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Aus dem Italie nischen von Julia Gehring Planet Girl Moony Witcher N i n a u n d d a s R ä t s e l v o n A t l a n t i s

Moony Witcher - bilder.buecher.de · 4 In Ninas Zimmer in der Villa Espasia standen trotz der Kälte die Fenster sperrangelweit offen. Ljuba trällerte fröhlich russische Lie-der

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Aus dem Ita lie ni schen von Ju lia Gehring

Pla net Girl

Moony Witcher

Nina

und das Rätsel von Atlantis

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Der Tod von LSL und Andoras Sarg

An diesem eisigen Februarmorgen hing in Venedigs Luft ein w i-derwärtiger Gestank. Er schien mit der rätselhaften Explosion zu-sammenzuhängen, die a m Abend zuvor auf der I sola Clemente stattgefunden hatte. Die Erinnerung an das große Karnevalsfest auf dem Markusplatz am Abend zuvor noch frisch in i hren Köpfen, liefen die Bewohner der Stadt durch Straßen und Gässchen, Mund und Nase mit Schals oder Tüchern bedeckt, um nichts von der üblen Duftschwade, die Venedig einhüllte, einzuatmen. Viele fragten sich, was auf der un bewohnten Insel passiert war, aber noch niemand kannte die Wahrheit.

Die Kinder waren wie immer zur S chule gegangen, auch wenn sie als beharrliche Erinnerung an den Vorabend ein starker Husten verfolgte. Nur den v ier Freunden von Nina de Nobili, der Enkelin des großen Alchimisten Michail Mesinski, lag ein sonderbares Lä-cheln auf den Lippen. Dodo, Cesco, Roxy und Fiore waren die ein-zigen Schüler, die sic h wegen der E xplosion in der L agune keine Sorgen machten. Denn sie stellte das Ende ihrer Probleme dar. Die Wachspuppe, die so ausgesehen hatte wie Nina, war unvorhergese-hen in die Luft gegangen und hatte sich für den Grafen Karkon Ca’ d’Oro und Bürgermeister LSL in eine tödliche Falle verwandelt. Die jungen Alchimisten hatten einen großen Sieg über das Böse errun-gen und dieses Ereignis am Abend zuvor ausgelassen gefeiert.

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In Ninas Zimmer in der Villa Espasia standen trotz der Kälte die Fenster sperrangelweit offen. Ljuba trällerte fröhlich russische Lie-der vor sich hin, während sie den Teppich saugte, und ließ sich nicht im Geringsten von dem stechenden Geruch, den der Wind über die Lagune blies, stören. Aber ihre Hausarbeit wurde jäh von Professor Josés plötzlichem Erscheinen unterbrochen.

»Hola, Ljuba. Können Sie mir sagen, wo ich Nina finde?«, fragte der spanische Lehrer. Tiefe Ringe zeichneten sich unter seinen Au-gen ab und seine Haare waren ungekämmt. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Die russische Kinderfrau schaltete den Staubsauger aus. »Guten Morgen, Professor. Nina ist unten. Sie lernt und will dabei eigentlich nicht gestört werden.«

»Sie lernt? Ohne mich? Weswegen bin ich dann überhaupt hier?«, platzte der Lehrer gereizt heraus.

»Nun ja, wir wissen, dass es Ihnen noch nicht wieder besonders gut geht. Und in der Tat … Sie sehen heute Morgen wirklich schlecht aus. Gehen Sie wieder in die Dependance und legen Sie sich ins Bett. Zum Mittagessen werde ich Ihnen eine heiße Suppe machen.«

Ljuba dachte, nichts Falsches gesagt zu h aben, aber der L ehrer rauschte ärgerlich aus dem Zimmer und schlug die blaue Tür hinter sich zu. Dann stieg er schnell die Wendeltreppe hinab, ging durch das Kaminzimmer und trat in den Dogensaal. Mit Nachdruck klopf-te er an die geheime Tür des Labors der Villa.

