Mini-Max-Betrachtung über die Maßkette anzustellenund das Schließmaß aus einer arithmeti-schen Toleranzrechnung zu bestimmen,hat sich für die meisten Belange der auto-mobilen Serienfertigung als zu ungünstigerwiesen, da sie zuviel Genauigkeit erfor-dert. Der realistischere Ansatz besteht dar-in, jedes Maß als Zufallsgröße mit einer be-stimmten Verteilung anzunehmen undeine Montage auf der Basis statistischer Ge-setzmäßigkeiten durchzuführen. Hier-durch können oft nicht nur Montagepro-bleme entschärft, sondern auch die mei-sten Einzelteile hinsichtlich ihrer technolo-gischen Beschreibung verfeinert werden,was als Nebeneffekt die Kosten senkt. Diestatistische Tolerierung stellt daher einKernelement der virtuellen Produktent-wicklung dar.

Literatur

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[6] Klein, B.: Toleranzoptimierung in der Klein-und Großserienfertigung, LehrgangshandbuchHaus der Technik, Essen, 1997

[7] Storm, R.: Wahrscheinlichkeitsrechnung, ma-thematische Statistik und statistische Qua-litätskontrolle, VEB Fachbuchverlag, Leipzig,1998

[8] DIN 7186/Bl. 1: Statistische Tolerierung – Be-griffe, Anwendungsrichtlinien und Zeich-nungsangaben, Beuth-Verlag, Berlin, August1974

[9] Geiger, R.; Perlhefter, N.: Erfahrungen mit derAnwendung der statistischen Prozessregelung(SPC) bei der Fertigung von FließpressteilenDraht 40 (1989) 2, S. 121–125

[10] Trumpold, H.; Beck, Ch.; Richter, G.: Toleranzsy-steme und Toleranzdesign – Qualität im Aus-tauschbau, Hanser-Verlag, München Wien,1997

[11] Dreyer, H.; Jungen, H.-P.; Steiniger, R.: Statisti-sche Methoden zur EntscheidungsfindungDGQ, Lehrgang QM, 2. Auflage, Frankfurt, 1997

[12] LITOAN 1.5: Programm zur linearen Toleranz-analyse Prof. Klein, Universität Kassel

[13] TOL1: Toleranzprogramm für den KonstrukteurHEXAGON Industriesoftware, Kirchheim/Teck

[14] Tolerance Designer: Tolerierung von Maßenund Maßketten Institut für Qualitätsmanage-ment und Fertigungsmaßtechnik, Chemnitz

[15] VSA: Applied Computer Solutions, St. Clair Mi-chigan/USA, 1995

[16] VALISYS/Assembly: Tecnomatix, Druckschrift,Israel, 1997

Der Verfasser

Prof. Dr.-Ing. Bernd Kleinist Leiter des Fach-gebietes für Leichtbau-Konstruktion an derUniversität Gesamt-hochschule Kassel.