»Nina, ich weiß, dass du da drin bist. Mach auf! Ich muss mit dir reden. Es ist dringend!«, rief er.

Aber die Tür blieb verschlossen. Dafür kamen der bellende Ado-nis und Ninas Kater Platon angelaufen. Mit einem Sprung auf das Tischchen neben der Tür brachte der Kater die grüne Lampe gefähr-lich ins Wanken.

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»Weg da, ihr Biester!«, schimpfte der Professor immer ungehal-tener.

Die große schwarze Dogge zeigte knurrend ihre spitzen Zäh-ne. Platon machte einen Buckel, sträubte sein rotes Fell und fauch-te, als wollte er José anspringen. Die beiden Tiere hatten nicht mit einer solch barschen Reaktion des s panischen Lehrers gerechnet. Er war noch nie so unfreundlich gewesen. Aber seitdem Nina und ihre Freunde ihn aus dem widerlichen violetten Schleimfilm befreit hatten, in den K arkon ihn gehüllt hatte, um i hn aus dem Weg zu schaffen, war er nic ht mehr wiederzuerkennen. Und dabei hatte das Tomatium, die r ettende alchimistische Frucht aus dem M aya-Wald, doch bestens gewirkt. Vielleicht stand José einfach noch unter Schock und war verstört. Deswegen hatte die junge Enkelin von Pro-fessor Mischa ihn in den letzten Tagen auch in Ruhe gelassen.

Der spanische Lehrer verlor die Geduld. Da er keine Antwort be-kam, richtete er sich hastig Hut und Umhang und ging erzürnt da-von.

Nina hatte die Tür vom geheimen Labor aus einem einfachen Grund nicht öffnen können: Sie befand sich mit Max 10-p1 im Ac-queo Profundis.

»Wir haben es geschafft! Karkon und LSL sind tot. Ich muss so-fort Eterea Bescheid sagen. Lieber Max, mir fehlt nur noch das vier-te Geheimnis und dann werden die G edanken der K inder wieder frei sein. Ich bin mir sicher, dass die letzte Aufgabe viel einfacher zu lösen sein wird, jetzt, wo diese beiden nicht mehr da sind!« Die Aussicht auf das Ende der anstrengenden Abenteuer machte Nina ganz zappelig.

Doch ihr metallener Freund war noch aufgeregter.»Ich verxtehe ja, daxx du dich freuxt. Aber wir dürfen nicht aux-

xer Acht laxxen« daxx der Alarm gextern Abend plötzlich loxgegan-

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gen ixt. Und ich komme einfach nicht dahinter, warum dax paxxiert ixt.« Max zeigte auf das Schaltbrett des Acqueo Profundis.

»Ach, vielleicht war das ja nur ein Fehlalarm. Begreifst du denn nicht, dass die Rettung von Xorax in greifbarer Nähe ist?«, beharrte Nina.

»Bevor wir den Xieg feiern, müxxen wir prüfen, ob allex in Ord-nung ixt. Ob wir in Xicherheit xind«, erwiderte der Androide. Vor lauter Nervosität klingelten seine kleinen Glockenohren.

»Also gut. Schauen wir uns das Alarmsystem jetzt mal genauer an. Aber dann möchte ich mit Eterea sprechen. Es ist dringend.«

Nina stellte sich vor das Schaltpult, und Max erklärte ihr, dass die roten Lämpchen plötzlich aufgeleuchtet hatten, was einen Eindring-ling oder das Annähern von etwas oder jemandem an die Fenster des Labors anzeigte.

»Das wird die Explosion gewesen sein!«, rief Nina. »Der Druck wird eine Luftverwirbelung verursacht haben und somit eine Unter-wasserwelle in den Tiefen der Lagune. Die Isola Clemente ist nicht so weit weg von hier. Ich denke, das könnte die Erklärung sein. Also beruhig dich, Max!«

Der treue Androide setzte sich auf den Hocker neben dem Pult und schlug die Hände an den glänzenden Kopf. »Auch wenn dax der Grund für den Alarm war – daxx dax Xchaltpult nicht funktioniert, heixxt, daxx ich den Computer nicht anmachen und keinen Kontakt zu Eterea herxtellen kann, verxtehxt du?«

Max’ Erläuterung ließ Nina aufhorchen. »Dann müssen wir es sofort wieder zum Laufen bringen.« »Genau dax habe ich vor. Vielleicht mache ich mir auch zu viele

Xorgen. Ich werde zur Beruhigung meiner Nerven erxt einmal ein bixxchen Erdbeermarmelade exxen.«

Er nahm ein Glas und öffnete es.

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Nina lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die metallene Stirn. »Iss nur. Und mach dir keine Gedanken, du wirst die Störung schon finden. Mit Eterea werde ich heute Nachmittag sprechen. Ich warte, bis meine Freunde kommen, dann werden wir ihr die Nachricht zu-sammen überbringen. In Ordnung?«

»In Ordnung«, wiederholte Max und schluckte zwei Löffel Mar-melade hinunter.

Nina verließ das Acqueo Profundis, stieg in den Förderwagen, ließ sich durch den Tunnel fahren, kam zur Treppe und kletterte durch die Falltür ins Labor der Villa. Wenn sie die g lorreiche Nachricht noch nicht Eterea und dem Großvater überbringen konnte, wollte sie sie wenigstens dem Systema Magicum Universi mitteilen. Sie leg-te ihre Hand mit dem roten Sternenmal auf das große sprechende Buch, doch der Buchdeckel hob sich nicht.

Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Das Buch öffnete sich kei-nen Millimeter.

Nina machte einen Schritt zurück, runzelte die S tirn und zog besorgt den Taldom Lux hervor. Sie drückte ihn an ihre Brust und murmelte: »Was geht hier vor sich? Das Buch will nicht mit mir spre-chen.«

Auf dem Hocker sitzend, die Ellbogen auf den Experimentiertisch gestützt, schaute sie um sich. Alles war an seinem Platz. Fläschchen, Ampullen, Destillierkolben und Metallschöpflöffel standen wie im-mer an Ort und Stelle. Und auch die Mischung aus Saphir und Gold köchelte wie üblich im großen Kessel, der über dem stets brennen-den Kaminfeuer hing. Ratlos starrte Nina auf das Systema Magicum Universi und suchte nach einer Antwort.

Die Wanduhr zeigte zehn Uhr, sechsunddreißig Minuten und sieben Sekunden. Dieser Februarmorgen, der s o vielversprechend begonnen hatte, schien sich zu keinem schönen Tag zu entwickeln.

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Draußen auf dem K anal kamen drei große Feuerwehrboote von ihrem Einsatz in der L agune zurück. Doch nicht einmal der Kom-mandant, der im g roßen Saal des G erichts von Venedig von der Justizbehörde und den zehn Ratsherren erwartet wurde, hatte eine Erklärung für das, was auf der Isola Clemente vorgefallen war. Als er eintrat, verstummten alle Anwesenden und hörten ihm erwartungs-voll zu.

»Nach allem, was uns bekannt ist, war die Insel unbewohnt. Die Explosion ist vermutlich ohne äußere Einwirkungen hervorgerufen worden. Vielleicht ist aus einer beschädigten Leitung Gas entwichen. Zum Glück sind keine Opfer zu verzeichnen«, berichtete er. Dann schob er ein paar Kleinigkeiten hinterher, die ihm vollkommen un-wichtig erschienen. »Im Inneren eines seltsamen schwarzen Baus ha-ben wir nur ein paar große verbrannte Federn gefunden. Vermutlich handelt es sich um die Reste eines Tiers, das auf der Insel gelebt hat.«

Die Richter hoben ratlos die Schultern, während die zehn Rats-herren in ihren violetten Roben keine Miene verzogen und schwie-gen. Der Brand auf der Isola Clemente schien wahrlich ein Rätsel zu sein. Die Gefolgsleute von Loris Sibilio Loredan gaben schamlos vor, nichts zu wissen. Aber ihnen war sehr wohl bekannt, dass auf eben dieser Insel die Statue des geflügelten Löwen gefunden worden war. Und schon oft hatten sie den Bürgermeister von diesem seltsamen Unterschlupf reden hören. Doch sie sagten kein Wort. Sie mussten sich an die Vorschriften halten, die ihnen Graf Karkon auferlegt hat-te, und das Geheimnis bewahren. Außerdem hatten sich schon ge-nug magische und unerklärliche Vorfälle ereignet.

Der Gerichtsvorsitzende erhob sich und richtete seinen Blick auf die Ratsherren. »Und welche Nachrichten gibt es vom Bürgermeis-ter? Ist er immer noch krank? Hat er nicht einmal heute etwas von sich hören lassen?«

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Der Ratsälteste räusperte sich und ergriff das Wort: »Dem Bür-germeister LSL geht es leider n och nicht gut. Aber bald, sehr bald schon, wird er ins Rathaus zurückkehren. Machen Sie sich keine Sor-gen. Sicher wird uns Graf Karkon dabei helfen zu verstehen, was los ist. Sie werden sehen, für den rätselhaften Brand auf der Isola Cle-mente wird sich in Kürze eine Erklärung finden.«

Richtern und Feuerwehrmännern fehlten die W orte, während die zehn Ratsherren gleichzeitig aufstanden und das Gerichtsgebäu-de verließen. Zwei von ihnen liefen eilig zum Palazzo Ca’ d’Oro. Sie wollten so schnell wie möglich die Wahrheit erfahren und klären, ob LSL tatsächlich wieder bereit war, ins Rathaus zurückzukehren. Denn auch von ihnen konnte schließlich keiner ahnen, dass dem Bürgermeister und dem Grafen etwas Schlimmes passiert war.

Sie klopften und klingelten mehrmals, doch niemand öffnete. Der Palast schien verlassen.

Die Ratsherren machten auf dem Absatz kehrt und wandten sich in Richtung Rathaus.

Als sie gerade losgehen wollten, sahen sie aus den Augenwinkeln, wie eine unscheinbare Gestalt in K arkons Palast verschwand. Sie drehten um und wollten die Person aufhalten, doch das Eingangstor schloss sich unerbittlich vor ihren Nasen.

Die beiden Gefolgsleute des Marquis Loris Sibilio Loredan sahen sich verdutzt an und beschlossen, es später mit einem Anruf beim Grafen zu versuchen, um eine Erklärung für die seltsamen Ereignis-se zu bekommen.

Um fünf Uhr nachmittags kamen Dodo, Cesco, Roxy und Fiore zur Villa Espasia und fanden ihre Freundin im Dogensaal. Nina saß auf dem Boden inmitten eines Bergs von Büchern.

»Was machst du da?«, fragte Cesco.

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»Ich suche nach einer Erklärung«, war die k urz angebundene Antwort des Mädchens, das nicht einmal aufschaute.

»Nach einer Erklärung?«, fragten die anderen im Chor.»Ja. Ich versuche zu v erstehen, warum das Systema Magicum

Universi nicht mehr spricht. Vielleicht steht in diesen Alchimiebü-chern die Antwort«, gab Nina besorgt von sich.

»Wie, es spricht nicht mehr? Ausgerechnet jetzt, wo wir Karkon besiegt haben?«, fragte Roxy enttäuscht.

»Ja. Vielleicht ist da etwas, das wir nicht wissen. Aber das Ster-nenmal auf meiner Hand ist immer noch rot. Deswegen dürfte ei-gentlich keine Gefahr bestehen.«

Die Freunde setzten sich neben Nina und begannen ebenfalls die Bücher durchzublättern.

»L… lasst uns m… mit M… Max reden«, schlug Dodo vor. Aber Nina winkte sofort ab und erzählte ihnen, dass der Androi-

de wegen des ausgebrochenen Alarms im Acqueo Profundis im Mo-ment sehr angespannt war.

»Alarm? Dann stimmt da wirklich etwas nicht«, sagte Fiore miss-trauisch und öffnete einen großen verstaubten Band von Tadino de Giorgis mit dem Titel Dolus. »Interessant. Dieses Buch spricht von Täuschungen.« Fiore blätterte weiter, bis sie auf Seite fünfunddreißig auf etwas sehr Auffälliges stieß: Ein riesiger silberner Buchstabe aus dem Alphabet des Sechsten Mondes füllte das gesamte Blatt aus.

»D wie Dolus. Das ist Latein und bedeutet Täuschung!«, rief Fiore sofort und zeigte wieder einmal, wie viel sie wusste.

Sobald sie das gesagt hatte, löste sich der silberne Buchstabe vom Blatt und flog in R ichtung Labortür. Ohne das große, in der L uft

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schwebende D aus den Augen zu lassen, sprang Nina auf. Sie nahm die Glaskugel, die sie immer in ihrer Tasche trug, drückte sie in die Mulde in der Tür zum Labor und öffnete diese. Die fünf jungen Al-chimisten traten ein, und der Buchstabe senkte sich auf den Deckel des Systema Magicum Universi.

Nina legte die Hand mit dem Sternenmal darauf. In diesem Au-genblick öffnete sich das Buch endlich. Das große D tauchte in das flüssige Blatt ein und ein grünes Licht erhellte den Raum.

»Buch, was passiert hier gerade?«, fragte das Mädchen vom Sechs-ten Mond ängstlich.

Die Täuschung ist vor euren Augenund nur mit Antimon zu durchschauen.

»Antimon?«, wiederholte Nina.

Ram Activia hielt es in ihrem Zepter.Vollkommene Erkenntnis wäre nützlich.

»Aber die Alchitarotfigur Ram Activia ist während des Karnevals-fests auf dem Markusplatz von Nol Avarus besiegt worden. Ich weiß nicht, wo das Kristallzepter hin ist«, antwortete Nina beunruhigt.

Da kräuselte sich das flüssige Blatt und nach wenigen Sekunden tauchte aus ihm Ram Activias Zepter auf. Nina ergriff es sofort. Es war durchsichtig und leuchtete hell.

Wirf es in den Kessel mit Saphir und Goldund nach drei Minuten sagt im Reigen:»Von der Täuschung wollen wir erfahren,die Wahrheit kann nicht länger schweigen.«

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Unverzüglich machte die junge Alchimistin, was ihr das Buch gesagt hatte.

Nach drei Minuten riefen die Freunde im Chor: »Von der Täu-schung wollen wir erfahren, die Wahrheit kann nicht länger schwei-gen!«

Aus dem Kessel hob sich ein weißes Laken, das mitten im Zim-mer wie eine große Leinwand in der Luft hängen blieb. Das Licht im Labor wurde bläulich und auf dem Tuch begann eine Reihe von be-unruhigenden Bildern abzulaufen.

Mit weit aufgerissenen Augen sahen die fünf Freunde, was auf der Isola Clemente am Vorabend passiert war.

Die erste Szene spielte sich im ac hten Zimmer des Hauses aus Onyx ab. Auf dem alten Holzthron saß LSL, noch immer in Gestalt der gefiederten Schlange. Vor ihm tauchte Nol Avarus auf, die böse Alchitarotkarte, von der R am Activia während des K arnevalsfests besiegt worden war. Der alte Bucklige hielt in s einen Händen die Wachspuppe, die genauso aussah wie Nina. Hinter ihm an der Tür stand Karkon.

Die gefiederte Schlange erhob sich. In dem Glauben, dass es sich bei der Puppe wirklich um Nina handelte, warf sie ihr den tödlichen zweiten Blick zu. In diesem Moment verwandelte sich der ausgespro-chene Fluch in ein l autes Dröhnen. Karkon gestikulierte, als ob er die Schlange aufhalten wollte, denn er h atte bemerkt, dass es sic h bei der Wachsfigur keinesfalls um Nina handelte. Aber der Blick war schon entsandt und ein wirkungsvolles Gas trat aus LSLs Augen. Es drang in die Pu ppe ein und ließ diese explodieren. Die Wände des Zimmers stürzten ein und eine Wolke aus gelbem Rauch erhob sich zum Himmel.

Entsetzt verfolgten die Kinder die Szene auf der Leinwand und sahen deutlich, dass auf dem Boden des achten Zimmers lediglich ei-

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nige verbrannte Federn als klägliche Reste von LSL zurückgeblieben waren. Von Nol Avarus gab es überhaupt keine Spur mehr.

Nina jubelte, aber im Halbdunkeln mahnte Cesco sie sofort zur Ruhe. Auf dem L aken spielte sich eine zweite Szene ab. Sie zeigte Karkon, wie er ins Wasser der Lagune eintauchte.

Der Graf in seinem violetten Umhang ruderte wie wild mit den Armen. Dann sah man deutlich, wie er nach dem Pandemon Morta-lis griff und ein Feuerblitz aus der Spitze des Zauberschwerts schoss. Der Kontakt mit dem Salzwasser der Lagune verursachte eine riesige Sauerstoffblase, in die Karkon sich retten konnte.

Gerade war die Aufnahme zu Ende, als sich das Laken auch schon jäh zusammenfaltete und wieder in den Kessel glitt. Die Lichter im Labor gingen an und die Kinder standen fassungslos da.

»Er lebt! Karkon lebt!«, rief Nina und hielt sich entsetzt am Expe-rimentiertisch fest.

»Er ist schon wieder davongekommen! Das gibt es doch nicht!«, sagte Cesco wie vor den Kopf gestoßen und rückte sich die B rille zurecht.

»Es wird nicht lange dauern, bis er kommt, um uns zu holen!«, rief Roxy mit geballten Fäusten und sah zu Nina.

»Ich h… habe A… Angst«, stammelte Dodo, der sich auf seinen üblichen Platz neben der Drachenzahnpyramide niederließ und be-stürzt auf den Boden starrte.

»Ich dachte wirklich, ihn ein für alle Mal ausgeschaltet zu haben. Aber vielleicht ist das die Erklärung dafür, dass das Alarmsystem im Acqueo Profundis angeschlagen hat. Karkon könnte sich den Fens-tern genähert haben, als er in der Sauerstoffblase eingeschlossen war.«

Als Nina diesen Gedanken ausgesprochen hatte, sahen alle sie er-schüttert an: Hatte der Graf etwa das Unterwasserlabor entdeckt?

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Ohne eine Sekunde zu verlieren, stiegen die Freunde die Falltrep-pe hinunter und beeilten sich zu Max zu kommen, der noch immer sehr beschäftigt war. Mit Hammer, Zange und Laserwerkzeug war er dabei, die Elektrik zu reparieren. Als Nina erzählte, dass Karkon sich gerettet hatte, ließ der gute Androide vor Schock die Glockenohren kreisen, rollte die Augen und alle Werkzeuge fielen lärmend aus sei-nen Händen.

»Nicht auxzudenken! Vielleicht hat er dax Acqueo Profundix ent-deckt«, stöhnte er und taumelte rückwärts.

»Hoffen wir, dass nicht. Wir müssen das Alarmsystem wieder in Gang bringen«, drängte Cesco und blickte auf den großen Bild-schirm und den ausgeschalteten Computer.

In größter Sorge machten sie sich sofort daran, Max 10-p1 zu hel-fen.

Mehrere Tage, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkamen, suchten sie nach einer Lösung für das Problem. Fiore und Roxy befassten sich mit den Nummerncodes für die Aktivierung des Alarmsystems, während Cesco, Dodo und Max die gesamte Elektroverkabelung überprüften. Nina hatte versucht, das Systema Magicum Universi um Hilfe zu bitten, aber das Buch schwieg beharrlich. Der Kontakt zum Sechsten Mond war bis auf Weiteres unterbrochen. Keine Briefe mehr vom Großvater, keine Gespräche mit Eterea – die junge Alchi-mistin fühlte sich niedergeschlagener denn je.

Xorax’ Rettung schien immer verzwickter, sogar fast schon un-möglich zu werden.

Nina hatte auch mehrmals bei Professor José Rat gesucht, doch der Lehrer war weiterhin gereizt und verschlossen.

»Lass es gut sein. Karkon ist zu mächtig und zu schlau. Und ich weiß nicht, wie ich dir h elfen könnte«, hatte José ihr immer wie-der geantwortet, und schließlich hatte Nina aufgegeben. Schweren

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Herzens hatte sie ihrem Lehrer zwischen seinen Blätterstapeln seine Ruhe gelassen und aufgehört, ihn in der D ependance der Villa zu besuchen.

Auch im Rathaus herrschte große Unruhe. Der Bürgermeister und Karkon hatten seit ihrem Verschwinden nichts von sich hören lassen, und die Ratsherren hatten deswegen allerlei Probleme. Doch eines Morgens erreichte einen der violett gekleideten Ratsherren ein An-ruf. Es war Karkon Ca’ d’Oro!

»Zwei von Ihnen sollen sofort zu m einem Palast kommen. Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen!«

Schon nach weniger als einer halben Stunde klopften die zw ei Ratsherren an die Tür des Grafen. Karkon empfing sie in Anwesen-heit von Alvise, Barbessa und Visciolo im Planetenkabinett. Auf dem Fußboden entlang der Wände standen aufgereiht nicht weniger als vierzig brennende schwarze Kerzen. Mitten im Z immer ragte ein seltsames rechteckiges Konstrukt empor, das mit einem violetten Tuch bedeckt war.

In der düsteren Atmosphäre herrschte Totenstille.»Verehrter Graf, was für eine Freude, Sie wiederzusehen! In Ihrer

Abwesenheit hat sich einiges zugetragen, doch wir konnten Sie ein-fach nicht erreichen. Auf der Isola Clemente hat es einen Unfall ge-geben …«

Der Ratsherr, der als Erster das Wort ergriffen hatte, brachte den Satz nicht zu Ende. Karkon unterbrach ihn.

»Das ist mir bereits bekannt. In den letzten Wochen hatte ich sehr wichtige Dinge zu erledigen«, antwortete der Graf mit tiefer Stimme.

»Und wie geht es dem Herrn Bürgermeister?«, fragten die beiden Ratsherren besorgt.

»Er ist tot«, erwiderte Karkon kalt.

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»Tot? Wie konnte das passieren?« Die beiden Männer sahen den Magister Magicum erschrocken und verzweifelt an.

»Es ist, wie es ist …«, machte es Karkon kurz. Der Graf verengte seine Augen und dachte an das unrühmliche

Ende von LSL. Von einer dummen Wachspuppe in die L uft gejagt! Er konnte den beiden Ratsherren unmöglich erzählen, dass LSL in Wahrheit die gefiederte Schlange war und dass die Puppe, die ge-nauso ausgesehen hatte wie Nina de Nobili, durch das Gas des bösen Blicks explodiert war. Diese Umstände zu enthüllen, würde bedeu-ten, zuzugeben, dass LSL wegen einer Falle, die er, der Graf, selbst gestellt hatte, in die Luft gegangen war. Wenn die Venezianer das er-fahren würden, wären seine Tage gezählt.

Und nicht nur das. Karkon würde so auch riskieren, sich vor Ge-richt rechtfertigen zu müssen.

Während er in seine Gedanken vertieft war, machte einer der Ratsherren einen Schritt nach vorn und fragte: »Graf, hat denn der Tod des B ürgermeisters etwas mit dem B rand zu t un, der auf der Isola Clemente ausgebrochen ist?«

»Ach, das verstehen Sie nicht!«, fuhr ihn der Graf an und ging auf das seltsame zugedeckte Objekt zu. Mit einer schnellen Geste zog er das violette Tuch herunter.

»Ein Sarg!«, riefen die beiden Ratsherren und schlugen sich die Hände vor die Augen.

»Ja, ein schöner Sarg aus Metall. Blank und glänzend. Ich habe sogar etwas eingraviert.« Der Graf streckte seine linke Hand aus, deutete mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle und fuhr mit dem langen Fingernagel die Buchstaben entlang, die dort eingeritzt waren.

LSL˜– Marquis Loris Sibilio Loredan˜– Bürgermeister von Venedig

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Die Ratsherren wurden bleich. »Und was tun wir jetzt? Was sollen wir der Bevölkerung sagen?«

»Beruhigen Sie sich. Ich werde den Posten des Marquis überneh-men.« Und mit diesen Worten schlug Karkon den Umhang auf, zog ein Pergament hervor und las laut vor:

Mein letzter Wille

Ich, Marquis Loris Sibilio Loredan, überlasse im Vollbesitz meiner

geistigen Kräfte den Posten des Bürgermeisters von Venedig dem Grafen

Karkon Ca’ d’Oro, der Zufriedenheit, Freiheit und Gerechtigkeit

garantieren wird.

LSL

»Aber ist dieses Dokument rechtsgültig?«, wagten die R atsherren einzuwenden.

Karkon näherte sich ihnen drohend, zückte den Pandemon Mor-talis und knurrte: »Wie könnt ihr es wagen, an mir zu zweifeln? Passt besser auf, was ihr sagt und was ihr tut! Verstanden?«

Die beiden wichen zurück und zogen die Köpfe ein.»Druckt Tausende Todesanzeigen und tapeziert damit die Stadt.

Die Beerdigung wird in zwei Tagen stattfinden. Alle Venezianer sind verpflichtet, an ihr teilzunehmen.«

»Erlauben Sie mir, lieber Graf, ist es wohl möglich, unseren ar-men Bürgermeister ein letztes Mal zu sehen?«

Die Bitte des Ratsherren ließ den boshaften Karkon aufbrausen.

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»Was hilft es noch, seinen Leichnam zu sehen? Der wahre Grund für seinen Tod darf nicht bekannt werden, auch euch werde ich nicht einweihen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Die Ratsherren nickten.»Sehr gut. Ich sehe, ihr habt verstanden. Also ist klar, dass wir

diese tragische Situation zu unserem Vorteil ausnutzen müssen. Den Bürgern werden wir sagen, dass LSL vergiftet worden ist.« Karkon setzte sich auf den Sarg, schlug die Beine übereinander und blickte in die verwirrten Gesichter der Ratsherren.

»Vergiftet?«, riefen die beiden Gefolgsleute des Bürgermeisters mit erstickter Stimme. Ihnen stand mittlerweile der ka lte Schweiß auf der Stirn.

»Natürlich. Vergiftet. Ermordet. Und ihr könnt euch sicher vor-stellen, wem wir die Schuld dafür in die Schuhe schieben werden!«, zischte der Graf. Er strich sich genüsslich über den Bart.

»Nina de Nobili?«, fragten die beiden ungläubig und schauten Vi-sciolo und die Zwillinge an, die gehässig grinsten.

»Genau. Und das ist sogar recht nah dran an der Wahrheit. Nur dass wir nicht enthüllen können, wie sie ihn letztendlich ermordet hat. Diese kleine Hexe und ihre Freunde werden das teuer bezahlen. Ihr Ende ist nah.«

Karkon stand auf, strich über den Sarg, und bevor er die R ats-herren verabschiedete, durchbohrte er sie mit einem eindringlichen Blick.

»Denkt daran, die Todesanzeigen müssen bis morgen früh überall in der Stadt aufgehängt sein.«

Sobald die beiden hinter Visciolo das Planetenkabinett verlassen hatten, öffnete der Graf den Sarg. Er war leer!

Seine teuflische Lache hob sich zur Decke und selbst Alvise und Barbessa jubelten über den hinterhältigen Plan ihres Meisters.

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